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Wie wurden die Buchstaben und Interpunktionszeichen das, was sie sind? Ursula Bredel & Beatrice Primus, Universität zu Köln Die vorliegende Dokumentation ist zugänglich unter www.uni-koeln.de/scriptio Eine ausführlichere Behandlung der Thematik findet man im Begleitband zur Ausstellung Kosmos der Zeichen Schriftbild und Bildformel in Antike und Mittelalter Römisch-Germanisches Museum Köln 25. Juni – 30. September 2007

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Wie wurden die Buchstaben

Ursula Bredel &

Die vorliegendw

Eine ausführlichere Behand

Schriftbild undRömisch

25.

Kosmos der Zeichen Bildformel in Antike und Mittelalter -Germanisches Museum Köln

Juni – 30. September 2007

und Interpunktionszeichen das, was sie sind?

Beatrice Primus, Universität zu Köln

e Dokumentation ist zugänglich unter ww.uni-koeln.de/scriptio lung der Thematik findet man im Begleitband zur

Ausstellung

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_____________________________________________________________________ Ursprung und Verbreitung unseres Alphabets ___________________________________________________________________________ Die ältesten Vorgänger unseres Alphabets wurden im 2. Jahrtausend vor Chr. im Nahen Osten von Phöniziern und anderen altsemitischen Völkern entwickelt. Auf der phönizischen Schrift basieren nach einigen Wandlungen die Alphabete der griechischen und römischen Kultur. Weitere Ableger sind die kyrillische, hebräische, arabische und indische Schrift.

Das römische Alphabet besitzt noch heute mit wenigen Änderungen Gültigkeit für uns und hat sich in vielen Ländern der Welt durchsetzen können.

Zu den ältesten Funden der phönizischen Schrift gehört die Inschrift auf dem Sarkophag des Ahirom aus Byblos im heutigen Libanon (ca. 1000 v. Chr.). Die Abbildung zeigt den Namen ʔʔʔʔAH ĪRŌM mit einer griechischen und phonetischen Umschrift (zu lesen von rechts nach links; dem ersten Buchstaben, dem späteren <A>, entspricht der Kehlkopf-Verschlusslaut ʔʔʔʔ):

M P H A [ m r ħ ʔ ]

Die phönizische Schrift war, wie heute noch das Arabische oder das Hebräische, eine linksläufige Konsonantenschrift. Erst mit der Einführung der Vokalbuchstaben durch die Griechen können prinzipiell alle Sprachlaute eine eigene Buchstabenentsprechung haben.

Der phönizische Ursprung unseres Alphabets ist in der Ahirom-Inschrift klar erkennbar. Die Buchstabenformen unterscheiden sich im Wesentlichen nur in ihrer räumlichen Orientierung.

Die Exponate dieses Ausstellungsprojekts dokumentieren die wichtigsten Stationen in der Entwicklung der Buchstabenformen und Interpunktionszeichen unseres Alphabets. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht führt diese Entwicklung zu einem modernen Schriftsystem, das die verschiedenen Aspekte der Sprache immer genauer und systematischer abbildet und damit Lesern und Schreibern einen optimalen Zugriff auf Laute, Wörter, Sätze und Texte ermöglicht. Abbildung: Dr. Reinhard G. Lehmann, Universität Mainz

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___________________________________________________________________________ Griechische Grabinschrift, Rhodos, 6. Jh. v. Chr.1 ___________________________________________________________________________ Die griechische Schrift hat sich spätestens seit dem 8. Jh. v. Chr. aus der phönizischen Schrift entwickelt. Die ausgestellte Inschrift ist ein bedeutendes Zeugnis der frühen Entwicklungs-stufe. Umschrift und Übersetzung der ersten zwei Zeilen lauten: → Σ A M A T O Z I ∆ A dieses Grab des Ida- ← meneus mach-(te ich ... ) Ein aus dem Phönizischen übernommener Wesenszug ist die Hierarchie der Buchstabenteile: einer vertikalen Hauptlinie ordnen sich fakultative Nebenlinien (Codas) unter, vgl. E: E, Ǝ Ι vertikale Hauptlinie Ξ drei Codas Die Buchstaben sind tendenziell gleichförmig lang, eckig und symmetrisch. Diese Merkmale charakterisieren im Wesentlichen auch die heutigen Großbuchstaben.

Die Linksläufigkeit im Phönizischen wurde bis zum 4. Jh. v. Chr. durch Rechtsläufigkeit ersetzt. In der Übergangszeit gab es beide Richtungen sowie den hier gezeigten Boustrophedon.2 Hier wechselt die Orientierung zeilenweise und jeder vertikal asymmetrische Buchstabe verfügt auch über ein Spiegelbild, vgl. E, Ǝ. Diesen Nachteil gleichen symmetrische Buchstaben aus.

Der Text hat keine Worttrenner oder Satzzeichen, ein Wesenszug der scriptio continua, die bis zum frühen Mittelalter in Gebrauch bleibt. Beim Lesen ununterbrochener Buchstaben-folgen mussten die Buchstaben einzeln „aufgelesen“ werden, um sie dann zu Silben und schließlich zu Wörtern und Sätzen zusammenzusetzen. Das Lesen geschah in der Regel laut: Die Stimme lieferte dem Auge eine zusätzliche Gedächtnisstütze. Durch die Mitartikulation wurde das Gelesene nicht nur im visuellen, sondern zusätzlich im auditiven Arbeitsgedächtnis gespeichert.

Wie anders das Lesen unter diesen Bedingungen ausgesehen haben muss, lässt sich ahnen, wenn man die übersetzten ersten beiden Zeilen der Schreibweise auf der Inschrift anpasst: → D I E S E S G R A B D E S I D A ←

1 Antikensammlung Berlin 2 Vgl. griech. βους ‚Ochsen’, στρέφω ‚wenden’ „Wenden des Ochsens beim Pflügen“

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___________________________________________________________________________ Römische Weihinschrift, Köln, 3. Jh. n. Chr.3 ___________________________________________________________________________ Die Römer haben die Alphabetschrift wahrscheinlich über die Etrusker von den Griechen übernommen. Diese auf einem Altar angebrachte Weihinschrift dokumentiert die römische Capitalis, die seit dem 1. Jh. v. Chr. die Form der Großbuchstaben bis heute prägte. Umschrift und Übersetzung der ersten zwei Zeilen lauten: DEO·SANCTO·N[eptuno pro] SALUTE·DDNN·VA[leriani] DD = dominorum, NN = nostrorum Dem heiligen Gott Neptun für das Wohl unserer Herren, (Kaiser) Valerian (und ...) Die Entwicklung der Buchstabenformen lässt sich zusammenfassend als Kursivierung charakterisieren und umfasst im Einzelnen drei Neuerungen: Rundung, Asymmetrie und Hauptlinien unterschiedlicher Länge. Sie wird in der Entwicklung der Kleinbuchstaben kulminieren.

Die Rundung zeigt sich in den folgenden griechisch-römischen Buchstabenpaaren:

Γ – C, ∆ – D, Π – P, Σ – S Die vertikale Asymmetrie, die Hauptlinie und Coda sichtbar trennt, wurde in folgenden Fällen eingeführt:

∆ – D, Λ – L, Π – P Die gleichmäßige Länge der römischen Capitalis-Buchstaben bleibt den Großbuchstaben bis heute erhalten.

Gegenüber der griechischen Boustrophedon-Inschrift weist das römische Schriftzeugnis Worttrenner auf, in Form eines Punktes auf der virtuellen Mittellinie. Dieses noch nicht durchgängig realisierte Worttrennungsverfahren stellt gegenüber der scriptio continua einen Fortschritt dar. Von einer scriptio discontinua kann allerdings erst mit der Einführung der Worttrennung durch Leerzeichen gesprochen werden.

3 Römisch-Germanisches Museum, Köln

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___________________________________________________________________________ Apollodor Über Götter, Papyrusfragment, Herkunft unbekannt, 1. Jh. v. Chr.4 ___________________________________________________________________________ Die Kursivierung wird durch mehrere, sich gegenseitig bedingende Faktoren unterstützt, wie etwa Beschreibstoff und Textfunktion. Die Rolle des Beschreibstoffes zeigt sich darin, dass gegenüber der zurückhaltenden Kursivierung der bevorzugt in Stein gemeißelten römischen Capitalis die auf Papyrus angebrachte Schrift viel kursiver ist.

Der hier ausgestellte griechische Papyrus wird dem bedeutenden Werk Über Götter von Apollodor von Athen (2. Jh. v. Chr.) zugeschrieben. Umschrift und Übersetzung der ersten zwei Zeilen lauten:

Ε Κ Τ Α Σ Τ Ο Υ ∆ Ι Ο Σ Φ Α Ν Τ Ι Κ Ε Φ Α Λ Α Σ Α Π Ο Λ Ε Σ Α Ι Π Ρ Α Τ Ι Σ Τ Α Π Α Ν Τ Ω Ν

Sie sagten, dass [Athene], aus dem Haupt des Zeus [entsprungen], als erste von allen in der gegen Kronos stattfindenden Schlacht den Pallas tötete.

Klar erkennbar ist auf diesem Papyrus die ausgeprägte Kursivierung der Großbuchstaben, vgl. insbesondere das Epsilon , Sigma , Alpha und Omega .

Bemerkenswert ist die Durchbrechung der gleichförmigen Buchstabenlänge bei Phi , die bei den späteren Kleinbuchstaben systematisch fortgesetzt wird.

Dieser Papyrus ist, wie die griechische Boustrophedon-Inschrift, in scriptio continua verfasst. Nur gelegentlich findet man einen Leerraum (vgl. Zeile 5), der Dichterzitate abschließt oder das Satzende markiert. Außerdem findet man einige Paragraphenzeichen.

4 Kölner Papyrus-Sammlung

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___________________________________________________________________________ Römischer Graffito auf Krugboden, Remagen, 1. Jh. n. Chr.5 ___________________________________________________________________________ Mit Bezug auf die Funktion des Textes lassen sich in der römischen und griechischen Antike zwei parallele Entwicklungen feststellen:

In den spärlich erhaltenen, nicht-öffentlichen Zeugnissen begegnen uns spontane und daher innovative Alltagsschriften, in denen Interpunktion und Kleinbuchstaben (Minuskeln) bereits erprobt werden. In Schriftstücken mit öffentlich bedeutendem Inhalt gibt es die konserva-tiveren Monumentalschriften, kalligraphisch sorgfältig ausgeführte und streng normierte Großbuchstabenschriften wie die Capitalis.

Alltagsschriften finden wir als Wandkritzeleien in Pompeji und Herculaneum, in Privat-briefen, Zeugenaussagen und Quittungen auf Bleitäfelchen oder Papyrus, oder wie hier gezeigt, als in feuchtem Ton eilig eingeritzte Sprüche. Umschrift und Übersetzung des vulgärlateinischen, nicht fehlerfreien Textes auf dem ausgestellten Krugboden lauten: quisquis·ammat Wer Knaben und Mädchen ohne Ende liebt, pueros·sene· der bringt die Summe des Geldbeutels nicht zurück. finem·puellas· rationem·saccli· norefert· Das wesentliche Strukturmerkmal einer Minuskelschrift ist in diesem Graffito bereits erkennbar: Buchstaben mit langer Hauptlinie werden nur für Konsonanten an den Silbenrändern verwendet; Vokalbuchstaben im Silbenkern haben eine kurze Hauptlinie. Damit wird die Silbengliederung durch eine Abfolge von langen und kurzen Hauptlinien angezeigt. Man beachte den Schreibduktus für quisquis und pueros.

Der Punkt auf der virtuewichtige Funktion der Wordurchzusetzen: Zwischen amals Worttrenner genutzt; zusäWorttrenner funktionslos und

5 Römisches Museum, Remagen

quISquIS

pue

wer (auch immer); jeder, der

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llen Mittellinie übernimmt wie in der Capitalis-Inschrift die ttrennung. Außerdem beginnt sich bereits ein neues Prinzip mat und pueros steht kein Punkt; hier wird der Zeilenumbruch tzlich ist der Gesamttext mit einem Punkt begrenzt; er ist hier als wird in seiner satz- und textabschließenden Funktion erkennbar.

oS Jungen (Akk. Pl. von puer)

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___________________________________________________________________________ Privatbrief auf Papyrus, Herkunft unbekannt, 5./6. Jh. n. Chr.6 ___________________________________________________________________________ Dieser griechische Privatbrief ist ein frühes Zeugnis der scriptio discontinua, der Schreibweise mit Leerzeichen zur Worttrennung, die sich bis zum 8. Jh. n. Chr. stabilisiert haben wird. Umschrift und Übersetzung der ersten beiden Zeilen lauten: τωθεοσεβεστατω κα ι ευλογηενω Dem gottesfürchtigen und ehrwürdigen πατρ ι µαρτρ ιω θεοδουλος Vater Martyrios von Theodulos Mit dem Wechsel von der scriptio continua zur scriptio discontinua verliert das laute Lesen an Bedeutung, denn in der scriptio discontinua übernimmt das Auge die Herrschaft über das Wort, das in der scriptio continua mit Unterstützung der Stimme verarbeitet wurde. Das stumme Lesen steigert nicht nur die Geschwindigkeit des Leseprozesses, sondern erleichtert auch das Vorlesen noch unbekannter Texte. Beim Vorlesen von Texten in scriptio continua musste dagegen das flüssige Vorlesen sorgfältig vorbereitet werden; das in scriptio continua verfasste Manuskript stellte eher eine visuelle Gedächtnisstütze und weniger einen Text im modernen Sinn dar.

Zu Beginn des Schreibens in scriptio discontinua ist der Zwischenraum jedoch noch nicht standardisiert. In diesem Privatbrief sind größere und kleinere Abstände erkennbar, die möglicherweise funktional sind: Der sehr große Abstand zwischen „Martyrios“ und „Theodulos“ in der zweiten Zeile trennt den Empfänger vom Schreiber und markiert damit auch einen syntaktischen Einschnitt. In diesem Papyrus ist die Entwicklung zur Kleinbuchstabenschrift weit fortgeschritten: lange und kurze Buchstaben unterscheiden sich deutlich und systematisch voneinander.

Die griechischen und römischen Alltagsschriften setzten somit die spektakulärste Entwicklung unseres Alphabets seit seiner Entstehung in Gang: die Herausbildung der Kleinbuchstaben und damit die Aufteilung unseres Alphabets in zwei korrespondierende Buchstabeninventare. Spätestens ab dem 8. Jh. n. Chr. sind die Kleinbuchstaben zur Normalschrift emporgestiegen; den Großbuchstaben blieb die Rolle der Auszeichnungsschrift für Namen, Absatzanfänge und andere besondere Funktionen.

6 Kölner Papyrus-Sammlung

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___________________________________________________________________________ Althochdeutsche Handschrift, 11. Jh. n. Chr.7 ___________________________________________________________________________ Das System der zur Zeit Karls des Großen entwickelten karolingischen Minuskelschrift charakterisiert bis auf wenige Veränderungen auch die moderne Schrift. Die ausgestellte Handschrift stammt von Otloh von St. Emmeram, einem der besten Kalligraphen seiner Zeit. Das Schriftsystem dieser Handschrift gibt verschiedene strukturelle Aspekte der Sprache sehr genau und systematisch durch Leerzeichen, Interpunktion und Buchstabenstruktur wieder.

Die Leerzeichen stehen bei Otloh fast immer dort, wo sie auch im modernen Schriftsystem zu finden sind: zwischen Wörtern. Ausnahmen wie abherode („von Herodes“) bleiben bis ins 13. Jh. üblich. Auch die Interpunktion übernimmt bereits die Funktion der syntaktischen Gliederung. Formal jedoch sind die Interpunktionszeichen noch nicht ausdifferenziert. Es wird nur ein auf der virtuellen Mittellinie liegender Punkt verwendet. Er übernimmt zwei Funktionen: Das Schließen von Sätzen und die Abgrenzung kleinerer syntaktischer Einheiten. Dem satzschließenden Punkt folgt stets ein Großbuchstabe, dem satzgliedernden ein Kleinbuchstabe. Wenn der Kontext über die Funktion eines Zeichens entscheidet, sprechen wir vom kontextuellen Prinzip. Was die Buchstabenstruktur betrifft, so haben sich drei lautbezogene Parameter fast vollständig entwickelt. Der erste, bereits in den antiken Alltagsschriften angedeutete Parameter unterscheidet Buchstaben mit kurzer Hauptlinie von solchen mit langer Hauptlinie und dient der Wiedergabe der Silbengliederung (vgl. römischer Graffito).

Die weiteren Parameter werden zur Einfachheit nur anhand der Vokalbuchstaben erläutert. Der Kontrast zwischen gerundeten und geraden Hauptlinien gibt offene oder geschlossene Laute an:

geschlossene Vokale – gerade Hauptlinie: i u offene Vokale – gerundete Hauptlinie : e o a Die Unterscheidung zwischen vorne und weiter hinten artikulierten Lauten wird durch die Orientierung von Hauptlinie und Coda erfasst:

vordere Vokale – rechtsseitige oder fehlende Coda: i e hintere Vokale – linksseitige Coda: u o a Die Analyse von <o> mit einer linksseitigen Coda ist nicht zwingend, aber strukturell möglich und systemkonform.

7 Staatsbibliothek München

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___________________________________________________________________________ Zwei Wiegendrucke, Mainz und Basel, 15. Jh. ___________________________________________________________________________ Zweifelsohne hatte der Buchdruck einen bedeutenden Einfluss auf die Standardisierung des Interpunktionssystems. Die Varianz ist zu Beginn des Buchdrucks allerdings noch erheblich:

Die Ordnung des Kammergerichts8 stammt aus der Kanzlei Kaiser Maximilians I. (1495) und kennt wie Otlohs Handschrift ausschließlich den Punkt. Im Text kommt er auf der Mittellinie vor. Seine beiden Funktionen, die satzschließende und die satzgliedernde, sind wie bei Otloh durch Groß-/Kleinschreibung unterschieden. Am Ende von Überschriften steht der Punkt auf der Grundlinie. Zu dem schon von Otloh bekannten kontextuellen Prinzip tritt hier das eben-falls seit längerem bestehende positionale Prinzip in Erscheinung: Der Wert eines Interpunk-tionszeichens wird durch seine Position in der Zeile (Mittellinie/Grundlinie) definiert.

Im Lob der Glieder Mariae9 (1492) wird das formale Prinzip sichtbar: Es werden zwei formal unterscheidbare Interpunktionszeichen genutzt: Der Punkt auf der Grundlinie und die Virgel </>. Die Virgel steht dort, wo wir heute den Punkt oder das Komma setzen. Zur Unterscheidung wird wie bei Otloh und Maximilian groß oder klein weitergeschrieben. Der Punkt steht dort, wo wir heute einen Absatz machen.

In allen Texten des 15. Jh.s finden wir den Bindestrich (als Trennstrich oder Wortbinder), der zu dieser Zeit bereits gute 300 Jahre einigermaßen stabil in Gebrauch ist. Das Ausrufezeichen kommt im 16. Jh. dazu.

Neben den genannten Zeichen stehen den Buchdruckern im ausgehenden 15. Jh. außerdem das Fragezeichen, die Klammer, der Doppelpunkt und das Semikolon zur Verfügung, die dem kompositionellen Prinzip folgen: Ihre Formen sind aus der Zusammensetzung von Basiselementen gewonnen, die jeweils eine eigene Funktion übernehmen. So kann das Fragezeichen wie folgt kompositionell analysiert werden: ʔ vertikales Aufbauelement mit kommunikativer Funktion (Frage) • Punkt als Grundelement mit grammatischer Funktion (Satzabschluss)

8 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 9 Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

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___________________________________________________________________________ Christian Wolff Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, 2. Aufl. 1718 und 9. Aufl. 173810 ___________________________________________________________________________ An der Publikationsgeschichte dieses Werkes lassen sich Veränderungen im Interpunktions-system besonders gut ablesen:

DdAwnvkN

Di

Ds<h

DAZZbes

1

2. Auflage von 1718

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urch Formreduktion entsteht innerhalb von nur 20 Jahren aus der Virgel (eckige Rahmung) as Komma (runde Rahmung). Mit dieser Veränderung wird das formale Prinzip stabilisiert: b jetzt können systematisch „kleine“ und „große“ Zeichen voneinander unterschieden erden, die auch funktionale Klassen bilden: Die „kleinen“ Zeichen, also diejenigen, die icht über die Mittellinie hinausweisen <, . ; :>, übernehmen die syntaktische Gliederung on Texten. Die „großen“, Oberlänge aufweisende Zeichen <( ) ? ! „“> übernehmen ommunikative Funktion: Frage <?>, Verwunderung/Nachdruck <!>, Erläuterung/ ebeninformation <( )> und Fremdsprecher <„“>.

ie Drucke von Wolffs Werk zeigen auch eine Flexibilität bei den Auslassungspunkten, die hre moderne Form noch nicht ausgeprägt haben:

ie Auslassungspunkte gehören weder zu den „kleinen“ noch zu den „großen“ Zeichen, ondern zu einer dritten Formgruppe, zu der auch der Bindestrich <->, der Gedankenstrich –> und der Apostroph <’> gehören. Diese Zeichen markieren Wort- oder Textdefekte und aben sich erst im 18. Jh. vollständig ausgebildet und stabilisiert.

ie Zeichen der neuen Formgruppe unterscheiden sich von den bisher entwickelten durch ihre utonomie in Bezug auf ihre Position in der Textzeile: Sie können am Zeilenanfang und am eilenende stehen, verhalten sich also ähnlich wie Buchstaben, die einen eigenen Raum in der eile füllen und sich frei bewegen können. Die neuen Zeichen können daher auch als Füller ezeichnet werden. Alle anderen Zeichen stehen entweder am Zeilenanfang oder am Zeilen-nde. Sie lehnen sich an den Buchstaben, neben dem sie stehen, an, und können nur mit die-em verschoben werden. Sie werden deshalb als Klitika (die sich Anlehnenden) bezeichnet.

0 Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

9. Auflage von 1738

2. Auflage 1718

9. Auflage 1738

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___________________________________________________________________________ Zusammenfassung ___________________________________________________________________________ Am Ende der Entwicklung unserer Buchstabenformen und Interpunktionszeichen steht ein System, das Lesern und Schreibern einen optimalen Zugriff auf lautliche, silbische, lexikalische, grammatische und kommunikative Strukturen ermöglicht. Die wichtigsten Entwicklungsstationen der Buchstabenformen am Beispiel des <E>

Phönizisches Alphabet spätestens ab 13. Jh. v. Chr.

Nur Konsonantenbuchstaben; für [h] Buchstabenstruktur mit vertikaler Hauptlinie und untergeordneten Coda-Elementen

hat drei Codas Ξ links von der vertikalen Hauptlinie Ι Linksläufige Buchstaben- und Zeilenorientierung

E, Ǝ Griechisches Alphabet spätestens ab 8. Jh. v. Chr.

Einführung von Vokalbuchstaben; <E, Ǝ> für [e] Wechsel der Buchstaben- und Zeilenorientierung, in der Folge Buchstabenspiegelung oder symmetrische Formen Aufgabe der Linksläufigkeit ab dem 4. Jh. v. Chr.

E, Griechisches und römisches Alphabet spätestens ab 4. Jh. v. Chr.

Entwicklung kursiver Buchstabenformen Alltagsschriften spielen dabei eine Vorreiterrolle und beeinflussen auch die Monumentalschriften. So ist die römische Capitalis bereits kursiver als die griechische Großbuchstabenschrift.

E, , e Römisches Alphabet spätestens ab 4. Jh. n. Chr.

Entwicklung der Kleinbuchstaben. Sie haben für Vokale eine kurze Hauptlinie; eine lange Hauptlinie ist Konsonanten vorbehalten (Ausnahme <y>) Aufspaltung des Alphabets in Kleinbuchstaben für die Normalschrift und Großbuchstaben für die Auszeichnung von Namen, Satzanfängen, Überschriften u. a.

Beginnend mit der karolingischen Minuskelschrift erhalten Buchstabenteile einen eigenen Lautwert. Das System wird hier anhand der Vokalbuchstaben und eines Vokaldreiecks zusammengefasst:

vorderer Laut nicht-vorderer Laut rechtsseitige oder fehlende Coda linksseitige Coda geschlossener Laut gerade Hauptlinie i u offener Laut e o gerundete Hauptlinie a

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Die wichtigsten Stationen in der Entwicklung der Interpunktion Phönizisch spätestens ab 13. Jh. v. Chr. Griechische Schrift spätestens ab 8. Jh. v. Chr. Römische Schrift ab 7. Jh. v. Chr. Spätantike –Mittelalter Frühe Buchdrucke 15. Jh. 16. – 17. Jh. Aufklärung 18. Jh. Das moderne System ab 19. Jh.

Linksläufige Schrift (vgl. Ahirom-Inschrift). Worttrennung durch Leerzeichen oder vertikalen Trennstrich Linksläufige oder rechtsläufige Schrift, Boustrophedon (vgl. Grabin-schrift). Scriptio continua ohne Worttrennung vorherrschend. Spärlich belegte Interpunktion. Anfänge wie bei der griechischen Schrift. Spätestens ab dem 1. Jh. v. Chr. Worttrennung durch einen Punkt auf der virtuellen Mittellinie (vgl. Weihinschrift in Capitalis, Graffito auf Krugboden) Ganze Wörter werden durch Leerzeichen (scriptio discontinua, vgl. Privatbrief auf Papyrus), getrennte Wörter durch Bindestrich angezeigt. Der Punkt als einziges Satzzeichen ist vorherrschend. Seine satzgliedernde vs. satzschließende Funktion erhält er durch den Kontext (den nachfolgenden Groß- vs. Kleinbuchstaben, vgl. althochdeutsche Handschrift) oder durch seine Position (Grund-/Mittel-/Oberlinie). Interpunktionszeichen werden systematisch in ihrer Form unter-schieden: Virgel vs. Punkt (vgl. Lob der Glieder). Daneben gibt es konservativere Systeme (vgl. Ordnung des Kammergerichts). Das System der Interpunktionszeichen entfaltet sich formal (Virgel, später Komma, Punkt, Semikolon, Doppelpunkt, Frage-, Ausrufe-zeichen, Klammern). Bei komplexen Zeichen übernehmen die Einzelteile eine eigenständige Funktion. Wechsel von der Virgel zum Komma, Komplettierung des Form-inventars: Einführung von Gedankenstrich und Auslassungspunkten zur Markierung von Gedankenbrüchen; Einführung von Anführungs-zeichen zur Sprechermarkierung Interpunktionszeichen

Füller Klitika Markierung unfertiger, Markierung fertiger, defekter Einheiten nicht-defekter Einheiten

<- … – ’> kleine Klitika große Klitika Markierung grammatischer Markierung kommunikativer Funktionen Funktionen <. , ; :> <! ? ( ) „“>

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Projektleitung: Prof. Dr. Ursula Bredel Institut für deutsche Sprache und Literatur II Universität zu Köln Gronewaldstr. 2 D-50931 Köln [email protected] Prof. Dr. Beatrice Primus Institut für deutsche Sprache und Literatur I Universität zu Köln Albertus-Magnus-Platz D-50923 Köln [email protected]