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Wer ist „ICH“? 40 WISSEN Barbara Rütz Ein Mensch, der „ich“ sagt, sieht sich als eigenständiges Individuum, das sich von anderen im Denken, Fühlen, Handeln und Sein unterscheidet. Das Ich ist der Träger einer Persönlichkeit, die wir zu einem Teil selbst ausgestalten. Daher fordern wir für uns auch das Recht auf Selbstbestimmung. Andererseits ist das Ich-Erleben auf die Interaktion mit anderen, mit einem „Du“ angewiesen. weltwissen | Sachunterricht 4/2013 Gedanken zum Ich-Bewusstsein

Wissen Wer ist „ICH“? - Erzieherin · 2015. 1. 23. · gend der Meinung, das Ich sei identisch mit der Seele. Hierzu hat u.a. auch Platons Interpretation der In - schrift „Erkenne

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  • Wer ist „ICH“?

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    Barbara Rütz

    Ein Mensch, der „ich“ sagt, sieht sich als eigenständiges Individuum, das sich von anderen im Denken, Fühlen, Handeln und Sein unterscheidet. Das Ich ist der Träger einer Persönlichkeit, die wir zu einem Teil selbst ausgestalten. Daher fordern wir für uns auch das Recht auf Selbstbestimmung. Andererseits ist das Ich-Erleben auf die Interaktion mit anderen, mit einem „Du“ angewiesen.

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    Gedanken zum Ich-Bewusstsein

  • Wer ist „ICH“?

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    Die Frage nach dem Ich ist wohl eine der wichtigsten, die ein Mensch stellen kann.

    Der Wunsch, auf diese Frage eine Antwort zu erhalten, drückt einerseits das Bedürfnis nach

    Selbsterkenntnis aus, andererseits den Willen, das Woher?, Wohin? und Warum? zu klären. Seit

    Menschengedenken sind auf diese Fragen schon viele Antworten gegeben worden, doch keine kann zu einer objektiven Klärung beitragen, keine ist wirklich zufrie-denstellend oder gar abschließend. Im Gegenteil, viele Antworten werfen neue, weitergehende Fragen auf.

    „Ich“ in der Sprache

    Ich ist zunächst einmal nur die Bezeichnung für die eigene Person. In unserer Sprache hat das Wörtchen „ich“ die grammatische Funktion eines Personalprono-mens und entspricht der 1. Person Singular Nominativ. Indem die Sprecherin oder der Sprecher „ich“ sagt, ist stets die eigene Person gemeint: „Ich denke, also bin ich“ (René Descartes).

    In sprachlicher Hinsicht ist interessant, dass im Standarddeutschen – anders als in anderen Sprachen – nicht zwischen dem betonten und dem unbetonten „ich“ unterschieden wird:

    Französisch: „Qui d’entre vous sait parler français?“ „Moi.” – nicht: „Je.” („Wer von euch kann Französisch sprechen?” „Ich.“)

    Englisch: „Who broke this plate?“ „That was me.“ – nicht: „That was I.” („Wer hat diesen Teller zerbro-chen?” „Das war ich.”)

    Schaut man sich das Wörtchen „ich“ in anderen Sprachen an, stößt man auf weitere interessante Phä-nomene: Im Englischen wird „I“ (ich) als einziges Per-sonalpronomen immer (auch mitten im Satz) groß-geschrieben, alle anderen Personalpronomen – auch die Höflichkeitsanrede – werden kleingeschrieben. Im Spanischen und Italienischen taucht das Personalprono-men „yo“ bzw. „io“ (ich) nur ganz selten auf. Vielmehr wird – wie im Lateinischen – durch die Konjugation des Verbes deutlich, dass der Sprecher bzw. die Spreche-rin von sich selbst spricht: „Te amo.“ / Ti amo.“ – „Ich liebe dich.“ – „Veni, vidi, vici.“ – „Ich kam, ich sah, ich siegte.“

    In der Kommunikation spielt das Wort „ich“ eine besondere Rolle, denn hier tritt ein Ich mit einem Du in Beziehung. Für die Psychologie und Soziologie ist aber noch interessanter, wann das Wort „ich“ in Ge-sprächen nicht benutzt, sondern umschrieben oder durch das Indefinitpronomen „man“ ersetzt wird: „Wie geht es dir?“ „Man schlägt sich so durch.“

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    Abb. 2: Jeder Mensch ist einzigartig: Das Ich-Denkmal des Künstlers Hans Traxler besteht aus einem Sockel, auf den sich jeder stellen kann, um so selbst zum Denkmal zu werden.

    Foto: wikimedia, cc-Lizenz 3.0 (Popie)

    Abb. 1: Zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat be-ginnt das „Spiegelstadium“: Das Kind erkennt sich in einem Spiegel.

    Foto: Caro/Kaiser

  • Außenwelt, das Über-Ich und das Es. Wenn das Ich sei-ne Schwäche einbekennen muss, bricht es in Angst aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Lei-denschaften im Es“ (siehe Nikolaus 2006).

    Eine solchermaßen mitleidige Beschreibung des Ich kam einer Entmachtung des Ego gleich und hatte dem-entsprechend viel Kritik an dem Modell zur Folge. Schließlich war man seit über 2.000 Jahren überwie-gend der Meinung, das Ich sei identisch mit der Seele. Hierzu hat u. a. auch Platons Interpretation der In-schrift „Erkenne dich selbst“ am Apollontempel in Del-phi beigetragen (siehe auch Abb. 3). Platon verstand die Inschrift so, dass der Mensch sich als das erkennen solle, was er ist: eine den Körper bewohnende und ge-brauchende unsterbliche und gottähnliche Seele. Die-ses Bild von einem Ich als gottähnliche Seele passt na-türlich gar nicht zu dem Bild eines schwachen, instabilen Ich, das von Freud entworfen wurde. So ver-wundert es nicht, dass ab 1907 Alfred Adler mit der Gründung seiner „Individualpsychologie“ das Ich wie-der in seine alte Vormachtstellung emporhob: „Was Freud als das Unbewusste beschreibt, ist doch immer wieder das Ich“ (siehe Nikolaus 2006).

    Ich-Entwicklung

    Die Fragestellung, was das Ich eigentlich ist, beein-flusst entscheidend die Vorstellung, ob und wie sich das Ich entwickelt. Betrachtet man das Ich als Seele, so kann man schwerlich von einer Entwicklung spre-chen. Das Ich wäre dann sozusagen mit unserer Geburt „einfach da“. Geht man jedoch davon aus, dass das Ich die Persönlichkeit, die geistige Identität oder das be-wusst Erfahrene darstellt, dann muss man durchaus von einer Ich-Entwicklung ausgehen.

    Der Psychologe James Mark Baldwin beobachtete, dass ein Kind zwischen dem 6. und 18. Lebensmonat sein eigenes Bild im Spiegel erkennt (siehe Abb. 1). Da-rauf stützte sich der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan und bezeichnete 1936 auf dem 14. Inter-nationalen Kongress für Psychoanalyse in Marienbad diese Entwicklungsphase des Kindes als „Spiegelstadi-um“. Während dieser Zeit entwickelt sich das Bewusst-sein für das eigene Ich. Während das Kind sich vorher nur aus seiner eigenen Perspektive immer bruchstück-haft wahrgenommen hat, sieht es sich nun zum ersten Mal vollständig mit seinem eigenen Gesicht. Zum Fest-stellen dieser Entwicklung eignet sich der „Rouge-Test“. Dem Kind wird – ohne, dass es dies bemerkt – ein Farbtupfer auf die Stirn aufgebracht. Schaut es dann in den Spiegel, wird es sich erstaunt an die Stirn fassen, wenn es das Spiegelbild als sich selbst, als sein eigenes Ich wahrnimmt. Selbst wenn der Spiegel das Bild verzerrt wiedergibt, erkennen wir uns darin.

    In diesem Spiegelstadium lernt das Kind aber nicht nur sich selbst, sondern auch andere wahrzunehmen. Dies geschieht, indem es mit seinem eigenen Spiegel-bild interagiert und es nachzuahmen versucht. Das

    Was ist Ich?

    Schwierig wird es, wenn man versucht, das „Ich“ zu definieren. Jean Paul meint: „Jedes Ich ist Persönlich-keit, folglich geistige Individualität“ (siehe Wikiquote zum Stichwort „Ich“). Es stellt sich aber die grundsätz-liche Frage: Ist das Ich nur mein Körper, eine Bio-maschine, sozusagen die Hardware? Oder ist es meine Seele, also die Software? Immanuel Kant unterscheidet hier sehr deutlich: „Ich, als denkend, bin ein Gegen-stand des innern Sinnes und heiße Seele. Dasjenige, was ein Gegenstand äußerer Sinne ist, heißt Körper“ (siehe Kant 1781, S. 372). Oder ist das Ich ein Seinszu-stand, der beides umfasst, der möglicherweise sogar unabhängig von meiner materiellen Substanz existie-ren kann? Besonders schön hat Hermann Hesse in sei-nem „Steppenwolf“ das Ich beschrieben: „In Wirklich-keit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein klei-ner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten“ (siehe Hesse 1974, S. 66).

    Das Ich in der Psychoanalyse Freuds

    Sigmund Freud befasste sich systematisch mit dem Ich und entwickelte das Strukturmodell der Psyche, nach dem die menschliche Psyche in drei Teile geteilt ist:

    > Das Es ist das Unbewusste; es umfasst die Instinkte und Triebe des Menschen.

    > Das Über-Ich übernimmt die Funktion des Gewis-sens; es ist sozusagen die moralische Instanz.

    > Das Ich wird sowohl vom Es als auch vom Über-Ich beeinflusst und versucht, zwischen diesen beiden zu vermitteln. Während das Es das Unbewusste dar-stellt, ist das Ich das bewusst Erfahrene.

    Sigmund Freud selbst beschreibt die Situation des Ich folgendermaßen: „Das arme Ich dient drei gestrengen Herren, ist bemüht, deren Ansprüche und Forde-rungen in Einklang miteinander zu bringen. Diese An-sprüche gehen immer auseinander, scheinen oft un-vereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei Zwingherren sind die

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    Abb. 3: Dieses römische Mosaik zeigt ein mensch-liches Skelett und die griechische In-schrift „Erkenne dich selbst“.

    Foto: The Art Archive / Museo Nazionale Terme Rome / Gianni Dagli Orti

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    Kind erfährt beim Spielen mit seinem Spiegelbild auch, wie es von anderen wahrgenommen wird. Ihm stellt sich in diesem Alter – wohl eher unbewusst – also bereits die grundlegende Frage: „Wie sehen mich die an-deren?“, die dann in der Pubertät zu einer bewussten, existenziellen Fragestellung wird (siehe Abb. 4).

    Aber auch Kinder, die nicht mit einem dinglichen Spiegel in Berührung kommen, entwickeln ein gesun-des Ich-Bewusstsein. Denn jede zwischenmenschliche Beziehung kann im weiter gefassten Sinn als Spiege-lung interpretiert werden. Dylan Evans sagt hierzu: „Auch wenn es keinen Spiegel gibt, sieht der Säugling sein Verhalten im imitierenden Verhalten der Erwach-senen oder in dem anderer Kinder reflektiert. Durch diese Imitation fungiert die andere Person als Spiegel-bild“ (siehe Wikipedia zum Stichwort „Spiegelstadi-um“). Insbesondere die Mutter (oder eine andere Be-zugsperson) spielt eine entscheidende Rolle in diesem Stadium. Sie stellt für das Kind die erste Beziehung zwischen dem Ich und „den Anderen“ dar und ist so-mit Grundlage für alle anderen zukünftigen zwischen-menschlichen Beziehungen des Kindes. In ihrem Blick auf das Kind spiegelt sich wider, was sie selbst in dem Kind sieht. Dementsprechend vermittelt sie dem Kind Freude, Glück, Geborgenheit, Akzeptanz oder auch Ab-lehnung, Ärger, Sorge und Angst. Die Gefühle und Ge-fühlsäußerungen, die die Mutter dem Kind entgegen-bringt, stellen somit die ersten Erfahrungen des Kindes im Erleben des eigenen Ich und in der Interaktion mit anderen dar. Bereits der Säugling kann seine Gefühle wie Wohlbefinden, Hunger, Angst oder Freude nonver-bal vermitteln. Gefühle und Gefühlsäußerungen tre-

    ten also weit vor dem Erwerb der Sprache auf und be-stimmen wesentlich unser Handeln und Denken. Sie sind ein wichtiger Bestandteil menschlichen Seins und menschlichen Ausdrucks und somit der Entwicklung des Ich-Bewusstseins. Bemerkenswert ist hierbei, dass die grundlegenden Gefühlsäußerungen der Menschen auf der ganzen Welt recht ähnlich sind.

    Ob es sich nun um das Spiegelbild oder eine andere Person handelt, die Ich-Entwicklung vollzieht sich offensichtlich in der Interaktion mit einem Du. Das Ich entwickelt sich gemeinsam mit dem Studium der Beziehung zum Du. Es macht die Erfahrung, dass ein Du existiert. Dieses Du wirkt auf das Ich zurück und bewirkt bei diesem Erkenntnis über sich selbst. Oder wie der Philosoph Ludwig Feuerbach es ausdrückte: „Wo kein Du, ist kein Ich“ (siehe Wikiquote zum Stich-wort „Ich“).

    „Wer bist du?“

    Mit dieser Frage beginnt für Sofie ein „Philosophiekurs“. Die Hauptfigur aus „Sofies Welt“, einem Roman von Jostein Gaarder über die Geschichte der Philosophie, nimmt die Frage zum Anlass, zunächst über ihren Namen nachzudenken bzw. sich vorzustellen, sie hätte einen anderen Namen. Das gelingt ihr aber nicht, schließlich ist sie Sofie und nicht Anne oder Synnøve oder sonst jemand anderes (vgl. Gaarder 1993, S. 9–10). Die Identifizierung mit dem eigenen Namen – bzw. überhaupt der Erhalt eines Namens – ist eine grundle-gende Voraussetzung für die Entwicklung eines Ich-Bewusstseins. Man könnte tatsächlich die Frage stel-

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    Abb. 4: Trotz aller Schwierigkeiten und Zweifel vollzieht das „hässliche Entlein“ bei Hans Christian Andersen eine Entwick-lung, an deren Höhepunkt der junge Schwan sein Spiegelbild sieht und sich selbst erkennt. Foto: blickwinkel/S. Gerth

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    dann, dass äußere Faktoren wie beispielsweise Le-benskrisen oder Krankheiten uns und unser Ich verän-dern? Vielleicht haben wir uns gar nicht verändert, sondern die Anderen sehen uns nur anders? Wenn wir uns ein Muttermal im Gesicht wegoperieren lassen, werden unsere Freunde und Bekannten uns hinterher sagen: „Du hast dich aber verändert!“ Das wird dagegen niemand behaupten, wenn wir uns den Blinddarm entfernen lassen – weil dies die Anderen nicht sehen. Wer also bin ich? Bin ich Ich oder bin ich nur das, was andere in mir sehen?

    Ich-Bewusstsein bei Tieren

    Jeder Haustierbesitzer wird bestätigen, dass seine Katze oder sein Hund eine eigene Persönlichkeit hat. Aber können Tiere auch ein Ich-Bewusstsein entwickeln? Nehmen Tiere sich selbst wahr, haben sie ein Ich-Erle-ben? Viele wissenschaftliche Studien beschäftigen sich mit dieser grundlegenden Fragestellung. Konrad Lo-renz etwa ging aufgrund seiner langjährigen Beobach-tungen davon aus, dass höher entwickelte Tiere zur Erkenntnis „Ich bin“ befähigt sind. Inzwischen ist er-wiesen, dass sich beispielsweise Schimpansen, Orang-Utans, Rhesusaffen, Schweine, Elefanten, Delfine und Elstern im Spiegel selbst erkennen können, was als ein Beleg für ein reflektierendes Bewusstsein gedeutet wird. Beim sogenannten Spiegeltest wird – wie bei Kindern – den Tieren ein Spiegel in das Sichtfeld ge-halten und ihre Reaktion beobachtet. „Behandeln“ die Tiere ihr Spiegelbild wie ein fremdes Individuum (z. B. mit Drohgebärden oder Warnlauten) oder ignorieren sie es, so gilt der Spiegeltest als „nicht bestanden“ (sie-he Abb. 5). Nicht berücksichtigt wird hierbei aber, dass von einem Spiegelbild kein Geruch ausgeht, an dem sich viele Tiere hauptsächlich orientieren.

    Auch der Rouge-Test wird bei Tieren angewandt: Dem Tier wird zunächst eine Farbmarkierung z. B. auf die Stirn gemalt. Anschließend wird wiederum seine Reaktion beobachtet (siehe Abb. 6 und 7). Versucht das Tier beispielsweise den Fleck wegzuwischen, so inter-pretiert man dies dahin gehend, dass es über ein Selbst-bewusstsein verfügt. Aber auch dieser Test ist nicht unumstritten. So gehen die Meinungen darüber ausein ander, ob die Fähigkeit der Selbstwahrnehmung auch bereits darauf schließen lässt, dass das Tier die Fähigkeit zur Reflexion und ein Ich-Bewusstsein hat. Des Weiteren ist nicht gesagt, dass ein Tier, das nicht auf den Fleck auf der Stirn reagiert, diesen tatsächlich nicht (bei sich) wahrgenommen hat. Schließlich ist die Wahrnehmung eines Flecks auf der Stirn als „störend“ und der darauf folgende Versuch, den Fleck wegzu-wischen, eine menschliche Reaktion. Vielleicht neh-men einige Tiere den Fleck zwar wahr, stören sich aber nicht daran. David Precht weist zudem darauf hin, dass sich Gorillas nur selten direkt ins Gesicht blicken. Für sie könne der Spiegeltest daher „ein bisschen peinlich und unangenehm“ sein (Precht 2011, S. 74). Die Ergeb-nisse des Spiegeltests sind also interpretierbar.

    len: „Gibt es überhaupt ein Ich, wenn das Ich keinen Namen hat?“ Der Name allein gibt zwar noch keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage „Wer bist du?“ – „Ich bin Sofie.“ Immerhin gibt es mehr als eine Sofie auf der Welt, aber dennoch ermöglicht es unser Name, zumindest eine erste – wenn auch vielleicht noch oberflächliche – Antwort zu geben.

    In dem Roman hält Sofie daraufhin Zwiesprache mit ihrem Spiegelbild. Sie fragt es: „Wer bist du?“ Na-türlich erhält sie keine Antwort, aber die Betrachtung ihres Spiegelbilds lässt sie über ihr Aussehen nachden-ken. Missmutig stellt sie fest, dass sie nicht selbst über ihr Aussehen bestimmen konnte – das wurde ihr ein-fach „in die Wiege gelegt“. Noch nicht einmal sich selbst konnte sie „wählen“, ihre Freundinnen und Freunde aber kann sie selbst wählen.

    Diese Überlegungen führen unweigerlich zu den Fragen „Was macht eigentlich unser Ich aus?“, „Was be-stimmt unser Ich?“, „Was gehört zu unserem Ich?“ Vieles von dem, was unser Ich ausmacht, ist uns be-reits vorgegeben und zunächst nicht (ohne Weiteres) veränderbar: Name, Aussehen, Geschlecht, Gene, die biologischen Eltern, die Familie, in die ich hineingebo-ren werde, der Ort, an dem ich aufwachse. Und wenn ich dann doch einen anderen Namen annehme, das Aussehen operativ verändere oder sogar das Geschlecht wechsele: Inwieweit verändere ich damit auch mein Ich? Inwieweit bestimmen diese uns zunächst vorgege-benen Bausteine unser Ich und inwieweit können wir unser Ich selbst bestimmen, z. B. durch die Freunde, die wir wählen, durch den Beruf, den wir erlernen und ausüben, durch den Wohn- und Lebensort, den wir uns aussuchen, durch Erfahrungen, die wir machen, Ent-scheidungen, die wir treffen, und durch die Art und Weise, wie wir denken und fühlen? Wenn wir unser Ich überwiegend selbst bestimmen, wie kommt es

    Abb. 5: Diese Katze vermutet hinter dem Spie-gel einen Art-genossen.

    Foto: © Tony Campbell/fotolia.com

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    eine Telefonnummer nicht wissen, diese erst nach-schlagen und dann wählen.

    Ganz offensichtlich ist der Mensch also nicht das einzige „(ich)bewusste Lebewesen“ auf der Erde.

    LiteraturEltern leben leichter (Hrsg.): Die Ich-Entwicklung beim Kleinkind (www.elternlebenleichter.com/die-ich-entwicklung-beim-kleinkind)Gaarder, Jostein: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie. Carl Hanser Verlag. München, Wien 1993Herrmann, Sebastian: Delfine erkennen einander nach Jahr-zehnten wieder. Süddeutsche.de vom 7.8.2013 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Suhrkamp Taschenbuch Verlag. Berlin 1974Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781 (www.deutschestextarchiv.de)Nikolaus, Frank: Das psychische Dreieck: Ich, Es, Über-Ich. Die Entdeckung des „dunklen Kontinents“. In: P.M. Magazin „Sigmund Freud Special“, H. 5/2006, S. 62–64 (auch unter www.pm-magazin.de/a/das-psychische-dreieck-ich-es-über-ich-die-entdeckung-des-»dunklen-kontinents«)Precht, Richard David: Warum gibt es alles und nicht nichts? Ein Ausflug in die Philosophie. Goldmann Verlag. München 2011Scinexx (Hrsg.): Die Gedanken der Anderen. Der Zuschreibung von Wahrnehmungen und Gedanken auf der Spur (http://www.scinexx.de/dossier-538-1.html)Wikipedia (Online-Enzyklopädie) zu den Stichworten: „Ich“, „Metakognition“, „Spiegelstadium“, „Spiegeltest“ (http://de.wikipedia.org)Wikiquote (Online-Zitatsammlung) zu den Stichworten: „Ich“, „Denken“ (http://de.wikiquote.org)

    Davon ausgehend, dass das Ich-Bewusstsein im Zusam-menhang mit einem Du- oder Wir-Bewusstsein steht, sind kürzlich erschienene Berichte über Delfine, die sich auch nach Jahrzehnten wiedererkennen, bemer-kenswert (siehe z. B. Herrmann 2013). Der Biologe Jason Bruck von der Universität Chicago hat heraus-gefunden, dass jeder Delfin einen individuellen Laut (Signaturpfeifen) produziert, den er als Jungtier er-lernt. Diese Pfiffe sind mit menschlichen Namen ver-gleichbar. In den Versuchen reagierten die Delfine auf die Pfiffe ihnen unbekannter Tiere mit Desinteresse. Vernahmen sie aber den Pfiff eines ihnen bekannten Tieres, antworteten sie mit ihrem eigenen Pfiff und schwammen in die Richtung des bekannten Lautes. Auf diese Art identifizierten sich zwei Tiere sogar, nachdem sie sich 20 Jahre lang nicht gesehen bzw. ge-hört hatten. Lässt diese Fähigkeit des (Wieder)Erken-nens Anderer und insbesondere die eigene „Namens-gebung“ nicht den Rückschluss auf die Fähigkeit der „Selbst-Erkenntnis“ zu?

    Eine Forschergruppe um J. David Smith hat mithilfe eines anderen verhaltensbiologischen Experiments nachgewiesen, dass Rhesusaffen ihr Verhalten reflek-tieren und ihrem jeweiligen Kenntnisstand anpassen. So greifen Rhesusaffen, wenn sie zuvor beobachten konnten, in welche Röhre Futter gelegt wurde, gleich in die richtige Röhre hinein. Konnten sie dies jedoch nicht beobachten, wussten sie also nicht, in welcher Röhre das Futter liegt, so schauten sie zuvor in die Röh-ren hinein. Sie haben also ein Bewusstsein darüber, dass sie etwas nicht wissen – und ihr Verhalten dem-entsprechend verändert (vgl. Wikipedia zum Stich-wort „Metakognition“). Genauso wie wir, wenn wir

    Abb. 6: Ein Schimpanse wird für den Spiegeltest vorbereitet. Foto: © Michel Gunther/BIOS/OKAPIA

    Abb. 7: Schimpansen gehören zu den Tieren, die sich im Spiegel selbst erkennen können. Foto: © BIOSphoto/images.de

    Barbara Rütz ist schulische Referentin an der Agentur für Qualitätssicherung, Evaluation und Selbstständigkeit von Schulen (AQS) in Rheinland-Pfalz und Herausgeberin von Weltwissen Sachunterricht.

    Die autorin