17
Unverkäufliche Leseprobe aus: Carlos Ruiz Zafón Marina Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. © S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

  • Upload
    others

  • View
    1

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 8 ·

Page 8 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Unverkäufliche Leseprobe aus:

Carlos Ruiz ZafónMarina

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern,auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags

urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesonderefür die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in

elektronischen Systemen.© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Page 2: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 5 ·

Liebe Leser,immer schon habe ich gedacht, jedem Schriftsteller

seien, ob er es zugebe oder nicht, einige seiner Bücherbesonders lieb. Diese Vorliebe hat selten etwas mitdem eigentlichen literarischen Wert des Werks zu tunoder mit der Aufnahme, die es seinerzeit beim Publi-kum gefunden hat, noch mit dem Glück oder Elendseiner Veröffentlichung. Ohne den genauen Grunddafür angeben zu können, fühlt man sich einigen sei-ner Geschöpfe schlicht näher als anderen. Unter allden Büchern, die ich publiziert habe, seit ich um 1992diesen seltsamen Beruf des Romanautors ergriffenhabe, ist Marina einer meiner Lieblinge.

Ich habe den Roman zwischen 1996 und 1997 inLos Angeles geschrieben. Damals war ich fast drei-unddreißig und wurde von der Ahnung beschlichen,dass das, was irgendein Armleuchter einmal als früheJugend bezeichnet hat, mir mit der Geschwindigkeiteines Ozeandampfers zu entgleiten drohte. Vorherhatte ich drei Romane für Jugendliche veröffentlicht,und kurz nach Beginn der Niederschrift von Marinawurde mir klar, dass dieses Buch anders sein würde,

Page 5 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 3: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 6 ·

ein ehrgeizigerer und auch persönlicherer Roman, indem ich zum ersten Mal den Schauplatz meines Bar-celonas und meiner eigenen Erinnerung erkundenwürde. Je weiter ich mit dem Schreiben kam, destomehr erschien mir Marina als der Übergang zu ei-ner anderen Form des Erzählens, wo ich schließlichdas finden würde, was Schriftsteller gemeinhin ›ihreStimme‹ zu nennen pflegen. Als ich fertig war, hatteich den Eindruck, etwas in mir drin, etwas, von demich selbst heute noch nicht genau weiß, was es war,was ich aber täglich vermisse, sei für immer auf diesenSeiten zurückgeblieben.

Marina ist möglicherweise der am schwersten zudefinierende und einzuordnende meiner Romane –und vielleicht auch der persönlichste von allen. Ironi-scherweise hat mir gerade seine Veröffentlichung ammeisten Verdruss bereitet. Er hat zehn Jahre elenderund oft unrechtmäßiger Ausgaben überlebt, die in ei-nigen Fällen, ohne dass ich viel dagegen hätte tun kön-nen, viele Leser verwirrt haben, indem sie den Romanals etwas auszugeben versuchten, was er nicht war.Und dennoch entdecken weiterhin Leser jeden Altersund Standes auf seinen Seiten irgendetwas und findenZugang zu diesem Dachgeschoss der Seele, von demuns der Erzähler, Óscar, berichtet.

Endlich kommt Marina wieder nach Hause, undjetzt können die Leser den Bericht, den Óscar an ihrerStelle verfasst hat, unter den Bedingungen entdecken,

Page 6 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 4: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 7 ·

die sich sein Autor immer gewünscht hat. Vielleichtbin ich jetzt mit ihrer Hilfe in der Lage, zu verstehen,warum dieser Roman in meinem Geist weiterhin sogegenwärtig ist wie an dem Tag, an dem ich seine Nie-derschrift beendete, und ich werde mich, wie Marinasagen würde, wieder an das erinnern können, was niegeschah.

Carlos Ruiz Zafón

Page 7 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 5: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 8 ·

Page 8 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 6: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 9 ·

Marina sagte einmal zu mir, wir erinnertenuns nur an das, was nie geschehen sei. Essollte eine Ewigkeit dauern, bis ich diese

Worte begriff. Doch ich fange besser am Anfang an,und der ist in diesem Fall das Ende.

Im Mai 1980 verschwand ich eine Woche lang vomErdboden. Sieben Tage und sieben Nächte wusstekein Mensch, wo ich mich befand. Freunde, Kame-raden, Lehrer und selbst die Polizei stürzten sich indie Suche nach dem Flüchtigen, den einige schon fürtot hielten, während andere dachten, er habe sich ineinem Anfall von geistiger Umnachtung in übel be-leumdeten Straßen verirrt.

Eine Woche später glaubte ein Zivilpolizist die-sen Burschen zu erkennen – die Beschreibung passte.Der Verdächtige irrte im Francia-Bahnhof umher wieeine verlorene Seele in einer aus Eisen und Nebel ge-schmiedeten Kathedrale. Der Beamte trat mit Detek-tivmiene zu mir und fragte mich, ob ich Óscar Draiheiße und der spurlos aus seinem Internat verschwun-dene junge Mann sei. Ich nickte mit zusammenge-pressten Lippen. Ich erinnere mich noch an die

Page 9 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 7: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 10 ·

Spiegelung des Bahnhofsgewölbes auf seinen Brillen-gläsern.

Wir setzten uns auf dem Bahnsteig auf eine Bank.Bedächtig steckte sich der Polizist eine Zigarette anund ließ sie glimmen, ohne sie an die Lippen zu füh-ren. Er sagte, eine Menge Leute brenne darauf, mirviele Fragen zu stellen, für die ich mir besser gute Ant-worten ausdenke. Wieder nickte ich. Er schaute mir indie Augen und beobachtete mich. »Manchmal ist eskeine gute Idee, die Wahrheit zu erzählen, Óscar«,sagte er. Er reichte mir einige Münzen und bat mich,meinen Tutor im Internat anzurufen. Das tat ich.Der Polizist wartete das Ende des Gesprächs ab, gabmir Geld für ein Taxi und wünschte mir Glück. Ichfragte ihn, woher er wisse, dass ich nicht abermals ver-schwinde. Er schaute mich lange an. »Es verschwin-den nur Leute, die auch irgendwo hingehen können«,antwortete er bloß. Er begleitete mich auf die Straßehinaus, wo er sich verabschiedete, ohne mich zu fra-gen, wo ich gesteckt habe. Ich sah ihn auf dem Paseode Colón davongehen. Der Qualm seiner noch nichtangerauchten Zigarette folgte ihm wie ein treuesHündchen.

An diesem Tag meißelte Gaudís Geist unmöglicheWolken auf ein Blau, das einen fast erblinden ließ. Miteinem Taxi fuhr ich zum Internat, wo mich vermutlichdas Exekutionskommando erwartete.

Vier Wochen lang bearbeiteten mich Lehrer und

Page 10 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 8: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 11 ·

Schulpsychologen, mein Geheimnis preiszugeben. Ichlog und bot jedem das, was er hören wollte oder ak-zeptieren konnte. Mit der Zeit gaben alle vor, dieseEpisode vergessen zu haben. Ich folgte ihrem Beispiel.Nie erzählte ich jemandem die Wahrheit.

Damals wusste ich nicht, dass der Ozean der Zeitfrüher oder später die Erinnerungen anschwemmt,die wir in ihm versenkt haben. Fünfzehn Jahre spä-ter ist die Erinnerung an diesen Tag zu mir zurück-gekehrt. Ich habe diesen jungen Burschen im Dunstdes Francia-Bahnhofs umherirren sehen, und MarinasName hat sich erneut wie eine frische Wunde ent-zündet.

Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Ge-heimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.

Page 11 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 9: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 12 ·

Page 12 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 10: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 13 ·

1

Ende der siebziger Jahre war Barcelona eineFata Morgana von Boulevards und engenGässchen, wo man allein beim Betreten eines

Hausflurs oder eines Cafés dreißig oder vierzig Jahrein die Vergangenheit zurückreisen konnte. In diesermagischen Stadt verliefen Zeit und Erinnerung, Ge-schichte und Fiktion wie Aquarelle im Regen. Dortwar es, wo Kathedralen und aus Fabeln entsprungeneHäuser im Klang von nicht mehr existierenden Stra-ßen die Kulisse zu dieser Geschichte bildeten.

Damals war ich ein fünfzehnjähriges Bürschchen,das in den Mauern eines Internats mit Heiligenna-men an den Hängen der Straße nach Vallvidrera da-hinschmachtete. In jenen Tagen sah das Viertel Sarriánoch wie ein kleines, an den Rändern einer moder-nistischen Metropolis gestrandetes Dorf aus. MeineSchule thronte am Ende einer Straße, die vom Paseode la Bonanova aus bergan kletterte. Ihre monumen-tale Fassade hätte eher auf eine Burg als auf eine Lehr-anstalt schließen lassen. Die verwinkelte, lehmfarbeneSilhouette war ein Puzzle aus Festungstürmen, Bögenund dunklen Flügeln.

Page 13 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 11: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 14 ·

Die Schule stand inmitten einer Zitadelle von Gär-ten, Brunnen, verschlammten Teichen, Höfen undverhexten Pinienbeständen. Darum herum beherberg-ten düstere Gebäude von gespenstischem Dunst ver-schleierte Schwimmbecken, stilleverzauberte Turn-hallen und verwunschene Kapellen, in denen imWiderschein der Altarkerzen Heiligenbilder lächel-ten. Das Haus wies vier Stockwerke auf, die beidenKellergeschosse und ein abgesperrter Zwischenstocknicht eingerechnet, in dem die wenigen Geistlichenhausten, die noch als Lehrer tätig waren. Die Zimmerder Internatsschüler lagen längs höhlenartiger Gängeim vierten Stock. Diese endlosen Galerien ruhten instetigem Halbdunkel und geisterhaftem Echo.

Ich verbrachte meine Tage wachträumend in denZimmern dieser ungeheuren Burg und wartete aufdas Wunder, das sich täglich nachmittags um zwan-zig nach fünf ereignete. Zu dieser magischen Stundeüberzog die Sonne die hohen Fenster mit flüssigemGold. Rasselnd verkündete die Glocke das Ende desUnterrichts, und wir hatten bis zum Abendessen imgroßen Speisesaal fast drei Stunden zu unserer freienVerfügung. Eigentlich sollte diese Zeit dem Studiumund der geistigen Einkehr dienen. Ich kann mich nichterinnern, mich auch nur an einem einzigen all meinerTage an diesem Ort einer dieser edlen Aufgaben ge-widmet zu haben.

Das war mein Lieblingsmoment. Der Kontrolle am

Page 14 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 12: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 15 ·

Ausgang ein Schnippchen schlagend, zog ich los, umdie Stadt zu erkunden. Ich machte es mir zur Ge-wohnheit, genau zur Essensstunde wieder im Internatzu sein, nachdem ich in zunehmender Dunkelheitdurch alte Straßen und Boulevards geschlendert war.Diese langen Spaziergänge bescherten mir ein Gefühlberauschender Freiheit. Meine Phantasie überflügeltedie Häuser und stieg zum Himmel empor. Für einigeStunden verflüchtigten sich Barcelonas Straßen, dasInternat und mein düsteres Zimmer im vierten Stock.Für einige Stunden war ich, mit nur zwei Münzen inder Tasche, der glücklichste Mensch der Welt.

Oft führte mich mein Weg durch die damals soge-nannte Wildnis von Sarriá, die nichts weiter war alseine Andeutung von verlorenem Wald im Niemands-land. Die meisten Herrschaftsvillen, die seinerzeit dasGelände nördlich des Paseo de la Bonanova besiedelthatten, standen noch da, wenn auch nur als Ruinen.Die Straßen ums Internat herum umrissen eine Geis-terstadt. Efeuüberwucherte Mauern versiegelten denZugang zu wilden Gärten, in denen sich monumen-tale, von Unkraut und Vernachlässigung heimge-suchte Paläste erhoben, in welchen die Erinnerungwie hartnäckiger Nebel zu schweben schien. Vieledieser Kästen warteten auf ihren Abbruch, anderewaren jahrelang ausgeplündert worden. In einigenjedoch gab es noch Menschen.

Sie waren die vergessenen Mitglieder herunterge-

Page 15 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 13: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 16 ·

kommener Geschlechter. Menschen, deren Name inder Vanguardia vier Spalten eingenommen hatte, alsdie Straßenbahnen noch den Argwohn moderner Er-findungen weckten. Geiseln ihrer moribunden Ver-gangenheit, die sich weigerten, das sinkende Schiff zuverlassen. Sie befürchteten, ihre Körper würden sichim Wind in Asche auflösen, wenn sie den Fuß auf Ge-biet jenseits ihrer baufälligen Villen zu setzen wagten.Wie Gefangene welkten sie im Licht der Kandelaberdahin. Manchmal, wenn ich eiligen Schrittes an die-sen verrosteten Gittertoren vorüberging, meinte ich,durch die verschossenen Fensterläden misstrauischeBlicke zu spüren.

Eines Nachmittags Ende September 1979 beschlossich, mich aufs Geratewohl in eine dieser von Jugend-stilpalästchen übersäten Prachtstraßen zu wagen, dieich bisher noch nie bemerkt hatte. Sie beschrieb eineKurve, die vor einem gewöhnlichen Gittertor endete.Jenseits erstreckte sich das, was von einem alten, jahr-zehntelange Vernachlässigung offenbarenden Gartenübriggeblieben war. Inmitten der Vegetation sah mandie dunklen Umrisse eines zweistöckigen Hauses, dassich hinter einem Brunnen mit Skulpturen erhob, diedie Zeit mit Moos überzogen hatte.

Langsam senkte sich die Dämmerung herab, unddieser Winkel kam mir etwas unheimlich vor, so vontödlicher Stille umgeben, in der nur die Brise einewortlose Warnung vor sich hin murmelte. Mir wurde

Page 16 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 14: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 17 ·

klar, dass ich in eine der »toten« Zonen des Viertelseingedrungen war. Ich dachte, am besten sei es, kehrt-zumachen und zum Internat zurückzugehen. Ich warnoch hin und her gerissen zwischen einer krankhaftenFaszination durch diesen vergessenen Ort und demgesunden Menschenverstand, als ich im Halbdunkelzwei gelbe Augen leuchten sah, die sich wie Dolcheauf mich hefteten. Ich schluckte.

Vor dem Gittertor zeichnete sich reglos das grau-samtene Fell einer Katze ab. In ihrer Schnauze rangein Spatz mit dem Tod. Um den Hals trug sie ein sil-bernes Glöckchen. Einige Sekunden musterte michihr Blick. Dann machte sie kehrt und glitt durch dieMetallstäbe davon. Ich sah sie, den Sperling auf seinerletzten Reise davontragend, in der Unendlichkeit die-ses verdammten Edens verschwinden.

Der Anblick des hochmütigen, herausforderndenkleinen Raubtiers fesselte mich. Aufgrund seinesglänzenden Fells und des Glöckchens vermutete ich,dass es sich um eine zahme Katze handelte. Vielleichtbeherbergte dieses Haus mehr als nur die Geistereines verschwundenen Barcelonas. Ich trat näher undlegte die Hände auf die Stäbe des Gittertors. Das Me-tall fühlte sich kalt an. Das letzte Licht der Abend-dämmerung erhellte die Spur, die die Blutstropfendes Sperlings in dieser Wildnis hinterlassen hatten –scharlachrote Perlen, die den Weg durchs Labyrinthvorzeichneten. Wieder versuchte ich zu schlucken,

Page 17 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 15: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 18 ·

doch mein Mund war ausgetrocknet. In meinenSchläfen hämmerte der Puls, als wüsste er etwas, wasmir verborgen war. Da spürte ich unter meinem Ge-wicht das Tor nachgeben und bemerkte, dass es nichtabgeschlossen war.

Bei meinem ersten Schritt ins Innere beleuchteteder Mond die blassen Gesichter der steinernen Engelin der Mitte des Brunnens. Sie beobachteten mich.Meine Füße waren wie festgewurzelt. Ich wartete dar-auf, dass diese Wesen von ihren Podesten sprängenund zu Teufeln mit Wolfsklauen und Schlangenzun-gen würden. Nichts dergleichen geschah. Ich atmetetief und erwog die Möglichkeit, meine Phantasie zumSchweigen zu bringen oder aber, noch besser, meinezaghafte Erforschung dieses Besitzes abzubrechen.Doch jemand anders entschied für mich. Ein himmli-scher Klang erfüllte die Schatten des Gartens wie einParfüm. Ich hörte, wie dieses sphärische Summen all-mählich eine vom Klavier begleitete Arie ziselierte.Eine Frauenstimme – die schönste, die ich je gehörthatte.

Die Melodie schien mir vertraut, dennoch konnteich sie nicht benennen. Die Musik kam aus dem Haus.Ich folgte ihrer hypnotischen Spur. Feine Schichtendunstigen Lichts sickerten aus der angelehnten Türeiner verglasten Veranda. Auf einem Fensterbrett imersten Stock erkannte ich die auf mich gehefteten Au-gen der Katze. Ich trat zu der erleuchteten Veranda,

Page 18 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 16: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 19 ·

woher dieser unbeschreibliche Klang kam. Im Inne-ren flackerte der schwache Abglanz von hundert Ker-zen. Der Schein ließ den goldenen Trichter eines altenGrammophons erkennen, auf dem sich eine Schall-platte drehte. Ich ertappte mich dabei, wie ich, ohnezu überlegen, in die Veranda eindrang, gefesselt vondieser im Grammophon gefangenen Sirene. Auf demTisch mit dem Apparat erkannte ich einen glänzendenrunden Gegenstand, eine Taschenuhr. Ich nahm sieund untersuchte sie im Kerzenlicht. Die Zeiger aufdem zersplitterten Zifferblatt waren stehengeblieben.Sie schien aus Gold zu sein und so alt wie das Haus,in dem ich mich jetzt befand. Etwas weiter entferntstand mit dem Rücken zu mir ein riesiger Sessel voreinem Kamin, über dem ich das Ölbild einer weißge-kleideten Frau erkennen konnte. Ihre großen Augen,traurig und unergründlich, beherrschten den ganzenRaum.

Unversehens zersprang der Zauber. Eine Gestalterhob sich aus dem Sessel und wandte sich zu mir um.Weißes langes Haar und glühende Augen glänztenin der Dunkelheit. Ich sah zwei riesige weiße Hände,die sich mir entgegenstreckten. Von Panik gepackt,begann ich auf die Tür zuzulaufen, stieß dabei gegendas Grammophon und warf es um. Ich hörte, wie dieNadel über die Platte kratzte. Mit einem höllischenKlagelaut brach die himmlische Stimme. Ich stürztein den Garten hinaus, während ich spürte, wie diese

Page 19 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina

Page 17: Unverkäufliche Leseprobe aus · Carlos Ruiz Zafón Page 7 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·8· Page 8 21-SEP-12 18624 | FISCHER S | Zafón | Marina ·9· M arina sagte

· 20 ·

Hände mein Hemd berührten, und durchquerte ihnmit geflügelten Füßen und in meinen sämtlichenPoren brennender Angst. Keinen Augenblick bliebich stehen. Ich lief und lief, ohne zurückzuschauen,bis mir ein stechender Schmerz die Seite durchbohrteund ich begriff, dass ich kaum noch atmen konnte. Dawar ich schon mit kaltem Schweiß bedeckt, und indreißig Meter Entfernung brannten die Lichter desInternats.

Ich glitt durch eine stets unbewachte Pforte ne-ben der Küche und schleppte mich in mein Zimmerhinauf. Die anderen Schüler mussten schon seit ge-raumer Weile im Speisesaal sitzen. Ich wischte mirden Schweiß von der Stirn, und nach und nach fandmein Herz zu seinem normalen Rhythmus zurück.Als ich eben ein wenig ruhiger geworden war, klopftejemand an.

»Óscar, Zeit, zum Abendessen runterzukommen«,sagte einer der Tutoren, ein rationalistischer Jesuit na-mens Seguí, der es hasste, den Polizisten zu spielen.

»Sogleich, Pater«, antwortete ich. »Bloß eine Se-kunde.«

Eilig schlüpfte ich ins vorgeschriebene Jackett undknipste das Licht in meinem Zimmer aus. DurchsFenster sah ich das Gespenst des Mondes hoch überBarcelona. Erst da bemerkte ich, dass ich noch immerdie goldene Uhr in der Hand hielt.

Page 20 21-SEP-12

18624 | FISCHER S | Zafón | Marina