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Ernst Jandl Dozentur für Poetik: Elfriede Czurda "Sprache, Zeichen und Denken" 14.5.2014

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Ernst Jandl Dozentur für Poetik:

Elfriede Czurda

"Sprache, Zeichen und Denken"

14.5.2014

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1) Vygotskij: Denken und Sprechen

Der auf isolierter Eigenständigkeit pochenden Sprachtheorie Bühlers steht eine in jüngerer Zeit wieder viel beachtete entwicklungspsychologische Erklärung des Zusammenhangs von Denken und Sprechen gegenüber, die auch dem Ansatz von Jean Piaget – bei Differenzen im Detail – ähnelt.

Denken und Sprechen sind bei Lev Semënovič Vygotsky in komplexer Weise miteinander verbunden.

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Auch V. lehnt die in der Assoziationspsychologie angenommene statische Verknüpfung von Wort und Gedanke ab und geht von einer dynamischen Entwicklung der Bedeutungen von Wörtern und des Zusammenhangs von Denken und Sprechen im Lauf der Entwicklung des Kindes aus. Anders als Piaget, der das, was er mit dem Konzept des "egozentrischen Sprechens" bezeichnet, im Verlauf der kindlichen Entwicklung verschwinden sieht, nimmt V. an, dass das egozentrische Sprechen eine Stufe in der Ausbildung eines so genannten "inneren Sprechens" ist, das allerdings semantisch und syntaktisch ganz anderen Gesetzen als das externe Sprechen folge und in dieser Hinsicht den besonderen Bildungsgesetzen des egozentrischen Sprechens näherstehe.

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Zudem schlägt V. vor, zwischen zwei Ebenen im Sprechen zu unterscheiden: zwischen der äußeren, lautlichen, phasischen Seite des Sprechens und der inneren, sinnhaften, semantischen Seite des Sprechens, die zwar eine Einheit bilden, aber je unterschiedlichen Bewegungsgesetzen folgen und sich auch im Laufe der Entwicklung des Kindes stark verändern. Das Sprechen sei "seiner Struktur nach keine spiegelhafte Abbildung der Struktur des Denkens. Es kann deshalb dem Denken nicht wie ein fertiges Kleid übergestülpt werden. Das Sprechen dient nicht als Ausdruck des fertigen Gedanken. Indem sich der Gedanke in Sprechen verwandelt, gestaltet er sich um, verändert er sich. Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort." (V., 401)

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Dafür müssten Unterschiede zwischen grammatischen und psychologischen Aspekten des Sprechens angenommen werden, zwischen denen dennoch ein dynamisches Gleichgewicht bestehe. Dass die phasische und die semantische Seite des Sprechens nicht übereinstimmen, schließe aber dennoch die Einheit der beiden Seiten im Wort nicht nur nicht aus, sondern setze sie mit Notwendigkeit voraus (V. 405) So könne sich z.B. hinter ein- und derselben grammatischen Struktur die verschiedenartigste seelische Auffassung verbergen.

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Besonders interessiert im Zusammenhang des hier thematisierten Anteils von Sprache an Selbstbeobachtung Vygotskijs Konzept von "innerem Sprechen". Inneres Sprechen sei fundamental qualitativ und nicht nur graduell von äußerem Sprechen verschieden, denn äußeres Sprechen sei Sprechen für andere, während inneres Sprechen als Kulminationsform des egozentrischen Sprechens Sprechen für sich selbst ist. Inneres Sprechen sei nicht äußeres Sprechen bloß ohne Vokalisation (stumme Rede), sondern gleichsam deren Gegenteil: Äußeres Sprechen ist die Umwandlung des Gedanken in Wörter, während der entgegengesetzte Prozess des inneren Sprechens von außen nach innen gehe, "es ist der Prozess des Verdampfens des Redens im Gedanken". (V., 413)

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Für V. ist ein genetisches Vorgehen, also die Beobachtung der Entwicklung von egozentrischer Rede zu innerem Sprechen beim Kinde, die angemessene Methode, die Natur inneren Sprechens zu erforschen. Anders als Piaget nimmt V. nicht an, dass egozentrische Rede im Lauf der kindlichen Entwicklung verkümmere, sondern dass sie stattdessen verwandelt und verstärkt zu innerem Sprechen, das anderen Regelmäßigkeiten als das externe Sprechen folgt, das Individuum lebenslang begleite. Die Besonderheit der Syntax inneren Sprechens beruhe vor allem darin, dass inneres Sprechen im Vergleich zum äußeren "lückenhafter, fragmentarischer, kürzer" (V., 431) sei.

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Dies rühre vor allem daher, dass anders als bei äußerem Sprechen, vor allem aber anders als bei schriftlichen Sprachäußerungen, Vieles des Gemeinten nicht explizit formuliert werden muss, sondern implizit gegeben ist. Vor allem sind davon die Subjekte und Gegenstände des Gemeinten betroffen – in äußerer Rede wird hier häufig mit Deiktika operiert, was im Falle der inneren Rede zwar erfolge, jedoch nicht explizit ausgeführt sein müsse. Egozentrischer Rede und innerem Sprechen sei die Tendenz zur "Prädikativität der Syntax", i.e. der "Verkürzung von Phrasen und Sätzen in Richtung auf Beibehaltung des Prädikats und der dazugehörigen Satzteile auf Kosten des Subjekts und der ihm zugehörigen Wörter" (V. 432 f.) gemeinsam.

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Die Bedeutung des Phänomens [Verkürzung bei innerer Rede] wird uns endgültig klar, wenn wir das äußere und das schriftliche Sprechen einerseits und das innere Sprechen andererseits miteinander vergleichen. Wenn […] alles, was wir sagen möchten, in den formalen Bedeutungen der von uns benutzten Wörter enthalten wäre, brauchten wir erheblich mehr Wörter, um jeden einzelnen Gedanken auszudrücken, als dies in Wirklichkeit geschieht. Aber genau das ist beim schriftlichen Sprechen der Fall. Hier wird der auszusprechende Gedanke in viel größerem Maße als beim mündlichen Sprechen in den formalen Bedeutungen der benutzten Wörter ausgedrückt. Schriftliches Sprechen ist Sprechen ohne Partner.

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Dass lautliches Äußern im Verlauf egozentrischer Rede abnehme und schließlich bei innerer Rede verschwinde, hänge damit zusammen, dass die Fähigkeit des Kindes sich entwickle, "Wörter zu denken, sie sich vorzustellen statt sie auszusprechen und mit Wortbildern an Stelle der Wörter selbst zu operieren" . Auch Vygotskij bleibt freilich die Erklärung der phänomenalen Beschaffenheit und Funktion solcher Wortbilder weitgehend schuldig – in diese Richtung könnten und sollten weitere introspektive Untersuchungen gehen. Dafür Introspektion und introspektiven Bericht als Methode zu wählen, scheint auch dadurch angezeigt, dass die externe Beobachtung und Registratur des in egozentrischer Rede Vokalisierten die dafür womöglich interessantesten Aspekte aufgrund der beschriebenen Verkürzung gerade nicht enthält.

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Gleiches gilt für den Versuch, inneres Sprechen durch welche Verfahren auch immer – etwa durch Think out Loud – in externer Rede beobachtbar zu machen. Auch dabei könnte durch den Umstand, dass Teile der inneren Rede nicht in Sprachform ausgeführt sind (Verkürzungen, Kurzschlüsse und Einsparungen) das Entscheidende verfehlt werden.

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Damit sei klar der Auffassung zu widersprechen, dass beim Übergang von innerer zu äußerer Rede einfach eine Vokalisation erfolge – stattdessen finde eine "Umstrukturierung des Sprechens, eine Umwandlung der völlig urwüchsigen und eigenartigen Syntax sowie der semantischen und lautlichen Struktur des inneren Sprechens in andere Strukturformen, die dem äußeren Sprechen eigen sind" (V., 456) statt. Die Relation von innerem zu äußerem Sprechen sei die einer komplizierten dynamischen Transformation, bei der prädikatives und idiomatisches inneres Sprechen in ein syntaktisch gegliedertes, mit Nomina versehenes und für andere verständliches äußeres Sprechen umgewandelt werde.

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In metaphorischer Redeweise skizziert V. zwei gegenläufige Bewegungen:

"Ist äußeres Sprechen ein Prozess der Umwandlung von Gedanken in Wörter, der Materialisierung und Objektivierung des Denkens, so beobachten wir hier einen Prozess in umgekehrter Richtung, der gewissermaßen von außen nach innen verläuft, einen Prozess der Verdampfung des Sprechens ins Denken. Das Sprechen verschwindet aber keineswegs in seiner inneren Form. Das Bewusstsein verschwindet überhaupt nicht und löst sich nicht in reine Luft auf. Inneres Sprechen ist immer noch Sprechen, d.h. mit dem Wort verbundenes Denken. Wenn aber im äußeren Sprechen der Gedanke im Wort realisiert wird, so stirbt das Wort im inneren Sprechen, indem es einen Gedanken gebiert." (V. 456f.)

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"Der Gedanke wird nicht nur äußerlich durch Zeichen vermittelt, sondern auch innerlich durch Bedeutungen. Ein unmittelbarer Verkehr zwischen dem Bewußtsein verschiedener Menschen ist nicht nur physisch, sondern auch psychisch unmöglich. Er gelingt nur auf indirektem, vermitteltem Wege. Dieser Weg besteht darin, dass der Gedanke zuerst durch Bedeutungen und dann durch Wörter vermittelt wird. Deshalb ist ein Gedanke niemals mit der direkten Wortbedeutung identisch. Die Bedeutung vermittelt den Gedanken auf seinem Weg zum sprachlichen Ausdruck, d.h. der Weg vom Gedanken zum Wort ist ein indirekter, intern vermittelter." (V., 461)

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Und V. fasst seine Thesen zusammen: "Das Hauptergebnis unserer Forschung besteht daher in der Feststellung, dass die Prozesse, die man für statisch und gleichförmig miteinander verbunden hielt, in Wirklichkeit flexibel verbunden sind. Was früher für einfach gebaut gehalten wurde, erwies sich in unserer Untersuchung als kompliziert. Unser Bestreben, die äußere und die Sinnseite des Sprechens, Wort und Gedanke zu trennen, zielt letztlich darauf ab, jene Einheit, die verbales Denken in Wirklichkeit ist, in komplizierterer Form und in subtilerem Zusammenhang darzustellen. Die komplizierte Struktur dieser Einheit, die komplizierten dynamischen Verbindungen und Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen des verbalen Denkens entstehen, wie die Untersuchung zeigte, nur in der Entwicklung.

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Die Trennung der Bedeutung vom Laut, des Wortes vom Ding, des Gedanken vom Wort sind notwendige Stufen in der Geschichte der Begriffsentwicklung. […] Die Assoziationspsychologie stellte sich die Beziehung zwischen Gedanke und Wort als eine äußere, durch Wiederholung gebildete Verbindung zweier Erscheinungen vor, im Prinzip völlig analog der beim paarweisen Einprägen einer assoziativen Verbindung zweier sinnloser Wörter. Die Strukturpsychologie ersetzte diese durch eine Vorstellung von einer strukturellen Verbindung zwischen Gedanke und Wort, ließ aber das Postulat vom unspezifischen Charakter dieser Verbindung unverändert und stellte sie in eine Reihe mit einer beliebigen anderen Strukturverbindung zwischen zwei Erscheinungen, wie etwa zwischen Stock und Banane in den Versuchen mit Schimpansen.

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Die Theorien, die diese Frage anders lösen wollten, polarisierten sich an zwei entgegengesetzten Auffassungen. Den einen Pol bildet die rein behavioristische Auffassung von Denken und Sprechen, die ihren Ausdruck in der Formel fand: Der Gedanke ist Sprechen minus Laut. […] Unser Resultat lässt sich in ganz wenigen Worten ausdrücken: Die Beziehung des Gedankens zum Wort ist, wie wir sahen, ein lebendiger Prozess der Geburt des Gedankens im Wort. Ein sinnentleertes Wort ist vor allem ein totes Wort." (V., 464f.)

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2) Donald G. MacKay: Inner speech

Die kognitive Verarbeitung von Laut und Sprache bei innerer versus äußerer Rede unterscheidet auch Donald G. MacKay , der damit der lange Zeit geläufigen Auffassung (Baddeley & Logie, in Reisberg 1992) widerspricht, dass sprachliche Ereignisse an einer einzigen Stelle im Gehirn verarbeitet würden, die man in Analogie zum "inneren Auge" ("mind's eye") als "inneres Ohr" ("mind's ear") bezeichnen könnte.

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Im Gegensatz dazu geht MacKay davon aus, dass zwar unterschiedliche Aspekte eines Rede-Ereignisses (Phoneme, Lautstärke, Frequenz, Intonation etc.) zusammen in so genannten "lower level systems", die zur akustischen Analyse dienen, und in Systemen, die die motorische Aktivität zum Erzeugen von Sprache steuern, verarbeitet werden (MacKay, 1987, 16); sie würden jedoch in unterschiedlichen "higher level systems", die geäußerte oder auch nur vorgestellte innere Rede unterschiedlich repräsentieren, verarbeitet. Inneres und äußeres Sprechen würden unterschiedlich verarbeitet, sowohl hinsichtlich ihrer Rezeption als auch ihrer Produktion.

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"The generation of internal speech takes much longer than the perception of otherwise identical overt speech (MacKay, 1987, 114). Similarly, it takes longer to generate an image of, say, a letter (about 2 sec) than to recognize the corresponding visually presented letter (about 500 msec; Cocude & Dennis, 1986). Finally, the maximal rate of internal speech is much faster than the maximal rate of overt speech, all other factors being equal." (MacKay, 131)

Die klassische Hypothese, dass motorische Aktivität zum Wahrnehmen inneren Sprechens und auch anderer Formen von "imagery" (Vorstellungstätigkeit) notwendig sei, wird von MacKay zurückgewiesen.

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MacKays Argument entwickelt sich aus einer Zurückweisung der klassischen Auffassung, dass muskuläre Mikrobewegungen, die nur elektromyographisch feststellbar seien, bei innerem Sprechen und bei Vorstellungstätigkeit insgesamt aufträten und dass dieselbe elektromyographisch feststellbare Aktivität auch der muskulären Aktivität bei normalen Muskelhandlungen unweigerlich vorausgehe. Daraus wurde abgeleitet, dass EMG Aktivität sensorisches Feedback, als eine notwendige Voraussetzung für alle Formen von Denken und Vorstellungstätigkeit, auslöse (dies deckt sich mit der referierten Position von Poeppel/Grush).

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Allerdings ließe sich, wie MacKay dies vorschlägt, einwenden, dass die EMG Innervationen im ganzen Körper auftreten und nicht nur in Bereichen, wo normalerweise Muskelbewegungen in den aktivierten Zonen des Körpers stattfinden (MacKay, 134). Noch verheerender für die EMG Feedback-Hypothese sei es, dass, anders als die hier referierten Studien zu "mental imagery" es nahelegen, keine EMG Aktivitäten für mit innerem Sprechen, stillem Lesen oder Problemlösen assoziierte Vorstellungstätigkeiten im visuellen oder auditorischen Bereich (mit all den caveats, ob den Vorstellungen nun visuelle, auditorische etc. Anteile hätten) notwendig seien (MacKay, 134 bezieht sich auf Sokolov 1972, Pintner 1913 und Weisberg 1980).

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Lähmungen und Betäubungen der Lippen und der Zunge etwa hätten keinen ungünstigen Einfluss auf das Bilden innerer Rede gezeigt (Sokolov, 1972). ). Solche Experimente stehen in krassem Widerspruch zur Hypothese, sensorisches Feedback und mikromuskuläre Aktivität wären zur Produktion und Rezeption inneren Sprechens notwendig. MacKay fasst, mehr als Forschungsprogramm denn als Ergebnis, zusammen:

"What sort of theory will be needed for explaining the fundamental phenomena of inner speech? The theory must postulate a hierarchy of units, including units representing phrases, words, morphemes, and above all, phonological components. In producing inner speech, these units must be activated in sequence, but without activating muscle movement units for overt articulation.

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The theory of inner speech must explain why some aspects of language are impossible to generate internally, why inner speech is sometimes involuntary and difficult to control, and why effects of overt and internal rehearsal on speech production are similar in some respects and different in others. However, the theory of inner speech must not give a central role to articulatory units or abilities, or to electromyographic activity within articulatory, laryngeal and other speech muscles. Nor is it necessary for the theory of inner speech to postulate a strictly auditory code for the 'inner ear'." (MacKay, 146)

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3) Hadamard, Waerden: Denken ohne Sprache

Der Mathematiker Jacques Hadamard formuliert zwei Bedingungen an innere Bilder (Vorstellungen):

(a) That the help of images is absolutely necessary for conducting my thought.

(b) That I am never deceived and even never fear to be deceived by them.

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Hadamard fordert von Aufgaben der Selbstbeobachtung, dass sie nicht nur kontrolliert durchgeführt werden (nach Art von Binets Frage: "What appears in your mind when you think of what you did yesterday?"), sondern dass sie auch straffe und klar umrissene Problemstellungen umfassen, wie es z.B. beim Ausführen oder Verstehen eines mathematischen Beweises der Fall ist (Hadamard 75). Dabei stellt Hadamard an sich fest:

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"I insist that words are totally absent from my mind when I really think and I shall completely align my case with Galton's in the sense that even after reading or hearing a question, every word disappears at the very moment I am beginning to think it over; words do not reappear in my consciousness before I have accomplished or given up the research, just as happened to Galton; and I fully agree with Schopenhauer when he writes, "Thoughts die the moment they are embodied by words. I think it also essential to emphasize that I behave in this way not only about words, but even about algebraic signs. I use them when dealing with easy calculations; but whenever the matter looks more difficult, they become too heavy a baggage for me. I use concrete representations, but of a quite different nature." (Hadamard 75f.)

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"To consider a slightly less simple case, let us take an elementary and well-known proof in arithmetic, the theorem to be proved being: "The sequel of prime numbers is unlimited." I shall repeat the successive steps of the classic proof of that theorem, writing, opposite each of them, the corresponding mental picture in my mind. We have, for instance, to prove that there is a prime greater than 11. (Hadamard 76)

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"What may be the use of such a strange and cloudy imagery? Certainly, it is not meant to remind me of any property of divisibility, prime numbers and so on. This is most important because any such information which it could give me would be likely to be more or less inaccurate and to deceive me. Thus, that mechanism satisfies condition (b) previously required. On the contrary, this condition is but partly satisfied by Binet's hypothesis: giving precision to unconscious ideas would always risk altering them."

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But at the same time, one can easily realize how such a mechanism or an analogous one may be necessary to me for the understanding of the above proof. I need it in order to have a simultaneaus view of all elements of the argument to hold them together, to make a whole of them - in short to achieve that synthesis which we spoke of in the beginning of this section and give the problern its physiognomy. It does not inform me on any link of the argument (i.e., of any property of divisibility or primes); but it reminds me how these links are to be brought together. If we still follow Poincare's comparison, that imagery is necessary in order that the useful hookings, once obtained, may not get lost.

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Welche Modalität das jeweilige Vorstellungsbild einnehme, sei weniger wichtig, Hauptsache es sei vage. (Hadamard 85) Die Fixierung auf Vorstellungsbilder aus der visuellen Domäne sieht Hadamard allerdings eigentümlicherweise gerade deshalb für sich zutreffend, weil er selbst seiner Einschätzung nach dem auditorischen Typ angehöre. Er erklärt das damit, dass visuelle Vorstellungsbilder deshalb für ihn vager seien, als auditorische es wären, und gerade dadurch die Gefahr geringer sei, dass sie ihn als deutlich ausgeführte, wie in seiner 2. Bedingung ausgeführt, in die Irre führen könnten, weil er auf ihre Phänomenalität achten könnte und versuchen, aus dem ihm im Vorstellungsbild präsenten etwas wie an einem externen Gegenstand abzulesen.

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Wörter aber seien bei Hadamard in seinen Selbstbeobachtungen beim Problemlösen völlig abwesend, erst in dem Moment, da er sich darüber Gedanken mache, wie die Ergebnisse seiner Überlegungen in schriftlicher oder mündlicher Form mitzuteilen seien, tauchen Wörter auf.

Dies erinnert an die von Dan Slobin (Slobin) in die Debatte um Sprachrelativismus eingebrachte Spezifizierung, dass Wörter dann für das Denken eine Rolle spielen, wenn es das mentale Vorbereiten von Srachäußerungen geht.

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Zusätzlich führt Hadamard aus, dass beim mathematischen Problemlösen nur selten Worte auftauchen, um Zwischenresultate beim Denkprozess zu fixieren: "they [inner words] may, as William Hamilton observes, be the intermediary 'necessary to give stability to our intellectual process, to establish each step in our advance as a new starting point for our advance to another beyond' (Hamilton) – in which William Hamilton is right but for the fact that any relay-result can play such a role." Interessant in unserem Zusammenhang ist die von Hadamard mitgeteilte (und zugleich bezweifelte) Variante des "typographischen visuellen Typs", der beim Selbstbeoachten seine Gedanken in Form korrespondierender gedruckter Worte sehe.

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"The first discovery of this by Ribot was the case of a man whom he mentions as a well-known physiologist. For that man, even the words 'dog, animal' (while he was living among dogs and experimenting on them daily) were not accompanied by any image, but were seen by him as being printed. Similarly, when he heard the name of an intimate friend, he saw it printed and had to make an effort to see the image of this friend. It was the same with the word 'water,' and carbonic acid or hydrogen appeared to his mind either by their printed full names or by their printed chemical symbol. Being strongly surprised by that statement, the sincerity and accuracy of which were not to be doubted, Ribot later on observed that that case was by no means a unique one and similar ones were to be found in several people." (Hadamard 90-92)

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Man kann's glauben oder nicht – auf jeden Fall verlöre ein Vorstellungsbild in gedruckter Buchstabenform entweder den Charakter der Vagheit, oder aber dem schriftsprachlichen Vorkommnis würde ein nur so vager und Zwischenergebnisse festhaltender Charakter attestiert, dass die sprachlichen Aspekte des (Selbst-)Beobachteten damit auch wieder epiphänomenal wären und kaum eine funktionale Rolle für den Denkverlauf spielten.

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Obwohl vor allem Philosophen dazu neigen, logisches Denken mit dem Gebrauch von Worten verquickt zu sehen und auch angesehene Psychologen wie Max Müller (Müller) dem Wort Klarheit, Einfachheit und Nicht-Irrbarkeit unterstellen sowie eine Wissenschaft des Denkens auf einer Wissenschaft der Sprache fundiert sehen möchten, erscheinen für Hadamard jedenfalls die Berichte von Denkern in Worten unwahrscheinlich und im Lichte seiner Forderungen an innere Vorgänge beim Problemlösen geradezu verderblich: "For those of us who do not think in words, the chief difficulty in understanding those who do lies in our inability to understand how they can be sure they are not misled by the words they use – see our condition (2). […] .As Ribot says, 'The word much resembles paper money (banknotes, checks, etc.), having the same usefulness an the same dangers.'" (Hadamard, )

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Dass auch von Seiten der Sprach- und Literaturwissenschaft einer der herausragenden Zeitgenossen Hadamards, Roman Jakobson, sich in vergleichbarer Weise zur Rolle von Sprache für Denkprozesse gegenüber Hadamard in persönlicher Kommunikation geäußert hat, ist sowohl wissenschaftshistorisch bemerkenswert, unterstützt aber auch das von ihm Ausgeführte aus der Innenperspektive des mit Literatur und Sprache Befassten:

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"'Signs are a necessary support of thought. For socialized thought (stage of communication) and for the thought which is being socialized (stage of formulation), the most usual system of signs is language properly called; but internal thought, especially when creative, willingly uses other systems of signs which are more flexible, less standardized than language and leave more liberty, more dynamism to creative thought. […] Amongst all these signs or symbols, one must distinguish between conventional signs, borrowed from social convention and, on the other hand, personal signs which, in their turn, can be subdivided into constant signs, belonging to general habits, to the individual pattern of the person considered and into episodical signs, which are established ad hoc and only participate in a single creative act.'" (Jakobson bei Hadamard 96f.)

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Überhaupt scheint dem Problemlösen im Bereich mathematischer und geometrischer Aufgaben eine besondere Rolle für das Erfassen von Denkvorgängen insgesamt beizukommen, wenigstens vermuten das manche Mathematiker, unter ihnen Bartel Leendert van der Waerden: "Der Mathematiker ist, meiner Ansicht nach, mehr als andere Wissenschaftler geeignet, über das Denken zu urteilen, weil die Reflexion über das eigene Denken sein tägliches Geschäft ist." (Waerden, 165) Worten und Sprache schreibt Waerden dabei eine marginale Rolle zu, z.B. anhand der Pascal'schen Schneckenlinie (Limacon), die er durch drei miteinander durch Assoziation verbundene Vorstellungen im Geiste des Mathematikers repräsentiert sieht:

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"1) Eine vorwiegend motorische Vorstellung, wie die Kurve durch Ziehen von Linien, Abtragen von Strecken usw. erzeugt wird; 2) Eine visuelle Vorstellung, wie die Kurve aussieht; 3) Eine sprachliche Vorstellung, wie die Kurve heißt. Die erste Vorstellung ist wesentlich: hat man sie vergessen, so hat man den Begriff der Kurve nicht mehr, auch wenn man weiß, wie sie aussieht. Die motorische Vorstellung vom Ziehen der Linien, Abtragen der Strecken usw. kann bei visuell Veranlagten auch durch die visuelle Vorstellung der gezogenen Linien und gleichen Strecken ersetzt werden. Mit Sprache hat das alles nichts zu tun: man kann die Kurve für sich allein zeichnen und erforschen, ohne eine Mitteilungsabsicht. Das Zeichnen der Kurve ist eine Handlung, keine Gebärde.

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Die zweite Vorstellung, die visuelle, ist zur Not entbehrlich: aus der Erzeugungsweise der Kurve kann ihre Gestalt jederzeit ableiten. Die dritte Vorstellung, der Name der Kurve, ist völlig unwesentlich. Denn Pascal, der die Kurve entdeckt hat, hat sie zuerst motorisch erzeugt, dann hat er gesehen, daß sie einer Schnecke gleicht, und schließlich hat er ihr den Namen Limacon gegeben. Er hat einen völlig klaren Begriff von der Kurve gehabt, bevor er den Namen erfand. Eine vierte Vorstellung, die man mit der Kurve assoziieren kann, ist die Vorstellung einer Formel, nämlich der Gleichung der Kurve. Aber diese Vorstellung ist sekundär und leicht entbehrlich: die Gleichung der Kurve kann aus ihrer Definition jederzeit abgeleitet werden. Meistens vergißt man die Formel auch gleich wieder." (Waerden, 166)

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Zum Erfassen geometrischer Begriffe und Sachverhalte seien nur visuelle und motorische Vorstellungen nötig, keine Wortvorstellungen. So könnten etwa Kurven in der Vorstellung durchlaufen werden, wobei es allerdings nicht notwendig sei, eine je angemessene Modalität (also z.B. visuell oder motorisch) in der Vorstellung zu aktivieren. Denn Vorstellungen der einen Modalität (also z.B. der visuellen) könnten durch Vorstellungen der je anderen (also z.B. der motorischen) ersetzt werden. (vgl. Waerden, 167) Aber auch logische Verknüpfungen zwischen Sachverhalten seien ebenso wie Syllogismen nicht an sprachlichen Ausdruck gebunden, was sich sowohl introspektiv, aber auch durch einen Blick in die Sprachgeschichte herleiten lasse.

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Anhand des Beispiels der logischen Relation von Kausalität und der sprachgeschichtlichen Entwicklung der dazugehörigen Konjunktionen ("weil", "da", "denn", "daher", "deshalb", "also") in verschiedenen Sprachen weist Waerden nach, dass unsere "Kultursprachen […] ursprünglich kein Wort gehabt [haben], das die logische Folgerung ausdrückt. Als man systematisch zu denken anfing, hat man das Bedürfnis nach solchen Worten empfunden und hat dann allerlei Ausdrücke an den Haaren herbeigeschleppt, die eigentlich Gleichzeitigkeit, räumliches Zusammenfallen, räumliche Herkunft, Zweck oder Ähnlichkeit bedeuten. Man hat also zuerst den Begriff gehabt und dann ein passendes Wort dazu gesucht." (Waerden, 168)

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Denn logische Zusammenhänge ließen sich in Sprache auch ohne explizite Erwähnung ausdrücken, etwa in den beiden Sätzen:

"Er ist ausgegangen. Ich habe ihn selbst gesehen" – hier sei der logische Zusammenhang in einer so offensichtlichen Weise mitgedacht, dass er nicht ausgesprochen zu werden braucht.

Ganz Vergleichbares gelte für Syllogismen, die zuerst gedacht und dann erst formuliert werden müssten – so verwendete die griechische Mathematik logische Schlüsse längst bevor Aristoteles die Regeln des Schließens formulierte. "Die Richtigkeit eines Schlusses 'sieht man ein' (ein wunderbarer Ausdruck: man blickt in sich selbst hinein) durch Denken, nicht durch Vergleich mit irgend welchen Sprachregeln." (Waerden, 168)

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Nicht die sprachlichen Formen des Schließens seien interessant, sondern Gedanken und Beweismethoden – Ähnliches gelte für alltägliche Gedankenleistungen (praktisches Denken): nicht die Worte "Stein", "Abstand", "Ufer", "Sprungkraft" spielten z.B. beim Planen des Sprungs über einen Bach eine Rolle, sondern die Einschätzung auf der Basis von früherer Erfahrung und mentalem Probehandeln (Vorstellen) trage dazu bei, ob man den Sprung über den Bach wagt oder lieber zur entfernten Brücke geht. (Waerden, 169)

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Eine größere Ähnlichkeit als Geometrie und logisches Schließen zu einer natürlichen Sprache weisen scheinbar mathematische Formeln auf – diese seien jedoch in ihrer Bedeutung für mathematisches Denken überschätzt. Waerden berichtet die Anekdote von David Hilbert, in der dieser "einen Vortrag einer jungen Dame mit den Worten unterbrach: 'Aber Fräulein, das ist ja alles nur Kreide, eine ganze Tafel voll Kreide, aber wir wollen Begriffe haben!' Nun gibt es zwar Mathematiker, sogar ausgezeichnete Mathematiker, die sehr stark formelmäßig denken. Ich bewundere manchmal ihre unglaubliche Gewandtheit im eleganten Umformen von komplizierten Formeln. Aber diese Art formales Denken ist nicht typisch für das mathematische Denken im allgemeinen. Die größten Fortschritte macht die Mathematik nicht dann, wenn eine neue schöne Formel gefunden wird, sondern wenn ein neuer Gedanke auftaucht." (Waerden 169)

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Die Hilbert'sche Anekdote deckt sich mit einem introspektiven Bericht, den Hermann von Helmholtz in der Tischrede zu seinem 70. Geburtstag formuliert: "Da ich aber ziemlich oft in die unbehagliche Lage kam, auf günstige Einfälle harren zu müssen, habe ich darüber, wann und wo sie mir kamen, einige Erfahrungen gewonnen, die vielleicht Anderen noch nützlich werden können. Sie schleichen oft genug still in den Gedankenkreis ein, ohne dass man gleich von Anfang ihre Bedeutung erkennt; später hilft dann zuweilen nur noch ein zufälliger Umstand, um zu erkennen, wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie da, ohne dass man weiss woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration.

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So weit meine Erfahrung geht, kamen sie nie dem ermüdenden Gehirne und nicht am Schreibtisch. Ich musste immer erst mein Problem nach allen Seiten so viel hin- und hergewendet haben, dass ich alle seine Wendungen und Verwickelungen im Kopfe überschaute und sie frei, ohne zu schreiben, durchlaufen konnte." (Helmholtz 1891)

Waerden vermutet, dass Vorstellungen als Stellvertreter für Begriffe im Denken verwendet werden (die Problematik dieser Terminologie einmal ausgeblendet), diese Vorstellungen müssten nicht, könnte aber manchmal, Worte sein.

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"In unserem Denken spielen sprachliche Vorstellungen fast dauernd hinein, einmal als Objekte des Denkens und einmal als Hilfsmittel beim Denken. Wir denken über Sprache: wir erinnern uns an Worte, die jemand gesprochen hat und wir denken darüber nach, was er wohl damit gemeint hat, oder wir überlegen uns, was wir sagen oder schreiben werden. Wir denken aber auch mit Hilfe der Sprache: wir benutzen Wortvorstellungen als bequeme Stellvertreter von Begriffen." (Waerden, 171) Wortvorstellungen seien manchmal praktisch, bequem und effizient, deshalb benützten wir sie so selbstverständlich im Denken, dass wir dadurch fälschlich verführt sind, in ihnen die einzigen Werkzeuge des Denkens zu sehen.

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Es verhält sich mit der Sprache eben nicht anders wie mit allen anderen Vorstellungsbereichen. Um im Raume unseren Weg zu finden und geometrisch zu denken, sind visuelle Vorstellungen nicht unbedingt nötig. Blindgeborene finden den Weg auch und können sich räumliche Dinge so gut vorstellen wie wir. Da wir aber visuelle Vorstellungen haben, benutzen wir sie auch und finden so unseren Weg viel leichter. Ebenso sind akustische Vorstellungen für unser Denken, Fühlen und Handeln nicht nötig. Der Taubstumme hat sie nicht und kann trotzdem sogar Sprachen lernen. Der Hörende hat es aber leichter: er lernt Sprachen durch das Ohr. Genau so ist Denken ohne Sprache möglich, aber die Sprache erleichtert das Denken und schafft neue Objekte für das Denken.

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Wir denken eben über alles was wir uns vorstellen können, also auch über Sprache, und von jeder Erleichterung des Denkens machen wir nur zu dankbar Gebrauch. […] Für das Denken spielt die Art der Vorstellungen, mit denen es arbeitet, nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ob es akustische, motorische oder visuelle Vorstellungen sind, ob Wortvorstellungen oder andere Symbole die Begriffe vertreten, es ist für Das Denken prinzipiell gleichgültig. Worte sind manchmal leichter zu handhaben als andere Symbole, das ist alles." (Waerden, 172)

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4) Meyer: Das Stilgesetz der Poesie

In seinem Ansatz zum Sprachverstehen widmet Bühler ein ausführliches Unterkapitel den Besonderheiten des Verstehens von sprachlichen Kunstwerken. Dazu referiert und rekonstruiert er den Ansatz Theodor A. Meyers aus dessen Band "Das Stilgesetz der Poesie" (Meyer 1901/1990). Auch in diesem Abschnitt geht Bühler mit Meyer davon aus, dass es, wie beim Sprachverstehen überhaupt, nicht Vorstellungen und Anschauungen seien, die der Dichter in uns anregt, sondern Gedanken (Bühler, 124).

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"Das erste, was wir vom Dichtwerk erfassen, ist also sein gedanklicher Gehalt; aus ihm erst können sich Bilder entwickeln, die diesen Gehalt partiell zu versinnlichen vermögen. Der Dichter schafft also, symbolisch gesprochen, nicht von außen nach innen, wie die alte Lehre annahm, sondern von innen nach außen. Er gibt uns Gedanken, darum ist Poesie Gedankenkunst, nicht Vorstellungskunst; die Vorstellungen entwickeln sich erst aus den Gedanken oder wir müssen sie uns selbst hinzuproduzieren, wenn wir sie haben wollen." (Bühler, 124)

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Die auch Bühler überzeugende Begründung dafür, dass Dichtung Gedanken und nicht Vorstellungen anrege, sieht Meyer in ihrem Darstellungsmittel: der Sprache. Denn in Meyers Auffassung muss alles, was in Sprache eingehen soll, entsinnlicht werden:

"Schon die Wortbedeutungen sind nach Meyer keine Anschauungen; die Hauptmerkmale der Bedeutungsbewußtseinsinhalte sind ein hoher Grad von Abstraktheit, eine außerordentlich lockere Fügung der sie zusammensetzenden Teile und eine Sparsamkeit, die sich darin äußert, daß von ihnen nur das im Bewußtsein hervortritt, was zur Anknüpfung ans Vorausgehende und Folgende notwendig ist. All das gilt für die poetische Sprache ebensogut wie für die Prosa.

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Die Satzbedeutungen sind noch weniger anschauliche Vorstellungen oder Vorstellungsfolgen; man könnte im Sinne Meyers vielleicht so sagen: der Dichter kann zweitens deshalb nicht anschaulich auf uns wirken, weil er in Sätzen zu uns sprechen muß. Und endlich ist auch nicht eine ganze Rede, ja nicht einmal eine Schilderung, an Anschauungsgesetze gebunden. Die Sprache zerlegt mit souveräner 'Willkür einen darzustellenden Tatbestand, nimmt voraus, was zeitlich nachkommt und holt in Parenthese die Ursache eines Geschehens nach; sie überspringt ganze Phasen eines Prozesses, um dann zum Schlusse eine Momentaufnahme von ihm zu geben." (Bühler, 125)

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Anders als Bühler mit Meyer sieht Hubert Roetteken die Rolle der Poesie als Gedankenkunst weniger ausschließlich – auch sinnliche Vorstellungsbidler spielten Roetteken zufolge eine Rolle:

"Herr Roetteken: Theodor Meyer geht meiner Ansicht nach zu weit und verallgemeinert zu sehr; es gibt Verse, bei denen mir schon für das bloße Verstehen des Sinnes das Emportauchen anschaulicher Sinnenbilder nötig zu sein scheint. In Kleists Penthesilea verfolgt die Heldin den Achilles; ein Botenbericht teilt uns mit, daß Achilles hoch oben an einem steilen Abhang gestanden, und Penthesilea von unten her den pfadlosen Hang zu erklimmen sich angeschickt habe; dann heißt es:

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Der Helmbusch selbst, als ob er sich entsetzte,

Reißt bei dem Scheitel sie von hinten nieder.

Die Verse sind wohl nur dadurch zu verstehen, daß, wenn auch nur flüchtig und sehr unvollständig, ein optisches Phantasiebild auftaucht und uns zeigt, wie Penthesilea an dem Hange emporblickt und nur der Helmbusch von ihrem nach rückwärts übergebogenen Haupte frei und gerade herabfällt, so daß er den Eindruck der Schwere macht. Stellen sich außerdem entsprechende reproduzierte Körperempfindungen in Kopf und Nacken ein, so werden die Verse dadurch noch lebendiger und wirksamer." (Bühler, 127)

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Der Ästhetiker Theodor A. Meyer hingegen sieht die Möglichkeiten der Selbstbeobachtung beim Sprachverstehen insgesamt und beim Rezipieren von Gedichten erschwert, wenn auch nicht unmöglich: "Selbstbeobachtung auf dem Gebiet des Vorstellens ist außerordentlich schwierig. Ruh- und rastlos fliegen die durch die lebendige Rede oder die Lektüre geweckten Vorstellungen an uns vorüber und wollen sich nicht beschauen lassen. Versuchen wir es aber sie zum Stehen zu bringen, um sie nach ihrem Was und Wie auszufragen, so nehmen sie sofort andere Formen an, als sie in ihrem eilenden Flug an sich trugen: sie beginnen sich bald den Begriffen zu nähern mit ihrer scharfen verstandesmäßigen Bestimmtheit, bald sich in innere Wahrnehmungsbilder zu verwandeln. Man kann also nicht vorsichtig genug in der Selbstbeobachtung sein." (Meyer, 65)

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"Das sprachliche Vorstellen ist ein eigenes Vermögen unseres Geistes, das sich in eigenen Formen und nach eigenen Gesetzen bewegt; indem es sich über die Formen des anschaulich Gegebenen hinwegsetzt, offenbart es auf seinem Gebiete die Herrlichkeit und Freiheit unseres Geistes, der sich in der Verfolgung seiner Zwecke durch das Sinnliche nicht binden läßt – das ist das Ergebnis unserer Untersuchung über die Natur unseres Vorstellens." (Meyer, 74) Damit deckt sich Meyers Einschätzung der Sprache mit den Auffassungen des späteren Bühler (jenes als Autor der "Krise der Psychologie", vor allem aber mit seiner die Darstellungsfunktion der Sprache betonenden "Sprachtheorie"), für den Sprache kraft ihrer Zeichenfunktion, ihrer Fähigkeit, für etwas anderes zu stehen, ein besonderer Charakter zukommt:

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"das sprachliche Darstellungsgerät gehört zu den indirekt Darstellenden, es ist ein mediales Gerät, in welchem bestimmte Mittler als Ordnungsfaktoren eine Rolle spielen. Es ist nicht so in der Sprache, daß die Lautmaterie kraft ihrer anschaulichen Ordnungseigenschaften direkt zum Spiegel der Welt erhoben wird und als Repräsentant auftritt, sondern wesentlich anders. Zwischen der Lautmaterie und der Welt steht ein Inbegriff medialer Faktoren, stehen (um das Wort zu wiederholen) die sprachlichen Mittler […]." (Bühler 1934, 151)

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Meyer zufolge gelange gerade in der Dichtung dieser von Bühler angenommene ausgezeichnete Charakter der Sprache zu voller Entfaltung. Zu unterscheiden sei zwischen den sinnlich anschaulichen Teilen der Sprache, ihrem Klang ("sei es der Klang, der den Wörtern infolge ihrer lautlichen Beschaffenheit anhaftet, oder der Klang, in dem sie vom Redenden gesprochen wird" [Meyer, 77]), und den unanschaulichen Teilen der Sprache, als Ausdrucksmittel des Gedankens, allerdings: "Reden und Gedanken der Dichtungsgestalten wiederholen nicht noch einmal in verständlicherer Form, was schon in dem vom Dichter gegebenen Sinnlichen ausgedrückt wäre, sondern sie sind selbständige Ausdrucksmittel der Poesie." (Meyer, 77)

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Dennoch habe der Dichter mit dem so unanschaulichen Mittel der Sprache die Möglichkeit, auf den Rezipienten zu wirken: "Was der Dichter mit seinem unanschaulichen Mittel schafft, ist nicht innere Sinnlichkeit und innere Sinnenwahrnehmung, sondern nur Schein der inneren Sinnlichkeit und Sinnenwahrnehmung. Aber dieser Schein ist psychisch notwendig und darum ist die Täuschung für lebhafter empfindende Naturen so unentrinnbar. Der Begriff Illusion bedeutet also für uns etwas anderes als für den Anschauungsästhetiker. Dieser will damit sagen, die innere Sinnenwahrnehmung erreiche in der Poesie einen Grad der Lebhaftigkeit, daß uns zumute ist, als sei das innerlich Wahrgenommene auch äußerlich sinnlich gegenwärtig. Für uns ist schon die innere Sinnenwahrnehmung, die der Anschauungsästhetiker als Realität behauptet, eine Täuschung." (S. 232f.)