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Wolfgang Iser-Der Akt Des Lesens_ Theorie Ästhetischer Wirkung-Fink (1994)

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Uni-Taschenbücher 636

U'IB FtJRWISSEN

SCHAFT

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Wilhelm Fink Verlag München Gustav Fischer Verlag Jena und Stuttgart Francke Verlag Tübingen und Basel Paul Haupt Verlag Bem . Stuttgart . Wien Hüthig Verlags gemeinschaft Decker & Müller GmbH Heidelberg Leske Verlag + Budrich GmbH Opladen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen Quelle & Meyer Heidelberg . Wiesbaden Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Schäffer-Poeschel Verlag' Stuttgart Ferdinand Schöningh Verlag Paderbom . München· Wien· Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich

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Wolfgang Iser

Der Akt des Lesens

Theorie ästhetischer Wirkung

4. Auflage 1994

Wilhelm Fink Verlag München

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

!ser, Wolfgang: Der Akt des Lesens: Theorie ästhetischer Wirkung / Wolfgang !ser. - 4. Aufl. - München: Fink, 1994

(UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher; 636: Literaturwissenschaft) ISBN 3-8252-0636-X (UTB) ISBN 3-7705-1390-8 (Fink)

NE: UTB für Wissenschaft / Uni-Taschenbücher

4. Auflage 1994

2. durchgesehene und verbesserte Auflage 1984

© 1976 Wilhelm Fink Verlag GmbH & Co. KG Ohmstraße 5, 80802 München ISBN 3-7705-1390-8

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Freiberg am Neckar Herstellung: Ferdinand Schäningh GmbH, Paderborn

UTB-Bestellnummer: ISBN 3-8252-0636-X

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VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Was heute Rezeptionsästhetik genannt wird, ist gewiß nicht von je­ner Einheitlichkeit, wie es eine solche Klassifizierung nahezulegen scheint. Im Prinzip verbergen sich hinter diesem Begriff zwei unter­schiedliche Orientierungen, die sich trotz der Wechselseitigkeit ih­rer Beziehungen voneinander abheben. Rezeption im strengen Wort­gebrauch nimmt die Phänomene dokumentierter Textverarbeitung in den Blick und ist folglich in starkem Maße ~uf ~eugnisse angewie­sen, in denen sich Einstellungen und Reaktionen als bedingende Fak­toren für die Aufnahme von Texten bekunden. Gleichzeitig aber ist der Text selbst eine 'Rezeptionsvorgabe' und damit ein Wirkungs­potential, dessen Strukturen VerarbeJ:fungen in Gang setzen und bis zu einem gewissen Grade kontrollieren.

Wirkung und Rezeption bilden daher zentrale Forschungsansätze der Rezeptionsästhetik, die angesichts ihrer verschiedenen Zielrich­tungen jeweils mit historisch-soziologischen (Rezeption) bezie­hungsweise texttheoretischen (Wirkung) Methoden arbeitet. Rezep­tionsästhetik kommt dann in ihre volle Dimension, wenn die beiden unterschiedlich orientierten Zielrichtungen aufeinander bezogen werden.

Anstöße zu einer solchen Entwicklung literaturwissenschaftli­cher Forschungsinteressen kamen aus der geschichtlichen Situation deutscher Universitäten in den 60er Jahren. Sie waren sowohl durch eine wissenschaftsgeschichtliche als auch eine politische Perspek­tive bedingt. Wissenschaftsgeschichtlich markieren die 60er Jahre das Ende einer naiven Hermeneutik in der Literaturbetrachtung. Mehr und mehr drängte sich die Frage nach der Eigenheit des Über­lieferungsgeschehens auf, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die li­teraturwissenschaftliche Interpretation immer weniger den Kon­flikt unterschiedlicher Auslegung der Texte auszutragen, ge­schweige denn zu reflektieren vermochte. Daß Literatur unter­schiedlich befragt werden konnte, und daß die daraus resultierenden Interpretationen das gleiche Werk jeweils anders erscheinen ließen, drang als Problem verstärkt ins Bewußtsein; das galt selbst dort, wo

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man die je eigene Frage an die Literatur für die einzig mögliche hielt. Denn da es die konkurrierende Interpretation immer gegeben hat, vermochte man vermeintliche Fehlleistungen nur durch den Rekurs auf die 'wahre' Betrachtungsart aufzudecken, weshalb es dann auch zu einer spezifizierenden Begründung von Interpretationsansätzen kam. Aber auch dort, wo solches nicht geschah, waren unbefragte Voraussetzungen im Spiel, nach denen Literatur interpretiert wurde. Wenn diese nicht in den Blick kamen, so vorwiegend deshalb, weil man sie mit der Sache selbst identifizierte. Das galt vornehmlich für eine Betrachtungsart, die nach der Intention des Autors, nach der Be­deutung beziehungsweise der Botschaft des Werkes, aber auch nach dem ästhetischen Wert als dem harmonischen Zusammenklang der Figuren, Tropen und Schichten des Werkes fragte. Wenn es dann zur Entzauberung dieser hermeneutischen Unschuld gekommen ist, so durch die Notwendigkeit, moderne Literatur interpretieren zu müs­sen, die sich entweder dem Zugriff durch solche Maßstäbe verschloß oder als abstrus erschien, wenn sie diesen unterworfen wurde. Da­durch bildete sich eine Situation heraus, in der die scheinbar selbst­verständlichen Fragen an die Literatur sich als historisch bedingte zu erkennen gaben.

Nun aber kennzeichnet es die Eigenart des Überlieferungsgesche­hens, daß die alte und nunmehr historisch gewordene Befragung nicht einfach aus dem Blick schwindet und vergessen wird; vielmehr repräsentiert sie nun einen in der Vergangenheit sinnvollen, jetzt aber schwer gangbaren Weg der Interpretation. Daher bedingten die von ihr erzeugten Schwierigkeiten neue Fragen; die alten aber sind insofern Teil des Überlieferungsgeschehens, als sich die neuen nur in Absetzung von ihnen zu bilden vermögen. So hat das klassische Interesse an der Intention des Textes dasjenige nach seiner Rezep­tion hervorgetrieben. Die vorherrschende semantische Orientie­rung, die der Bedeutung galt, ist in eine Ermittlung der ästhetischen Gegenständlichkeit des Textes umgeschlagen. Schließlich hat die Wertfrage diejenige nach der Inanspruchnahme menschlicher Ver­mögen durch das Kunstwerk aktuell werden lassen.

Darin kommt wiederum ein hermeneutisches Problem zum Vor­schein, indem die vergangenen Antworten nicht gestellte Fragen of­fenkundig machen. Für diese ist jedoch entscheidend, daß sie ohne

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die alten Antworten nicht hätten aufgeworfen werden können. Folg­lich sind sie nicht über Bord gegangen, sondern leben als negatives Bedingungsverhältnis eines neuen Interesses fort. Das mag auch ein Grund dafür sein, weshalb in der rezeptionsästhetischen Theorie die Intention, die Bedeutung und der Wert die 'Minusverfahren' (Lot­man) verkörpern, weil ein neues Interesse sich nicht zuletzt gegen die Erwartungen abgelebter Interpretationsnormen verdeutlicht. In diesem Sinne steht die Rezeptionsästhetik selbst in einem Überliefe­rungsgeschehen, ja, sie ist eine bestimmte Artikulation desselben und wird auf ihre Weise auch zu einem hermeneutischen Horizont, von dem sich andere abheben werden.

Die Ursachen für diesen Wechsel im Überlieferungsgeschehen gründen zum einen in der Erfahrung der Moderne und zum anderen in der Studentenrevolte. Die Moderne manifestiert sich weitgehend als ein Dementi dessen, was der klassischen Kunst wesentlich war: die Harmonie, die Versöhnung, die Aufhebung der Gegensätze, die Kontemplation der Vollkommenheit. Der Negativitätshabitus mo­derner Literatur wirkt daher als ständige Aggression auf unsere orientierungsleitenden Konventionen vom sozialen Verhalten bis hin zur Alltagswahrnehmung. Folglich geschieht uns durch diese Kunst immer etwas, und es fragt sich, was dieses Geschehen sei. Deshalb muß die Frage verändert werden, die nun in erster Linie nicht mehr der Bedeutung, sondern der Wirkung der Texte gilt.

Je mehr eine solche Erfahrung ins Bewußtsein drang, desto steriler erschienen die 'Baumschulen der Interpretation' (Kayser), in denen sich abgelebte Wissenschaftstraditionen bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortpflanzten. Die oft in hieratischem Ton auf den Kathedern deutscher Hörsäle vorgetragene Auslegung der Mei­sterwerke war bewußt oder unbewußt darauf bedacht, in der Zuhö­rerschaft jene Kontemplationshaltung zu erzeugen, die eine dem klassischen Kunstwerk gegenüber geforderte gewesen ist. Je weniger aber der eine Sinn des Kunstwerks zu finden war, und je mehr sich daraus der Streit der Interpretationen entfaltete, desto unverkennba­rer traten die Voraussetzungen der Interpretation hervor. In der Stu­dentenrevolte wurden diese dann für die ideologiekritische Entlar­vung relevant. Dadurch erfuhr die Literatur selbst eine Problemati­sierung, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil eine sich normativ ver-

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stehende Interpretation die Illusion erzeugt hatte, daß sie die Sache selbst sei. In diesem Sinne hat die politische Situation den Anstoß geliefert, einen gegenwartsangemessenen Zugang zur Literatur zu finden. Das führte zu einem Orientierungswechsel der Literaturbe­trachtung, die nun weniger der Botschaft sowie der Bedeutung, son­dern mehr der Wirkung und ihrer Rezeption galt.

Wenn uns durch Literatur etwas geschieht, dann gilt es, das For­schungsinteresse auf drei basale Probleme zu richten: 1. Wie werden die Texte aufgenommen? 2. Wie sehen die Strukturen aus, die die Verarbeitung der Texte im Rezipienten lenken? 3. Was ist die Funk­tion literarischer Texte in ihrem Kontext?

Die Rezeptionsästhetik hat diese Probleme immer gebündelt und als einen Zusammenhang verstanden. Dies war in der damaligen Si­tuation vor allem deshalb notwendig, weil die 'Gesellschaft' zu ei­nem neuen Substanzbegriff avancierte, durch den Kunstphänomene in einen planen Soziologismus eingeebnet worden sind. Gerade weil die Rezeptionsästhetik darauf bedacht war, als Wirkungs theorie die Textverarbeitung zu erforschen und als Funktionsgeschichte die In­teraktion zwischen Text und extratextueller Welt zu einem zentra­len Untersuchungsgegenstand zu machen, mußte sie sich gegen ei­nen simplistischen Soziologismus wehren, der in seinen damaligen Ausprägungen den literarischen Text als die Allegorese der Gesell­schaft verstanden hat.

Wenn literarische Texte etwas bewirken, dann lösen sie ein Ge­schehen aus, welches verarbeitet werden muß. Folglich rücken die Abläufe solcher Verarbeitungen in den Mittelpunkt eines wirkungs­ästhetischen Interesses. Dieses wiederum richtet sich vornehmlich auf zwei Fragen: l. Inwiefern läßt sich der literarische Text als ein Geschehen ermitteln? 2. Inwieweit sind die vom Text ausgelösten Verarbeitungen durch diesen vorstrukturiert? Fragen dieser Art sind primär solche der Wirkungsästhetik, weil durch sie die Interaktion zwischen Text und Kontext sowie die zwischen Text und Leser den Gegenstand der Aufmerksamkeit bilden, während die Rezeptionsäs­thetik im engeren Sinne sich mit den historischen Bedingtheiten der jeweils dokumentierten Rezeption von Texten befaßt.

Der literarische Text entspringt der Weltzuwendung eines Autors und gewinnt insofern den Charakter des Geschehens, als er eine Per-

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spektive auf die vorhandene Welt bringt, die in ihr nicht enthalten ist. Selbst wenn ein literarischer Text vorhandene Welt nur abbilden würde, so wäre deren Wiederholung im Text schon deshalb eine Ver­änderung, weil wiederholte Realität von einer Absicht überragt ist. In der Regel jedoch durchbricht die im Text sichtbar werdende Welt­zuwendung des Autors die in der Lebenswelt herrschenden Weltbil­der, Sinn- und Sozialsysteme, Interpretationen und Strukturen. Jeder lite!a.ris~he_I~xt verhält sich daher selektiv zu der gegebenen Welt, innerhalb derer er entsteht und die seine jeweilige Bezugsrealität bil­det.-WeDii-a-mrdiesefoeStlmmte Elemente genommen-undTii--den -Text eingekapselt werden, erfahren sie dadurch eine Veränderung ih­rer Bedeutung. In diesem Sinne hat die Selektion, aus der sich der li­terarische Text aufbaut, Ereignischarakter, weil er durch seine Ein­griffe in eine bestimmte Organisation deren Referenz außer Kurs setzt. Ereignishaft ist jedes Durchbrechen der Referenz, weil nun die Elemente der Bezugsrealität aus ihrer Zuordnung entlassen sind.

Gesteigert wird die Ereignishaftigkeit des Textes dadurch, daß die aus der Textumwelt selektierten Elemente ihrerseits im Text mit­einander kombiniert werden. Sie geraten dadurch in Zuordnungen, durch die noch einmal ihre semantische und kontextuelle Be­stimintheit überschritten werden. Das zeigt sich bereits an ganz ein­fachen Beispielen, wie etwa in jenen Versen von T. S. Eliots Prufrock:

Should I, after tea and cakes and ices, Have the strength to force the moment to its crisis?

Durch die Reimstellung sind 'Eiscreme' und 'Krise' aufeinander bezogen; doch gerade diese Kombination wird hier zur Bedingung ih­rer semantischen Entgrenzung. Daraus ergibt sich eine strukturierte Polysemie, die sowohl auf die Trivialisierung der 'Krise' als auch auf eine Bedeutringssteigerung der 'Eiscreme' zulaufen kann. In jedem Falle aber entsteht ein Spektrum semantischer Oszillationen, da sich die beiden Schlüssellexeme nicht mehr voneinander ablösen und in eine jeweilige Eindeutigkeit überführen lassen. Dadurch teilt sich der aus Selektion und Kombination entstandene Ereignischa­rakter des Textes dem Rezipienten mit. Ereignishaft ist der Text des­halb, weil in der Selektion die Referenz der Bezugsrealität durchbra­chen und in der Kombination die Semantik des Lexikons entgrenzt ist.

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Diese Sachlage trifft jedoch im Rezipienten auf eine zentrale Er­wartung: die der Sinnkonstanz der Sprache; denn wo immer Sprache gesprochen und verwendet wird, erwarten wir Sinn. Das gilt selbst von jenen 'sinnlosen Sätzen', wie sie die Linguistik oft zur Demon­stration ihrer Regeln ersonnen hat. Beispielhaft dafür ist der be­rühmte Satz Chomskys: "Colorless green ideas sleep furiously". Wenn damit demonstriert werden sollte, daß eine syntaktisch kor­rekte Fügung semantisch sinnlos ist, so bleibt gegen diese vermeint­liche Sinnlosigkeit einzuwenden, daß sie angesichts der Erwartung von Sinnkonstanz in jedweder Sprachverwendung solange eine Kon­textarrangierung erfährt, bis sie sinnvoll wird. Das ist im vorliegen­den Falle sogar vergleichsweise einfach. Man braucht diesen Satz noch nicht einmal in den Kontext eines Gedichts zu verschieben, um ihm Sinn abzugewinnen; er wäre bereits eine angemessene Beschrei­bung von Traumsituationen, vor allem dort, wo im Traum Über­gänge von schwarz-weißen zu farbigem Träumen erfolgen. Das würde sogar das Adverb furiously als Charakteristikum für einen sol­chen Umschwung semantisch höchst eindeutig machen.

Die basale Erwartung von Sinnkonstanz bildet die Voraussetzung für die Verarbeitung der Ereignishaftigkeit des literarischen Textes. Sinn wird zum Sinn durch seine Prägnanz, wodurch allerdings die in der Aufnahme des Textes ablaufenden Sinnbildungsprozesse immer nur selektive Realisationen des Textes sein können. Die Mehrdeu­tigkeit des Textes, die durch seinen Ereignischarakter bedingt ist, er­fährt in der Verarbeitung eine selektive Vereindeutigung. Basis die­ser Vereindeutigung ist die Konsistenzbildung, die in der Lektüre er­folgt; denn erst durch die Konsistenz seiner Segmente erschließt sich der Text dem Verstehen. Das aber bedeutet, daß die ereignishafte Po­lysemie nicht total realisiert werden kann, weshalb Sinnbildungs­prozesse des Textes in der Lektüre immer unter Verlust an Aktuali­sierungsmöglichkeiten verlaufen. Diese sind im je konkreten Falle durch die individuellen Dispositionen des Lesers und den von ihm geteilten sozio-kulturellen Code bedingt. Faktoren solcher Art wer­den im jeweiligen Fall die Selektion dessen steuern, was für den ein­zelnen Leser die Basis der Konsistenz und damit die Voraussetzung für die Sinnprägnanz des Textes bildet.

Überblickt man den beschri.ebenen Sachverhalt, so erweist sich

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der Text als ein Prozeß, denn er läßt sich mit keinem der beschriebe­nenStadien ausschließlich identifizieren. Er ist weder auf die Welt-

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zuwendung des Autors noch auf die Akte der Selektion unOKombi-ni~nochaur(fie in der Veraroeltung erfolgenaen SlnnblIdUngs­prozesse, -aber auch nicht auf die aus seiner Ereignishaftigkeit entste­hende ästhetische Erfahrung allein festzulegen; vielmehr ist der Text der ganze Verlauf, der von der Weltzuwendung des Autors bis zu seinem Erfahrbarwerden durch den Leser reicht. In diesem Prozeß sind allerdings Stadien voneinander unterscheidbar, weil in ihnen je­weils eine Veränderung dessen erfolgt, was ihnen vorauslief.

Wenn die WirkJ.!!!g§ästhe~ik den Text als einen Prozeß versteht, dann wird die aus ihr ableitbare Interpretationspraxis vornehmlich dem Geschehen der Sinnbildung gelten. Eine solche Analyse verab­schiedet daher nicht die Interpretation, - wie in gelegentlicher Pole­mik gegen wirkungsästhetische Betrachtung behauptet - sondern rückt Sachverhalte in den Mittelpunkt, die ein Interesse an Literatur gerade in einer Zeit plausibel halten könnten, in der sie gesellschaft­lich nicht mehr selbstverständlich ist. So gilt eine wirkungsästhe­tisch orientierte Interpretation der LiteraÜir detFunktion, die Texte in Kontextenausuben, der Kommunikation.-durch die Texte E.rEin­rungen vermitteln, die, obgleich unvertraut, dennoch -verstehbar SInd,· undaer Textverarbeitung, durch die die 'Rezeptionsvorgabe' des Textes sowie die durch sie in Anspruch genommenen Vermögen und Kompetenzen des Lesers in den Blick kommen.

Um dieser Absicht zu wünschenswerter Klarheit zu verhelfen, hätte es sich für die Neuauflage angeboten, die Argumentation des Buches an manchen Stellen zu präzisieren, nicht zuletzt, um da­durch den vorgebrachten Einwänden besser Rechnung tragen zu können. In der Zwischenzeit gibt es jedoch eine hinreichend doku­mentierte Diskussion des hier wieder vorgelegten Buches, die sich­wenngleich in Grenzen - als erforderliche Ergänzung der Erstauflage verstehen ließe (diacritics June 1980 und Fall 1981; Comparative Literary Studies 19, 1982). Durch sie ist manches verdeutlicht, man­ches auch auf die Voraussetzungen zugespitzt worden, die für das Buch und seine Aufnahme jeweils eine Rolle gespielt haben, so daß ich angesichts ökonomischer Überlegungen des Verlags darauf ver-

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zichtet habe, die mir durch die Kritik vermittelten Anstöße in den Text einzuarbeiten. Deshalb wurden nur wenige Passagen verändert, um die Neuauflage jener Textfassung anzugleichen, die den ver­schiedenen Übersetzungen zugrundegelegen hatte. Für dieses Entge­genkommen danke ich dem Verleger, Herrn Ferdinand Schöningh.

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT....................................... 7

I PROBLEMLAGE

A Partiale Kunst - Universalistische Interpretation 12

1. Henry Tames, The Figure in the Carpet . 12 Statt einer Einleitung

2. Das Fortwirken der klassischen Interpretationsnorm 23

B Vorüberlegungen zu einer wirkungsästhetischen Theorie 37

1. Die leserorientierte Perspektive und die traditionell erhobe-nen Einwände 37

2. Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers . 50 3. Psychoanalytische Wirkungstheorien der Literatur . 67

II FUNKTIONSGESCHICHTLICHES TEXTMODELL DER LITERATUR

A Textrepertoire 87

1. Voraussetzungen 87 2. Das Modell der Sprechakte 89 3. Die Situationsbildung fiktionaler Texte. 101 4. Bezugsfeld und Selektion des Repertoires fiktionaler Texte 114

B Textstrategien 143

1. Aufgabe der Strategien 143 2. Die alte Antwort: Deviation. 145 3. Die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung 155 4. Die Struktur von Thema und Horizont 161 5. Modalisierungen der Thema- und Horizontstruktur 169

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III PHÄNOMENOLOGIE DES LESENS

A Die Erfassungsakte des Textes 175

1. Das Zusammenspiel von Text und Leser 175 2. Der wandernde Blickpunkt . 177 3. Die Bewußtseinskorrelate des wandernden Blickpunkts 193

a) Konsistenzbildung a1s Basis des Geschehenscharakters und der Verstrickung . 193

b) Der Geschehenscharakter als Bewußtseinskorrelat des Textes . 204

c) Das Verstricktsein als Erfahrungsbedingung 210

B Die passiven Synthesen des Lesevorgangs . 219

1. Der Bildcharakter der Vorstellung 219 2. Der affektive Charakter des Vorstellungsbildes 226 3. Vorstellungsbildung. . 228 4. Die Konstituierung des lesenden Subjekts 245

IV INTERAKTION VON TEXT UND LESER

A Die Asymmetrie von Text und Leser . 257

1. Bedingungen der Interaktion 257 2. Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen 267

B Antriebe der Konstitutionsaktivität 280

1. Vorüberlegung 280 2. Die Leerstelle als ausgesparte Anschließbarkeit 284 3. Die funktionale Struktur der Leerstelle . 301 4. Historische Differenzierung der Interaktionsstruktur 315 5. Negation 327 6. Negativität 348

NAMENSREGISTER ............................... 356

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VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE

Da ein literarischer Text seine Wirkung erst dann zu entfalten ver­mag, wenner-geIesen wiId, fällt eine Beschreibullg dieser Wirkullg weitgehend miteTner-Analyse des lesevorgan.gs zusammen.besh~lb steht das Lesen im Zentrum dei folgenden überlegungen, denn in ihm lassen sich die P!ozesse beobachten, die literarische Texte aus­zulösen vermögen. Im Lesen erfolgt eine Verarbeitung des Textes, die sich durch bestimmte Inanspruchnahmen menschlicher Ver­mögen realisiert. Wirkung ist daher weder ausschließlich im Text noch ausschließlich im Leserverhalten zu fassen; der Text ist ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird.

Textpol und Leserpol sowie die sich zwischen ihnen ereignende Interaktion bilden daher den Grundriß, der die im Lesen sich ent­faltende Wirkung literarischer Texte theoretisierbar machen soll (Kapitel 11, III, IV). Der literarische Text wird folglich unter der Vorentscheidung betrachtet, Kommunikation zu sein. Durch ihn er­folgen Eingriffe in die Welt, in herrschende so.ziirs-trukturen und in vorangegangene Literatur. Solche Eingriffe manifestieren sich als Umorganisation derjenigen Bezugssysteme, die der Text durch sein Repertoire aufruft. In solcher Umorganisation relevanter Bezugs­felder bringt sich die kommunikative Absicht des Textes zum Aus­druck, die sich in bestimmten Instruktionen für seine Auffassung niederschlägt. Die Struktur des Textes, Anweisung zu sein, bildet den zentralen Gesichtspunkt des Textkapitels. - Durch eine Be­schreibung des Lesevorgangs gilt es, die elementaren Operationen in den Blick zu rücken, die durch den Text im Leserverhalten ausge­löst werden. Denn die Verarbeitung der Instruktionen besagt, daß der Sinn des Textes konstituiert werden muß, weshalb die Konsti­tutionsvorgänge im Vorstellungsbewußtsein den zentralen Gesichts­punkt des Kapitels über das Lesen ausmachen. - Doch damit sind erst die Pole einer Beziehung beschrieben, durch die ein Leser mit der Situation zusammengeschlossen wird, auf die der Text reagierte. Die Beziehung selbst bedarf der Antriebe, um sich realisieren zu können. Deshalb werden im letzten Kapitel die Antriebe der Inter-

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aktion thematisiert, die die notwendigen Voraussetzungen für den Konstitutionsvorgang des Textes im Vorstellungsbewußtsein des Lesers bilden.

Ästhetische Wirkung soll daher in A~!lLdialektischel! Dreischritt von Text und Leser sowie der sich zwischen ihnen e~~ignenden Interaktion anaIYsiert werden. Sie heißt ästhetische Wirkung, weil ~])wohl vom Text verursacht - vorstellende und wahrneh­mende Tätigkeiten des Lesers in Anspruch nimmt, um ihn zu einer Einstellungsdifferenzierung zu veranlassen. Damit ist auch gesagt, daß sich das Buch als eine Wirkul1gstheorie und nicht als eine Re­zeptionstheorie versteht. Wenn Literaturwissenschaft aus dem Um­gang mit Texten entspringt, dann ist das, was uns durch Texte ge­schieht, von vorrangigem Interesse. Ein Text ist hier nicht als Do­kument für etwas verstanden, das es - in welcher Form auch im­mer - gibt, sondern als eine Umformulierung bereits formulierter Realität, durch die etwas in die Welt kommt, das vorher nicht in ihr war. Deshalb stellt sich für eine Wirkungs theorie das Problem, wie ein bislang unformulierter Sachverhalt verarbeitet und gar ver­standen werden kann. Rezeptionstheorie hat es dagegen immer mit historisch ausmachbaren Lesern zu tun, durch deren Reaktion etwas über Literatur in Erfahrung gebracht werden soll. Eine Wirkungs­theorie ist im Text verankert - eine Rezeptionstheöüe in den ni­st~n Urteilen de~ Leser.

Es versteht sich, daß eine Theorie den Charakter einer Konstruk­tion besitzt. Das gilt auch für den hier beschriebenen Prozeß der Einlösung ästhetischer Wirkung im Lesevorgang, durch den aller­dings ein Rahmen gesetzt ist, der es erlaubt, individuelle Realisie­rungsvorgänge von Texten sowie deren Interpretation durchschaubar und im Blick auf die in sie eingegangenen Voraussetzungen diagno­stizierbar zu machen. Eine Wirkungs theorie soll daher die inter­subjektive Diskutierbarkeit individueller Sinnvollzüge des Lesens sowie solche der Interpretation fundieren helfen. Darin kommt ge­wiß ihre historische Bedingtheit zum Vorscheinj doch diese ent­springt wiederum der sich einstellenden überzeugung, daß die Selbstgenügsamkeit der Textinterpretation an ihr Ende gekommen istj Interpretation kommt ohne Reflexion auf ihre Annahmen und Interessen nicht mehr aus.

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Als Konstruktion ist die hier entwickelte Theorie empirisch nicht überprüft. Es geht ihr auch weniger darum, sich einer experimen­tellen Geltungsprüfung zu unterziehen, als vielmehr darum, mög­liche Raster entwerfen zu helfen, die notwendigerweise erstellt wer­den müssen, will man empirische Untersuchungen über Leserreak­tionen betreiben. Denn weder die empirische Wirklichkeit noch die Geschichte antworten gleichsam von selbst, weshalb es unabdingbar ist, eine jeweils bestimmte Frage zu entwerfen, durch die man Empirie und Geschichte zum Sprechen bringen möchte. Da in solche Fragemodelle wiederum viele Voraussetzungen eingehen, bedarf es der Reflexion auf die unterstellten Annahmen, aber auch auf die Resultate, die solchen Annahmen entspringen. An diesem Punkt gewinnen die hier angestellten Überlegungen ihre Relevanz.

So geboten es für die Literaturwissenschaft auch erscheint, durch Selbstreflexion ihre Zugriffe auf Texte zu kontrollieren, so gewinnt ein solches Reflexionsverhalten seinen vollen Sinn im Erschließen bislang wenig explorierter Zielrichtungen. Wenn es richtig ist, daß uns durch Texte etwas geschieht und daß wir offenbar von den Fiktionen nicht lassen können - ungeachtet dessen, wofür wir sie halten - dann stellt sich die Frage nach der Funktion der Literatur für den 'menschlichen Haushalt'. Diese anthropologische Zielrich­tung der Literaturwissenschaft ist durch die hier entwickelten Ge­danken über ästhetische Wirkung erst anvisiertj sie sollen aber dazu dienen, den Blick auf diesen noch offenen Horizont zu richten.

1<

Der in den folgenden Kapiteln entworfene Sachverhalt stellt die Ausführung einer Problemskizze dar, die erstmals 1970 unter dem Titel Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungs­bedingung literarischer Prosa veröffentlicht wurde. Da mir die Fort­führung der damals noch sehr fragmentarisch angesprochenen Pro­bleme als notwendig erschien, habe ich darauf verzichtet, mich mit dem Echo auseinanderzusetzen, das diese kleine Schrift hervor­gerufen hat.1 Dieser Verzicht erstreckt sich auch auf die Einbettung

1 Zur Auseinandersetzung mit einigen Positionen vgl. "Im Lichte der Kritik", in Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), ed. Rainer Warning, München 1975, pp. 325-342.

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des entwickelten Sachverhalts in bestehende Diskussionszusammen­hänge; Bezugnahmen solcher Art hätten die Darstellung zu sehr überfrachtet_ Lediglich im ersten Kapitel habe ich versucht, die hi­storischen Bedingungen zu skizzieren, die angesichts moderner Kunst die klassische Frage nach der Bedeutung des Textes als über­holt erscheinen lassen. Darüber hinaus habe ich mich an manchen Stellen mit Ingarden auseinandergesetzt - doch weniger, um ihn zu kritisieren, sondern eher, um durch die Kritik deutlich zu machen, wie das gemeinsam interessierende Problem anders angegangen wer­den sollte. Dabei bin ich mir bewußt, daß Ingarden durch seine Forschung zur Konkretisation literarischer Kunstwerke erst das Dis­kussionsniveau geschaffen hat, das es erlaubt, - und sei es auch noch im Gegenzug gegen ihn - dem von ihm visierten Sachverhalt andere Seiten abzugewinnen.

Um den überlegungen zur Wirkungstheorie gelegentlich ihren Abstraktionsgrad zu nehmen, sind manche Gedankengänge durch Beispiele veranschaulicht - manche sogar ganz in einer Beispiel­dimension entwickelt. Illustrationen dieser Art sind nicht als Inter­pretationen bestimmter Texte gemeint, sondern dienen der Verdeut­lichung des Gesagten. Für die Beispiele habe ich bewußt eine enge Auswahl getroffen, um nicht immer die Zusammenhänge mit be­schreiben zu müssen, denen die angeführten Stellen entnommen sind. Deshalb habe ich auch jene Texte gewählt, deren Interpreta­tion ich in meinem Buch Der implizite Leser gegeben habe. Dort finden sich die Voraussetzungen für die Argumentation der hier angezogenen Beispiele, die jedoch alle im Sinne der von ihnen zu leistenden Illustrationsfunktion fortentwickelt worden sind. Wenn die Veranschaulichung der im Lesen erfolgenden Konstitutionspro­zesse des Textes nahezu ausschließlich an Erzähltexten erfolgt, so vorwiegend deshalb, weil sich hier das Problem in seiner differen­ziertesten Form stellt.

Damit das-Buch nicht den Charakter einer Mischsprache gewinnt, habe ich immer dort auf übersetzungen zurückgegriffen, wo sie mir zur Verfügung standen. Der erste Teil des zweiten Kapitels (11, Al wurde unter dem Titel "Die Wirklichkeit der Fiktion", in Rezep­tionsästhetik. Theorie und Praxis (UTB 303), ed. Rainer Warning, München 1975, veröffentlicht und ist hier mit ein paar verdeut-

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lichenden Korrekturen wieder abgedruckt. Eine Vorstudie zu Ka­pitel III, A erschien zunächst unter dem Titel "The Reading Pro­cess. A Phenomenological Approach", in New Literary History 3 (1971) und in deutscher Version in dem von Rainer Waming her­ausgegebenen Band.

Dieses Buch hätte ich nicht schreiben können ohne die stille Abgeschiedenheit, die mir zwei Einladungen als fellow an For­schungsinstitute bescherten. Zu großem Dank für die Möglichkeit ungestörten Arbeitens abseits der oft leeren Betriebsamkeit unseres Universitätslebens bin ich dem Center for the Humanities, Wesleyan University, Middletown/Connecticut, U.S.A., verbunden, wo ich 1970/71 den Entwurf zu konzipieren versuchte, sowie dem Nether­lands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences, Wassenaar/Holland, wo ich 1973/74 unter idealen Vor­aussetzungen die zentralen Teile niederschreiben konnte.

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I PROBLEMLAGE

A Partiale Kunst-U n iv e r s a li s ti sc hel n t e r pr eta ti 0 n

1. Henry 'ames, The Figure in the Carpet Statt einer Einleitung

Henry James veröffentlichte im Jahre 1896 seine Novelle The Figure in the Carpet, die im Rückblick wie die Prognose für eine Wissenschaft wirkt, die es damals in dem uns heute gewohnten Ausmaß noch nicht gab. In der Zwischenzeit aber hat diese Wis­senschaft ein solches Unbehagen ausgelöst, daß eine explizite Fest­stellung dieses Tatbestandes bereits wieder zum Klischee geworden ist. Gemeint ist jene literaturwissenschaftliche Interpretation, die dem Auffinden der Bedeutungen gilt, die in literarischen Texten verborgen sein sollen. Wenn Henry James in sicherlich nicht be­wußter Antizipation des kommenden Interpretationsbetriebs die Suche nach verborgener Textbedeutung selbst thematisiert, so darf man daraus schließen, daß er sich damit auf Ansichten bezog, die im epochalen Rahmen eine Rolle gespielt haben müssen. Denn in der Regel antworten fiktionale Texte zeitgenössischen Situationen, indem sie etwas hervortreiben, das von den geltenden Normen zwar bedingt ist, zugleich aber von ihnen nicht mehr gefaßt wer­den kann. Wenn James das Verhältnis von Werk und Interpreta­tion selbst zu einem literarischen sujet macht, so ist damit ange­zeigt, daß der gewohnte Zugang zum Text offensichtlich seine Kehrseiten hat, deren Ausleuchtung diesen Zugang selbst zu pro­blematisieren beginnt. Darin spricht sich zumindest der Verdacht aus, daß die scheinbar so selbstverständliche und deshalb voraus­setzungslose Bedeutungssuche doch in erheblichem Maße von hi­storischen Normen gesteuert wird, wenngleich die Interpretation so verfährt, als ob es sich bei diesem Vorgang um eine Naturgegeben­heit handelte. Die Verdinglichung historischer Normen aber ist immer schon eine Bedingung des Elends gewesen, das inzwischen diese Form literaturwissenschaftlicher Interpretation auch ereilt hat.

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In der Novelle von James ist ihre damals noch düstere Zukunft schon volle Gegenwart.

Um die Dimension der Kritik deutlich zu machen, bedarf es einer Detaillierung des von James entworfenen Problems. Die Ermitt­lung der Bedeutung von Verekers letztem Roman bildet den Ziel­punkt der Geschichte. Dieser wird aus zwei voneinander unter­schiedenen Perspektiven visiert: der des Ich-Erzählers und der sei­nes Freundes Corvick. Das Erzählmedium indes verzerrt diese scheinbare Parallelisierung. Denn was wir von Corvicks Entdeckun­gen im Blick auf die verborgene Bedeutung erfahren, bricht sich in der Wiedergabe des Ich-Erzählers. Da aber Corvick offensichtlich das gefunden hat, was der Ich-Erzähler vergeblich sucht, muß sich der Leser dieser Novelle gegen die ihn orientierende Erzählperspektive stellen, um den schiefen Betrachtungswinkel auszugleichen. Je mehr ihm das gelingt, desto deutlicher wird die Bedeutungssuche des Ich­Erzählers für ihn zum Thema, ja schließlich zum Gegenstand sei­ner Kritik. Soweit die Anlage und die Strategie der Geschichte.

Gleich zu Beginn brüstet sich der Ich-Erzähler - den wir nun im Fortgang als Kritiker bezeichnen wollen - damit, daß er in seiner Rezension die verborgene Bedeutung von Verekers letztem Roman entschleiert habe, weshalb er nun darauf gespannt ist, wie der Schriftsteller auf diesen Verlust ("loss of his mystery"j1 reagiert. Wenn die Interpretation darin besteht, dem Text die verborgene Bedeutung zu entreißen, dann ist es nur folgerichtig, daß der Au­tor in diesem Vorgang einen Verlust erleidet. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die die ganze Geschichte durchziehen.

Entdeckt der Kritiker den versteckten Sinn, dann hat er ein Rät­sel gelöst. Angesichts dieses Erfolgs bleibt ihm nichts weiter übrig, als sich zu dieser Leistung zu gratulieren.2 Denn was soll man nun mit dem Sinn anfangen, nachdem er als die entschleierte Bedeu­tung eine Sache geworden ist und dadurch den Charakter des 'My-

I Henry James, The Figure in the Carpet, (The Complete Tales IX), ed. Leon Edel, Philadelphia and New York 1964, p. 276.

2 Ibid., p. 276 sagt der Kritiker von sich selbst, als er Vereker begegnet, mit dem er über seine Rezension sprechen möchte: " ... he should not remain in ignorance of the peculiar justice I had done him."

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steriums' verloren hat? Solange die Bedeutung versteckt war, galt es, sie zu suchenj nachdem sie gehoben wurde, beansprucht ledig­lich das dabei entfaltete Geschick vorrangiges Interesse. Dieses möchte der Kritiker nun bei seinem Publikum einschließlich Verekers erwecken.3 Kein Wunder, daß er zum Philister wird.

Doch diese Konsequenz wiegt unvergleichlich g\!ringer als jene andere, die sich aus der gezeigten Einstellung ergibt. Wenn Inter­pretation die verborgene Bedeutung eines literarischen Textes zu heben hat, so sind damit eigentümliche Voraussetzungen gemacht: "danach würde der Autor einen klaren Sinn, den er aber für sich behielte, zum Zweck des Verbrauchs verhüllen -, und eine gewisse Anmaßung: mit dem Auftreten des Kritikers schlüge die Stunde der Wahrheitj er behauptet, den ursprünglichen Sinn und den Grund der Verhüllung zu entschleiern.,,4 Damit kommt eine erste Norm zum Vorschein, die diesen Zugriff steuert. Wenn der Schrift­steller durch die vom Kritiker entschleierte Bedeutung einen Ver­lust erleidet, wie es der Auftakt der Novelle herausstellt, dann ist der Sinn eine Sache, die vom Text subtrahiert werden' kann. Ge­lingt es, den Sinn als den eigentlichen Kern des Werks aus dem Text herauszulösen, dann ist das Werk verbraucht, weshalb die Interpretation mit der Konsumierbarkeit der Literatur zusammen­fällt. Ein solches Verbrauchtwerden ist aber nicht allein für den Text fatalj denn es fragt sich, worin die Funktion der Interpreta­tion eigentlich noch gründen soll, wenn sie das Werk durch die 'ihm entrissene Bedeutung als leere Schale hinterläßt. Ihr parasitä­rer Charakter drängt sich auf, weshalb James seinen Schriftsteller sagen läßt, daß die Rezension des Kritikers lediglich das übliche Geschwätz ("The usual twaddle")S enthalte.

Mit diesem Urteil dementiert Vereker sowohl die 'archäologi­sche', in die Tiefe grabende Anstrengung der Interpretation als auch die Annahme, daß die Bedeutung eine Sache sei, die - wie es im

3 Ibid., pp. 276 H. • So charakterisierte T.-B. Pontalis, NaCh Freud, übers. von Peter Assion

et al., Frankfurt 1968, p. 297, den Sachverhalt in der Tames' Tbe Figure in the Carpet gewidmeten Betrachtung.

S Tames, p. 279.

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Text explizit gesagt wird - einen Schatz verkörpere6, der durch die Interpretation zu heben ist. Ein solches Dementi - von Vereker in der Gegenwart des Kritikers formuliere - führt zwangsläufig zu einer stärkeren Explikation der die Interpretation steuernden Nor­men. Dabei kommt deren historischer Charakter unverkennbar zum Vorschein. Die eingangs gezeigte Selbstgefälligkeit des Kriti­kers rechtfertigt sich jetzt mit dem Anspruch der Wahrheitssuche8,

und da die Wahrheit des Textes den Charakter einer Sache hat, de­ren Geltung sich gerade darin bezeugt, daß sie auch unabhängig vom Text existiert, fragt der Kritiker, ob denn Verekers Roman nicht - wie er jedenfalls immer angenommen hat - eine esote­rische Botschaft, eine bestimmte Philosophie, zentrale Ansichten über das Leben oder eine "extraordinary 'general intention' 119, zu­mindest aber eine aussageträchtige Stilfigur enthalte.!O Damit ist ein für die Literaturauffassung des 19. Jahrhunderts charakteristisches Normenrepertoire benannt. Für den Kritiker denotiert die gesuchte Bedeutung Normen dieser Art, und wenn es gilt, solche als den Sinn des Textes zu entschleiern, so muß der Sinn immer schun mehr als nur das Produkt des Textes sein. Diese Voraussetzung be­sitzt für den Kritiker eine solche Selbstverständlichkeit, daß man annehmen darf, es handelt sich hierbei um eine von den Lesern literarischer Werke weithin geteilte Erwartung. Deshalb erscheint es dem Kritiker nur natürlich, Sinn als verstecktes Geheimnis durch diskursive Reduktion offenbar zu machen.

Die Diskursivität bezieht den Sinn auf zwei bereitstehende Rah­men. Zunächst auf den der subjektiven Disposition des Kritikers, und das heißt auf die Art seiner Wahrnehmung, seiner Beobach­tung und seiner Urteile. Er möchte die entdeckte Bedeutung erklä­ren. Dazu bemerkte Pontalis in seiner Betrachtung der Jamesschen Novelle: "Alles, was die Kritiker berühren, wird platt. Sie wollen nichts anderes, als der allgemeinen, zugelassenen, festgesetzten

• Ibid., p. 285. 7 Ibid. , Ibid., p. 281. • Ibid., pp. 283 f. u. 285. 10 Ibid., p. 284.

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Rede eine Sprache einzugliedern, die ihren Antrieb gerade darin hat, daß sie sich in jener weder ereignen konnte noch wollte und sich einen Stil erfinden mußte. Die gewöhnlich bescheidenen Er­klärungen des Kritikers über seine Absichten ändern an seinem Vorgehen nichts; tatsächlich erklärt er, vergleicht, deutet. Diese Worte können einen verrückt machen."ll Eine solche Irritation gründet nicht zuletzt darin, daß die Literaturkritik auf weiten Strecken immer noch so verfährt, ungeachtet dessen, daß schon am Ende des vorigen Jahrhunderts die Reduktion fiktionaler Texte auf diskursive Bedeutung nachhaltig dementiert worden ist.

Dennoch muß ein elementares Erldärungsbedürfnis literarischer Werke bestanden haben, das der Kritiker durch seine diskursiven Transformationen der Texte erfüllte. Ihm kam im 19. Jahrhundert eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen Werk und Publikum zu, und zwar insofern, als er den Sinn der Kunstwerke seinem Publi­kum als Lebensorientierung verdolmetschte. Die enggewobene Be­ziehung zwischen Literatur und Kritik hat Carlyle paradigmatisch formuliert, wenn er in seinen 1840 gehaltenen Vorlesungen über die Heldenverehrung den Kritiker und Literaten in das Pantheon der Unvergänglichen mit folgender laudatio aufnimmt: "Men of letters are a perpetual Priesthood, from age to age, teaching all men that a God is still present in their life; that all 'Appearanee,' whatsoever we see in the world, is but avesture for the 'Divine Idea of the World,' for 'that which lies at the bottom of Appear­anee.' In the true Literary Man there is thus ever, acknowledged or not by the world, a saeredness: he is the light of the world; the world's Priest: - guiding it, like a saered Pillar of Fire, in its dark pilgrimage through the waste of Time.,,12

Was Carlyle pathetisch übersteigert hat, indem er die Attribute Gottes in die Welt legte, ist für James rund 50 Jahre danach längst zu einer historischen Norm geworden. Der Kritiker, der hinter die 'Erscheinungen' greift, greift für James ins Leere. Denn 'Erschei­nungen' sind hier nicht mehr als vordergründige Verhüllung einer

11 Pontalis, p. 297. 12 Thamas Carlyle, On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in

History (Everyman's Library), Landon 1948, p. 385.

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substanzhaften Bedeutung begriffen, die hinter ihnen existierte, vielmehr kommt durch solche 'Erscheinungen' etwas in die Welt, das es vorher und anderen Orts überhaupt nicht gegeben hat. So­lange aber der Kritiker auf den Hintersinn fixiert ist, vermag er, wie es Vereker ihm eigens bescheinigt, nichts zu sehen; kein Wun­der, daß der Kritiker dann am Ende das Werk des Romanciers für ein Nichts hält13, da es sich nicht auf den Erklärungsraster zurück­schneiden läßt, dessen Geltung der Kritiker nie in Frage stellt. Folglich wird der Leser dieser Novelle darüber zu entscheiden ha­ben, ob die Nichtigkeit das Werk oder den Zugriff qualifiziert.

Mit dem Bestreben, eine vom Werk ablösbare Botschaft ausfin­dig zu machen, kommt der zweite Bezugsrahmen ins Spiel, an dem sich der Kritiker orientiert. Dieser besaß im 19. Jahrhundert vor allem deshalb ein solches Gewicht, weil die Literatur als Kernstück der Kunstreligion dieser Epoche Lösungen versprach, die von den religiösen, sozialpolitischen, aber auch naturwissenschaftlichen Er­klärungssystemen nicht mehr angeboten werden konnten. Dieser Sachverhalt gab der Literatur im 19. Jahrhundert eine eminente funktionsgeschichtliche Bedeutung. Denn sie bilanzierte die De­fizite, die aus den einzelnen jeweils mit einem universalen Erklä­rungsanspruch auftretenden Systemen resultierten. Im Gegensatz zu vorangegangenen Epochen, in denen eine mehr oder minder stabile Geltungshierarchie der vorhandenen Systeme herrschte, wurde diese im 19. Jahrhundert durch die wachsende Komplexität der einzelnen Systeme sowie durch ihre steigende Zahl und die sich dadurch entfaltende Konkurrenz zwischen ihnen zusehends abgebaut. Die miteinander konkurrierenden Erklärungssysteme von der Theologie bis zur Wissenschaft schränkten ihren Geltungs­anspruch wechselseitig immer wieder ein, so daß sich proportional zu einer solchen Einschränkung die Bedeutung der Fiktion als Bi­lanzierung erzeugter Wissens- und Erklärungsdefizite auszuweiten begann. Wie kaum in einem Jahrhundert zuvor machte die Litera­tur nahezu alle vorhandenen Erklärungssysteme zu ihrer eigenen Umwelt und nahm sie in die Texte auf; sie gab immer dort ihre Antworten, wo sich die Grenzen der Systeme zeigten. Kein Wun-

13 James, p. 307.

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der, daß man die Literatur nach Botschaften absuchte, denn die Fiktion bot gerade diejenigen Orientierungen an, die sich aus den von den Erklärungssystemen hinterlassenen Problemen als not­wendiges Bedürfnis ergaben. Wenn daher Carlyle feststellte: "Lite­rature, so far as it is Literature, is an 'apocalypse of Nature,' a revealing of the 'open secret' 1114, so hat er - der nahezu alle Spiel­arten des deutschen Idealismus synkretistisch miteinander verklam­merte - keineswegs eine atypische Qualifikation der Literatur ge­geben. Offene Geheimnisse sucht auch noch der Jamessche Kritiker, für den erst die Botschaft den Kunstcharakter des Werks ratifiziert.

Nun aber scheitert der Kritiker, und das heißt, das Werk läßt keine vori. ihm ablösbare Botschaft erkennenj Sinn läßt sich nicht auf eine diskursive Bedeutung reduzieren, und die Bedeutung läßt sich nicht zu einer Sache verdinglichen. Die plausiblen Normen des 19. Jahrhunderts funktionieren nicht mehrj der fiktionale Text sperrt sich gegen seine Konsumierbarkeit.

Diese Negation historisch geworden er Normen besitzt in der Fi­gur Corvicks ihre gegenläufige Perspektive. Er scheint das 'Geheim­nis' gefunden zu haben, und als ihm Verekers Roman plötzlich aufgeht, ist er so betroffen, daß er diese Erfahrung nicht zu formu­lieren vermagj statt dessen beginnt sie, sein Leben zu verändern: "It was immense, but it was simple - it was simple, but it was immense, and the final knowledge of it was an experience quite apart. filS Eine Reihe von Zufällen verhindert es, daß der Kritiker Corvick treffen und die Gründe für diese Verwandlung erfahren kann.16 Als es dann schließlich doch möglich zu sein scheint, wird Corvick das Opfer eines Unfalls17; so daß der Kritiker mit philolo­gischer Kriminalistik zunächst Mrs. Corvick sowie ihre literarische Produktion und schließlich nach deren.Tod ihren zweiten Mann -Drayton Deane - unentwegt nach dem, wie er glaubt, offenbar gewordenen Geheimnis auszuforschen beginnt. Da er am Ende

I' Carlyle, p. 391. 15 Jarnes, p. 300. I' Ibid., pp. 301 H. 17 Ibid., p. 304.

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nichts erfährt, ja annehmen muß, daß Deane die entschlüsselte Bedeutung von Verekers Roman selbst nicht kennt, vermag er sich nur in dem Gefühl einer latenten Rache zu beruhigen, indem er Deane zu verstehen gibt, daß seine verstorbene Frau ihm offenbar das Wichtigste vorenthalten habe. IB Der Wahrheitssucher findet in der Rache die Befriedigung seines ungestillten Forschens!

Doch auch dem Leser wird die Entdeckung Corvicks vorenthal­ten, da ihn die Erzählperspektive des Kritikers orientiert. Daraus wächst eine Spannung, die sich nur dadurch aufheben läßt, daß sich der Leser von der ihm gebotenen Orientierung distanziert. Die­ses Loslösen ist insofern bemerkenswert, als in der Regel der Leser fiktionaler Texte den vom Erzähler gesetzten Rahmen im Akt eines "willing suspension of disbelief" übernimmt. Eine solche Gewohn­heit muß hier rückgängig gemacht werden, weil der Leser erst mit zunehmender Dementierung der ihn orientierenden Erzählperspek­tive den Sinn der Novelle zu konstituieren vermag. Gegen den Strich zu lesen, dürfte dem Leser hier besonders schwerfallen, da ihm die Vorurteile des Kritikers - Sinn als eine Botschaft oder als Bedeutung einer Lebensphilosophie zu begreifen - so geläufig sind, daß sie sich bis auf den heutigen Tag gehalten haben. Die Frage, was das eigentlich bedeuten soll, hat sich im Anblick moderner Kunst eher noch gesteigert. Gilt es jedoch, die orientierende Per­spektive des Kritikers zu dementieren, so impliziert diese Strategie, daß der Leser gegen seine eigenen Vorurteile lesen muß, und diese Bereitschaft läßt sich nur dadurch mobilisieren, daß ihm das, was er wissen möchte, durch die Erzählperspektive selbst entzogen wird. Ist die dem Leser vorgegebene Perspektive so angelegt, daß er deren Unzulänglichkeit im Verlauf der Lektüre zu realisieren beginnt, dann führt ihn diese mangelnde Verläßlichkeit immer stärker auf das zurück, worauf er sich verlassen zu können glaubte - bis ihm schließlich seine eigenen Vorurteile in den Blick geraten. Dann bezieht sich der "willing suspension of disbelief" nicht mehr auf den vom Autor gesetzten Erzählrahmen, sondern auf die den Leser leitenden Orientierungen. Sich davon - und sei es auch nur vorübergehend - freizumachen, fällt bekanntlich schwer.

IB Ibid., pp. 314 f.

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Immerhin schärft der massive Informationsentzug über das von Corvick entdeckte Geheimnis die Beobachtung insoweit, als ihr die Signale nicht entgehen dürften, mit denen die vergebliche Suche nach dem Hintersinn durchsetzt ist. Das wichtigste Signal empfängt der Kritiker von Vereker selbst, ohne es, im Gegensatz zu Corvick, zu begreifen: "For himself, beyond doubt, the thing we were all so blank about was vividly there. It was something, I guessed, in the primal plan, something like a complex figure in a Persian carpet. He highly approved of this image when I used it, and he used another himself. 'It's the very string/ he said, 'that my pearls are strung on!' ,,19 Statt den Sinn wie eine Sache greifen zu können, ge­wärtigt der Kritiker nur eine Leerstelle. Diese aber ist nicht durch eine diskursive Bedeutung zu besetzen, weshalb alle Versuche die­ser Art in Unsinn münden. Dabei gibt sich der Kritiker selbst das Stichwort für die andersartige Qualität des Sinnes, die James mit dem Titel seiner Novelle The Figure in the Carpet eigens unter­strichen hat und die Vereker dem Kritiker nochmals bestätigt: Sinn hat Bildcharakter. In diese Richtung gingen Corvicks Vermutungen von allem Anfang an. Er gibt deshalb dem Kritiker zu verstehen: " ... there was more in Vereker than met the eye lJ20, worauf der Kritiker nur zu antworten vermag: "When I remarked that the eye seemed what the printed page had been expressly invented to meet he immediately accused me of being spiteful because I had been foiled. 1J21

Den Sinn in den gedruckten Seiten selbst formuliert zu finden, bildet die in der ganzen Novelle niemals preisgegebene Voraus­setzung des mit aller philologischen Akribie arbeitenden Kritikers. Deshalb sieht er nur Leerstellen (blank), die ihm das vorenthalten, was er in den gedruckten Seiten des Textes vergeblich sucht. Der formulierte Text aber ist - wie es Vereker und Corvick verstehen - eher das Muster strukturierter Anweisung für die Vorstellung des Lesers; deshalb läßt sich der Sinn nur als Bild fassen. Im Bild geschieht die Besetzung dessen, was das Textmuster ausspart, durch

19 Ibid., p. 289. 20 Ibid., p. 287. 21 Ibid.

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seine Struktur jedoch konturiert. Eine solche 'Besetzung' stellt eine elementare Bedingung der Kommunikation dar, und obwohl Vere­ker diesen Modus der Kommunikation eigens benennt, bleibt die Selbsterklärung des Autors für den Kritiker folgenlos, weil für ihn Sinn erst dann zum Sinn zu werden vermag, wenn er sich durch eine diskursive Referenz fassen läßt. Das Bild indes entzieht sich solcher Referentialisierbarkeit. Denn es bezeichnet nicht etwas, das schon vorhanden wäre; vielmehr verkörpert es eine Vorstellung dessen, was nicht gegeben bzw. in den gedruckten Seiten des Ro­mans sprachlich nicht manifestiert ist. Das aber vermag der Kriti­ker nicht nachzuvollziehen, und wenn er schon Verekers Äuße­rung hinnimmt, daß sich der Sinn in einem Vorstellungsbild zeigt, so vermag er ein solches Bild bestenfalls als das Abbild einer Ge­gebenheit zu begreifen, die als Sache einem solchen Vorgang vor­ausliegen muß. Indes, sich etwas vorzustellen, das gegeben ist, bleibt gleichermaßen absurd wie das erneute Abbilden dessen, was man ohnehin gewärtigen kann. Da der Kritiker diesen Sachverhalt nicht zu sehen vermag, bleibt er blind gegenüber der Differenz von Bild und Diskursivität als zwei voneinander unabhängiger und daher kaum aufeinander reduzierbarer Weltzugriffe. Folglich kann sich nur im Scheitern der für ihn maßgebenden Orientierung die spezifische Qualität des Sinnes zeigen, die in der ständigen Nega­tivierung der Bezugsrahmen zum Vorschein kommt, durch die der Kritiker den Sinn der Fiktion in merkmalsbestimmte Diskursivität übersetzen möchte. Diese Negativierung läßt erkennen, daß erst im Preisgeben mitgebrachter Maßstäbe die Möglichkeit liegt, sich das vorzustellen, was durch den Sinn der Fiktion intendiert ist.

Wenn der Sinn fiktionaler Texte Bildcharakter besitzt, dann muß sich zwangsläufig ein anderes Verhältnis zwischen Text und Leser ergeben, als es der Kritiker durch seine Reduktionsakte her­zustellen versucht. Sein Zugriff ist durch die für alle diskursive Er­kenntnis geltende Subjekt-Objekt Spaltung charakterisiert. Der Sinn ist der Gegenstand, auf dessen Gegebenheit sich das Subjekt mit dem Ziel der Gegenstandsbestimmung richtet, die sich in der Be­ziehung auf einen Referenzrahmen sichern läßt. Die so gewonnene Allgemeingültigkeit zeichnet sich dadurch aus, daß die ermittelte Bestimmung nicht nur von den Spuren der Subjektivität gereinigt

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ist, sondern darüber hinaus auch das Subjekt selbst überschritten hat. Diese Unabhängigkeit vom Subjekt bildet dann das gesuchte Wahrheitskriterium. Es fragt sich aber, was eine solche Sinnbe­stimmung für das Subjekt noch bedeuten kann. - Hat der Sinn Bildcharakter, dann wird das Subjekt niemals aus einer solchen Be­ziehung verschwinden können, wie es für den Modus diskursiver Erkenntnis im Prinzip gilt. Dafür sind im wesentlichen folgende Gesichtspunkte maßgebend: Erweckt erst das Bild den Sinn, der in den gedruckten Seiten des Textes nicht formuliert ist, dann erweist sich das Bild als Produkt, das sich aus dem Zeichenkomplex des Textes und den Erfassungsakten des Lesers ergibt. Von dieser Wechselbeziehung kann sich der Leser nicht mehr distanzieren. Vielmehr schließt er sich durch die in ihm angestoßene Aktivität mit dem Text zu einer Situation zusammen; er stellt somit die Bedingungen her, die notwendig sind, damit sich der Text auswir­ken kann. Schafft der Leser durch die ihm abverlangten Erfassungs­akte dem Text eine Situation, so kann sein Verhältnis zum Text nicht mehr das einer diskursiven Subjekt-Objekt Spaltung sein. Sinn ist dann nicht mehr erklärbar, sondern nur als Wirkung erfahrbar.

Genau diesen Sachverhalt hat James in seiner Novelle durch die Perspektive Corvicks thematisiert. Nachdem dieser den Sinn von Verekers Roman erfahren hat, ist sein Leben verwandelt. Er weiß folglich nur von dieser unerhörten Veränderung zu berichten, die mit ihm vorgegangen ist, nicht aber den Sinn selbst so zu erklären und mitzuteilen, wie es sich der Kritiker wünscht. Von dieser Ver­wandlung ist auch Mrs. Corvick ergriffen, die nach dem Tod ihres Mannes eine· neue literarische Produktion entfaltet, die den Kriti­ker insofern enttäuscht, als er die Einflüsse nicht zu präparieren vermag, die ihm Rückschlüsse auf den verborgenen Sinn von Vere­kers Roman erlauben.22

Selbst wenn man der Meinung sein sollte, James habe die VOll

Literatur bewirkte Verwandlung vielleicht Zl,1 hoch eingeschätzt, so dient eine solche parabolische überzeichnung doch der Profilie­rung zweier voneinander unterschiedener Zugänge zu fiktionalen Texten. Sinn als Wirkung macht betroffen, und eine solche Betrof-

'2 Ibid., p. 308.

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fenheit ist durch Erklärung gar nicht aufhebbar, sondern läßt diese eher scheitern. Wirkung kommt über die Beteiligung des Lesers am Text zustande; Erklärung hingegen bezieht den Text auf die Gegebenheit von Bezugsrahmen und ebnet folglich das ein, was durch den fiktionalen Text in die Welt gekommen ist. Angesichts der Opposition von Wirkung und Erklärung hat sich die Funktion des Kritikers als Dolmetscher der verborgenen Bedeutung fiktiona­ler Texte überlebt.

2. Das Fortwirken der klassischen Interpretationsnorm

Die Reduktion fiktionaler Texte auf eine diskursive Bedeutung darf zumindest seit dem Anbruch moderner Kunst als eine histori­sche Phase der Interpretation bezeichnet werden. Dieses Bewußtsein beginnt heute mehr oder minder deutlich auch in die literaturwis­senschaftlichen Interpretationen einzudringen. Parolen wie Against Interpretation23 oder Validity in In'terpretation24 zeugen sowohl im Angriff als auch in der Apologetik davon, daß die Interpretations­verfahren ohne Reflexion auf ihre jeweiligen Reduktionsakte nicht mehr auskommen. Unmißverständlich hat Susan Sontag in ihrem Essay "Against Interpretation" jene traditionsgeheiligte Exegese von Kunstwerken attackiert, die das Aufdecken der im Werk ver­borgenen Bedeutung zum Ziele hat: "The old style of interpreta­tion was insistent, but respectful; it erected another meaning on top of the literal one. The modern style of interpretation excava­tes, and as it excavates, destroys; it digs 'behind' the text, to find a sub-text which is the true one ... To understand is to interpret. And to interpret is to restate the phenomenon, in effect to find an equivalent for it. Thus, interpretation is not (as most people as­sume) an absolute value, a gesture of mind situated in some time­less realm of capabilities. Interpretation must itself be evaluated, within a historical view of human consciousness.,,25

23 Susan Sontag, Against Interpretation and other Essays, New York 1966.

2' E. D. Hirsch, Validity in Interpretation, New Haven 1967. 2S Sontag, pp. 6 f.

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Es hat den Anschein, als ob moderne Kunst auf eine Interpreta­tion zu reagieren beginnt, die im Aufdecken der Bedeutung ihre Zielvorstellung besitzt. Dieser Sachverhalt entspricht einer seit der Romantik zu machenden Beobachtung, daß Literatur und Kunst auf die Normen der sie begleitenden ästhetischen Theorie in viel­fältigen Spielarten antworten. Oft haben solche Antworten einen für die Theorie ruinösen Charakter. Von den modernen Kunstrich­tungen, die sich auf habitualisierte Erwartungen der Kunstbetrach­tung beziehen, spielt die pop art in einem ausgezeichneten Sinne mit dem am 'Hintersinn' des Kunstwerks interessierten Zugriff der Interpretation. Susan Sontag hat schon darauf aufmerksam ge­macht, daß pop art als eine Verweigerung der Interpretation über­haupt zu verstehen sei: "Abstract painting is the attempt to have, in the ordinary sense, no content; since there is no content, there can be no interpretation. Pop Art works by the opposite means to the same result; using a content so blatant, so 'what it is,' it, too, ends by being uninterpretable.//26 In welcher Hinsicht aber ist pop

art uninterpretierbar? Nun, sie gibt vor, so etwas wie eine Abbil­dung von Gegenständen zu leisten und damit genau den Erwar­tungen zu entsprechen, die eine am Aufdecken verhüllter Bedeu­tung interessierte Interpretation leiten. Zugleich aber macht pop

art diese Vorgabe so durchsichtig, daß sich die Dementierung der Abbildung durch die Kunst als ihr eigentliches Thema zu erkennen gibt. Indem sie den von der Kunst erwarteten Abbildungseffekt wie ein Exponat ausstellt, verweigert pop art jener Interpretation die notwendigen Ansatzmöglichkeiten, die eine übersetzung des Kunstwerks in seine Bedeutung zu ihrem Ziele hat. In diesem Sinne thematisiert sie eine spezifische Eigenheit der Kunst: ihre Sperre dagegen, sie in diskursive Bedeutung aufgehen zu lassen. Folglich bestätigt pop art ihrem Interpreten sogleich, was er in Kunst überhaupt zu suchen scheint; doch die Voreiligkeit solcher Bestätigung geschieht in der Absicht, den Betrachter leerlaufen zu lassen, wenn er an den habituell gewordenen Interpretationsnor­men festhält. Ein solcher Bestätigungseffekt hat strategischen Cha-

20 Ibid., p. 10.

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rakter: er mächte eingeübte und daher schon reflexhafte Sehweisen treffen, die der Betrachter in der Begegnung mit Kunst erworben hat.

In diesem Sachverhalt stecken zwei wichtige Implikationen. Zu­nächst die, daß pop art als eine Manifestation moderner Kunst die Interaktion mit den erwartbaren Dispositionen des Kunstbetrach­ters zu ihrem Thema hat, und das heißt, daß sie in der expliziten Weigerung, eine diskursive Bedeutung erkennbar zu machen, den Blick auf deren Ursprung lenkt, der in den historisch bedingten Erwartungen des Betrachters gründet. Die zweite Implikation be­sagt, daß immer dann, wenn eine Kunstform mit überpointierten Bestätigungseffekten arbeitet, diese einen strategischen Zweck zu erfüllen haben, nicht aber selbst schon Thema sind. Sie machen allererst darauf aufmerksam, daß sie das, was sie so offensichtlich bestätigen, gerade ausschließen wollen. So ist auch in der pop art noch die alte Maxime in Geltung, die Sir Philip Sidney in seiner Defence of Poesie bereits im 16. Jahhrundert formulierte: " . .. the Poet, he nothing affirmeth.,,27 Wird die Affirmation gängiger Erwar­tung gleichsam zur Gestalt des Werkes, dann erhalten wir eine Vor­stellung davon, wie es um die Verfestigung von Interpretations­normen bestellt sein muß, deren Korrektur erst dann wirksam zu werden vermag, wenn das Kunstprodukt durch seine Anlage dem auf Bedeutungsermittlung zielenden Betrachter sogleich bestätigt, was er sucht. Durch Affirmation zu negieren, ist eine massive Stra­tegie, die dort eingesetzt wird, wo es Mißverhältnisse aufzuheben gilt.

Das Auseinanderfallen von gegenwärtiger Kunst und überliefer­ter Interpretationsnorm hat einen historischen Grund, der aller­dings im herrschenden Interpretationsbetrieb verdrängt zu sein scheint. Denn das Fortwirken einer Interpretationsnorm, die das Kunstwerk nach seiner Bedeutung absucht, zeigt an, daß dieses noch als Organon der Wahrheit begriffen wird, die in ihm zur Er-

27 Sir Philip Sidney, The Defence of Poesie. (The Prase Works III), ed. Albert Feuillerat, Cambridge 1962, p. 29.

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scheinung gelangt. Es gilt daher, den historischen Grund freizule­gen, dem die entgegengesetzte Entwicklung von Kunst und ihrer Interpretation entsprungen ist. Denn je mehr die Kunst einen par­tialen Charakter anzunehmen begann, desto universalistischer wurde der Erklärungsanspruch der ihr gewidmeten Interpretation. Dadurch verwischte sich eine historische Zäsur, und es fragt sich, welche Ursachen dafür ausschlaggebend waren.

"Es ist bekannt, daß Hegel das Ende der Kunst für gekommen hielt, und nicht unbekannt, daß er damit gemeint hat, die Kunst könne nicht mehr als die eigentümliche Erscheinung der Wahrheit angesehen werden. Kein Kunstwerk sei noch, wie Schelling es ha­ben wollte, das Medium, in dem der Geist zu sich selbst komme und in dem er, in Anschauung versenkt, Wissen von seinem eige­nen Wesen habe ... schon die christliche Welt konnte Kunst nur noch im umgreifenderen Glauben einbeziehen. Vollends sind die abstrakt gewordenen Lebensverhältnisse der Moderne von sich aus außerstande, im Kunstwerk ein ihnen gemäßes Gesamtbewußtsein zu begründen. Die Kunst ist nicht nur hinter andere Bewußtseins­weisen zurückgetreten, mit denen sie sich in übereinstimmung setzen muß. Sie ist auch ihrem Gehalte nach partial geworden."28 Dieser partiale Charakter ist allen Kunstformen der Moderne eigen; . die, sofern sie sich als Kunst verstehen, immer Manifestation aus­gezeichneter Wirklichkeit sein müssen. Ausgezeichnete Wirklichkeit kann sich jedoch in partialer Kunst niemals mehr direkt präsen­tieren; denn sie so ins Bild zu fassen, hieße - sei es als Abbildung, sei es als Widerspiegelung - ihr einen repräsentativen Charakter für das Ganze zurückzugeben, den sie als partiale Kunst gerade verloren hat. Deshalb muß sie, um ihre Vermittlungsleistung auch als partiale Kunst noch erfüllen zu können, die alten Konnotatio­nen der Form von Ordnung, Ausgleich, Versöhnung, Stimmigkeit und Gefügtsein der Teile zu einer Einheit noch mit sich führen, zugleich aber solche Formkonnotationen ständig dementieren. Denn

28 Dieter Henrich, "Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)", in Immanente Ästhetik -Ästhetische Reßexion (Poetik und Hermeneutik II), ed. W. Iser, Mün­chen 1966, p. 15.

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ohne Dementi würde sie zur Vorspiegelung falscher Ganzheit, wie sie ideologische Kunstrichtungen der Gegenwart erneut herzustel­len versuchen i ohne die Konnotation von 'Form indes wäre Ver­mittlung unmöglich. IISie muß Form und Formbruch in einem sein und durch diese Einheit ihre beiden Bedeutungselemente gegenein­ander oszillieren lassen. Jedes der beiden bestreitet sein Gegenteil und tut dies doch innerhalb seiner."29

In dieser Struktur manifestiert sich das Bewußtsein, daß Kunst als Repräsentation des Ganzen zur Vergangenheit geworden ist. Um so mehr überrascht das Fortwirken einer Interpretationsnorm, die am klassischen Kunstideal gebildet wurde und die sich nun angesichts einer partial gewordenen Kunst seltsam universalistisch ausnimmt. Will die Interpretation der Kunst etwa das wiedergeben, was diese preisgegeben hat, oder verschließt sich diese Interpreta­tionsnorm gar dem historischen Bruch, der in partialer Kunst offen­kundig geworden ist? Es hat den Anschein, als ob der alte Anspruch der Kunst, ein Gesamtbewußtsein zu repräsentieren, sich auf die ihr dienende Auslegung vererbt hätte. Das läßt sich immer dort er­kennen, wo man klassische Interpretationsnormen auf partiale Kunst selbst angewendet sieht. Die so ermittelte Bedeutung mo­derner Werke zeigt in der Regel einen recht abstrusen Charakter, wie es sich den vielen Darstellungen entnehmen läßt, die den Titel A. Reader' s Guide to ... tragen. Nun aber verlangt es der Blick­zwang dieser Interpretationsnorm, darin die repräsentative Erschei­nung einer Ganzheit zu sehen, was unweigerlich dazu führt, die Moderne als Dekadenzphänomen qualifizieren zu müssen. Denn im Spiegel solcher Normen fällt sie hinter das schon Erreichte zu­rück. Damit aber kommt ein Kuriosum zum Vorschein. Die ur­sprünglich der Kunst gewidmete Interpretation beginnt, im Zeichen ihres universalistischen Erklärungsanspruchs die Herrschaft über die Kunst selbst anzutreten. Jetzt zeigt es sich, was es heißt, wenn sich die überlieferte Form der Interpretation trotz des gewandelten Selbstverständnisses der Kunst dagegen sperrt, die sie orientierende Norm zu reflektieren. Deshalb beginnt sich diese Norm im Blick

29 Ibid., p. 30.

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auf gegenwärtige Kunst viel eher selbst auszulegen, als daß sie diese auslegen würde. So kommt im Hervorkehren seiner histori­schen Bedingtheit hier ein Paradigma der Interpretation an sein Ende.

Das gilt auch dort noch, wo die am Aufdecken verhüllter Bedeu­tung interessierte Interpretation ihre normativen Orientierungen an den Postulaten epochal herrschender Erklärungssysteme fest­macht, deren Geltung das Kunstwerk zu repräsentieren scheint. So wurden denn auch literarische Texte bald als Zeugnis des Zeitgei­stes, bald als Widerspiegelung gesellschaftlicher Zustände, bald als Ausdruck der Neurosen ihrer Verfasser und als anderes mehr be­griffen; sie wurden zur Dokumentation nivelliert und dadurch um jene Dimension verkürzt, die solche Texte von bloßer Doku­mentation unterscheidet: die Möglichkeit, durch sie den Zeitgeist, die gesellschaftlichen Zustände und die Dispositionen ihrer Ver­fasser überhaupt als solche erst einmal zu erfahren. Denn es cha­rakterisiert literarische Texte, daß sie ihre Kommunikationsfähig­keit nicht verlieren, wenn ihre Zeit vorbei ist; viele von ihnen ver­mögen auch dann noch zu 'sprechen', wenn ihre 'Botschaft' längst historisch und ihre 'Bedeutung' schon trivial geworden ist. "Ge­stützt auf eine nur mehr restaurativ funktionierende philosophisch­ästhetische Theoriebildung, hat die Literaturwissenschaft bis auf den heutigen Tag ihre Hauptaufgabe in der semantischen Analyse (Exegese, Bedeutungsfestlegung) sanktionierter Texte im Sinne der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Interessenlage gese­hen."3o Die Kommunikationspotentiale eines literarischen Textes indes lassen sich aus einem Paradigma nicht ableiten, das das Kunstwerk als Repräsentation der epochal dominanten Geltungen verstand. Die pragmatische Dimension des Textes blieb durch die­ses Paradigma verstellt, weshalb weder die Funktion noch die Wir­kung des literarischen Textes als Untersuchungsgegenstand in den Blick kamen. Die partiale Kunst der Gegenwart hat uns darauf auf­merksam gemacht, daß Kunst nicht mehr als das repräsentative

10 Dieter Breuer, Einführung in die pragmatische Texttheorie (UTB 106), München 1974, p. 10.

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Abbild solcher Ganzheit begriffen werden kann, sondern daß eine ihrer zentralen Funktionen im Aufdecken, aber vielleicht auch im Bilanzieren der Defizite liegt, die von den epochal herrschenden Geltungen erzeugt worden sind. Folglich kann die Kunst nicht deren Repräsentation sein, so daß jener im 19. Jahrhundert ent­wickelte Interpretationsstil heute so wirkt, als ob durch ihn das Werk zum Reflex jeweils geltender Wertvorstellungen degradiert würde, und dieser Eindruck ist insofern konsequent, als jene Inter­pretationsnorm das Werk durchaus im Hegeischen Sinne als das "sinnliche Scheinen der Idee" begreifen wollte. Auch hier hat die Kunst der Moderne zumindest für die Interpretation eine andere Voraussetzung geschaffen. Statt der platonisierenden Korrespon­denz, die das Werk als Erscheinung einer repräsentativen Bedeu­tung faßt, bildet die Interaktion des Textes sowohl mit den sozia­len', und historischen Normen seiner Umwelt als auch mit denen seiner potentiellen Leser ein vorrangiges Beobachtungsfeld.

Wenn sich dennoch der Interpretationsstil des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart durchgehalten hat, ja, wenn se1bst moderne Kunst zunächst keinen grundlegenden Wandel bewirken konnte, so müssen für dieses Festhalten an einer historisch gewordenen Interpretationsnorm tiefer sitzende Gründe ausschlaggebend sein. Ein wichtiger Hinweis auf solche Gründe läßt sich einer Bemer­kung Georg Simmels entnehmen: "Die niedrigere Stufe des ästhe­tischen Triebes spricht sich im Systembau aus, der die Objekte in ein symmetrisches Bild faßt ... wenn sie unter das Joch des Sy­stems gebeugt waren, konnte der Verstand sie am schnellsten und gleichsam mit dem geringsten Widerstande erfassen. Die System­form zerbricht, sobald man der eigenen Bedeutsamkeit des Objektes innerlich gewachsen ist und sie nicht erst aus einem Zusammen­hang mit anderen zu entlehnen braucht; in diesem Stadium ver­blaßt deshalb auch der ästhetische Reiz der Symmetrie, mit der man sich die Elemente zunächst zurechtlegte ... Symmetrie be­deutet im Ästhetischen Abhängigkeit des einzelnen Elementes von seiner Wechselwirkung mit allen anderen, zugleich aber Abge­schlossenheit des damit bezeichneten Kreises; während asymme­trische Gestaltungen mit dem individuelleren Rechte jedes Elemen-

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tes mehr Raum für frei und weit ausgreifende Beziehungen ge­statten."3!

Symmetrie bezeichnet hier die klassischen Konnotationen von Form: Ausgleich, Ordnung und Abgeschlossenheit. Zugleich aber deckt Simmel die Motivation auf, die sich in dem Bestreben nach Harmonisierung vorgefundener Elemente zur Geltung bringt. Sym-

31 Georg Simmel, Brücke und Tür, ed. Michael Landmann, Stuttgart 1957, pp. 200 f. u. 205. E. H. Gombrich, Norm and Form, London 1966, hat deutlich gemacht, in welchem Maße die klassischen Normen als Orientierungskategorie die gesamte Kunstgeschichte bis in die Gegen­wart beherrschen. "That procession of styles and periods known to every beginner - Classic, Romanesque, Gothic, Renaissance, Mannerist, Baroque, Rococo, Neo-Classical and Romantic - represents only aseries of masks for two categories, the classical and the non-classical." (p. 83) Folglich werden alle Bezeichnungen für nicht-klassische Stile zu "terms of exclusion." (p. 89). Daraus ergibt sich jedoch ein Problem für die Interpretation der Kunstwerke: "For exclusion implies intention, and such an intention cannot be directly perceived in a family of forms." (p. 90) Solange diese aber die Referenz der Beurteilung bildeten, konn­ten nicht-klassische Formen immer nur "as a catalogue of sins to be avoided" (p. 89) beschrieben werden. Damit kommt die Struktur des klassischen Interpretationsverfahrens zum Vorschein, das in den klassi­schen Normen - "regola, ardine, misura, disegna e maniera" (p. 84) -einen Referenzrahmen zur Bewertung aller Kunstphänomene besaß. Das klassische Interpretationsmodell ist also ein Referenzmodell, da es alle Kunstprodukte an den etablierten. Normen mißt. Ein Referenzmo­dell mit seinen normativen Bestimmungen enthüllt sich allein schon deshalb als eine historische Manifestation der Interpretation, weil es nur mit Anerkennung oder Ausschließung zu arbeiten vermag. In dem Augenblick, in dem es die Besonderheit von Kunstphänomenen und die sich darin zur Geltung bringenden Funktionen der Kunst zu begreifen gilt, ist es geboten, das Referenzmodell durch ein operationalistisches Modell zu ersetzen. Dieses ist jedenfalls für die Betrachtung moderner Kunst angemessener; zugleich erlaubt es auch, die Kunst der Vergangen­heit zu erfassen, indem es ihre Funktionen und Rezeptionsbedingungen freizulegen vermag. Selbstverständlich haben alle Modelle ihre Grenzen. Die Grenzen der klassischen Interpretationsnorm werden in dem Augen­blick offenkundig, in dem sich ihr universalistischer Anspruch auch im Anblick moderner Kunst als Selbstverständlichkeit zu etablieren ver­sucht. Denn nun gibt es für die klassische Kontemplationsästhetik nichts mehr. zu. kontelllplieren, ohne. daß sich in dieser 'Erschöpfung' schon die Funktion der Kunst erschöpft hätte.

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metrie ist eine Struktur der Bewältigung, die es erlaubt, vom Druck des Unbekannten zu entlasten, um es in der Abgeschlossenheit eines ausbalancierten Systems beherrschbar zu machen. Wenn sich die Harmonisierung als Versuch zu erkennen gibt, dem Fremden begegnen zu können, dann wird ein wichtiger Grund faßbar, der für das Weiterwirken der klassischen Ästhetik in der Kunstinter­pretation ausschlaggebend war. Da die klassischen Normen einen Bezugsrahmen bereitstellten, der dem interpretatorischen Zugriff ein hohes Maß an Sicherheit garantierte, blieben sie weit über ihren historischen Ursprung hinaus in Geltung. Simmelläßt daher auch keinen Zweifel daran, daß Symmetrie und Systembau eher einer strategischen Absicht entspringen und keineswegs ontologi­schen Charakter besitzen. Der klassische Bezugsrahmen schien da­her für die Interpretation unabdingbar zu werden, als es galt, in der nachklassischen Periode Urteile über eine Kunst zu fällen, in der sich Ordnung ständig zu desintegrieren begann. Die auf Bedeu­tung zielende Interpretationsnorm wandelt sich angesichts partialer Kunst zu einer DefensivstrukturY

Für den SaChverhalt liefert der New Criticism ein aufschluß­reiches Beispiel. Dieser markiert insofern einen Wendepunkt der Interpretation, als er die entscheidende Hälfte der klassischen Inter­pretationsnorm aufgibt: Das Werk ist hier nicht mehr als die zu er­schließende Bedeutung einer epochal herrschenden Geltung Gegen­stand der Interpretation. Eine solche Form der Bedeutungssuche hat der New Criticism liquidiert. Das Interesse gilt vielmehr den Elemen­ten des Werkes und ihrem Zusammenspiel, so daß für diese Inter­pretationsrichtung die Funktionsabläufe im Text das vorrangige Interesse gewinnen. Doch gerade in dem hier neu erschlossenen Be­obachtungsfeld schlägt die Geltung der alten Interpretationsnorm wieder durch. Der Wert des Werks bemißt sich am Zusammenklang seiner Elemente, und das heißt, je disparater sich diese zunächst ausnehmen und je schwieriger sie angesichts ihrer Ambiguitäten

J2 Das gilt etwa für die allegorisierende Beckettinterpretation. Vgl. zur Kritik meinen Aufsatz "Die Figur der Negativität", in Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium (suhrkamp taschenbuch 225), ed. Hans Mayer und Uwe Johnson, Frankfurt 1975, pp. 54-68; bes. 63 f.

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aufeinander zu beziehen sind, desto größer erweist sich der ästhe­tische Wert des Werks, wenn sich am Ende doch das stimmige Ge­fügtsein seiner Teile ermitteln läßt. Zusammenklang, Harmonisie­rung sowie die Aufhebung der Ambivalenzen als Ziel der Inter­pretation machen die uneingestandene Verpflichtung des New Cri­ticism auf die klassische Interpretationsnorm deutlich. Doch zu­gleich gewinnt hier die Harmonisierung einen Selbstwert, den sie in dieser Form nicht besessen hatte, solange sie im klassischen Kunstverständnis die Wahrscheinlichkeit sowie die Universalität der enthüllten Bedeutung zu repräsentieren hatte. So löste zwar der New Criticism die formalen Strukturen des Kunstwerks von dieser Zuordnung ab und machte sie selbst zum Themaj indes, das Ver­werfen der Bedeutungssuche - die im Sammelbegriff des extrinsic approach zusammengefaßt ist - beinhaltete nicht das gleichzeitige Verwerfen der klassischen Interpretationsnorm zur Beurteilung der im Text ermittelten Funktionsabläufe. Deshalb blieb das stimmige Gefügtsein disparater Elemente für nahezu alle Spielarten des New Criticism ein letzter Wert des Kunstwerks, der als Selbstwert sein mangelndes Bezogensein zu erkennen gibt und damit zugleich die Krise dieses interpretatorischen Zugriffs anzeigt.

Immerhin ist diese Sachlage aufschlußreich. Der New Criticism hat die literaturwissenschaftliche Beobachtung insofern umakzen­tuiert, als er den Blick nicht mehr auf die repräsentative Bedeu­tung, sondern auf die im Werk ablaufenden Funktionen richtete. In dieser Wendung erwies er sich als gegenwartsangemessenj er fiel jedoch hinter diesen Schritt wieder zurück, als er das Zusammen­spiel der Funktionen mit den gleichen Interpretationsnormen zu bestimmen versuchte, die für die Ermittlung repräsentativer Bedeu­tung galten. Die Funktion der Kunst mit den gleichen Normen interpretieren zu wollen, die für das Aufweisen der Bedeutung der Kunst entwickelt worden sind, heißt letzten Endes, das wieder zu verlieren, was man durch die Entdeckung ihrer Funktion gewonnen hatte. Denn eine Funktion repräsentiert keine Bedeutung, sondern bewirkt etwas.

Wenn die überlieferte Interpretationsnorm nicht nur den histo­rischen Bruch überdeckt, sondern auch dort wirksam bleibt, wo sich

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neue Orientierungen der Interpretation zeigen, dann reichen für diese Langlebigkeit die bisher besprochenen Ursachen noch nicht aus. Ein weiterer Grund für das Fortbestehen überkommener Inter­pretationsnormen bietet sich in der für alles Verstehen notwendigen Konsistenzbildung. Umfangreiche Texte wie Romane und Epen sind in allen ihren Teilen beim Lesen niemals mit gleicher Intensität gegenwärtig. Das war schon den Autoren des 18. Jahrhunderts so bewußt, daß sie in ihren Romanen Strukturierungsempfehlungen für die Lektüre diskutierten. Kennzeichnend dafür ist die von Field­int3, später auch von Scot~4 und seinen Nachfahren gebrauchte Metapher der Postkutsche, die den Leser zu einem Reisenden stili­siert, der den oft beschwerlichen Weg durch den Roman aus der Sicht eines wandernden Blickpunkts nimmt. Es versteht sich, daß er dann das Gesehene selbst in seiner Erinnerung verknüpft und einen Zusammenhang herstellt, dessen Verläßlichkeit nicht un­wesentlich von der gezeigten Aufmerksamkeit abhängt. In jedem Falle aber ist ihm die ganze Reise nicht in jedem Augenblick ver­fügbar.

Philip Hobsbaum hat kürzlich die Milton-Kritik der letzten Jahrzehnte im Blick auf Paradise Lost einmal durchgemustert und die dabei zutage getretenen Interpretationsdivergenzen mit dem von ihm geprägten Begriff des 'Verfügbarkeitskriteriums' zu erklä­ren versucht. "lt is a commonplace, indeed, to say that the longer the work the less chance there is of its being flawless. But there is a tendency among critics to patch up flaws, to make conne<::tions which may not be there for other readers; and this is, no doubt, a result of the very exigency of criticism and the paradox contained within it ... The problem, as I see it, is that, in order to keep the work in his mind as anything more than detached fragments, the critic has to make some effort at interpretation, no matter how pri­vate, how personal, the result may be. The temptation then is to pass on that result in toto to the reading public, expressing indig-

J3 Vgl. Henry Fielding, Tom Iones, XVIII, 1 (Everyman's Library), London 1957, p. 364,

34 Vgl. Sir Walter Scott, Waverley (The Nelson Classics), Edinburgh, o. J., p. 44.

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nation, as often as not, at the dis agreement such a proceeding will inevitably arouse. Surely it is more graceful, as well as more hon­est, to concede that, however unified a work may be in intention, it is sadly fragmented in effect? ... This is what I have called the concept of availability: just as all of his experience is not available even to the most gifted creative writer, so all of the writer's work is not available to even the most interested reader.,,35

Die mangelnde Verfügbarkeit des ganzen Werkes während des Erfassungsaktes, der sich als wandernder Blickpunkt vollzieht, er­weist sich als wesentlicher Anstoß für die Konsistenzbildung in der Lektüre - ein Vorgang, der noch ausführlich zu diskutieren sein wird.36 Was hier jedoch interessiert, ist die Einschätzung jener In­terpretationsnotwendigkeit, die für das Erfassen des Textes als eines Zusammenhangs unabdingbar ist. Je weniger dem einzelnen Kritiker - aus wie immer gearteten Gründen - Miltons ganzes Epos verfügbar ist, desto stringenter erscheint die von ihnen je­weils hergestellte Konsistenz. Das aber heißt, daß mangelnde Ver­fügbarkeit durch die Interpolation habitueller Beurteilungsmaß­stäbe kompensiert wird, die zunächst den Kritiker und weniger die Eigentümlichkeit des Werks charakterisieren. Wenn mangelnde Verfügbarkeit zu gesteigerter Inanspruchnahme habitueller Orien­tierungen führt, dann gewinnt die hergestellte Konsistenz ihre Stimmigkeit aus solchen Orientierungen. Dieser Sachverhalt gilt für den Lesevorgang überhaupt, so daß der Kritiker zunächst nur ein Leser ist, der wie jeder andere durch die von ihm hergestellte Konsistenz das Werk als einen Zusammenhang zu erfassen trach­tet. Für diesen Vorgang besitzen Kritiker und Leser die gleiche Kompetenz. Schwierig wird es daher erst in dem Augenblick, wenn der Kritiker für seine Erfassungsstruktur eine normative Geltung beansprucht. Geschieht das, dann stößt der Kritiker mit seiner In­terpretation auf Einwände beim lesenden Publikum, weil sich der identische Vorgang der Konsistenzbildung je unterschiedlich reali-

3S Philip Hobsbaum, A Theory of Communication, Landan 1970, pp. 47 f.

36 Vgl. dazu Kapitel III, A, 3, pp. 193 ff.

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sieren läßt und angesichts der Berufung auf habituelle Orientierun­gen mit nuancierten Inhalten besetzt sein wird. Auf Einwände mit Indignation zu reagieren, zeigt an, daß der Kritiker jene habituel­len Orientierungen nicht reflektiert, die seine Konsistenzbildung leiten. Da dies der Leser in der Regel ebenfalls unterläßt, müßte der Kritiker begründen, warum die von ihm hergestellte Konsistenz die angemessenere Form der Beurteilung ist. Wenn er sich dabei auf klassische Interpretationsnormen beruft, dann bleibt der Ver­dacht zurück, daß hier ästhetische Normen der Rechtfertigung sub­jektiver Erfassungsakte dienen. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die klassischen Interpretationsnormen gründeten in der Voraus­setzung, daß im Werk stets die Ganzheit zur Erscheinung kommt, die zu ihrer angemessenen Repräsentation der Stimmigkeit der Formen bedurfte. Anders verhält es sich mit der Konsistenzbildung. Sie bleibt an habituelle Orientierungen des Lesers gebunden. Da­her sind viele Werke moderner Literatur auch so reich an Kon­sistenzbrüchen, und zwar nicht immer deshalb, weil sie schlecht konzipiert wären, sondern weil solche Brüche die zum Erfassen not­wendige Konsistenzbildung erschweren, um dadurch die habituel­len Orientierungen versagen zu lassen. Deren Unzulänglichkeit hervorzutreiben, erwiese sich dann als die kommunikative Absicht solcher Brüche.

Gegebenheiten dieser Art machen das Fortwirken klassischer In­terpretationsnormen einsichtig. Denn diese lassen sich offenbar nicht nur für die Beurteilung des Werks, sondern noch einmal für die in der Konsistenzbildung erstrebte Stimmigkeit in Anspruch nehmen, um die vielen vom Leser getroffenen Entscheidungen so erscheinen zu lassen, als ob sie durch die gleiche Norm geregelt wären. - Nimmt man hinzu, daß die klassische Interpretations­norm einen Bezugsrahmen bereitstellt, der es erlaubt, Fremdes zu­gänglich, wenn nicht sogar beherrschbar zu machen, dann werden die Gründe vollends deutlich, die dieser Norm weit über ihren hi­storischen Ursprung hinaus jene fortdauernde Geltung gesichert haben. Eine Interpretationsnorm, die die Erfassungsakte und Werk­strukturen gleichermaßen zu regeln schien, und die im Blick auf das noch Unerfahrene Maßstäbe anbot, mußte wie eine Naturge­gebenheit erscheinen.

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Wenn es sich die Interpretation lange Zeit zur Aufgabe gemacht hat, die Bedeutung eines literarischen Textes zu ermitteln, so setzt dies voraus, daß der Text seine Bedeutung nicht formuliert. Wie aber kommt es dann überhaupt zur Erfahrung einer Textbedeu­tung, die von der hier diskutierten Interpretationsnorm als so selbst­verständlich angenommen wird, daß sie sich nur noch mit ihrer diskursiven Erklärung befassen zu müssen glaubt? Der Vorgang, in dessen Verlauf eine solche Bedeutung zum Vorschein kommt, liegt daher allen diesen Bemühungen voraus. Folglich sollte die Konsti­tution von Sinn und nicht ein bestimmter, durch Interpretation er­mittelter Sinn von vorrangigem Interesse sein. Rückt dieser Sach­verhalt in den Blick, dann kann sich die Interpretation nicht mehr darin erschöpfen, ihren Lesern zu sagen, welchen Inhalts der Sinn des Textes sei; vielmehr muß sie dann die Bedingung der Sinnkon­stitution selbst zu ihrem Gegenstand machen. Sie hört dann auf, ein Werk zu erklären, und legt statt dessen die Bedingung seiner möglichen Wirkung frei. Verdeutlicht sie das Wirkungs­potential eines Textes, so verschwindet die fatale Konkurrenz, in die sie dadurch geraten ist, daß sie dem Leser die von ihr er­mittelte Bedeutung als die richtigere oder bessere aufzudrängen ver­suchte. "[TheJ critic," so meint T. S. Eliot, "must not coerce, and he must not make judgments of worse or better. He must simply elucidate: the reader will form the correct judgment for himself."37

Im Blick auf moderne Kunst sowie die höchst wechselvolle Rezep­tionsgeschichte literarischer Werke kann der Leser nicht mehr über den Sinn des Textes - den es in einer solchen kontextfreien Form ohnehin nicht gibt - durch Interpretation belehrt werden. Sinnvoll wäre zunächst eine Aufklärung darüber, was eigentlich im Lesen geschieht. Denn das ist der Ort, an dem Texte erst zu ihrer Wir­kung gela;i.gen, und bekanntlich gilt dies auch für solche, deren IBedeutung l schon so historisch geworden ist, daß sie uns nicht mehr unmittelbar treffen oder doch nur insoweit Iberühren', als der im Lesen konstituierte Sinn uns eine Welt erfahren läßt, die

37 T. S. Eliot, The Sacred Wood (University Paperbacks), London 1960 ('1928), p. 11. Die Bemerkung Eliots steht in dem Essay IIThe Perfeet Critic".

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etwas zu sehen erlaubt, was es nicht mehr gibt, und die wir ver­stehen können, obgleich sie uns fremd ist.

B Vorüberlegungen zu einer wirkungsästhetischen Theorie

1. Die leserorientierte Perspektive und die traditionell erhobenen Einwände

Die Interpretation beginnt heute ihre eigene Geschichte zu ent­decken, und das heißt, nicht nur die begrenzte Geltung ihrer je­weiligen Normen, sondern auch diejenigen Faktoren, die unter der Herrschaft überlieferter Normen nicht zur Geltung kommen konn­ten. Dazu gehört ohne Zweifel der Leser und damit der eigentliche Adressat der Texte. Solange von der Intention des Autors, der zeit­genössischen, psychoanalytischen, historischen und wie immer ge­arteten Bedeutung der Texte oder von deren strukturgesetzlicher Bauweise die Rede war, dachte man nur selten daran, daß dies alles erst Sinn hat, wenn die Texte gelesen werden. Gewiß, man hielt das für selbstverständlich, doch gleichzeitig wissen wir außerordent­lich wenig darüber, was mit dieser Selbstverständlichkeit eigentlich gemeint ist. In jedem Falle aber ist das Gelesenwerden der Texte eine unabdingbare Voraussetzung für die verschiedenartigsten In­terpretationsverfahren und damit ein Akt, der den Ergebnissen der einzelnen interpretatorischen Zugriffe immer schon vorausliegt. Daran hat Walter Slatoff in seinem Buch With Respect to Readers wieder erinnert: "One fe eis a little foolish having to begin by in­sisting that works of literature exist, in part, at least, in order to be read, that we do in fact read them, and that it is worth thinking about what happens when we do. Put so blatantly, such statements seem too obvious to be worth making, for after all, no one di­rectly denies that readers and reading do actually exist; even those who have most insisted on the autonomy of literary works and the irrelevance of the readers' responses, themselves do read books and

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respond to them ... Equally obvious, perhaps, is the observation that works of literature are important and worthy of study essen­tially because they can be read and can engender responses in hu~ man beings."l

Im Gelesenwerden geschieht die für jedes literarische Werk zen­trale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem Empfänger. Aus diesem Grunde hat auch die phänomenologische Kunsttheorie mit allem Nachdruck darauf aufmerksam gemacht, daß die Betrach­tung eines literarischen Werks nicht allein der Gegebenheit der Textgestalt, sondern in gleichem Maße den Akten seiner Erfassung zu gelten hat. Ingarden stellte daher dem Schichtenaufbau des litera­rischen Werks die Weisen seiner Konkretisation gegenüber. De~ Text als solcher hält nur verschiedene "schematisierte Ansichten"2 parat, durch die der Gegenstand des Werks hervorgebracht werden kann, während das eigentliche Hervorbringen zu einem Akt der Konkretisation wird. - Daraus ließe sich folgern: das literarische Werk besitzt zwei Pole, die man den künstlerischen und den ästhe­tischen Pol nennen könnte, wobei der künstlerische den vom Autor geschaffenen Text und der ästhetische die vom Leser geleistete Konkretisation bezeichnet. Aus einer solchen Polarität folgt, daß das literarische Werk weder mit dem Text noch mit dessen Kon­kretisation ausschließlich identisch ist. Denn das Werk ist mehr als der Text, da es erst in der Könkretisation sein Leben gewinnt, und diese wiederum ist nicht gänzlich frei von den) Dispositionen, die der Leser in sie einbringt, wenngleich solche Di~positionen nun zu den Bedingungen des Textes aktiviert werden. Dort also, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen, liegt der Ort des literari­schen Werks, und dieser hat zwangsläufig einen virtuellen Charak­ter, da er weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann.

Dieser Virtualität des Werks entspringt seine Dynamik, die ih­rerseits die Bedingung für die vom Werk hervorgerufene Wirkung

I Walter J. Slatoff, With Respect to Readers. Dimensions of Literary Response, Ithaca 1970, p. 3.

Z Vgl. Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 21960, pp. 294 ff.

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bildet. Der Text gelangt folglich erst durch die Konstitutionslei­stung eines ihn rezipierenden Bewußtseins zu seiner Gegebenheit, so daß sich das Werk zu seinem eigentlichen Charakter als Prozeß nur im Lesevorgang zu entfalten vermag. Deshalb soll im folgen­den immer nur dann vom Werk gesprochen werden, wenn sich die­ser Prozeß in dem vom Leser geforderten und durch den Text aus­gelösten Konstitutionsvorgang erfüllt. Das Werk ist das Konsti­tuiertsein des Textes im Bewußtsein des Lesers.

Verwandelt der virtuelle Ort des Werks Text und Leser in Pole einer Beziehung, dann gewinnt dieses Verhältnis selbst vorrangiges Interesse. Damit es nicht aus dem Blick gerät, darf sich die Betrach­tung des Werks weder auf die eine noch auf die andere Position mit Ausschließlichkeit konzentrieren. Die Pole zu isolieren, hieße, das Werk auf die Darstellungstechnik des Textes bzw. die Psychologie des Lesers zu reduzieren und damit gen au den Vorgang auszublen­den, den es zu betrachten gilt. Dadurch soll die heuristische Not­wendigkeit einer Komponentenanalyse nicht bestritten werden, doch es bleibt dabei zu bedenken, daß - wenn immer diese domi­niert -, der virtuelle Ort des Werks verschwindet. Das Werk in seine Konstituenten aufzubrechen und diese isoliert voneinander zu betrachten, wäre nur dann problemlos, wenn die Beziehung von Text und Leser dem informationstheoretischen Modell von Sender und Empfänger genau entspräche. Das würde einen gemeinsamen, inhaltlich stark definierten Code voraussetzen, der den Empfang der Mitteilung sicherstellt, da in einem solchen Vorgang die Kom­munikationsrichtung eingleisig vom Sender zum Empfänger ver­läuft. In literarischen Werken indes geschieht eine Interaktion, in deren Verlauf der Leser den Sinn des Textes dadurch 'empfängt', daß er ihn konstituiert. Statt der Vorgegebenheit eines inhaltlich bestimmten Codes entstünde ein solcher erst im Konstitutionsvor­gang, in dessen Verlauf der Empfang der Botschaft mit dem Sinn des Werks zusammenfiele. Unterstellt man einmal, daß es sich so verhält, so muß man davon ausgehen, daß die Elementarbedingun­gen einer solchen Interaktion in den Strukturen des Textes grün­den. Diese sind von eigentümlicher Natur. Obwohl sie Strukturen des Textes sind, erfüllen sie ihre Funktion nicht im Text, sondern erst in der Affektion des Lesers. Nahezu jede in fiktionalen Texten

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ausmachbare Struktur zeigt diesen Doppelaspekt: sie ist Sprach­struktur und affektive Struktur zugleich. Der verbale Aspekt steuert die Reaktion und verhindert ihre Beliebigkeit; der affektive Aspekt ist die Erfüllung dessen, was in der Sprache des textes vorstruk­turiert war. Eine Beschreibung der aus diesem Doppelaspekt re­sultierenden Interaktion verspricht dann, etwas über die Wirkungs­struktur der Texte sowie über die Reaktionsstruktur des Lesers er­kennbar zu machen. "Ein einfaches Beispiel kann das erklären. Wenn wir den rhythmischen Aufbau irgendeines sprachlichen Ab­schnittes studieren, haben wir es stets mit nichtpsychologischen Fak­ten zu tun. Wenn wir aber diesen rhythmischen Aufbau der Sprache als etwas analysieren, das auf die verschiedenste Weise darauf gerichtet ist, eine entsprechende funktionelle Reaktion her­vorzurufen, dann reproduzieren wir durch diese Analyse, ausge­hend von ganz objektiven Faktoren, einige Züge der ästhetischen Reaktion. Es ist völlig klar, daß die auf diese Weise reproduzierte ästhetische Reaktion eine ganz unpersönliche Reaktion sein wird, d. h., sie geht nicht von einem einzelnen Menschen aus und spie­gelt nicht einen individuellen psychologischen Prozeß in seiner ganzen Konkretheit wider, aber das ist nur von Vorteil. Dieser Umstand hilft uns, das Wesen der ästhetischen Reaktion in seiner reinen Form festzustellen, ohne es mit all den zufälligen Prozessen zu vermischen, mit denen es in der individuellen Psyche durch­wachsen ist."3

Aus diesem Grunde muß sich eine Beschreibung der Interaktion von Text und Leser primär auf die Konstitutionsvorgänge bezie­hen, durch die Texte im Lesen erfahren werden. Eine solche Erfah­rung liegt aller den Werken zugeschriebenen Bedeutung immer schon voraus, da diese in ihnen gründet. Sie zu durchschauen, heißt, das Bewußtsein für die Akte zu wecken, denen unsere Ur­teile über Kunst entspringen und deren Deckung in ihrer Erfahrung liegt. Es kennzeichnet die Natur ästhetischer Wirkung, daß sie sich nicht an Bestehendem festmachen läßt. Ja, vielleicht bringt schon

3 1. S. Wygotski, "Das psychologische Problem der Kunst", in Asthe­tische Erfahrung und literarisches Lernen, ed. Wilhe1m Dehn, Frankfurt 1974, pp. 148 f.

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der Sprachgebrauch 'ästhetisch' eine Verlegenheit diskursiver Rede zum Ausdruck; er bezeichnet eher eine Leerstelle in merkmals­bestimmter Rede, als daß er selbst schon ein bestimmtes Merkmal wäre. Josef König schrieb dazu einmal: "Gewiß ... sind die Aus­drücke 'schön wirken' und 'dies wirkt schön' nicht Nichts bedeu­tende Ausdrücke. Aber von dem, was sie bedeuten, gilt - und zwar eben im Unterschied zu anderen, nicht Nichts bedeutenden Ausdrücken -, daß, was sie bedeuten, nichts ist als das durch sie Bedeutete; und gilt also, daß es überhaupt etwas nur ist, als es nichts ist als das durch diese Ausdrücke Bedeutete."4 Gerade dieser Eigentümlichkeit wird die ästhetische Wirkung beraubt, wenn man das durch sie Bedeutete im Blick auf die Bedeutungen, die man kennt, zu verrechnen beginnt; denn bedeutet sie das, was durch sie in die Welt kommt, so ist sie das mit dem vorhandenen Be­stand der Welt Nicht-Identische. Zugleich aber versteht man, war­um diesem Nicht-Identischen fortwährend Merkmale zugeschrieben werden: Man möchte es zurückbringen auf etwas, das sich begrei­fen läßt. Wenn das geschieht, erlischt die Wirkung; denn sie ist Wirkung, solange das durch sie Bedeutete in nichts anderem grün­det als in dieser Wirkung, die sich zunächst nur als die Verweige­rung der Zuordnung oder als das Herausgehobensein des Emp­fängers aus seinen Zuordnungen klassifizieren läßt. Daraus folgt, daß man die alte Frage, was dieses Gedicht, dieses Drama, dieser Roman bedeutet, durch die Frage ersetzen muß, was dem Leser ge­schieht, wenn er fiktionale Texte durch die Lektüre zum Leben erweckt. Bedeutung hätte dann viel eher die Struktur des Ereig­nisses; sie ist selbst ein Geschehen, das sich nicht auf die Denota­tion empirischer oder wie immer angenommener Gegebenheiten zurückbringen läßt. Dadurch aber verändert sich der Charakter, zumindest aber die Einschätzung der Bedeutung selbst. Wenn der fiktionale Text durch die Wirkung existiert, die er in uns auszu­lösen vermag, dann wäre Bedeutung viel eher als das Produkt er­fahrener und das heißt letztlich verarbeiteter Wirkung zu begrei-

• Josef König, "Die Natur der ästhetischen Wirkung", in Wesen =d Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner, ed. Klaus Ziegler, Göttingen 1957, p. 321.

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fen, nicht aber als eine dem Werk vorgegebene Idee, die durch das Werk zur Erscheinung käme.

Damit stellt sich auch der Interpretation eine andere Aufgabe: statt den Sinn zu entschlüsseln, muß sie die Sinnpotentiale ver­deutlichen, die ein Text parat hält, weshalb sich die im Lesen er­folgende Aktualisierung als ein Kommunikationsprozeß vollzieht, den es zu beschreiben gilt. Sicherlich trifft es zu, daß im Lesevor­gang das Sinnpotential niemals vollkommen, sondern immer nur partiell eingelöst werden kann. Doch gerade das macht die Analyse von Sinn als Geschehen um so notwendigerj kommen doch erst so die Voraussetzungen in den Blick, die die Sinnkonstitution bedin­gen. So individuell daher auch die Färbungen des konstituierten Sinnes im Einzelfall sind, so besitzt der Konstitutionsakt selbst an­gebbare Charakteristika, die den je individuellen Realisierungen des Textes zugrundeliegen und folglich intersubjektiver Natur sind. Eine bedeutungsorientierte Interpretation glaubte, dem Leser sagen zu müssen, was er als Bedeutung des Textes zu erkennen habe. Für sie blieb daher der Geschehenscharakter des Textes genauso abge­blendet wie die Erfahrung des Lesers, die von einer solchen Ereig­nishaftigkeit ausgelöst wurde. Doch ganz unabhängig davon, ob man eine bedeutungs orientierte Interpretation für kritikbedürftig hält oder nicht,' fragt es sich, ob hier nicht zwei verschiedene Sach­verhalte miteinander vermengt werden, deren strenge Trennung sich empfiehlt. Gewinnt eine ermittelte Bedeutung ihre Bedeut­samkeit, ja ihre Legitimation erst durch ihr Bezogensein auf einen außerhalb des Textes liegenden Referenzrahmen, so kann diese Bedeutung als Resultat des Textes eigentlich nicht mehr ästheti­scher Natur sein. Denn sie ist nun merkmalsbestimmt, und das heißt, sie besitzt einen diskursiven Charakter. Das Textgeschehen hingegen verkörpert im Blick auf seine Resultate eher einen Quell­punkt, aus dem diese hervortreiben. Sicher endet dieses Geschehen in einem konstituierten Sinn. Dieser hat zunächst ästhetischen Charakter, weil er sich selbst bedeutetj denn durch ihn kommt etwas in die Welt, das vorher nicht in ihr war. Folglich kann er sich nur als Wirkung manifestieren, die sich vor keiner bestehen­den Referenz ausweisen muß j seine Anerkennung erfolgt durch die von ihm im Leser verursachte Erfahrung. Nun sei ohne weite-

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res zugegeben, daß dieser ästhetische Charakter des Sinnes außer­ordentlich labil ist und ständig in eine diskursive Merkmalsbe­stimmtheit umzukippen droht. Doch der Sinn beginnt erst dann seinen ästhetischen Charakter zu verlieren und einen diskursiven anzunehmen, wenn man nach seiner Bedeutung fragt. In diesem Augenblick hört er auf, sich selbst zu bedeuten und damit ästhe­tische Wirkung zu sein. Darin kommt zugleich die Eigentümlich­keit des Sinnbegriffs fiktionaler Texte zum Vorschein; sie ist - um einen Ausdruck Kants abzuwandeln - amphibolischer Natur: bald hat der Sinn ästhetischen, bald hat er diskursiven Charakter.

Dieses Umkippen ist durch die Struktur dieses Sinnbegriffs selbst bedingt. Denn Sinn als ästhetische Wirkung kann nicht in diesem Zustand verharren; allein die von ihm angestoßene und im Leser sich entwickelnde Erfahrung zeigt an, daß er etwas verursachen wird, von dem man nicht mehr behaupten kann, daß dieses un­bedingt ästhetischer Natur sei. Man möchte die vom Text ausge­löste Erfahrung begreifen, was zwangsläufig zu ihrer Verarbeitung führt, die sich nun über die für den Leser geltenden Orientierun­gen vollzieht. Damit wird der Scheitelpunkt dieses Sinnbegriffs deutlich, durch den sich Interpretationsstrategien voneinander son­dern lassen. Eine bedeutungsorientierte Interpretation verstellt diese Unterscheidung; ihr kommt daher das eigentümliche Ver­hältnis, daß sich eine ästhetische Wirkung in außerästhetische Ver­ursachungen fortpflanzt, nicht in den Blick. Sie steht immer schon jenseits dieses Scheitelpunkts und versteht Sinn als Ausdruck von kollektiv anerkannten Geltungen. Eine Analyse ästhetischer Wir­kung steht diesseits dieses Scheitelpunkts: vorwiegend deshalb, weil die Verdeutlichung der Konstitutionsvorgänge erst die Eigenart jenes Sinnes erkennbar macht, der für so Verschiedenes in Anspruch ge­nommen wird; sodann aber, weil eine solche Analyse allererst die Voraussetzungen für einen Sachverhalt schafft, der hier nicht mehr Thema werden kann, aber wenigstens als Problem hervortreten soll. Gemeint ist: wie eine praktische Verarbeitung ästhetischer Wirkung zu denken sei und welche Folgen sich möglicherweise aus ihr ergeben. - Wenn die bedeutungsorientierte Interpretation diese beiden Prozesse - den der Konstitution und den der Verarbeitung von Sinn - so behandelt hat, als ob sie nicht klärungsbedürftig

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seien, so war dafür ihre Zielvorstellung maßgebend, die objektive, weil merkmals bestimmte Bedeutung der Texte zu ermitteln. Die Interpretationsgeschichte aber zeigt, daß der dafür notwendige Be­zugsrahmen oft der einer kultivierten Subjektivität war, so daß Einsicht und Erfolg der Interpretation einer Ursache entsprungen waren, deren Beseitigung zu den erklärten Zielen dieses interpre­tatorischen Zugriffs gehörte.

Diese Feststellung ist deshalb notwendig, weil eine leserorien­tierte Theorie von vornherein dem Vorwurf des unkontrollierten Subjektivismus ausgesetzt ist. Hobsbaum hat kürzlich diese Oppo­sition sehr prägnant formuliert: "Roughly it can be said that theo­ries of the arts differ according to the degree of subjectivity they attribute to the response of the percipient. Or, what comes to the same thing, they differ according to the extent of the objectivity they attribute to the work of art. Thus the gamut of theory stret­ches from Subjectivism, where it is felt that each person will re­create the work in his own private way, to Absolutism, where it is felt that an ideal standard has been revealed to which each work of art should conform."s

Daher lautet denn auch ein zentraler Einwand gegen die wir­kungsästhetische Theorie, daß sie den Text deshalb der subjektiven Willkür des Begreifens überantwortet, weil sie diesen im Spiegel seiner Aktualisierung betrachte und daher seine Identität leugne. Man darf jedoch nicht verkennen, daß der Text als objektive Ver­körperung eines "ideal standard" eine Reihe von Vorentscheidun­gen einschließt, deren Eindeutigkeit nicht so automatisch gesichert zu sein scheint. Selbst wenn man sich über die Idealität des Stan­dards einig wäre, deren objektive Verkörperung im Werk erfolgen sollte, so ist damit noch nichts über die angemessene Auffassung durch den Leser gesagt, für den diese Idealität doch wohl eine ob­jektive Größe zu sein hat. Oberhaupt, wer fällt alle diese Ent­scheidungen über die Idealität des Standards, die Objektivität der

5 Philip Hobsbaum, A Theory 01 Communication, London 1970, p. XIII.,

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Verkörperung und die Angemessenheit des Verstehens? Selbst wenn die Antwort lauten würde: Natürlich der Kritiker, so ist dieser doch zunächst einmal ein Leser, dessen Urteile bei aller Vorentschieden­heit seiner Orientierung erst durch die Lektüre zustande kommen. Entspringen aber Urteile mit dem Anspruch der Objektivität einer so ungeklärten Basis, wie sie das Lesen verkörpert, dann kann der gegen die wirkungsästhetische Theorie erhobene Vorwurf des Sub­jektivisimus nicht mit der Privatisierung der Texte gleichgesetzt werden. Im Gegenteil, da alle Erfassungsakte sich über eine solche beklagte Privatisierung vollziehen, erweist sich diese in einem vor­dringlichen Maße als klärungsbedürftig.

Nun sei ohne weiteres eingeräumt, daß solche Erfassungsakte zwar von den Strukturen des Textes gelenkt, aber von ihnen nicht vollkommen kontrolliert werden. Hier wittert man die Willkür. Man muß jedoch bedenken, daß fiktionale Texte ihren Gegen­stand entwerfen, nicht aber vorhandene Gegenstände abbilden. Das gilt selbst dort, wo Texte als Repräsentation des idealen Standards begriffen werden; denn die Idealität als das Erstrebenswerte im­pliziert gerade dessen Nicht-Gegebensein. Folglich besitzt die von fiktionalen Texten entworfene Gegenständlichkeit nicht jene all­seitige Bestimmtheit, die den realen Gegenständen zukommt; sie sind mit Unbestimmtheitsbeträgen durchsetzt. Diese stellen jedoch kein Manko dar, sondern verkörpern elementare Kommunikations­bedingungen des Textes, die eine Beteiligung des Lesers am Hervorbringen der Textintention ermöglichen. Darauf beruht schließlich auch die Erfahrbarkeit jenes idealen Stan­dards, den eine objektivistische Theorie als Qualität der Texte po­stuliert hat. Allein die Tatsache, daß solche Idealität durch Inter­pretation hervorgekehrt oder gar erst ermittelt werden muß, zeigt an, daß sie nicht in unmittelbarer Evidenz gegeben ist. So eröffnen zwar die Unbestimmtheitsbeträge der Texte ein gewisses Realisa­tionsspektrum, doch dieses bedeutet nicht Willkür des Erfassens, sondern verkörpert die zentrale Bedingung der Interaktion von Text und Leser. Diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf einen unab­geklärten Subjektivismus zu verwerfen, führt zu der Frage, ob eine auf die Ermittlung des idealen Standards bezogene Interpretation sich die Kommunikation von Text und Leser, und das heißt die

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notwendige Mitteilung dieser Idealität anders denn als Form prä­stabilierter Harmonie überhaupt vorstellen kann.

Erweisen sich die Unbestimmtheitsbeträge als Kommunikations­bedingungen, die eine Interaktion in Gang bringen, in deren Ver­lauf der Text erfahren werden kann, dann läßt sich diese Erfahrung noch nicht als privatistisch qualifizieren. Vielmehr erfolgt ihre mög­liche Privatisierung erst dort, wo sie in den Erfahrungshaushalt des individuellen Lesers eingeht. Das aber ist durchaus angemessen und macht deutlich, daß sich die Privatisierung der Texte in einer leserorientierten Theorie an eine ganz andere als die vermutete Stelle im Erfassungsprozeß verschiebt: dorthin nämlich, wo ästheti­sche Erfahrung in praktische Verarbeitung übergeht.

Wenn das Interesse an der Entgegensetzung von Subjektivismus und Objektivität dazu tendiert, wichtige Sachverhalte zu verstel­len, weil sie immer nur im Blickzwang eines Entweder/Oder auf­tauchen, dann liegt der Verdacht nahe, daß es sich hier um ein vom Begriffsr,ealismus der Ästhetik produziertes Scheinproblem han­delt. " ... aesthetic theory is a logically vain attempt to define what cannot be defined, to state the necessary and sufficient pro­perties of that which has no necessary and sufficient properties, to conceive the concept of art as closed when its very use reveals and demands its openness".6 Diese Einsicht indes beherrscht die Praxis der Interpretation allerdings nicht durchgängig. In der Tendenz gibt sich die Interpretation objektivistisch und schließt folglich die Offenheit der Kunstwerke durch ihre Bestimmungsakte. Wenn wir beispielsweise sagen, ein literarisches Werk sei gut oder schlecht, was erfahrungsgemäß häufig geschieht, so fällen wir damit ein Werturteil. Doch wenn wir nun genötigt sind, dieses zu be­gründen, dann nennen wir Kriterien, die eigentlich nicht werthafter Natur sind, sondern Eigentümlichkeiten des zur Diskussion ste­henden Werks bezeichnen. Wir vergleichen diese Besonderheiten vielleicht noch mit solchen anderer Werke, ohne dadurch mehr als nur eine Erweiterung unseres Kriterienkatalogs zu erzielen. Deut-

6 Morris Weitz, "The Role of Theory in Aesthetics", in Philosopb.y Looks at the Arts, ed. Joseph Margolis, New York 1962, p. 52.

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lich gemachte Differenzen zwischen den herangezogenen Kriterien sind indes nicht der Wert selbst. Sie bezeichnen lediglich Voraus­setzungen für eine Synthese, die sich im Werturteil ausspricht, die aber in ihrer realen Gestalt nicht durch aufgewiesene Merkmale und den sich daraus ergebenden Differenzen begründet werden kann. Zu sagen, ein Roman gefalle, weil die Charaktere reali­stisch seien, heißt, ein verifizierbares Merkmal mit einer subjek­tiven Bewertung zu versehen, die bestenfalls mit einem Konsens rechnen kann. Objektiv gegebene Merkmale für eine bestimmte Vorliebe in Anspruch zu nehmen, macht das Werturteil noch nicht objektiv, sondern objektiviert die subjektiven Präferenzen des Ur­teilenden. Ein solcher Vorgang bringt die Orientierungen zum Vorschein, die uns leiten. Diese lassen sich dann als Ausdruck in­ternalisierter Normen des Urteilenden fassen und werden dadurch zwar nicht zu objektiven Werturteilen, machen jedoch die unauf­hebbare Subjektivität der Werturteile der Intersubjektivität zu­gänglich. Dafür ist die große Miltonkontroverse zwischen C. S. Le­wis und F. R. Leavis aufschlußreich. Den entscheidenden Punkt der Auseinandersetzung hat C. S. Lewis wie folgt formuliert: "It is not that he and I see different things when we look at Paradise Lost. He sees and hates the very same that I see and 10ve.JJ7 Daraus folgt, daß beide die Merkmale für ihre Bewertung als objektiv vor­handen erachten. Im Erfassungsakt des Miltonschen Epos ergeben sich daher keine Differenzenj er ist ein intersubjektiv identischer Vorgang. Die Unterschiede indes beginnen erst auf einer Ebene aufzubrechen, auf der es sie eigentlich nicht mehr geben dürfte, soll die Klassifizierung von subjektiv und objektiv relevant blei­ben. Wie kann ein intersubjektiv identischer Konstitutionsvorgang plötzlich so Verschiedenes bedeuten? Wieso werden Urteile sub­jektiv, wenn ihre Basis einen hohen Grad von offensichtlich ob­jektiver übereinkunft besitzt? Vielleicht deshalb, weil ein literari­scher Text intersubjektiv verifizierbare Anweisungen für das Her­vorbringen seines Sinnes enthält, der als ein konstituierter Sinn dann allerdings höchst verschiedene Erlebnisse und folglich ent-

7 C. S. Lewis, A PIeface ta Paradise Lost (Oxford Paperbacks lOl, Lan­don 1960, p. 134.

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sprechend unterschiedliche Bewertungen auszulösen vermag. Sind die vom Text bewirkten Operationen intersubjektiver Natur, so ist damit eine Vergleichsbasis gegeben, die es erlaubt, die subjektiven Bewertungen des Erlebten zu beurteilen.

Was aber besagt dann der Begriffsrealismus von subjektiv/objek­tiv überhaupt noch? Genau genommen können wir nur dann et­was als subjektiv qualifizieren, wenn wir über objektive Maßstäbe der Unterscheidung verfügen, die im Falle der Ästhetik allerdings der gleichen Schicht des Subjekts entstammen, die sich in Wert­urteilen objektiviert. Nun aber sind ästhetische Begriffe nicht streng merkmalsorientiert, weshalb sie ihre Funktionstüchtigkeit immer dort angemessen zu entfalten vermögen, wo sie sich von der Strenge des Begriffs lösen. Das heißt, ästhetische Begriffe müssen offene Begriffe sein. 11 A concept is open if its conditions of appli­cation are emendable and corrigiblej i. e., if a situation or case can be imagined or secured which would call for some sort of decision on our part to extend the use of the concept to cover this, or to elose the concept and invent a new one to deal with the new case and its new property."B Indem der offene Begriff die Merkmale bestehender Referenzrahmen transzendiert, übersetzt er eine Quali­tät des Ästhetischen in Diskursivität. Sie zeigt sich zum einen als Uberschuß über das, was wir kennen, und sie zeigt sich zum an­deren in der Depotenzierung von Referenzrahmen zu bloßen heu­ristischen Zugriffen.

Eine Konzentration des Interesses auf die Wirkungs struktur der Texte unterliegt aber nicht nur dem Vorwurf des Subjektivismus, sondern auch dem, was Wimsatt und Beardsley in ihrem bekannten Essay als "Affective Fallacy" bezeichnet haben. "The Affective Fallacy is a confusion between the poem and its results (what it is and what it does) ... It begins by trying to derive the standard oI criticism from the psychological effects of the poem and ends in impressionism and relativism. The outcome ... is that the poem itself, as an object of specifically critical judgment, tends to dis­appear."9 Was an dieser Feststellung richtig ist, trifft allerdings

8 Weitz, p. 54. • W. K. Wimsatt, The Verbal Icon. Studies in the Meaning 01 Poetry.

Lexington 1967, p. 21.

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auch jene Position,. die hier der "Affective Fallacy" gegenüberge­stellt wird. Denn das kritische Urteil, das dem Gedicht zu gelten hat, führt ebenfalls zu einem Resultat. Folglich kann sich die Dif­ferenz zwischen dem richtigen und dem falschen Zugriff nur auf die Natur des Resultats beziehenj es fragt sich jedoch, ob nicht bereits im Resultatcharakter selbst und weniger in der Qualität des Resultats das eigentliche Problem steckt.

Unterstellt man einmal die Legitimität der Klassifizierung von Texten als dargestellte Bedeutung (what the poem is and what the poem is aboutJ und als Wirkungspotentiale (what the poem doesJ, so geschieht in beiden Fällen eine perspektivisch bedingte Identifi­kation des Textes mit einer je bestimmten Absicht. In dem einen Fall wird er auf eine postulierte Bedeutung, in dem anderen auf einen postulierten Empfänger bezogen. Wie immer man die Legiti­mität solcher Postulate einschätzen mag, so scheinen beide gerade angesichts ihrer Verschiedenheit eine Gemeinsamkeit zu besitzen. Beide sind Bestimmungsakte, die darüber verfügen, was der litera­rische Text vorrangig ist. Daraus läßt sich auf eine eigentümliche Qualität des literarischen Textes schließen, die darin besteht, daß er Bestimmungsakte provoziert, die von sehr verschiedener Art sein können. Deshalb ist es auch so schwierig, literarische Texte unab­hängig von solchen Bestimmungsakten zu fassen. Sie gleichen schwebenden Gebilden, die den Betrachter zwangsläufig dazu ver­leiten, sie an Bestimmungen festzumachen. Geschieht dies, so ist man geneigt, die Qualität der je getroffenen Bestimmung mit der Natur des Textes zu verwechseln, obgleich diese doch darin besteht, uns zu solchen Bestimmungsakten zu veranlassen, ohne daß sie mit dem dadurch entstandenen Resultat bereits identisch wären.

Diesem Sachverhalt entspringen die meisten Probleme der Li­teraturästhetik. Denn wir scheinen den Erfolg unserer Bemühun­gen, etwas über Literatur in Erfahrung zu bringen, durch die Be­stimmungen zu vereiteln, zu denen uns die Texte selbst immer wieder veranlassen. In dieser strukturellen Hinsicht unterscheidet sich die von Wimsatt und Beardsley kritisierte "Affective Fallacy" nicht von derjenigen Bestimm].lng, die sie für eine Betrachtung des Kunstwerks als angemessen erachten. Zutreffend ist ihre Kritik in­sofern, als sie das Verschwinden des Werkes in dem von ihm her-

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vorgebrachten Resultat nicht mehr für ein Problem der Ästhetik, sondern in diesem speziellen Falle für ein solches der Psychologie halten. Folglich gilt diese Kritik immer dort, wo das Werk mit sei­nem Resultat verwechselt wird. Zu einer solchen Verwechslung kann es aber nur deshalb kommen, weil der literarische Text solche 'Resultate' potentiell zumindest soweit vorstrukturiert, daß sie vom Empfänger in der Realisationsphase je nach der Art der von ihm getroffenen Selektionsentscheidungen aktualisiert werden können. So gesehen, initiieren literarische Texte eher Sinnvollzüge. Ihre ästhetische Qualität liegt in dieser 'Vollzugsstruktur', die allein deshalb mit dem Produkt nicht identisch sein kann, weil erst die Beteiligung des Lesers die Sinnkonstitution ermöglicht. Folglich gründet das quale literarischer Texte darin, daß sie etwas zu er­zeugen vermögen, was sie selbst noch nicht sind. Daraus folgt, daß eine wirkungs ästhetische Theorie der Literatur vom Vorwurf der "Affective Fallacy" überhaupt nicht getroffen werden kann, denn sie entdeckt erst die 'Vollzugsstruktur' als ästhetische Qualität lite­rarischer Texte, die jedem Affiziertwerden vorausliegt und in deren Verlauf nicht nur die emotiven, sondern in gleicher Weise auch die kognitiven Vermögen beansprucht werden. Darüber hinaus hat die Wirkungstheorie die analytische Trennung zwischen 'Vollzugs­struktur' und Resultat zu ihrer Voraussetzung, die immer dort aus dem Blick schwindet, wo man an den Text die Frage stellt, was er bedeutet.

2. Leserkonzepte und das Konzept des impliziten Lesers

Northrop Frye schrieb einmal: "It has been said of Boehme that his books are like a picnie to which the author brings the words and the reader the meaning. The remark may have been intended as a sneer at Boehme, but it is an exact description of all works of literary art without exception."10 Der Versuch allerdings, in diese

10 Northrop Frye, Fearful Symmetry. A Study of William Blake, Boston '1967, pp. 427 f.

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Kooperation einzudringen, stößt insofern auf Schwierigkeiten, als man sich fragen muß, welcher Leser denn eigentlich gemeint ist, wenn von einem solchen Zusammenspiel zwischen Autor und Le­ser die Rede ist. Die Literaturkritik kennt mittlerweile schon eine Reihe von Lesertypen, die immer dann angerufen werden, wenn es Feststellungen über Wirkung oder Rezeption von Literatur zu treffen gilt. In der Regel sind solche Lesertypen Konstruktionen, die der Formulierung von Erkenntniszielen dienen. Sie unterschei­den sich tendenziell dadurch voneinander, daß manchmal ihre Kon­struktion gegenüber dem Substrat akzentuiert, manchmal dem Sub­strat die Beweiskräftigkeit für unterstellte Annahmen aufgebürdet wird. In dieser graduellen Differenzierung stecken Vorentschei­dungen darüber, ob Wirkungsstrukturen verdeutlicht oder erfah­rene Wirkung belegt werden sollen.

Prominente Typen sind daher der ideale Leser sowie der zeitge­nössische Leser, wenngleich eine direkte Berufung auf sie oft mit Vorbehalt erfolgt, weil der eine unter dem Verdacht steht, eine reine Konstruktion zu sein, und der andere, obwohl vorhanden, als notwendige Konstruktion für generalisierende Aussagen schwer zu konzipieren ist. Doch wer wollte leugnen, daß es den zeitge­nössischen, vielleicht auch den idealen Leser wirklich gibt? Folglich gründet der Kurswert dieser Typen in ihrem jeweils nachprüfbaren Substrat. Welche Bedeutung dem Substrat als Verifikationsinstanz zukommt, läßt sich daran ablesen, daß man neuerdings einem anderen Lesertyp mehr als nur eine heuristische Geltung zu schaf­fen versucht. Gemeint ist jener, dessen psychische Disposition durch die Befunde der Psychoanalyse zugänglich geworden ist. Beispiel­haft dafür sind die Untersuchungen von Simon Lesser und Norman Hollandll, auf die wir noch zurückkommen müssen. Hier aber kann schon gesagt werden, daß der Rückgriff auf die psychische Beschaf­fenheit des Menschen als Basis für einen Lesertyp, an dem die Auswirkungen von Literatur beobachtet werden können, nicht zu­letzt von dem Bestreben geleitet war, von den Begrenzungen der genannten Lesertypen wegzukommen. Deshalb kann eine psycho-

U Vgl. dazu Kapitel I, B, 3, pp. 67 H.

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analytisch orientierte Wirkungs theorie der Literatur für sich eine größere Plausibilität beanspruchen, da es den von ihr beschriebe­nen Leser wirklich zu geben scheint; er ist von dem Verdacht ge­reinigt, eine bloße Konstruktion zu sein.

Generell unterscheiden sich die genannten Lesertypen dadurch voneinander, daß bei dem einen mehr die Konstruktion, bei dem anderen mehr das empirische Substrat hervorgekehrt wird, um Er­kenntnisziele bzw. die Verläßlichkeit gemachter Aussagen über literarische Wirkung zu dokumentieren. Hat man den zeitgenössi­schen Leser im Blick, so läßt sich vorrangig Rezeptionsgeschichte betreiben. Die Aufnahme der Literatur durch ein bestimmtes Publi­kum steht dann im Vordergrund des Interesses. Gleichzeitig re­flektieren jedoch die über jene Werke gefällten Urteile gewisse Haltungen, Einstellungen und Normen des zeitgenössischen Publi­kums, so daß im Spiegel der Literatur der kulturelle Code zum Vorschein kommt, von dem solche Urteile bedingt sind. Das gilt auch dort, wo sich die Rezeptionsgeschichte den Zeugnissen zu­wendet, die von Lesern stammen, die aus unterschiedlicher histori­scher Distanz über das zur Rede stehende Werk urteilen. In jedem Falle deckt die Rezeptionsgeschichte die Urteilsnormen der Leser auf und wird damit zum Anhaltspunkt für eine Geschmacks- und Sozialgeschichte des lesenden Publikums. Die dafür unabdingbare Dokumentation der Zeugnisse beginnt jedoch merklich abzuneh­men, je weiter wir hinter das 18. Jahrhundert zurückgehen. Das hat zur Folge, daß man den zeitgenössischen Leser vielfach nur aus den überlieferten Texten selbst rekonstruieren kann. Es fragt sich dann allerdings, ob eine solche Rekonstruktion als die eines zeit­genössischen Lesers zu verstehen ist oder ob sie nicht vielmehr die aus dem Text ableitbare Rolle darstellt, durch die das Lesepubli­kum gelenkt werden soll. In jedem Falle aber gründet der so er­mittelte Leser in einem anderen 'Substrat'. Statt im Zeugnis eines wirklich existier~p.den Lesers ist er in der Struktur des Textes fun­diert.

In einem beinahe diametralen Gegensatz zum zeitgenössischen Leser steht der vielfach berufene ideale Leser, dessen Substrat un­gleich schwerer zu fixieren ist, wenngleich der Verdacht nicht unbe­gründet bleibt, im Literaturkritiker bzw. im Philologen das Sub-

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strat dieser Abstraktion zu sehen. Gewiß sind die Urteile der Kri-' tiker und Philologen angereichert, gefiltert und korrigiert durch die Vielzahl der Texte, mit denen sie Umgang haben. Doch das macht sie eigentlich immer nur zu kultivierten Lesern, und zwar nicht deshalb, weil sie eine erstrebte Idealität verfehlten, sondern weil der ideale Leser eine strukturelle Unmöglichkeit der Kommunika­tion verkörpert. Denn ein idealer Leser müßte den gleichen Code wie der Autor besitzen. Da aber der Autor in der Regel herrschende Codes in seinen Texten umcodiert, müßte der ideale Leser über die gleichen Intentionen verfügen, die in einem solchen Vorgang zur Geltung kommen. Unterstellt man einmal, daß dies möglich wäre, dann erwiese sich die Kommunikation als überflüssig, denn durch sie wird etwas vermittelt, das sich aus der mangelnden Dek­kung von Sender- und Empfängercode ergibt.

Wie wenig selbst der Autor sein eigener, idealer Leser ist, bezeu­gen die diskursiven Äußerungen von Autoren über ihre Texte. Denn als 'Leser' ihrer Texte lösen die Autoren in der Regel nicht deren Wirkung ein, sondern äußern sich in merkmalsbestimmter Rede über Absicht, Strategie und Organisation der Texte, und zwar meistens zu Bedingungen, die für das Publikum gelten, das durch solche Äußerungen orientiert werden soll. In diesem Vorgang aber wechselt der Autor seinen Code und wird zum 'Leser' seiner Texte unter Bedingungen, die er als Autor des Textes gerade außer Kurs gesetzt hatte. Folglich ist für ihn selbst die Doppelung in Autor und idealen Leser prinzipiell überflüssig, obgleich er der einzige wäre, der ein solches Postulat erfüllen könnte.

Darüber hinaus impliziert dieses Postulat, daß der ideale Leser eigentlich in ,der Lage sein müßte, das Sinnpotential des fiktiona­len Textes in der Lektüre vollständig zu realisieren. Nun aber zeigt schon die Wirkungsgeschichte der Texte, daß diese oft sehr unter­schiedlich aktualisiert worden sind. Doch wie sollte man die Viel­zahl solcher Sinngestalten gleichsam auf einen Schlag hervorbrin­gen? Denkt man sich diesen unmöglichen Fall, dann könnte eine solche 'Leistung' höchstens Verwirrung stiften. Denn unterschied­liche Sinngestalten des identischen Textes lassen sich immer nur im Nacheinander realisieren; das zeigt die Zweitlektüre eines Tex­tes genauso wie dessen Wirkungsgeschichte. Folglich erhebt die Zu-

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wendung zu den historischen Sinngestalten des identischen Textes deren Gesamtheit immer nur zu einem Gegenstand der Analyse und gilt nicht dem unmöglichen Versuch, alle Sinngestalten auf einmal hervorzubringen.

Der ideale Leser müßte zudem das Sinnpotential des Textes nicht nur unabhängig von der historischen Bedingtheit seiner eige­nen Situation realisieren, er müßte es auch ausschöpfen können. Gelänge dies, dann würde der Text in einem solchen Akt ver­braucht - für die Literatur gewiß eine ruinöse Idealität. Nun aber gibt es Texte, für die das zutrifft, wie es das weite Spektrum der Konsum- und Trivialliteratur bezeugt. Es fragt sich nur, ob dieser 'ideale Leser' mit der so häufig verwendeten Abstraktion des idea­len Lesers wirklich gemeint ist. Denn dieser wird doch immer dort angerufen, wo die Textauslegung in Schwierigkeiten gerät, deren Auflösung er zu versprechen scheint. Damit aber kommt die eigent­liche Natur dieses Postulats zum Vorschein. Der ideale Leser ist im Unterschied zu anderen Lesertypen eine Fiktion. Wie diese ist er ohne reales Fundament; doch darin gründet seine Nützlichkeit. Denn als Fiktion schließt er die Argumentationslücken, die sich in der Analyse von Wirkung und Rezeption der Literatur immer wie­der auftun. Der Fiktionscharakter erlaubt es, den idealen Leser mit wechselnden Inhalten auszustatten, je nach der Art des Problems, das durch die Berufung auf ihn gelöst werden soll.

Die recht pauschale Erinnerung an methodische Konsequenzen des idealen und des zeitgenössischen Lesers ist deshalb notwendig, weil diese in den meisten Fällen zum Zweck der Analyse literari­scher Wirkung vorausgesetzt werden. Doch als Bestimmung von Wirkung bezeichnen sie immer nur deren Resultate. Den Blick von den Resultaten weg- und auf die durch Wirkung ausgelösten Akte hinzulenken, heißt daher zugleich, sich von gewissen methodi­schen Konsequenzen freizumachen, die durch die besprochenen Lesertypen vorgezeichnet sind.

Ein solcher Schritt läßt sich in dem Bemühen erkennen, differen­zierte Lesertypen als heuristische Konzepte zu entwickeln. So wer­den heute in der Literaturkritik schon deutlich profilierte Typen für bestimmte Diskussionsbereiche angeboten: der Archileser (Rif-

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faterre)12, der informierte Leser (FishJ13 und der intendierte Leser (WolffJ14, um nur einige zu nennen, bei denen die jeweils gewählte Qualifikation bereits einen gewissen Terminologisierungsgrad er­reicht hat. In der Regel sind diese Leser als Konstruktionen gedacht, beziehen sich aber alle mehr oder minder deutlich auf ein empiri­sches Substrat.

Der Archileser Riffaterres bezeichnet eine "Informatoren­gruppe"lS, die "an KnotensteIlen des Textes"16 immer wieder zu­sammentrifft, um in der Gemeinsamkeit der Reaktionen die Exi­stenz eines "stilistischen Faktums"17 zu bezeugen. Der Archileser gleicht einer Wünschelrute, die eine Entdeckung hoher Verdichtung im Encodierungsvorgang des Textes erlaubt. Als Sammelbegriff für Testpersonen verschiedener Kompetenz dient er einer empirischen Ermittlung von Wirkungspotentialen des Textes. Durch die Viel­zahl der Informanten glaubt Riffaterre, die subjektive Schwan­kungsbreite aufheben zu können, die sich aus dem unterschied­lichen Dispositionsrepertoire der einzelnen Leser zwangsläufig er­gibt. Es kommt ihm darauf an, Stil bzw. "das stilistische Faktum" als eine bestimmte Zusatzinformation zur linguistischen Primär­ebene objektivierbar zu machen.18 Denn "das stilistische Faktum" hebt sich durch seine hohe Encodierungsdichte von seiner kon­textuellen Umgebung ab. Daraus entstehen innertextuelle Kon­traste, deren Ermittlung durch den Archileser zunächst von den Schwierigkeiten der linguistisch orientierten Deviationsstilistik ent­lastet, die immer außertextuelle Sprachnormen postulieren mußte, um über den Abweichungsgrad der betreffenden Texte deren poe­tische Qualität feststellen zu können. Indes, nicht dieser Sachver-

12 Michael Rifiaterre, Strukturale Stilistik, übers. von Wilhelm Bolle, München 1973, pp. 46 fi.

13 Stanley Fish, IlLiterature in the Reader: Affective Stylistics", in New Literary History 2 (19701, pp. 123 fi.

l' Erwin Wolff, "Der intendierte Leser", in Poetica 4 (1971), pp. 141 ff. IS Rifiaterre, p. 44. 16 Ibid., p. 48. 17 Vgl. ibid., u. a. p. 29, passim. 11 Vgl. dazu auch die Kritik von Rainer Warning, "Rezeptionsästhetik

als literaturwissenschaftliche Pragmatik", in Rezeptionsästhetik (UTB 303), ed. Rainer Warning, München 1975, pp. 26 ff.

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halt bildet die entscheidende Komponente des Konzepts; sie be­steht darin, daß ein "stilistisches Faktum" nur durch ein wahrneh­mendes Subjekt auszumachen ist. Daraus folgt: die mangelnde For­malisierbarkeit des innertextuellen Kontrastes manifestiert sich als eine Wirkung, die sich nur im Leser zu realisieren vermag. So ist der Archileser Riffaterres zwar ein Testkonzept, um "das stilisti­sche Faktum" zu fassen; es enthält aber zugleich den entscheiden­den Hinweis darauf, daß die mangelnde Referentialisierbarkeit des "stilistischen Faktums" gerade des Lesers zu seiner Einlösung be­darf.

Nun aber ist selbst der Archileser als Bezeichnung einer Infor­mantengruppe nicht vor Irrtümern gefeit. Denn das Gewärtigen innertextueller Kontraste setzt Kompetenzen verschiedenster Art voraus und hängt nicht zuletzt von der historischen Nähe bzw. Ferne ab, in der die Testgruppe zum jeweiligen Text steht. Immer­hin zeigt das Riffaterresche Modell, daß zur Fixierung stilistischer Qualitäten die Instrumentarien der Linguistik nicht mehr aus­reichen.

Ähnlich verhält es sich mit dem von Fish entwickelten Konzept des "informierten Lesers", das nicht so sehr auf die Eingrenzung statistischer Mittelwerte von Leserreaktionen zielt, sondern Ver­arbeitungsprozesse des Textes durch den Leser beschreiben möchte. Dazu sind bestimmte Erfordernisse notwendig. "The informed rea­der is someone who l.) is a competent speaker of the language out of which the text is built up. 2.) is in full possession of 'semantic knowledge that a mature ... listener brings to his task of com­prehension.' This includes the knowledge (that is, the experience, both as a producer and comprehender) of lexical sets, collocation probabilities, idioms, professional and other dialects, etc. 3.) has literary competence '" The reader, of whose responses I speak, then, is this informed reader, neither an abstraction, nor an actual living reader, but a hybird - a real reader (me) who does every­thing within his power to make himself informed."19

Dieser Lesertyp also muß nicht nur die genannten Kompetenzen besitzen, sondern auch seine Reaktionen im Aktualisierungsvor-

" Fish, p. 145.

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gang beobachten, damit sie kontrollierbar werden. Die Notwendig· keit für diese Selbstbeobachtung gründet zum einen darin, daß Fish sein Konzept des informierten Lesers in Anlehnung an die genera­tive Transformationsgrammatik entwickelt, zum anderen darin, daß er bestimmte Konsequenzen dieses Grammatikmodells nicht über­nehmen kann.

Strukturiert der Leser durch seine Kompetenzen den Text, so heißt dies, daß sich im zeitlichen fluß der Lektüre eine Reaktions­sequenz bildet, in der die Textbedeutung generiert wird. Soweit folgt Fish dem Modell der Transformationsgrammatik. Wenn aber nun die Reaktionsfolge ständig überwacht werden muß20, so vor­wiegend deshalb, weil Fish die transformationelle Nivellierung der Oberflächenstruktur als Möglichkeit der Rückführung auf ihre je­weilige Tiefenstruktur nicht akzeptieren kann. "lt should be noted however that my category of response, and especially of meaning­ful response, includes more than the transformation al gramma­rians, who believe that comprehension is a function of deep struc­ture perception, would allow. There is a tendency, at least in the writings of some linguists, to downgrade surface structure - the form of actual sentences - to the status of a husk, or covering, or veil; a layer of excrescences that is to be peeled away or penetra­ted or discarded in favor df the kernel underlying it."21 Die von der Oberflächenstruktur im Leser ausgelöste Reaktionssequenz gewinnt in literarischen Texten ihre Eigentümlichkeit oftmals dadurch, daß ihre Strategien den Leser in die Irre führen, woraus entscheidende Differenzierungen der Reaktionen allererst entspringen. Folglich erzeugt die Oberflächenstruktur im Leser ein Geschehen, das wie­der ausgelöscht würde, wenn sie nur dazu dienen sollte, die Text­Tiefenstruktur aufzudecken. Damit gibt Fish das transformationelle Modell an einem entscheidenden Punkt preis: entscheidend für das Modell und für das von Fish entwickelte Konzept. Das Modell stößt gerade dort an eine Grenze, wo es interessant zu werden beginnt: in der Verdeutlichung der Textverarbeitungsprozesse, deren bloße Rückführung auf eine Textgrammatik ein solches Geschehen

20 Ibid., pp. 144-146. 21 Ibid., p. 143.

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erheblich verarmen würde. Das Konzept des informierten Lesers aber verliert an diesem Punkt seinen Bezugsrahmen und verwan­delt sich in ein Postulat, das in seinen Prämissen plausibel, als solches jedoch schwer zu fundieren ist. Dessen ist sich Fish bewußt; folglich charakterisiert er am Schluß des Aufsatzes sein Konzept wie folgt: "In a peculiar and unsettling (to theorists) way, it is a method which processes its own user, who is also its only instru­ment. It is self-sharpening and what it sharpens is you. In short, it does not organize materials, but transforms minds."22 Die Transformation bezieht sich hier nicht mehr auf den Text, sondern auf den Leser. Diese Transformation ist aus dem Blickpunkt der generativen Grammatik nur noch eine Metapher; durch sie wird allerdings auch die begrenzte Reichweite des generativ-transforma­tionellen Modells angezeigt. Denn daß ein Text gewisse Verände­rungen im Rezipienten erzeugt, ist wiederum eine Erfahrungstat­sache. Das Problem des Fishscheh Konzepts besteht darin, daß es zunächst am Grammatikmodell entwickelt wird, dieses aber an einem bestimmten Punkt wohl zu Recht aufgibt, um sich auf eine unbestreitbare Erfahrung zu berufen, die sich dem theoretischen Zugriff zu verschließen scheint. Doch dessen ungeachtet läßt das Konzept des informierten Lesers noch deutlicher als das des Archi­lesers erkennen, daß die Analyse von Textverarbeitungsprozessen mehr als nur linguistischer Textmodelle bedarf.

Fragt Fish nach den Auswirkungen des Textes im Leser, so gilt der von WoHf gemachte Vorschlag des "intendierten Lesers" der Rekonstruktion der "Leseridee, die sich im Geiste. des Autors" ge­bildet hat.23 Dieses Bild des intendierten Lesers kann im Text ver­schiedene Formen annehmen. Es kann ein Abbild des idealisierten Lesers sein24; es kann sich in massiven Antizipationen des Nor­men- und Wertrepertoires zeitgenössischer Leser, in der Individuali­sierung des Publikums, in Leserapostrophen, in Positionszuschrei­bungen, in pädagogischen Absichten sowie in der Aufforderung zu noch ungekannter Hinnahmebereitschaft des Gelesenen manifestie-

n Ibid., pp. 160 f. 23 WoIff, p. 166. 14 Ibid., p. 145.

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ren.25 So zeigen sich im intendierten Leser als der dem Text ein­gezeichneten Leserfiktion26 sowohl zeitgenössische Auffassungen des Publikums als auch das Bestreben des Autors, sich diesen Vor­stellungen bald anzunähern, bald auf sie einzuwirken. Wolff skiz­ziert die Geschichte eines Demokratisierungsvorgangs der Leser­idee, zu deren Bestimmung es dann allerdings einer relativ guten Kenntnis des zeitgenössischen Lesers und der Sozialgeschichte des Publikums bedarf, um die Leserfiktion des Textes in seiner Reich­weite und in seiner Funktion abschätzen zu können. In jedem Falle aber erlaubt es die jeweils ausmachbare Leserfiktion, das Publikum zu rekonstruieren, das der Autor erreichen oder anspre­chen wollte.

Daß eine solche Ermittlung nützlich und notwendig ist, steht außer Frage. Es sei auch unbestritten, daß zwischen der Darstel­lungsform des Textes und dem intendierten Leser ein Wechselbe­zug besteht27 i dennoch bleibt die Frage offen, warum. ein .Leser ~r historischeoJ.itim:e.~_hinwe8-einen. Text.immer noch auizJ,1,: fassen vermag, obwohl er von diesem sicherlich nicht intendiert ge-

wes-en-ist~Folglich schatten siCh im Bild des intendierten L~sers vo~ieg~~d historische Gegebenheiten ab, die für den Autor bei der Produktion des Textes im Blick standen. Dadurch ist jedoch nur eine wichtige Textperspektive bezeichnet, die sich als Konzept für die Rekonstruktion von Absichten anbietet, ohne damit etwas über die Aufnahme des Textes im Rezeptionsbewußtsein des Le­sers zu sagen. Als Leserfiktion markiert der intendierte Leser Po­sitionen im Text, die allerdings mit der Leserrolle des Textes noch nicht identisch sind. Das geht allein schon daraus hervor, daß viele solcher Positionszuschreibungen - man denke nur an den Roman - ironisch konzipiert sind, so daß der Leser die ihm angebotene Position weniger annehmen als sich zu ihr verhalten soll. Es emp­fiehlt sich daher, zwischen Leserfiktion und Leserrolle zu unter­scheiden. Die Leserfiktion ist im Text durch ein bestimmtes Signal­repertoire markiert. Dieses jedoch ist weder isoliert noch unabhän­gig von den anderen im Text gesetzten Perspektiven, die im Ro-

2S Ibid., pp. 143, 150, 151-154, 156, 158 u. 162. 2' Ibid., p. 160. 27 Ibid., pp. 159 f.

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man etwa durch den Erzähler, die Figuren sowie durch die Hand­lung gegeben sind. Folglich ist die Leserfiktion nur eine der Text­perspektiven, die mit den anderen zu einem Interaktionsverhältnis zusammengeschlossen bleibt. Die Leserrolle hingegen ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der Perspektiven; sie entfaltet sich in der gelenkten Aktivität des Lesens, weshalb die Leserfiktion des Textes immer nur ein Aspekt der Leserrolle sein kann.

In den genannten Leserkonzepten bekunden sich unterschied­liche Erkenntnisinteressen. Der Archileser ist ein Testkonzept, das dazu dient, in der wechselnden Encodierungsdichte des Textes das stilistische Faktum zu ermitteln. Der informierte Leser ist ein Lern­konzept, das darauf abzielt, über die Selbstbeobachtung der vom Text ausgelösten Reaktionsfolge das 'Informiertsein' und damit die Kompetenz des Lesers zu steigern. Der intendierte Leser schließlich ist ein Rekonstruktionskonzept, das es erlaubt, jene historischen Publikumsdispositionen freizulegen, auf die der Autor hinzielte. Bei aller Verschiedenheit der Absichten besitzen die drei Vorschläge einen gemeinsamen Nenner. Sie verstehen ihr jeweiliges Konzept als Möglichkeit, die begrenzte Reichweite der strukturalen Stilistik, der generativen Transformationsgrammatik sowie der literatur­soziologie durch die Einführung des Lesers zu überschreiten .

. Eine Theorie literarischer Texte vermag ohne die Einbeziehung des Lesers offensichtlich nicht mehr auszukommen. Das aber-heißt, oder Leser ist zur 'Systemreferenz' jener Texte avanciert, die ihren vollen Sinn erst in den von ihnen ausgelösten Verarbeitungspro­zessen gewinnen. Was aber ist das für ein Leser, der hier vorausge­setzt wird? Ist er eine reine Konstruktion, oder gründet er gar in einem empirischen Substrat? Nun, wenn in den folgenden Kapiteln dieser Arbeit vom Leser die Rede ist, so ist damit die den Texten eingezeichnete Struktur des impliziten Lesers gemeint. Im Unter­schied zu den besprochenenLesertyp_enJ2~.ät~t<ier_impl~ keine reale Existenzj.del}rL~Ly~rl.{Örpert die Gesamtheit der Vor­

'orieritierungen, die ein fiktionalerT~xt -;~inen -ffiÖglicllenLe-sernaIS --Rezeptionsbedingungen anbietet. F~lglich -i~t -der- implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert. Wenn wir davon ausgehen, daß

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Texte erst im Gelesenwerden ihre Realität gewinnen, so heißt dies, daß dem Verfaßtsein der Texte Aktualisierungsbedingungen einge­zeichnet sein müssen, die es erlauben, den Sinn des Textes im Re­zeptionsbewußtsein des Empfängers zu konstituieren. Daher be­zeichnet das Konzept des impliziten Lesers eine Textstruktur, durch die der Empfänger immer schon vorgedacht ist, und die Besetzung dieser strukturierten Hohlform läßt sich auch dort nicht verhin­dern, wo sich Texte durch ihre Leserfiktion erklärtermaßen um einen Empfänger nicht zu kümmern scheinen oder gar ihr mög­liches Publikum durch die verwendeten Strategien auszuschließen trachten. So rückt das Konzept des impliziten Lesers die Wirkungs­strukturen des Textes in den Blick, durch die der Empfänger zum Text situiert und mit diesem durch die von ihm ausgelösten Er­fassungsakte verbunden wird.

Folglich hält jeder literarische Text ein bestimmtes Rollenange­bot für seine möglichen Empfänger parat. Es besitzt zwei zentrale Aspekte, die trotz der von der Analyse geforderten Trennung eng miteinander verbunden sind: Die Leserrolle bestimmt sich als eine Textstruktur und als eine Aktstruktur. Was die Textstruktur an­langt, so muß man davon ausgehen, daß jeder literarische Text eine von seinem Autor entworfene perspektivische Hinsicht auf Welt darstellt. Als solche bildet der Text gegebene Welt nicht ein­fach ab, sondern konstituiert eine Welt aus dem Material dessen, was ihm vorliegt. In der Art der Konstitution manifestiert sich die Perspektive des Autors. Soll die graduelle Fremdheit einer solchen vom Text entworfenen Welt erfaßt werden, so ist eine Struktur notwendig, die es dem Leser ermöglicht, die ihm vorgegebenen Ansichten zu realisieren. Nun ist der literarische Text nicht nur eine perspektivische Hinsicht seines Autors auf Welt, er ist selbst ein perspektivisches Gebilde, durch das sowohl die Bestimmtheit dieser Hinsicht als auch die Möglichkeit, sie zu gewärtigen, ent­steht. Dieser Sachverhalt läßt sich am Roman paradigmatisch ver­anschaulichen. Er besitzt eine perspektivische Anlage, die aus meh­reren deutlich voneinander abheb baren Perspektivträgern besteht, die durch den Erzähler, die Figuren, die Handlung (plot) sowie die Leserfiktion gesetzt sind. Bei aller hierarchischen Abstufung, die zwischen diesen Textperspektiven herrschen mag, ist doch keine

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von ihnen ausschließlich mit dem Sinn des Textes identisch. Viel­mehr markieren sie in der Regel unterschiedliche Orientierungs­zentren im Text, die es aufeinander zu beziehen gilt, damit der ihnen gemeinsame Verweisungszusammenhang konkret zu wer­den vermag. Insoweit ist dem Leser eine bestimmte Textstruktur vorgegeben, die ihn nötigt, einen Blickpunkt einzunehmen, der die geforderte Integration der Textperspektiven herzustellen erlaubt. Der Leser ist jedoch in der Wahl dieses Blickpunkts nicht frei, denn dieser ergibt sich aus der perspektivierten Darstellungsweise des Textes. Nur wenn sich alle Textperspektiven auf den ihnen ge­meinsamen Verweisungshorizont sammeln lassen, wird der Blick­punkt des Lesers adäquat. Blickpunkt und Horizont ergeben sich folglich aus der perspektivischen Anlage des Textes, sind jedoch im Text selbst nicht mehr dargestellt. Gerade dadurch erhält der Leser die Möglichkeit, den Blickpunkt zu besetzen, der vom Text einge­richtet ist, um den Verweisungshorizont der Textperspektiven kon­stituieren zu können. Daraus ergibt sich das elementare Schema der im Text angelegten Leserrolle. Sie verhmgt von jedem Leser, daß er den ihm vorgegebenen Blickpunkt bezieht, damit er die divergierenden Orientierungszentren der Textperspektiven zum System der Perspektivität aufheben kann, wodurch sich zugleich der Sinn dessen erschließt, was in den einzelnen Perspektiven je­weils repräsentiert ist.28

Dieses Schema läßt dann auch erkennen, daß die dem Text ein­gezeichnete Leserrolle nicht mit der Leserfiktion des Textes zusam­menfallen kann. Denn durch die Leserfiktion setzt der Autor einen angenommenen Leser der Welt des Textes ausi er schafft damit lediglich eine zusätzliche Perspektive, die die perspektivische An­lage des Textes erhöht. Zeigt sich in der Leserfiktion das Bild des Lesers, das dem Autor vorschwebte und das nun in Interaktion mit den anderen Textperspektiven tritt, so bezeichnet die Leserrolle die den Empfängern der Texte vorgezeichnete Konstitutionsaktivität. In diesem Sinne ist das beschriebene Schema der Leserrolle eine Textstruktur. Doch als Textstruktur verkörpert sie eher eine In­tention, die sich erst durch die im Empfänger ausgelösten Akte er-

21 Zur Ausführung dieses Ansatzes vgl. Kapitel II, B, 4, pp. 161 ff.

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füllt. Textstruktur und Aktstruktur der Leserrolle hängen daher eng zusammen.

Wenn die Textperspektiven auf einen Horizont verweisen, der ihre Gemeinsamkeit bildet, so ist dieser Horizont sprachlich eben­sowenig manifestiert wie der Blickpunkt, von dem her das Zusam­menspiel der Perspektiven gewärtigt werden muß. Gewiß, die Text­perspektiven zielen auf einen Verweisungs'zusammenhang ab und gewinnen dadurch den Charakter von Instruktionen; der Verwei­sungszusammenhang als solcher ist jedoch nicht gegeben und muß daher vorgestellt werden. An diesem Punkt gewinnt die in der Textstruktur angelegte Leserrolle ihren affektiven Charakter. Sie löst Vorstellungsakte aus, durch die die Beziehungsmannigfaltigkeit der Darstellungsperspektiven gleichsam erweckt und zum Sinnhori­zont gesammelt wird. Der Sinn literarischer Texte ist nur vorstell­bar, da er nicht explizit gegeben ist und folglich nur im Vorstel­lungsbewußtsein des Empfängers vergegenwärtigt werden kann. Dabei kommt es im Verlaufe der Lektüre zu einer Sequenz solcher Vorstellungsakte, weil einmal gebildete Vorstellungen immer wie­der preisgegeben werden müssen, wenn sie die geforderte Integra­tion der perspektivischen Vielfalt nicht mehr zu leisten vermögen. über diese Korrektur der Vorstellungen ergibt sich zugleich eine ständige Modifikation des Blickpunkts, der als solcher nicht starr vorgege'ben ist, sondern über die modifizierte Vorstellungsfolge immer erneut justiert werden muß, bis er zum Schluß mit dem über die Vorstellungssequenz konstituierten Sinn zusammenfällt. Dadurch a-ber ist dann der Leser endgültig im Text bzw. in der Welt des Textes.

Textstruktur und Aktstruktur verhalten sich zueinander wie In­tention und Erfüllung. Im Konzept des impliziten Lesers sind sie zusammengeschlossen, das sich darin auch von dem jüngsten Vor­schlag unterscheidet, den programmierten Empfang des Textes als "Rezeptionsvorgabe"29 zu bezeichnen. Dieser Begriff ist wsofern

2f Vgl. Manfred Naumann u. a., Gesellsdlaft - Literatur - Leien. Literaturrezeption in tbeoretisdler Sidlt, Berlin und Weimar 1973, p.\35 passim; vgl. dazu ferner meine Kritik an diesem Buch "1m Lichte d~­Kritik", in Warning, Rezeptionsästhetik, pp. 335-341 sowie die von H. R. Jauss, ibid., pp. 343 ff.

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undynamisch, als er sich nur auf die ausmachbaren rezeptionsrele­vanten Textstrukturen bezieht und dabei die Aktstruktur außer acht läßt, in der sich der affektive Charakter der sprachlichen Struk­turen einlöst.

Als Rollenangebot des Textes ist das Konzept des impliziten Lesers keine Abstraktion von einem wirklichen Leser, sondern eher die Bedingung einer Spannung, die der wirkliche Leser erzeugt, wenn er sich auf die Rolle einläßt. Diese Spannung resultiert zu­nächst aus dem Unterschied "between myseH as reader and the often very different seH who goes about paying bills, repairing leaky faucets, and failing in generosity and wisdom. It is only as I read that I become the seH whose beliefs must coincide with the author's. Regardless of my real beliefs and practices, I must sub­ordinate my mind and heart to the book if I am to enjoy it to the full. The author creates, in short, an image of hirns eH and another image of his reader; he makes his reader, as he makes his second seH, and the most successful reading is one in which the created selves, author and reader, can find complete agreement."30

Es fragt sich, ob eine solche übereinstimmung wirklich gelingt, und selbst der seit Coleridge immer wieder beschworene "willing suspension of disbelief", den der Leser zu leisten habe, um sich der Welt des Textes anzuverwandeln, bleibt eine ideale Forderung, von der man nicht einmal sagen kann, ob ihre Einlösung überhaupt wünschenswert wäre. Würde denn das Rollenangebot des Textes wirklich noch funktionieren, wenn es total angenommen wird? Geschähe dies, dann müßte das historisch differenzierte Wert- und Normenrepertoire wirklicher Leser verschwinden, wodurch zugleich auch die Spannung beseitigt wäre, die eine Voraussetzung der Er­fassungsakte - mehr noch eine solche der Verarbeitung des Er­faßten - bildet. Darauf hat M. H. Abrams mit Nachdruck aufmerk­sam gemacht: "Given a truly impassive reader, all his beliefs suspended or anesthetized, (a poet) would be as helpless, in his attempt to endow his work with interest and power, as though he had to write for an audience from Mars."31

30 Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago '1963, pp. 137 f. 31 M. H. Abrams, "Belief and Suspension of Disbelief", in Literature

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Wie immer es in der Lektüre auch um den Ausgleich zwischen dem Rollenangebot des Textes und den habituellen Dispositionen des Lesers bestellt sein mag, die Deckung wird nie so vollkommen sein, daß die eine Position in der anderen restlos aufgeht. Charak­terisiert sich dieses Verhältnis in der Regel durch ein Ubergewicht der Rollenforderung des Textes, so schwinden die Dispositionen der jeweiligen Leser nicht gänzlich, wenn er sich der vorgezeichne­ten Rolle anverwandelt. Sie bilden vielmehr den Hintergrund, vor dem sich die von der Leserrolle angestoßenen Erfassungsakte des Textes vollziehen; sie sind der notwendige Bezugshorizont, der ein Auffassen des Erfaßten und damit das Verstehen ermöglicht. Wür­den wir in der vorgegebenen Rolle total aufgehen, dann müßten wir uns vollkommen vergessen, und das bedeutete, wir müßten uns von all den Erfahrungen freimachen, die wir doch unentwegt in die Lektüre einbringen und die für die oft recht unterschiedliche Aktualisierung der Leserrolle verantwortlich sind. Selbst wenn uns die Rolle ganz gefangen nimmt, so verspüren wir spätestens am Ende der Lektüre das Verlangen, diese seltsame Erfahrung auf den Horizont unserer Ansichten zu beziehen, von dem unsere Bereit­schaft, auf den Text einzugehen, auch während der Lektüre latent gesteuert blieb.

Daraus folgt, daß die Leserrolle des Textes historisch und indivi­duell unterschiedlich realisiert wird, je nach den lebensweltlichen Dispositionen sowie dem Vorverständnis; das der einzelne Leser in die Lektüre einbringt. Das muß nicht Willkür sein, sondern ergibt sich daraus, daß das Rollenangebot des Textes immer nur selektiv realisiert wird. Die Leserrolle enthält einen Realisierungsfächer, der im konkreten Fall eine bestimmte und folglich nur eine 'episo­dische Aktualisierung' erfährt. Dadurch aber wird die Textverar­beitung der Beurteilung zugänglich, denn jede einzelne Konkreti­sation vollzieht sich immer vor dem Hintergrund der im Text parat gehaltenen Wirkungsstrukturen. Ist aber jede Aktualisierung eine bestimmte Besetzung der Struktur des impliziten Lesers, dann bil­det diese Struktur eine Referenz, die die individuelle Rezeption des

and Belief (English Institute Essays 1957), ed. M. H. Abrams, New York 1958, p. 17.

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Textes intersubjektiv zugänglich macht. Damit kommt eine zen­trale Funktion des impliziten Lesers zum Vorschein: Es ist ein Kon­zept, das den Beziehungshorizont für die Vielfalt historischer und individueller Aktualisierungen des Textes bereitstellt, um diese in ihrer Besonderheit analysieren zu können.

Fassen wir zusammen: Das Konzept des impliziten Lesers ist ein transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstruk­turen fiktionaler Texte beschreiben lassen. Es meint die im Text ausmachbare Leserrolle, die aus einer Textstruktur und einer Akt­struktur besteht. Richtet die Textstruktur den Blickpunkt für den Leser ein, so heißt dies, daß sie insofern einer grundlegenden Ge­gebenheit unserer Wahrnehmung folgt, als unsere Weltzugänge immer nur perspektivischer Natur sind. "Betrachtendes Subjekt und dargestelltes Objekt werden so in bestimmter Hinsicht aufeinander bezogen, die 'Subjekt-Objekt-Beziehung' fließt ... in die perspekti­vische Darstellungsweise ein. Sie fließt zugleich aber auch in die Sichtweise des Betrachters einj denn so, wie der Künstler sich in sei­ner Darstellung nach dem Blickpunkt eines Betrachters richtet, so findet sich der Betrachter durch eben diese Darstellungsweise auf eine bestimmte Ansicht verwiesen, die ihn - mehr oder weniger -anhält, den ihr allein korrespondierenden Blickpunkt aufzusu­chen."32 Ein solcher Blickpunkt situiert den Leser zum Text, damit er den Sinnhorizont zu konstituieren vermag, auf den ihn die Ab­schattungen der dargestellten Textperspektiven hinführen.33 Da aber der Sinnhorizont weder eine Gegebenheit der Welt noch eine solche des Habitus eines intendierten Publikums abbildet, muß er vorgestellt werden. Das Nicht-Gegebene ist nur durch die Vorstellung erschließbar, so daß sich im Auslösen einer Vors tel­lungsfolge die Textstruktur in das Rezeptionsbewußtsein des Le­sers übersetzt. Die Inhaltlichkeit solcher Vorstellungen bleibt vom Erfahrungshaushalt des jeweiligen Lesers gefärbt. Zugleich aber

32 earl Friedrich Graumann, Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität, Berlin 1960, p. 14.

J3 Zu diesem Sachverhalt finden sich grundlegende Ausführungen bei Eckhard Lobsien, Theorie literarischer Illusionsbildung, Stuttgart 1975, pp. 42-74.

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gibt dieser Erfahrungshaushalt den Bezugshintergrund dafür ab, die Vorstellung von noch Unerfahrenem verarbeiten, in jedem Falle aber verankern zu können. Das Konzept des impliziten Le­sers umschreibt daher einen Ubertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungs­haushalt des Lesers übersetzen. Da diese Struktur für die Lektüre fiktionaler Texte allgemein gilt, darf sie transzendentalen Charak­ter beanspruchen. Sie zu entfalten, ist Ziel der folgenden Kapitel, in denen der Charakter des Lesens und das sich in ihm vollzie­hende Geschehen deutlich werden sollen.

3. Psychoanalytische Wirkungstheorien der Literatur

Läßt sich der implizite Leser als Wirkungsstruktur der Texte be­schreiben, so fragt es sich, ob eine Analyse des Lesevorgangs ohne die Berücksichtigung psychologischer Einsichten auskommt. Diese Frage stellt sich schon deshalb, weil es zwei ausgearbeitete Wir­kungstheorien der Literatur gibt, die von einer psychoanalytischen Basis her argumentieren. Norman Holland und Simon Lesser ha­ben sehr beobachtungsreiche Studien über Leserreaktionen geschrie­ben.

Wenn sie im folgenden unter eine kritische Perspektive rücken, so nicht deshalb, weil psychologische Befunde für das hier disku­tierte Thema irrelevant wären, sondern weil es herauszufinden gilt, was Holland und Lesser gesehen, aber durch die klassifizie­rende Verwendung einer orthodoxen psychoanalytischen Begriff­lichkeit wieder verstellt haben.

Psychoanalytische Begrifflichkeit wird in den beiden Studien ent­schieden systematisch und folglich kaum explorativ verwendet. Solche begrifflichen Verfestigungen bilden indes, wie Pontalis in seinem Buch Nach Freud deutlich gemacht hat, eine der großen Barrieren für die Durchsetzung psychoanalytischer Einsichten.34 Die Theorie Freuds - so meint Pontalis - habe für diesen selbst keine

34 J.-B. Pontalis, Nam Freud, übers. von Peter Assion et a1., Frankfurt 1968, pp. 113 f., 143, 150 u. 151 f.

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begrifflich-systematische Geschlossenheit besessen.35 Im Gegenteil, er entnahm ihre Terminologie den unterschiedlichsten Gebieten, vornehmlich der Physik, der Biologie, der Mythologie, aber auch einem bestimmten Alltagsvokabular. Die Bedingungen solcher Ent­lehnungen aus verschiedenen Systemen der Sprachverwendung ist für Pontalis ein Anzeichen dafür, daß es für Freud einen Bereich zu topographieren galt, der sich einem systemorientierten Erkennt­niszugriff verschließt. Bezeichnet man der Einfachheit wegen die­sen Bereich als das Unbewußte - obgleich Pontalis sichtbar macht, daß dadurch der zu entdeckende Sachverhalt von bestimmten Po­sitionen der Systemphilosophie her in den Blick gerückt wird36 -,

so ergibt sich, daß die Zugriffe auf das noch Ungekannte einer Vielzahl heuristisch unterschiedlicher Sprachverwendung bedürfen, um es aufhellen zu können. In dem Augenblick, in dem die Heu­ristik solcher explorativen Sprachverwendung zum System gerinnt, gewinnt die Psychoanalyse den Anschein einer 'imperialistischen Philosophie' mit außerordentlich verquollener Begrifflichkeit. Da­durch charakterisiert sich jedoch eher eine bestimmte Freudrezep­tion, nicht aber die psychoanalytische Theorie selbst, die nicht nur bei Pontalis, sondern auch bei anderen die teilweise verschüttete hermeneutische Komponente der Freudschen Theorie wiederge­winnt.37 Die Erinnerung an diesen Sachverhalt ist notwendig, weil Holland und Lesser psychoanalytische Terminologie wie substantia­listische Begriffe verwenden und dadurch den Zugang zur Reaktion auf Literatur eher erschweren als erleichtern.

Norman Holland beschreibt die Absicht seiner Untersuchung wie folgt: "First, I propose to talk about literature primarily as an ex­perience. I realize that one could talk about literature as a form of communication, as expression, or as artifact. For the special pur­poses of this book, however, literature is an experience and, fur­ther, an experience not discontinuous with other- experiences ... One can analyze litel;ature objectively, but how or why the re­peated images and structures shape one's subjective response -

35 Ibid., pp. 108 ff., 146 f., passim. 36 Ibid., pp. 100, 112, 138 ff. u. 147 ff. 37 Vgl. dazu u. a. Alfred Lorenzer, Spramzerstörung und Rekonstruk­

tion, Frankfurt 1971, pp. 104 H.

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that is the question this book tries to answer. I shall have to rely rather heavily on my own responses, but I do not me an to imply that they are 'correct' or canonical for others. I simply hope that if I can show how my responses are evoked, then others may be able to see how theirs are. As with most psychoanalytic research, we must work from a case history, and in this situation, the case is me ... To go from the text as an object to our experience of it calls for a psychology of some kind - I have chosen psychoanalytic psychology.//38 Primär interessiert sich Holland für die von Literatur bewirkte Erfahrung. Doch selbst wenn man Texte nur als vorpro­grammierte Erfahrungen versteht, so müssen diese abgerufen wer­den, ehe sie sich in einem möglichen Leser entfalten ~{önnen. Läßt sich daher die Art ihrer Kommunikation von ihrer möglichen Wir­kung wirklich so abtrennen, als ob es sich um jeweils verschiedene Untersuchungsgegenstände handelte? Offensichtlich ist das nur denkbar, wenn man eine weitgehende Identität von ästhetischer und alltäglicher Erfahrung voraussetzt, obwohl man doch weiß, daß die ästhetische Erfahrung gerade dadurch funktioniert, daß sie die Möglichkeiten der Erfahrbarkeit zu anderen Bedingungen als zu denen der alltäglichen Erfahrung nutzt. Ästhetische Erfahrung mit alltäglicher zu verklammern, heißt dann auch, dle Eigenart fiktio­naler Texte nur als Anschauungsmaterial für das Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren unserer psychischen Dispositionen zu re­klamieren. Wenn dies so wäre, dann hätten jene recht, die eine Beschäftigung mit Literatur für überflüssig halten, weil die aus ihrer Betrachtung ableitbaren Resultate an anderen, sozial ungleich relevanteren Phänomenen gewonnen werden könnten. In dem Bestreben, Literatur 'objektiv' analysierbar zu machen, hebt Hol­land den Unterschied zwischen ästhetischer und alltäglicher Erfah­rung auf, um die Auswirkung der Texte in dem von der Psycho­analyse beschreibbar gemachten Dispositionsrepertoire des Men­schen studieren zu können. Damit aber wird die heuristische Chance der Psychoanalyse eher vergeben als wahrgenommen, denn mit jedem literarischen Werk kommt, wie es A. R. Ammons ein-

J8 Norman Holland, The Dynamics 01 Literary Response, New York 1968, pp. XIII-XV.

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mal formuliert hat, "a world ... into being about which any state­ment, however revelatory, is a lessening."39 Ein solcher Abbau der Besonderheit indes ist vollkommen, wenn sie lediglich der Veran­schaulichung dessen dient, worüber man ohnehin verfügt.

Hollands Verzicht darauf, die Kommunikationsbedingungen der 'Erfahrung' zu analysieren und einen möglichen Unterschied zwi­schen ästhetischer und anderer Erfahrung anzunehmen, hinterläßt seine Spuren in der vorgeführten Argumentation. Diese zeigen sich deutlich in der Diskussion der beiden zentralen Komplexe von Hollands Buch: dem der Bedeutung und dem der Wirkung. Gleich zu Beginn beschreibt Holland den literarischen Text als eine Hier­archie sedimentierter Bedeutungsschichten. Er exemplifiziert diese Hypothese an Chaucers Wife of Bath, in der er vier Bedeutungs­ebenen zu entdecken glaubt, die er jeweils als die des mittelalter­lichen Lesers, als die des modernen Lesers, als die mythische Be­deutung und schließlich als die psychoanalytische des Textes quali­fiziert. 4o Bedeutung ist für Holland ein dynamischer Prozeß, in des­sen Verlauf die Triebphantasie zu identifizierbaren Gestalten des Bewußtseins transformiert wird. " ... all stories - and allliterature - have this basic way of meaning: they transform the unconscious fantasy discoverable through psychoanalysis into the conscious meanings discovered by conventional interpretation.,,41 Demzufolge figuriert die psychoanalytische Bedeutung als der Ursprung aller anderen. Sie zu entdecken wäre dann das Ziel eines Aufklärungs­prozesses, da die anderen Bedeutungsebenen literarischer Texte nur historisch oder sozial bedingte Manifestationen, wenn nicht gar bloße Verstellungen der psychoanalytischen Bedeutung verkör­pern. Für Chaucers Wife of Bath lautet sie: "Phallic wounding", "Oral submission".41

39 A. R. Ammons, "A Poem is a Walk", in Epoch 18 (1968), p. 115. 40 Vgl. Holland, pp. 26 f. 41 Ibid., p. 28. " Ibid., p. 26. Diese Stelle ist ein Paradebeispiel für die verdinglichte

Verwendung psychoanalytischer Terminologie, die Pontalis in seiner Kritik im Blick hatte und treffen wollte. Sie ist zu einem nicht geringen Teil schuld dar an, daß man der Psychoanalyse als Interpretationsansatz für Literatur so lange Zeit ablehnend gegenüberstand.

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Unterstellt man einmal, daß ein solcher Einstieg in die Bedeu­tungsanalyse literarischer Texte heuristisch zu rechtfertigen wäre, so ergeben sich eine Reihe von Fragen, die dieser Zugriff produ­ziert, nicht aber beantwortet. Zunächst müssen doch wohl Bedin­gungen im Text ausmachbar sein, die dafür verantwortlich sind, daß er bald mit den Augen mittelalterlicher Leser, bald mit denen moderner Leser, bald durch eine mythische Perspektive und schließ­lich sogar durch eine psychoanalytische gewärtigt werden kann.

Darüber hinaus besagt eine solche Bedeutungshierarchie - ein­mal ganz abgesehen von der Schwierigkeit zuverlässiger Abgren­zungen der einzelnen Ebenen - daß die genannten Bedeutungen und ihre Auffassung durch die genannten Leser immer nur die un­zureichende Transformation der Triebphantasie in die notwendige Bewußtheit anzeigen. Verschleiert nun der Text seine wahre Be­deutung, oder produziert die Abwehrreaktion des Lesers die Ver­schleierung? Der Text kann es eigentlich nicht sein, da Literatur für Holland Entlastungscharakter hat. Doch welche Art der Entlastung wäre es, wenn der Text zwar die wahre Bedeutung parat hielte, zu­gleich aber so beschaffen ist, daß der Leser im Erfassungsakt die Verschleierung der wahren Bedeutung produzieren kann? über die Wahrheit zu verfügen, im Akt ihrer Kommunikation aber VersteI­lungen hervorzurufen, würde den literarischen Text als höchst problematisch erscheinen lassen.

Also müßte man vielleicht anders fragen. Wenn der literarische Text - aus welchen Gründen auch immer - seine eigentliche Be­deutung hinter einem Schleier hält, der als historisch oder sozial bedingte Verzerrung zu verstehen wäre, dann gälte es, durch psy­choanalytische Methoden die verschüttete Bedeutung zu heben. Das hieße: Erst die Psychoanalyse würde den literarischen Text vollenden, was wiederum nicht gemeint sein kann, weil Holland davon spricht, daß die literarischen Texte ihrerseits die Trieb­phantasie zu anschaubaren Gestalten für die Bewußtheit trans­formieren.

Bliebe noch eine weitere Frage. Unterstellt man, daß durch die Ambivalenzen der Texte der Transformationsprozeß der Trieb­phantasie sich dem Leser nicht in unmittelbarer Evidenz bietet, weil der Leser schließlich in solchen Erfassungsakten auch beschäf-

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tigt werden soll, so würde es erst einer psychoanalytisch geschärf­ten Beobachtung gelingen, hinter der verzerrenden Spiegelung der Ambivalenzen die wahre Bedeutung zu entdecken. Die psycho­analytische Interpretation erwiese sich dann als Diagnose, die die vom Leser produzierte Sperre aufbrechen müßte, durch die er die kommunikativen Symbole der psychoanalytischen Bedeutung ver­stellt hat. Die Aufmerksamkeit hätte dann den Abwehrreaktionen zu gelten, durch die die kommunikativen 'Symbole' verdrängt und die 'Klischees' wahrgenommen werden.43 Als Diagnose müßte aber eine solche Interpretation auch Therapie sein. Indes, die psychische Befindlichkeit von Lesern in einem therapeutischen Sinne ändern zu wollen, indem man ihnen die wahre Bedeutung literarischer Texte entdeckt, ist schon als Gedanke trivial.

Aufschlußreicher als diese Schw;ierigkeiten jedoch ist die durch Hollands Argumentation angebotene Lösung des Problems, wie ein Text Bedeutung übermitteln bzw. wie diese vom Leser wahrgenom­men werden kann. Holland kommt dabei um den von ihm aus­flankierten Kommunikationsvorgang nicht herum und versucht ihn schließlich durch ein Schema abzudecken, das nicht der Psycho­analyse entstammt.

Wenn die psychoanalytische Bedeutung des literarischen Textes dessen letztes Fundament bildet, das der Leser sehen muß, damit er gewärtigt, wie die Triebphantasie durch Bedeutung in Bewußtheit transformiert werden kann, dann ist ein solcher Kommunikations­vorgang für Holland durch die Annahme einer Korrespondenz zwi­schen der strukturellen Organisation des Textes und einer ver­wandten Disposition im menschlichen Reaktionsvermögen gesi­chert. Dabei geschieht folgendes: Psychoanalytische Einsichten, die ursprünglich ja nicht an Texten gewonnen worden sind, werden als Strukturbedingung auf die Natur der Texte übertragen. Diese lassen sich dann ohne Schwierigkeiten als ein Korrespondenzmodell zu erkannten Strukturen der menschlichen Psyche konstruieren, so daß eine übermittlung der Bedeutung dadurch zustande kommt,

43 Zum Sprachgebrauch von 'Symbol' und 'Klischee' für die Beschrei­bung kommunikativer Störungen und ihrer Therapie vgl. Lorenzer, pp. 72 H.

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daß der Text psychische Grundgegebenheiten seiner Leser wider­spiegelt bzw. daß der Leser im Text Strukturen seiner Reaktions­prozesse wiederfindet. Ein solches Korrespondenzmodell wird dann auch von Holland explizit gemacht: "The mental processembodied in the literary wark somehow becomes a process inside its au­dience. What is 'out there' in the literary work feels as though it is 'in here', in your mind or mine."44 Selbst wenn die methodische Verlegenheit, die sich in Wendungen wie "somehow" und "feels" zu erkennen gibt, nicht überbewertet werden soll, so funktioniert die hier herausgestellte Ubertragung nach dem Prinzip, daß sich Gleiches in Gleichem erkenne oder wiederfinde. Ein solches Prinzip indes ist eher ein platonistisches und weniger ein solches der Psy­choanalyse. Wenn aber eine mit dem Begriffsinstrumentarium der Psychoanalyse hantierende Interpretation mit einem platonistischen Erklärungsschema argumentiert, so regt sich der weitergehende Verdacht, ob nicht dieser Platonismus einen wesentlichen Grund dafür bildet, daß di~ Kommunikationsvorgänge der Texte so wenig Gegenstand der Analyse gewesen sind.

Darüber hinaus ist der Platonismus einer spiegelbildlichen Ent­sprechung von Text und Leser als Erklärungshypothese für lite­rarische Wirkung unzureichend. Wie sollte eine Wirkung zu den­ken sein, die darauf beruht, daß der Leser sein Dispositionsreper­toire im Text wiederfindet? Auch Holland ist der Meinung, daß mit dem Leser etwas geschieht; den Anstoß dazu aber kann nicht die Ebenbildlichkeit, sondern allenfalls die graduelle Andersheit des Textes liefern. Wie aber kommt durch eine solche abgestufte Andersheit überhaupt eine so innige Verbindung - ja eine solche Interaktion - zwischen Text und Leser zustande, wie sie Holland durchaus zu Recht annimmt? Die Bilder und Symbole des Textes sind doch nicht einfache Spiegelbilder psychischer Gegebenheiten; und wenn sie schon die Bedingung dafür verkörpern, daß durch sie die Triebphantasie ins Bewußtsein gehoben wird, dann kann eine solche Transformation doch nur gelingen, wenn sie dem Leser das zu 'sehen' erlaubt, 'was in ihm ist'. Eine solche 'Einsicht' kommt aber nicht über eine Korrespondenz, sondern erst durch eine Dif-

•• Holland, p. 67.

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ferenz zustande. Daher muß man im Gegenzug gegen Holland po­stulieren, daß eine wie immer geartete Ungleichartigkeit zwischen Text und Leser als Auslöser von Reaktionen notwendig istj erst die strukturelle Asymmetrie bewirkt die notwendigen Anstöße zur Textverarbeitung. Wie sehr das selbst für jene Fälle gilt, in denen der Text fast zum Spiegelbild für die Disposition seines Empfän­gers wird, läßt sich etwa an Shakespeares Hamlet ablesen. Spiegel­bilder müssen wenigstens um Nuancen verändert werden, sollen sie Reaktionen hervorrufen. Das Spiel im Spiel in Hamlet ist dafür ein paradigmatischer Fall. Hamlet erkennt die Schuld seines Ver­säumnisses gerade deshalb, weil sie mit dem gespielten Leid der Hekuba eben nicht identisch ist, und Claudius erfährt sein Ver­brechen an sich selbst gerade dadurch, daß die gespielte Mordszene nicht mit dem Hergang seiner Untat identisch ist. Denn im Spiel vom Mord des Ganzaga wird der regierende Herrscher nicht von seinem Bruder, sondern von seinem Neffen getötet. Doch gerade dieser Unterschied setzt die Reflexion in Bewegung. Claudius ist von der weitgehenden Ähnlichkeit seiner eigenen Situation mit derjenigen des Spiels betroffen. Gleichzeitig bewirkt es diese Be­troffenheit, daß er sich um die Feststellung des Unterschieds be­müht, der zwischen seiner Handlung und der im Spiel vorgeführ­ten besteht. Dadurch steigert sich die vom Spiel intendierte Wir­kung, denn erst die geringe Abweichung der Spielhandlung von den wahren Vorgängen bedingt es, daß Claudius sich in diesem Augenblick ein ganz genaues Bild von seinem Verbrechen machen muß. Damit aber wird die von ihm verdrängte und abgeschirmte Realität wieder offenkundig, seine Verstellung zerbricht, und das von ihm bisher gezeigte Verhalten wird ihm selbst als Maske durchsichtig. So ist für Claudius - wie für Hamlet - nicht das Spiegelbild, sondern erst die im Blick auf das Spiegelbild gewärtigte Differenz die Bedingung für die erfahrene Wirkung.45 Die Diffe­renz bildet den Anstoß für die Reaktion, durch die das Verdrängte

4l Diesen Sachverhalt habe ich genauer dargestellt in "Das Spiel im Spiel. Formen dramatischer Illusion bei Shakespeare", in Wege der Shakespearetorschung (Wege der Forschung CXV), ed. Kar! L. Klein, Darmstadt 1971, pp. 223-235.

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wiederkehrt und sich in eine Gestalt für das eigene Bewußtsein transformiert. Wenn daher etwas ins Bewußtsein gehoben werden soll, so kann dies nur geschehen, wenn der Text nicht als die Pro­grammierung des Dispositionsrepertoires seiner Empfänger gedacht wird.

Daraus folgt: Das Nicht-Identische ist die Bedingung der Wir­kung, die sich im Leser als die Sinnkonstitution des Textes reali­siert. Diese These bildet eine erste Annahme, die der Diskussion der folgenden Kapitel unterliegt.

Nun soll keineswegs bezweifelt werden, daß Holland einem sol­chen Phänomen auf der Spur ist, wie es nicht zuletzt die verschie­denen Diagramme und Zeichnungen erkennen lassen, durch die er Vorgänge zwischen Text und Leser zu schematisieren versucht. Die dafür angebotenen Argumente indes haben einen nicht weniger problematischen Hintergrund als jene, die Holland in der Diskus­sion um die Bedeutung entwickelt hat. Sie interessieren hier nur insoweit, als ihre kritische Betrachtung einen weiteren Anstoß zu einer anderen heuristischen Annahme der Wirkungstheorie lie­fern kann.

Die Wirkung der Literatur beruht für Holland in ihrem Entla­stungscharakteri er formuliert demzufolge: "(In) the last analysis all art is ... a comfort."46 Diese Erquickung aber kommt vorwiegend durch die Lösungen zustande, die uns das Werk bietet und die be­stimmten Erwartungen seiner Leser entsprechen müssen. "Even if the work makes us feel pain or guilt or anxiety, we expect it to ma­nage those feelings so as to transform them into satisfying ex­periences.JJ47 Erst wenn das geschieht, entsteht das von der Litera­tur erwartete Vergnügen. "When literature 'pleases', it, too, lets us experience a disturbance, then master it, but the disturbance is a fantasy rather than an event or activity. This pattern of distur­bance and mastery distinguishes our pleasure in play and literature from simple sensuous pleasures. JJ48 Der hier für die Entlastung wie

.. Holland, p. 174. 47 Ibid., p. 75. 40 Ibid., p. 202.

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für das Vergnügen postulierte Rhythmus des literarischen Werkes von Störung und Lösung wird von Holland in sehr verschiedenen Kontexten seiner Argumentation gebraucht und dürfte daher für die Funktionsbestimmung der Literatur bzw. die durch sie verur­sachten Reaktionen repräsentativ sein.

Daß Literatur Vergnügen zu bereiten habe, bzw. daß sich dieses aus der rhythmischen Verschränkung von Störung und Lösu~auf­baut, ist eine Einsicht, die schon vor einer-psychoanalytischen Lite­raturbetrachtung formuliert worden ist und daher nicht als ihr Re­sultat angesehen werden kann. Letztlich bestätigt Holland, wenn­gleich mit anderen Argumenten, die 'emotive theory' von 1. A. Ri­chards, den_nYllch dCl!"t_ist __ di\;_SWIlLng sowie ~~ren~~sgleich die Grundb~c1ing!!!lLfüLJLelLäs1QeJischen---Effekt des K ~~;twe;:ks.49

- So geht die von Holland vorgeschlagene psychoanalytische Betrach­tung literarischer Wirkung an ihrem zentralen Punkt nicht über die alte 'emotive theory' hinaus.

Es bliebe noch zu fragen, inwieweit die Form des literarischen Werks, durch die der postulierte Rhythmus organisiert wird, ein spezifisches Beobachtungsfeld für Wirkung abgibt. Form ist für Holland im Sinne der von ihm geführten psychoanalytischen Inter­pretation eine Defensivstruktur, durch die im Werk selbst die Tur­bulenz der erwachten Triebphantasie wieder gezähmt und distan­ziert werden kann.50 Sie ist nicht Auslöser, sondern funktioniert als Kontrolle des Ausgelösten, um es sich 'vom Leibe' halten zu kön­nen. Form kanalisiert die Erregung, so daß man sich fragt, ob eine solche Formkonzeption wirklich der Psychoanalyse entstammt; denn das Ausbalancieren komplexer und gegeneinander laufender Bewegungen zu Stimmigkeit und Kontrolle hat ausgesprochen ldas­sische Qualitäten. Dieser Eindruck läßt sich auch dort nicht über­decken, wo Holland die von ihm gegebene Definition der Literatur mit einer psychoanalytischen Terminologie drapiert. So heißt es

" Vgl. 1. A. Richards, Prinzipien der Literaturkritik, übers. von J. Schlae­ger, Frankfurt 1972, pp. 289 f., 293 f., 297; ferner J. Schlaeger, "Einlei­tung", pp. 26-28 sowie C. K. Ogden, 1. A. Richards and James Wood, The Foundatiol1 of Aesthetics, London 1922, pp. 72 H.

50 Vgl. Holland, pp. 104-133.

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am Schluß seines Buches: "Literature has something in it of the saturnalia: the superego permits the ego to transgress all kinds of taboos for a limited time, then re-establishes contral; and the re­establishment of control itself comes asa kind of relief and ma­stery.,,51 Im 18. Jahrhundert hatte man diesen Sachverhalt beau des­ordre genannt und meinte damit das ästhetische Vergnügen, das aus der temporären Gestörtheit der Ordnung sowie der gleichzeitigen Gewißheit eines möglichen, obwohl nichtvorhersehbarenAusgleichs dieser Stärung erwächst. Die klassische Ästhetik der Aufklärung benutzte dafür nur eine andere Metaphorik, als sie die psycho­analytische Interpretation der Literatur verwendete; doch offensicht­lich ist das gemeinte Phänomen von der Art, daß es Metaphern höchst verschiedenen Ursprungs zu seiner Erklärung zuläßt.

Was die Harmonieästhetik des 18. Jahrhunderts formulierte, blieb der Referenzrahmen für die 'emotive theory', die Hollands psychoanalytische Interpretation soweit beherrscht, daß man den Verdacht nicht los wird, hier seien die Einsichten von Richards nur in einer anderen Terminologie geboten. Die 'emotive theory' aller­dings postulierte einen Leser, der durch das Schauspiel der Texte in eine kontemplative Distanz gerückt wird. Denn das Werk selbst entspannt die durch die Störung temporär verursachte Erregung. Da aber Holland der Meinung ist, daß literarische Texte den Leser erheblich engagieren, bleibt zu fragen, ob dies denn auch in dem angenommenen Umfang gelingt, wenn die Aufhebung der erzeug­ten Erregung durch das Werk selbst geschieht und folglich erwart­bar ist. Dieser Sachverhalt bleibt auch als Problem der 'emotive theory' zurück, obgleich ihr das Verdienst gebührt, das Studium literarischer Wirkung erst voll zum Bewußtsein gebracht zu haben.

Von welcher Bedeutung die 'emotive theory' für die Betrachtung literarischer Wirkung gewesen ist, zeigt das Buch von Simon o. Lesser, Fiction and the Unconscious, das - obwohl von den Prä­missen psychoanalytischer Theorie her konzipiert - in wichtigen Argumentationszusammenhängen ebenfalls von der 'emotive theory' beherrscht bleibt.

51 Ibid., p. 334.

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Sofern die Psychoanalyse den Erkenntnisrahmen absteckt, wird Literatur auch für Lesser zur Entlastung.52 Doch ein Werk, SQ meint Lesser, kann die von ihm erwartete Entlastung nur dann in zu­reichendem Maße gewähren, wenn es verschiedene Weisen der Be­friedigung gleichzeitig parat hält. An diesem Punkt wird es not­wendig, ein Kommunikationsmodell zu konstruieren, das es er­laubt, die sich im Leser vollziehende Entlastung beschreibbar zu machen. Dazu bedient sich Lesser eines psychoanalytischen Instru­mentariums. Um den Leser für die Welt der Fiktion zu 'öffnen', muß das Werk - in Lessers psychoanalytischer Terminologie -sowohl an dasSuperego als auch an das Ego und das Id appellieren. Alle Instanzen der Psyche gilt es in Bewegung zu bringen, und das heißt jede für sich so zu engagieren, daß sich ihre von der Psy­choanalyse angenommene Hierarchie aufzulockern beginnt, ja durch­brochen werden kann. Für Lesser ist ein Kunstwerk in dem Maße bedeutungsvoll, in dem es die verschiedenen Instanzen der Psyche mit gleicher Intensität beschäftigt. Dazu bedarf es allerdings einer Voraussetzung: Die Appelle des Werkes müssen verschlüsselt sein, denn sie verlieren ihre Wirkung auf den Empfänger, je direkter sie erfolgen und je offensichtlicher ihre Natur zu Tage tritt.53 Sie ver­mögen folglich ihre Wirkung zu steigern, wenn sie im Werk so angelegt sind, daß sie sich ständig überkreuzen, ja, sich wechsel­seitig zu Masken werden, um Ursprung und Zielrichtung mitein­ander zu vertauschen, damit sie jenen Komplexionsgrad gewinnen, der unabdingbar ist, soll im Lesevorgang der alte, im Leben immer schon entschiedene Kampf zwischen Superego, Ego und Id wieder eröffnet werden. Der literarische Text erreicht so jenen Grad der Andersheit, der für die Einwirkung auf die Dispositionen seiner Empfänger notwendig ist. In jedem Falle aber kann er nicht mehr als Spiegel für das Dispositionsrepertoire seiner Leser gedacht werden; denn er fordert von ihnen Aktivitäten, durch die es allererst mög­lich wird, die verfestigte Hierarchie der psychischen Konstituenten wieder zu 'öffnen', um eine Bewegung zu erzeugen, die deshalb als

52 Vgl. Simon O. Lesser, Fiction and tbe Unconscious, New York (Vintage Books) 1962, pp. 39, 81 f. u. 125.

53 Vgl. Ibid., pp. 94-120.

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latente Befreiung verspürt wird, weil wir den Anspruch des Zen­sors und die Geltung der etablierten Herrschaftsstruktur jedenfalls zeitweise - für die Dauer der Lektüre - außer Kurs zu setzen vermögen.54

Sieht man einmal von der inhaltlichen Besetzung dieses von Lesser entwickelten Kommunikationsmodells ab, so bleibt die überlegung zurück, daß der Anstoß zur Kommunikation von mas­kierten, miteinander sich überkreuzenden, ja vielleicht sogar ein­ander dementierenden Appellen des Textes ausgeht, und das heißt doch, daß die Appelle nicht das meinen, was sie sagen. Denn ihre Funktion schwächt sich in dem Maße ab, in dem sich das Gesagte und das Gemeinte einander annähern. Daraus läßt sich eine wei­tere These ableiten, die als heuristische Vorüberlegung die folgen­den Kapitel orientieren soll: Wirkung entsteht aus der Differenz zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, oder, anders gewen­det, aus der Dialektik von Zeigen und Verschweigen.

Obgleich es den Anschein hat, daß Lesser eine solche These im Anschluß an seine eigene Argumentation selbst hätte formulieren können, so liquidiert er doch das damit bezeichnete Problem - wie es scheint voreilig - durch seine Theorie der Konfliktlösung, die sich für ihn aus der von literarischen Texten in Gang gebrachten Psychomachia ergibt. Denn nun kehren die Argumente der 'emo­tive theory' wieder: "Have we made any headway toward a de­finition of fietion by observing that it is centrally concerned with confliet? While we seeure satisfaetion from overeoming obstacles, eonfliet itself - real eonfliet - is not a souree of pleasure to us, but rather of pain. Why should the fietional presentation of our eonfliets give us pleasure or satisfaetion? The answer immediately suggests itself: there are decisive differenees between the way eon­fliets are dealt with in fietion and the way they make themselves feIt in life ... Using terms in which Edward Glover deseribes art in general, we may say that fietion gives us eompromise form­ations whereby repressed and repressing forees obtain expression in one and the same praduet. Or we may say that fietion heeds the demands of both the reality prineiple and the pleasure prin-

5< Ibid., pp. 79, 81 f., 93, 125, 130, 192 H.

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ciple, or that it provides a forum in which the positions of the id, the ego and the superego all receive a hearing ... We appreciate fiction, secondly, because it seeks to reconcile the various claims it brings forward. Moreover, in keeping with its willingness to hear all sides, it strives for resolutions based upon maximum fulfil­ment, rather than the illusory kind achieved by denying or slight­ing certain claims i it seeks resolutions which, to use a happy word of Robert Penn Warren's, are 'earned' rather than forced. Ob­viously such resolutions are more richly satisfying and more stable than the provisional solutions of our problems with which we must so often be content in life."55

Man wird eine solche Definition des fiktionalen Textes in einem wichtigen Punkt korrigieren müssen, will man die Befriedigung be­greifen, die solche Texte ihren Lesern bereiten. Diese Korrektur ließe sich auch auf die von Richards gegebene Beschreibung des Kunstwerks ausdehnen, dessen eigentlicher Wert für Richards ebenso wie für Lesser in dem Ausgleich der durch das Werk im Leser verursachten Störung zu suchen ist. Sicherlich bildet die Kon­fliktsituation ein zentrales Element für den literarischen Text. Doch es fragt sich, ob die Lösung wirklich im Darstellungsakt selbst ma­nifestiert ist.

In der Regel sind die Konflikte so beschaffen, daß sich die Ten­denzen möglicher Auflösung zwar im Text abschatten, ohne jedoch sprachlich vom Text voll realisiert zu sein. Vielmehr löst sich die parat gehaltene Lösung des dargestellten Konflikts erst in den vom Leser geforderten Aktivitäten ein. Nur so vermag die Entspannung zu einer Erfahrung des Lesers. zu werden, die nicht zustande käme, würde der Text selbst die Aufhebung des Konflikts explizit ma­chen. Wo das geschieht, ändert sich zwangsläufig auch die Aktivität des Lesers, der dann weniger eine Lösung realisiert, sondern sich zur dargestellten Lösung zu verhalten beginnt. Wenn die von Les­ser und Richards gemachte Annahme richtig ist, daß der Rhythmus des Kunstwerks aus Konflikt und Lösung besteht, dann rollt dieser nicht einfach vor dem Leser ab, sondern nimmt ihn hinein und

5' Ibid., pp. 78 f.

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läßt ihn die vom Text verursachte Erregung selbst abarbeiten. Es kennzeichnet den inhärenten Klassizismus der psychologischen Kunsttheorie, daß sie im Werk auch noch die Distanzierung darge­stellt zu sehen glaubt, durch den der entbrannte Konflikt für den Leser wieder geglättet wird, obwohl diese Distanzierung doch ein vom Text gelenkter Akt des Lesers ist, durch den er seine Ver­strickungen in den Konflikt des Textes meistert. Adorno hat daher zu Recht diesen quietistischen Charakter der psychologischen Kunsttheorie kritisiert: "Der Psychologismus ästhetischer Interpre­tation versteht sich nicht schlecht mit der philiströsen Ansicht vom Kunstwerk als einem harmonisch die Gegensätze Beschwichtigen­den, dem Traumbild eines besseren Lebens, ungedenk des Schlech­ten, dem es abgerungen ward. Der konformistischen übernahme der gängigen Ansicht vom Kunstwerk als wohltätigem Kulturgut durch die Psychoanalyse korrespondiert ein ästhetischer Hedonis­mus, der alle Negativität aus der Kunst in die Triebkonflikte ihrer Genese verbannt und am Resultat unterschlägt. Wird erlangte Sublimierung und Integration zum Ein und Allen des Kunstwerks gemacht, so verliert es die Kraft, durch die es das Dasein über­steigt, von dem es durch seine bloße Existenz sich lossagt.//56

In der Struktur der Texte selbst lassen sich dafür weitere Argu­mente finden. Die im Darstellungsakt hervorgerufenen Konflikte literarischer Texte besitzen in der Regel eine reiche Facettierungj denn eine Konfliktsituation baut sich erst aus dem 'Zusammen­wirken' mehrerer miteinander widerstreitender 'Aspekte' auf. Die­sen Sachverhalt hat Lesser mit seiner Theorie der maskierten Appelle beschrieben, die insofern einen Konflikt erzeugen, als sie das Superego, das Ego und das Id je für sich selbst 'zu Gehör' brin­gen, was zum wechselseitigen Bestreiten ihrer Geltung führt. -Sieht man einmal von dieser psychoanalytisch formulierten Ziel­richtung der Konflikte ab, so fragt es sich, wie diese durch Dar­stellung überhaupt ausgelöst werden. Dafür mag für den Augen­blick eine Erinnerung an die erzählende Literatur genügen, nicht

5' Theodor W. Adorno, Asthetisme Theorie (Gesammelte Schriften 7), Frankfurt 1970, p. 25.

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zuletzt deshalb, weil sie auch für Lesser das Material zur Exempli­fizierung seiner Thesen bietet. Es charakterisiert erzählende Texte, daß die Textperspektiven - sei es die des Erzählers, die der Figu­ren überhaupt, die des Helden ouer die anderer wichtiger Figuren insbesondere - nicht in Deckung stehen. Dieser Sachverhalt kom­pliziert sich häufig noch dadurch, daß die in der Fabel entrollte Handlung der Figuren nicht deren Selbstverständnis entspricht, sondern diesem oft zuwiderläuft. Damit sind bereits mehrere Orientierungsachsen im Text gegeben, die im Blick auf ihre je­weiligen Oppositionen bzw. mangelnde wechselseitige Deckung Bedingungen für den Aufbau der Konflikte schaffen. Solche Kon­flikte erfährt der Leser, wenn er die Orientierungsachsen aufein­ander projiziert, wodurch sich für ihn Divergenzen bilden. Diese· sind nicht konturlos, da sie als Kehrseite der vom Leser erzeugten überlagerung der Textperspektiven entstehen. Entwickelt sich der Konflikt aus der Anlage der Perspektiven, die gerade durch ihre Divergenz anzeigen, daß sie aufeinander bezogen sind, so ent­wickelt sich die Lösung über die Vorstellung, wie nun die sprach­lich nicht manifestierten Verspannungen der Textperspektiven zu denken seien. Da nur der Leser Vorstellungen zu bilden verI)1ag, wäre es widersinnig, wenn der Text solche Einlösungen nochmals eigens formulierte, es sei denn, die Vorstellungsbildung des Lesers sollte verhindert werden. Nun gibt es Texte, in denen die Vor­stellungstätigkeit herabgestuft wird wie im Thesenroman, in dem die Konfliktlösungen oftmals deklamatorisch formuliert sind. (Doch wo solches geschieht, wird deutlich, daß es hier gar keinen Kon­flikt zu lösen gilt, sondern daß der Konflikt lediglich ein Element persuasiver Rhetorik darstellt, um einer bereits feststehenden Lö­sung zum gewünschten Erfolg zu verhelfen. Daher vermag die Konfliktlösung nur dann eine kathartische Wirkung zu entfalten, wenn der Leser in ihre Ausarbeitung einbezogen ist. Erst die Be­teiligung an der Lösung und nicht die bloße Kontemplation darge­stellter Lösung, wie Lesser und auch Richards meinen, gewährt die Befriedigung des Rezipienten durch das Kunstwerk.

Wenn die Wirkung des Kunstwerks mit Argumenten der 'emo­tive theory' gefaßt wird, dann stellt sich das Verhältnis von Text und Leser als eine relativ eingleisige Beziehung dar. Da der Text

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im Leser nicht nur die 'Turbulenzen' auslöst, sondern diese auch wieder glättet, kann die Wechselwirkung zwischen Text und Leser für eine solche Theorie nicht voll in den Blick kommen. Dennoch ist es unverkennbar, daß sich gewisse Interaktionen vollziehen, deren Analyse allerdings unter der vorentschiedenen Einseitigkeit dieser Wechselbeziehung leiden muß. Das zeigt sich bei Lesser an der Verwendung zweier zentraler Begriffe, durch die er das Text­Leser-Verhältnis begreifen möchte. Der fiktionale Text zeichnet sich durch "overdetermination"S7 aus, die Haltung des Lesers durch "analogizing".s8 Die überbestimmung des fiktionalen Textes besagt: " ... a story may mean different things to different readers, but it also means that any given reader may sense that a story has many different meanings, layer upon layer of significance. To use a term adopted from dream psychology, fiction may be overdetermined; the fiction we regard as great invariably is."s9

Sicher ist es richtig, daß die überbestimmung eines fiktionalen Textes nicht - wie man vermuten könnte - semantische Eindeu­tigkeit erzeugt, im Gegenteil, sie fächert den Text in ein seman­tisches Spektrum auf. Dieses Phänomen ist in moderner Literatur durchgängig zu beobachten, wo eine Präzisierung des Darstellungs­rasters - wie in J oyces Ulysses etwa - zu einer verstärkten Diffe­renzierung der semantischen Ebenen führt. Darin unterscheiden sich fiktionale Texte von alltäglicher Rede; sie sind nicht nur in höherem Maße strukturiert, sondern lassen auch erkennen, daß der zunehmende Strukturierungsgrad als Tendenz der üb erb es timmung zugleich eine Abnahme der Vorhersagbarkeit der einzelnen Rede­teile bewirkt. Steigt in alltäglicher Rede die Redundanz zum Ende hin an, weil die Redeteile immer stärker vorhersehbar werden, so baut die hochstrukturierte Rede Redundanzen ab. Das Schwinden der Vorhersagbarkeit präsentiert sich dann in überbestimmten Tex­ten als Schichtung verschiedener semantischer Ebenen, die unter­einander wiederum vielfältige Beziehungen eingehen können. Ver-

57 Lesser, p. ll3. s. Ibid., p. 203. S9 Ibid., p. ll3.

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steht man Uberbestimmung so, dann ließe sich dieser Begriff der Traumpsychologie für die Charakterisierung fiktionaler Texte übernehmen. Doch gerade deshalb gilt es, einen Sachverhalt zu be­denken, der bei Lesser unthematisch, in jedem Falle aber unberück­sichtigt bleibt.

Wenn der einzelne Leser einem 'überbestimmten Text' jeweils eine andere Bedeutung abgewinnen kann, so entstehen solche Schichten von Bedeutung nicht aus der Uberbestimmung schlecht­hin, sondern aus den proportional ansteigenden Unbestimmtheits­graden. Diese werden von der Uberbestimmung insofern erzeugt, als durch sie mehrere Bedeutungsebenen entstehen, deren Bezie­hung zueinander sich dem Leser als eine Bestimmungsbedürftigkeit mitteilt. Ja, die einzelnen Ebenen werden als solche oft erst durch die Variabilität ihrer Beziehung zueinander faßbar. Daraus folgt, daß ein 'überbestimmter Text' seinen Leser zu einer gesteigerten Kompositionsaktivität veranlaßt, weil das aus der geforderten Zu­ordnung der Ebenen entstandene Sinnpotential strukturiert wer­den muß.

Diese Konsequenz indes scheint Lesser nicht zu ziehen. Denn die 'emotive theory' billigt dem Leser solche weitgehenden Aktivitäten nicht zu; vielmehr sieht sie ihn nur in der Position dessen, der hinnimmt. Daher ist es im Blick auf die Theorie nur folgerichtig, wenn Lesser meint, daß fiktionale Texte im Akt ihrer Aufnahme bestenfalls eine 'Ubergeschichte' im Leser auszulösen vermögen, die von der Wechselbeziehung zwischen Text und Leser nahezu abge­löst ist. "In addition to participating vicariously in the stories in which we become absorbed, we frequently create and imaginatively act out stories structured upon them. We analogize. The stories we spin are, of course, highly elliptical. There is neither time nor need to develop them systematically. Analogizing may involve nothing more than the recognition of a similarity between a fic­ti on al event and something which has happened to us, and a rapid reliving of the experience ... Analogizing ... is so closely akin to

daydreaming.,,60 Die Assoziationen der 'Ubergeschichte' sind also

" Ibid., p. 203; vgl. dazu auch Holland, pp. 87 ff. passim.

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in hohem Grade privatistisch und tendieren dazu, den Leser vom Text zu isolieren, da dieser nur noch als Anstoß für eine oft recht individuelle Selbstbeschäftigung dient. Der Text besäße dann nur noch eine Auslöserfunktion, um den Leser mit sich selbst kurzzu­schließen. Wollte man diesen Sachverhalt im Sinne der Lesserschen Darlegung auf eine Formel bringen, so müßte man sagen: Die überbestimmung des Textes führt zu privatistischer Rezeption.

Selbst wenn man unterstellt, daß jede Rezeption einen hohen Grad subjektiver Prägnanz besitzt, so besagt diese nicht, daß der rezipierte Text in eine privatistische übergeschichte verschwindet. Denn in der Regel bleibt die subjektive Verarbeitung der Inter­subjektivität zugänglich. Der Grund dafür läßt sich jedoch nur dann ausmachen, wenn man das G e s ehe h e n zwischen Text und Leser selbst in den Blick rückt. Dann aber muß man die Zu­ordnung von überbestimmung und übergeschichte anders verste­hen, als Lesser sie begriffen hat. Erzeugt die überbestimmung des fiktionalen Textes wachsende Unbestimmtheitsgrade, so erweisen sich diese als Kommunikationsantriebe dafür, die durch überbe­stimmung von der alltäglichen Welt abgehobene Welt des Textes konstituieren zu müssen. Ein solcher Konstitutionsvorgang ver­läuft nicht privatistisch. Wohl mobilisiert er subjektive Dispositio­nen, doch nicht, um die Leser zum Tagträumen anzustoßen, son­dern um sie zu Bedingungen zu beschäftigen, die im Strukturie­rungsgrad des Textes vorgegeben sind. Erst dadurch gewinnt die überbestimmung des Textes ihren Sinn. Sie ist nicht bloßes Quali­fikationskriterium der Texte, sondern eine Formulierungschance, durch die der Habitus des Lesers aufgebrochen und die so freige­setzte Spontaneität formuliert werden kann.61 Gerade wenn es rich­tig ist, wie Lesser behauptet, daß der literarische Text seinem Leser eine Entlastung vom Druck seiner normalen Erfahrungssitua­tion bringt62, wodurch die Wiederkehr des Verdrängten allererst möglich wird, gilt es, das Zustandekommen eines solchen Gesche­hens analysrerbar zu machen. Erst wenn der Leser im Verlauf der Lektüre den Sinn des Textes nicht ausschließlich zu eigenen Be-

61 Dieser Sachverhalt ist ausgeführt in Kapitel III, B, 4, pp. 253 H. 62 Lesser, p. 39 passim.

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dingungen (analogizing), sondern vielmehr zu fremden hervorbrin­gen muß, wird in ihm etwas formuliert, das eine Schicht seiner Person anß Licht bringt, die bisher seiner Bewußtheit entzogen war. Ein solches Bewußtmachen indes erfolgt durch die Interaktion von Text und Leserj ihrer Analyse gilt daher das vornehmliehe Inter­esse.

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II FUNKTIONS GESCHICHTLICHES TEXTMODELL DER LITERATUR

A Textrepertoire

1. Voraussetzungen

Textmodelle stellen heuristische Entscheidungen dar. Sie sind nicht die Sache selbst, wohl aber verkörpern sie einen Zugang zu ihr. I2~r Text als die Sache ist niemals als solcher, sondern immer nur in einer bestimmten Weise gegeben, die durch das Bezugssystem entsteht, das zu seiner Erfassung gewählt worden ist. Der literari­sche Text ist ein fiktives Gebilde, und damit meint man in der Regel, daß ihm die notwendigen Realitätsprädikate fehlen. Denn literarische Texte erschöpfen sich nicht darin, empirisch gegebene Objektwelten zu denotieren; ja, ihre Darstellungsintention zielt auf das, was nicht gegeben ist. Folglich hat sich in der vergleichen­den Zuordnung von Fiktion und Wirklichkeit ein Begriffspaar her­ausgebildet, das insofern eine heuristische Entscheidung impliziert, als man Fiktion aus dem Blickpunkt der Wirklichkeit als deren polare Entgegensetzung zu bestimmen versuchte. Die Fiktion wurde daher bald als seinsautonomes, bald als seinsheteronomes Gebilde qualifiziert', um den Unterschied zum Gegenstandscharakter der Wirklichkeit formulieren zu können. Die von solchen Versuchen erzeugten Probleme sind bekannt. Sie machen die Frage nach dem Bezugsrahmen unabweisbar, der dem Gegensatzpaar Fiktion und Wirklichkeit die ihm angemessenen Prädikate zuweist. Die vielen in eine solche Richtung verlaufenden Bemühungen ermuntern nicht zur Fortsetzung. Daher soll in der folgenden Diskussion die Er­kenntnisprämisse aufgegeben werden, durch die Fiktion als das

1 So u. a. RomanIngarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 21960, pp. 261 ff. - Nach der Niederschrift dieses Kapitels (1972) fand ich eine sehr verwandte Ansicht zum Fiktionsbegriff in dem Buch von Johannes Anderegg, Fiktion und Kommunikation, Göttingen 1973, pp. 97 u. 154 f. Er bezieht seine Betrachtung der Kommunikationsleistung des "Fiktiv­textes" hauptsächlich auf dessen immanente Strukturierung, so daß der Sachverhalt von ihm in eine andere Richtung entwickelt wird.

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Nicht-Wirkliche bestimmt ist. Damit ist zugleich das ontologische Argument preisgegeben, denn Fiktion als seinsautonom bzw. seins­heteronom zu qualifizieren heißt, Fiktion und Wirklichkeit als ein Seinsverhältnis begreifen zu wollen. Dieses aber erweist sich in der Erörterung eines funktionsgeschichtlichen Textmodells als untaug­lich, da die Leistung der Fiktion auf ihrer Funktion beruht. Das ontologische Argument muß durch ein funktionalistisches ersetzt werden. Fiktion und Wirklichkeit können daher nicht mehr als ein Seinsverhältnis, sondern müssen als ein Mitteilungsverhältnis be­griffen werden. Dadurch löst sich zunächst die polare Entgegenset­zung von Fiktion und Wirklichkeit auf: Statt deren bloßes Gegen­teil zu sein, teilt Fiktion uns etwas über Wirklichkeit mit. Verblaßt die alte Opposition von Fiktion und Wirklichkeit, dann entfällt auch die Schwierigkeit, eine die Oppositionsglieder umfassende Re­ferenz finden zu müssen, aus der die unterschiedlichen Prädikate ableitbar sind. Als Kommunikationsstruktur schließt die Fiktion Wirklichkeit mit einem Subjekt zusammen, das durch die Fiktion mit einer Realität vermittelt wird. Es ist daher auch bezeichnend, daß das Subjekt kaum eine Rolle spielte, in jedem Falle aber nicht mit reflektiert wurde, solange man Fiktion über ihre kontrastive Absetzung von Wirklichkeit zu fassen versuchte. Wenn Fiktion nicht Wirklichkeit ist, so weniger deshalb, weil ihr die notwendigen Realitätsprädikate fehlen, sondern eher deshalb, weil sie Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein kann. Versteht man Fiktion als Kommunikationsstruktur, dann muß im Zuge ihrer Betrachtung die alte an sie gerichtete Frage durch eine andere ersetzt werden: Nicht was sie bedeutet, sondern was sie bewirkt, gilt es nun in den Blick zu rücken. Erst daraus ergibt sich ein Zugang zur Funktion der Fiktion, die sich in der Vermittlung von Subjekt und Wirklich­keit erfüllt.

Aus dieser Sachlage Ii;ißt sich der Untersuchungsgegenstand eines funktionsgeschichtlichen Textmodells gewinnen. Er ist an zwei Schnittpunkten angesiedelt, die zwischen Text und Wirklichkeit sowie zwischen Text und Leser liegen. Sie gilt es beschreibbar zu machen, um zu zeigen, in welchem Maße die Fiktion als Relais zwischen lesendem Subjekt und mitgeteilter Realität wirksam wird.

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Das Interesse gilt daher der pragmatischen Dimension des Textes, wobei unter Pragmatik im Sinne von Morris die Beziehung der Zeichen des Textes auf den Interpretanten gemeint ist. Pragmati­sche Zeichenverwendung hat immer mit Verhalten zu tun, das im Empfänger bewirkt werden soll. "Such terms as 'interpreter', 'inter­pretant', 'convention' (when applied to signs), 'taking-account-of' (when a function of signs) ... are terms of pragmatics, while many strictly semiotical terms such as 'sign', 'language', {truth'{ and {knowledge' have important pragmatical components."2 Damit ist zugleich angedeutet{ daß die Pragmatik als eine Dimension der Zeichen verwendung selbstverständlich nicht von der Syntax - der Beziehung der Zeichen untereinander - und der Semantik - der Beziehung der Zeichen auf Objekte - abstrahieren kann. Im Ge­genteil, die Pragmatik setzt vielfach Syntax und Semantik voraus und impliziert sie in den Beziehungen der Zeichen auf den Inter­pretanten.

2. Das Modell der Sprechakte

Die {Philosophie der normalen Sprache (ordinary language philo­sophy) hat die pragmatische Dimension des Sprachgebrauchs bisher am stärksten thematisiert. Die von ihr entwickelten Vorstellun­gen - obwohl nicht für fiktionale Texte gedacht - können als Ausgangsüberlegungen für einen Zugang zum pragmatischen Charakter fiktionaler Texte dienen. Denn die aus der Philo­sophie der normalen Sprache abgeleitete Sprechakttheorie ver­sucht die Bedingungen zu beschreiben, die das Gelingen der Sprach­handlung gewährleisten. Um solche Bedingungen geht es auch in der Lektüre fiktionaler Texte, die insofern eine Sprachhandlung bewirken, als im Lesen eine Verständigung mit dem Text bzw. über den Text mit dem{ was er zu vermitteln bestrebt ist{ gelingen sollte, aber auch mißlingen kann. Die konstitutiven Bedingungen der Sprechakte aufzusuchen heißt daher{ die Aufmerksamkeit auf

2 Charles Morris{ Writings on the General Theory of Signs (Approa­ches to Semiotics 16), The Hague 1971, p. 46.

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diejenigen Faktoren zu lenken, durch die ein Verhältnis zwischen Text und Leser entsteht. Es gilt folglich, den notwendigen Bestand, der für das Gelingen der Sprachhandlung vorausgesetzt ist, zu fassen und die Akte zu verdeutlichen, durch die mittels Sprache etwas her­vorgebracht wird.

Der von Austin beschriebene und von Searle systematisierte Sprechakt verkörpert eine zentrale Kommunikationseinheit. Searle bemerkte dazu: "The reason for concentrating on the study of speech acts is simply this: all linguistic communication involves linguistic acts. The unit of linguistic communication is not, as has generally been supposed, the symbol, word or sentence, or even the token of the symbol, word or sentence, but rather the produc­tion or issuance of the symbol or word or sentence in the perfor­mance of the speech act. To take the token as a message is to take it as a produced or issued token. More precisely, the production or issuance of a sentence token under certain conditions is a speech act, and speech acts ... are the basic or minimal units of linguistic communication."3 Für den Sprechakt als Kommunikationseinheit ist es entscheidend, daß er sowohl die Organisation der Zeichen als auch den intendierten Empfang der übermittelten Äußerung im Empfänger bedingen muß. Daraus folgt: Sprechakte sind nicht bloße Sätze, sondern sind als sprachliche Äußerungen immer schon situierte Sätze; das heißt, solche, die in Situationen bzw. bestimm­ten Kontexten fallen. Deshalb erhalten die sprachlichen Äußerun­gen ihren Sinn durch ihre Verwendung. So sind Sprechakte Kom­munikationseinheiten der Rede, durch die Sätze in situierte Sätze, also in sprachliche Äußerungen transformiert werden, die ihren Sinn durch den Gebrauch gewinnen.

Wenn das Modell der Sprechakte als Ausgangsbasis für die Dis­kussion des pragmatischen Aspekts fiktionaler Texte dienen soll, so kann das nur heißen, aus diesem Modell heuristische Voraus­setzungen zu gewinnen, durch die sich kommunikative Strukturen fiktionaler Texte in den Blick bringen lassen. Eine dafür maß­gebende Orientierung bildet die Feststellung, daß die Sätze des Sprechakts immer kontextsituiert sind, weshalb der Sprechakt nie-

3 John R. Searle, Speech Acts, Cambridge 1969, p. 16.

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mals mit der bloßen Folge seiner Sätze identisch ist, sondern sich erst über den Situationsbezug sowie über die Voraussetzungen sta­bilisiert, die durch seine Sätze aufgerufen werden. Dieser Sachver­halt ist für eine Betrachtung fiktionaler Texte insofern beachtens­wert, als in der literaturkritischen Analyse die Ausschließlichkeit des Textes noch eine vorherrschende Rolle spielt. Die pragmatische Dimension indes kommt erst dann voll zum Vorschein, wenn man das Augenmerk auf die vielen Kontext~ richtet, die der fiktionale Text in sich hineinzieht, bündelt und parat hält, um sie durch den geschriebenen Text hindurch vermitteln zu können. Daß es sich so verhält, wird niemand leugnen wollen. Klärungsbedürftig bleibt dabei allerdings, warum die vielen außertextuellen Bezugnahmen vom Text selbst wiederum nicht so gemeint sind, wie sie in ihrer textunabhängigen Gegebenheit erscheinen. Doch das wird im ein­zelnen noch zu diskutieren sein. Halten wir für den Augenblick fest, daß der Sprechakt den heuristischen Anhaltspunkt dafür ab­gibt, daß die geschriebenen Sätze fiktionaler Texte als Äußerung ständig den fixierten Text überborden, um den Adressaten in eine Beziehung zu außertextuellen Realitäten zu setZien.

J. 1. Austin unterscheidet zu Beginn seiner posthum erschiene­nen Vorlesungsreihe How to do Things with Words zwei Grund­formen sprachlicher Äußerungen, die er als constative und pertor­mative utterances bezeichnet.4 Während die eine durch Feststellun­gen etwas konstatiert, das nach den Kriterien von wahr und falsch bemessen werden muß, bringt die andere den von ihr gemeinten Sachverhalt erst hervor, für den Gelingen oder Mißlingen mögliche Maßstäbe sind.s Diese Unterscheidung ist insofern wichtig, als sie Sprechakte voneinander zu sondern erlaubt. Die konstatierende Äußerung bezieht sich auf Fakten, über die Aussagen getroffen werden. Nach Austins ursprünglicher Unterscheidung sind solche Äußerungen wahrheitsdefinit und damit situationsunabhängig, so daß ihre Geltung allen pragmatischen Zusammenhängen entzogen

• T. 1. Austin, Haw ta da Things with Wards, ed. T. O. Urmson, Cam­bridge/Mass. 1962, pp. 2-8.

5 Vgl. ibid., pp. 12 f., 16, 25 u. 54.

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bleibt: "With the constative utterance ... we use an over-simpli­fied notion of correspondence with the facts ... We aim at the ideal of what would be right to say in all circumstances, for any pur­pose, to any audience."6 Sollte es diese Idealfälle gelegentlich auch geben, so bildet die konstatierende Äußerung für Austin nicht das Paradigma des Sprechaktes. Dieses zeigt sich vielmehr in der per­formativen Äußerung, die etwas hervorbringt, das erst in dem Augenblick zu existieren beginnt, in dem die Äußerung fällt. Sie qualifiziert sich, wie Austin sagt, durch "doing something ... ra­ther than reporting something"7; sie bewirkt eine Veränderung in­nerhalb der Situation, in der sie sich ereignet. Performative Äuße­rungen gewinnen folglich ihren Sinn erst durch ihre situative Ver­wendung. Sie heißen performativ, weil sie eine Handlung bewir­ken: "The name is derived, of course, from 'perform', the usual verb with the noun 'action': it indicates that the issuing of the utterance is the performing of an action - it is not normally thought of as just saying something."8

Damit eine durch Sprache verursachte Handlung gelingt, müssen folgende Bedingungen erfüllt sein, die zugleich den zentralen Be­stand der Sprechakte bezeichnen. Die Äußerung des Sprechers muß sich auf eine Konvention berufen, die auch für den Empfänger gilt. Die Verwendung der Konvention muß situationsangemessen sein, und das heißt, sie muß von akzeptierten Prozeduren gesteuert werden. Schließlich muß die Bereitschaft der Beteiligten, sich auf eine Sprachhandlung einzulassen, in dem gleichen Maße gegeben sein, in dem die Situation definiert ist, in der sich eine solche Handlung vollzieht.9 Fallen bestimmte Bedingungen aus oder sind die vorhandenen Definitionen zu schwach, so daß Fehlberufungen und Fehlausführungen erfolgen, dann läuft die Äußerung Gefahr, leer zu bleiben und gerade das nicht zu leisten, was sie charakteri­siert: "to effect the transaction."IO

• Ibid., pp. 144 f. 7 Ibid., p. 13. I Ibid., pp. 6 f. 9 Vgl. ibid., pp. 14 f., 23 f., 26 u. 34. I. Ibid., p. 7.

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Nun hat Austin nur die Fehlerquellen der Sprecherseite benannt, die um jene der Empfängerseite ergänzt werden müssen, wenn es gilt, die Bedingungen abzuschätzen, die das Gelingen bzw. das Ver­sagen der Kommunikation bewirken. Dazu hat von Savigny einige ergänzende Bemerkungen beigesteuert. Die Kommunikation kann fehlschlagen, wenn die Äußerung nicht richtig - d. h. im inten­dierten Sinne - aufgenommen wird, wenn sie durch fehlende Um­stände unbestimmt zu werden droht, bzw. wenn sie durch ver­deckte Umstände undeutlich bleibtY Solche Unsicherheiten indes bedeuten keineswegs, daß die Sprachhandlung nur in Ausnahme­fällen gelingt. Denn Mißverstehen, Unbestimmtheit und Undeut­lichkeit lassen sich vom Empfänger durch Rückfragen abbauen, um die der Rede des Sprechers unterliegende Intention soweit abzu­klären, daß die Sprachhandlung am Ende im pragmatischen Kon­text eines aktuellen Handlungszusammenhangs aufgehen kann.

Um einen solchen Erfolg zu gewährleisten, genügt die einfache Unterscheidung zwischen konstatierender und performativer Äuße­rung nicht mehr. Wenn eine performative Äußerung etwas hervor­bringt, dann spielt die Qualität des Aktes dabei eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus erfordern es die zwangsläufig gegebenen Grenzen der accepted procedures -, die eine zentraleVorausset­zung für den Handlungserfolg bilden - innerhalb der performati­ven Äußerung danach zu unterscheiden, welche ihrer Formen im­mer eine Konsequenz hat und welche bei aller Entschiedenheit des von ihr Gemeinten die Auswirkungen nicht vollkommen sicher­stellen kannY Dadurch beginnen sich die von Austin vorgeschla­genen Unterscheidungen erneut zu differenzieren. Er postuliert drei Sprechakte, in denen jeweils verschiedene Formen der Performanz zur Geltung kommen: "We first distinguished a group of things we do in saying something, which together we summed up by saying we perform a locutionary act, which is roughly equivalent to uttering a certain sentence with a certain sense and reference, which again is roughly equivalent to 'meaning' in the traditional

11 Eike von Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt 1969, p. 144.

12 Vgl. Austin, p. 101.

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sense. Second, we said that we also perform illocutionary acts such as informing, ordering, warning, undertaking, etc., i. e. utterances wh ich have a certain (conventional) force. Thirdly, we mayaIso perform perlocutionary acts: what we bring about or achieve by saying something, such as convincing, persuading, deterring, and even, say, surprising or misleading. Here we have three, if not more, different senses or dimensions of the 'use of a sentence' or of 'the use of language' ... All these three kinds of 'actions' are, simply of course as actions, subject to the usual troubles and re­servations about attempt as distinct from achievement, being inten­tional as distinct from being unintentional, and the like.//13

Für die Textpragmatik sind der illokutionäre und der perlokutio­näre Sprechakt von vorherrschendem Interesse. Dort, wo die Äuße­rung die von ihr beabsichtigte Wirkung im Empfänger auch sicher­zustellen vermag und damit eine Konsequenz hervorbringt, hat sie die Qualität eines perlokution ären Aktes: durch das Gesagte ent­steht das Gemeinte. Das aber setzt alle jene Bedingungen und ihre korrekte Befolgung voraus, die Austin als Konventionen und Pro­zeduren beschrieben hat. Dagegen besitzt der illokutionäre Akt nur ein Wirkungspotential (force), dessen Signale lediglich die Art des Zugangs (securing uptake), die Aufmerksamkeit (taking effect) sowie die geforderte Reaktion des Empfängers (inviting responses) mit Sicherheit hervorzubringen vermögen.14 Wie es um die illocu- . tionary force im Sprechakt bestellt ist, vermag der Empfänger in der Regel nur dem situativen Kontext der Äußerung zu entneh­men. Denn erst dieser garantiert das Gewärtigen der vom Sprecher gemeinten Intention, wobei immer vorausgesetzt ist, daß dem Sprecher sowie dem Empfänger das Modell kommunikativen Han­delns (Konventionen und Prozeduren) vorgängig gemeinsam ist und daß ein beharrliches Abweichen davon bzw. dessen unange­messene Anwendung mit Sanktionen belegt wird. Erst wenn der Empfänger durch seine Reaktionen (responses) zu erkennen gibt, daß er die Intention des Sprechers bzw. dessen Auswahl aus dem vorgängig gemeinsamen kommunikativen Modell richtig aufge-

13 Ibid., pp. 108 f. " Ibid., p. 120.

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nommen hat, sind die notwendigen Voraussetzungen für das Ge­lingen einer Sprachhandlung gegeben. E. von Savigny hat daher sicherlich zu Recht Austins Begriff der illocutionary force als illo­kutionäre Rolle übersetzt15, denn die damit gemeinten Sprechakte gelingen in dem Maße, in dem der Empfänger die Rollenintention des Sprechers erkennt und gleichzeitig der damit verbundenen Rol­lenerwartung entspricht.

Die genannte Differenzierung der Sprechakte ist für Austin so fundament~l, daß sie die ursprünglich getroffene Sonderung der sprachlichen Äußerungen in konstatierende und performative zu überlagern beginnt. Der Grund dafür liegt in der vom Sprechakt intendierten Handlungskonsequenz. Diese läßt sich in der Regel nur dann hervorbringen, wenn sie wahre Feststellungen zu ihrer Voraussetzung hat. Daher benötigen der lokutionäre und der per­lokutionäre Akt die konstatierende Äußerung als ihre Basis bzw. als notwendige Implikation für ihren Erfolg. Diese Revision der ursprünglich getroffenen Unterscheidungen führt Austin dann am Ende zu folgendem Ergebnis: "What then finally is left of the distinction of the performative and constative utterance? Really we may say that what we had in mind here was this: a) With the constative utterance, we abstract from the illocutionary ... aspects of the speech act, and we concentrate on the locutionary ... we use an over-simplified notion of correspondence with the facts ... We aim at the ideal of what would be right to say in all circum­stances, for any purpose, to any audience, etc. Perhaps this is some­times realized. b) With the performative utterance, we attend as much as possible to the illocutionary force of the utterance, and abstract from the dimension of correspondence with facts."16 In dieser eingeschränkten Bestimmung bezeichnet die performative Äußerung lediglich einen zentralen Aspekt der Sprachhandlung: die ihr zukommende Qualität des Hervorbringens. Der Akt des Bewirkens kann daher nicht als Korrespondenz zu den Fakten be­griffen werden, ja, es kennzeichnet ihn, daß er von einer solchen Zuordnung abstrahiert.

15 Vgl. von Savigny, pp. 144 u. 158 H. 1. Austin, pp. 144 f.

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Dieser Form des Sprechakts - so scheint es - läßt sich fiktionale Rede ohne weiteres zurechnen. Austin selbst muß eine solche Ähn­lichkeit verspürt haben, da er dort, wo das vom Sprechakt Bewirkte zur Diskussion steht, seine Auffassung durch kontrastive Abset­zung von literarischen Beispielen zu profilieren versucht: " ... a performative utterance will, for example, be in a peculiar way hol­low or void if said by an actor on the stage, or if introduced in a poem, or spoken in soliloquy ... Language in such circumstances is in special ways - intelligibly - used not seriously, but in ways parasitic upon its normal use ... All this we are excluding from consideration. Our performative utterances, felicitous or not, are to be understood as issued in ordinary circumstances."17 Wenn die poetische Äußerung leer bleibt, so deshalb, weil sie nach Austin keine Sprachhandlung zu erzeugen vermag. Sie als parasitär zu be­zeichnen heißt indes, daß sie über den notwendigen Bestand einer performativen Äußerung verfügen muß, diesen aber unangemessen zu verwenden scheint. Also imitiert fiktionale Rede den Sprach­habitus illokutionärer Sprechakte, ohne mit dem Gesagten das Gemeinte hervorzubringen. Bringt sie dadurch aber überhaupt nichts hervor, oder ist alles von ihr Hervorgebrachte nur als Miß­lingen zu qualifizieren?

Wenn Hamlet Ophelia beschimpft, so wäre diese Äußerung im Sinne Austins parasitär, weil der Hamletdarsteller lediglich einen Sprechakt imitiert, der darüber hinaus leer bleibt, weil Hamlet eigentlich Ophelia gar nicht beschimpfen möchte, sondern durch das Gesagte etwas anderes meint. Nun hat aber kein Zuschauer dieses Dramas den Eindruck, daß sich hier lediglich ein parasitärer und folglich leer bleibender Sprechakt ereignet, vielmehr 'zitiert' diese Rede Hamlets für den Zuschauer nahezu den ganzen Kon­text des Dramas, der alles das zu wecken beginnt, was der Zu­schauer über die Welt der Menschen, ihre Beziehungen zueinan­der, die Motive ihres HandeIns sowie die Eigentümlichkeit ihrer Situationen weiß. Eine Rede, die solches hervorzurufen vermag, bleibt dann sicherlich nicht leer, wenngleich sie als Sprachhandlung nicht in einem pragmatischen Handlungszusammenhang aufgeht.

17 Ibid., p. 22.

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Sie bezieht sich daher auch nicht auf den individuellen Kontext, in dem sich die Zuschauer bei einer Hamletaufführung befinden, zu­gleich aber wird dieser situative Kontext überschattet - wenn nicht gar suspendiert - durch das, wozu die Rede Hamlets veranlaßt, und es fragt sich, ob auf diese Weise nicht doch etwas bewirkt wird, das freilich von anderer Art ist als jene Performanz, die Austin im Blick hatte.

Stanley Cavell hat in seiner Durchleuchtung zentraler Prämissen der analytischen Sprachphilosophie deutlich gemacht, daß sich die Verständigung nicht ausschließlich über das explizit Gesagte, son­dern über das damit implizit Gemeinte vollzieht: "Intimate under­standing is understanding which is implicit ... Sinee saying some­thing is never merely saying something, but is saying something with a eertain tune and at a proper eue and while exeeuting the appropriate business, the sounded utteranee is only a salienee of what is going on when we talk.,,18 Verhielte es sich nicht so, und das heißt, wären alle Sprachnandlungen explizit, dann gäbe es für die Kommunikation lediglich akustische Fehlschläge. Da das Ge­meinte niemals vollständig in das Gesagte zu übersetzen ist, ent­stehen in der sprachlichen Äußerung zwangsläufig Implikationen. Diese sind als das Nicht-Gesagte die zentrale Bedingung dafür, daß der Empfänger das Gemeinte zu produzieren vermag. Somit bilden die 'Aussparungen' der Rede das zentrale Konstituens der Kom­munikation. Dialogische Interaktion braucht einen solchen Unbe­stimmtheitsbetrag, um überhaupt in Gang zu kommen, denn die gelungene Sprachhandlung vollzieht sich als der Abbau dieser un­bestimmten Elemente in der kommunikativen Sprachverwendung. Deshalb ist die Sprechakttheorie auch bemüht, solche Elemente durch Konventionen, Prozeduren und Regeln zu kontrollier'en, um das Gelingen der intendierten Sprachhandlung sicherzustellen. Doch auch sie kann diese Unbestimmtheit als Antrieb dialogischer Inter­aktion nicht beseitigenj denn es gäbe keine kommunikative Sprach­handlung, wenn der Ermöglichungsgrund der Kommunikation be­reits vorgängig fixiert wäre. Dieser Sachverhalt ist bei Austin inso-

18 Stanley Cavell, Must we Mean what we Sayi New York 1969, pp. 12 u. 321.

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weit anerkannt, als die entscheidende Deckung der sprachlichen Äußerung in der Aufrichtigkeit des Gesagten ruht. " . .. our ward is our bond"19 lautet sein Pauschalkriterium für das Gelingen der vom Sprecher beabsichtigten Sprachhandlung.20 Eine solche Garantie macht zweierlei deutlich: l. Die von der Äußerung mitgeführten Implikationen verkörpern die produktiven Bedingungen des Ver­stehens; also ist das Verstehen selbst ein produktiver Vorgang. 2. Die von der Äußerung intendierte Eindeutigke.it ist gerade an­gesichts ihrer Implikationen durch Sprache allein nicht mehr zu­reichend zu garantieren; für das Gesagte einzustehen heißt aber letztlich, die Äußerung an moralische Folgeverpflichtungen zu binden.

Nun teilt die fiktionale Rede den Sprachhabitus des illokutionä­ren Aktes, unterscheidet sich allerdings von ihm durch ihre anders­artige Funktion. Der für das Gelingen der Sprachhandlungnot­wendige Abbau von Unbestimmtheitsbeträgen ist in handlungs­pragmatischer Sprachverwendung durch Konventionen, Prozeduren, Situationsangemessenheiten und Aufrichtigkeitsgarantien geregelt. Sie bilden die Referenz dafür, daß Sprache in einem Handlungszu­sammenhang aufzugehen vermag. Der für das Verstehen eines fik­tionalen Textes notwendige Abbau von Unbestimmtheit erfolgt nicht über solche vorgegebenen Referenzen. Vielmehr muß der den Elementen des Textes unterliegende Code erst entdeckt werden, der als Referenz den Sinn des Textes verkörpert. Ihn zu konstitu­ieren, ist insofern eine Sprachhandlung, als durch sie die Verstän­digung mit dem Text geschieht.

Konnten Austin und Searle21 die fiktionale Rede aus ihrem Mo­dell nur dadurch ausklammern, daß sie diese in handlungspragma­tischer Absicht als leer qualifizierten, so ist es unter Berufung auf die von ihnen vertretene Position, daß Sprache ihre Funktion und daher ihren Sinn durch ihre Verwendung gewinnt, nur legitim, fik­tionale und handlungsbezogene Rede durch ihren Verwendungs­sinn voneinander abzuheben. Folglich müßte fiktionale Rede we-

19 Austin, p. 10. 20 Zur Funktion der sincerity rule vgl. auch Searle, pp. 63 u. 66 f. 21 Vgl. Austin, p. 2.2 u. Searle, pp. 78 f.

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niger unter normativen, sondern eher unter funktionalen Ge­sichtspunkten betrachtet werden. Die Tatsache, daß fiktionale Sprachverwendung nicht im gegebenen Kontext eines aktuellen Handlungszusammenhanges aufgeht, kann noch nicht bedeuten, daß sie nichts bewirkt. Gewiß, ihr 'Gelingen' ist ungleich bedroh­ter als das einer explizit performativen Äußerung, und das von ihr Bewirkte läßt sich vielleicht auch nicht als Handlung im strengen Sinne qualifizieren. Doch selbst wenn man diese Umstände als ausreichend erachten würde, um sie als leer zu qualifizieren, so ver­schwindet damit noch nicht die ihr eigene pragmatische Dimension. Leer heißt für Austin, daß sich fiktionale Rede nicht auf Konven­tionen und akzeptierte Prozeduren berufen kannj ferner gibt es für sie keinen situativen Kontext, der die Bedeutung des Gesagten zu stabilisieren vermöchte. Also fehlen ihr die zentralen Bestandteile der Rede, die für den Handlungserfolg vorausgesetzt werden müs­sen. Doch das ist nur in einem sehr eingeschränkten Sinne richtig. Bereits die Qualifikation fiktionaler Rede als parasitär zeigt an, daß sie über Bestände der handlungsbewirkenden Sprechakte ver­fügt, ja diese offenbar zu 'kopieren' scheint und lediglich in ihrer Verwendung die Unangemessenheit nicht länger verbergen kann. Nun ist fiktionale Rede nicht konventionslos, nur organisiert sie Konventionen anders, als dies für die regelorientierten Sprechakte der performativen Äußerung gilt. Diese scheitert, wenn die exakte Befolgung der Konventionen ausbleibt. Austin verdeutlicht diesen Sachverhalt durch die folgende Frage: "When the saint baptized the penguins, was this void because the procedure of baptizing is inappropriate to be applied to penguins, or because there is no accepted procedure of baptizing anything except humans?"22 Da­mit wird zugleich sichtbar, was Austin und mit ihm die Sprechakt­theorie überhaupt unter Konvention und akzeptierten Prozeduren verstehen. Deren Stabilität, und das heißt ihr Akzeptiertsein, ist durch eine vertikale Struktur bedingt. Was vorher galt, gilt auch jetztj was bisher die Handlungen regulierte, wird jetzt angerufen. In den Sprechakten geschieht folglich nicht eine Berufung auf Kon­vention überhaupt, sondern auf deren Geltung. Die Geltung der

22 Austin, p. 24.

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Konvention hat eine vertikale Struktur; sie zieht ihre Funktion daraus, daß sie immer schon gegolten hat. Diese Form der Geltung. wird in fiktionaler Rede problematisiert; nicht etwa, weil sie kon­ventionslos wäre, denn dann hätte sie gar keine Beziehung mehr zur Konvention, sondern weil sie die vertikal stabilisierte Geltung von Konvention durchbricht und diese horizontal zu organisieren beginnt. Das heißt, fiktionale Rede selektiert aus den verschieden­sten Konventionsbeständen, die sich in der historischen Lebens­welt vorfinden. Sie stellt diese so zueinander, als ob sie zusammen­gehörten. Deshalb erkennen wir in fiktionaler Rede auch so viele Konventionen wieder, die in unserer bzw. anderen sozialen und kulturellen Umwelten eine regulierende Funktion ausüben; ihre horizontale Organisation bewirkt es allerdings, daß sie nun in un­vermuteten Kombinationen auftauchen und dadurch die Stabilität ihrer Geltung verlieren. Folglich erscheinen die Konventionsbe­stände als sie selbst, weil sie von ihrem lebensweltlichen Funk­tionszusammenhang abgelöst sind. Sie hören auf, Regulative zu sein, da sie selbst thematisch werden. Damit aber beginnt fiktio­nale Rede etwas zu bewirken. Durch ihre Selektion aus unter­schiedlichen Konventionen entpragmatisiert sie die gewählten Kon­ventionsbestände, so daß sich behaupten ließe: Ein solches Ent­pragmatisieren ist ihre pragmatische Dimension. Eine vertikal or­ganisierte Konvention rufen wir an, wenn wir handeln wollen; eine horizontal organisierte Kombination verschiedener Konven­tionsbestände erlaubt uns zu sehen, wovon wir im einzelnen je­weils gelenkt sind, wenn wir handeln.

Für den Rezipienten fiktionaler Texte ergibt sich daraus die Not­wendigkeit, die Bedingungen der Selektion von unterschiedlichen Konventionsbeständen zu entdecken. In der kommunikativen Sprachverwendung bildet die Seiektion das kontingente Element, dessen Abbau insoweit eine performative Sprachhandlung darstellt, als es die in der Selektion wirksame Referenz für die verschieden­sten Konventionsbestände hervorzubringen gilt. Zu diesem Zwecke besitzt die fiktionale Rede ein Lenkungspotential, das sich als die Strategie der Texte bezeichnen ließe. Solche Strategien entsprechen insoweit den accepted procedures der Sprechakte, als sie Orientie­rungen bereitstellen, die ein Erfassen des Grundes ermöglichen,

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dem die Selektion der Konventionsbestände entsprungen ist. Sie unterscheiden sich allerdings von den accepted procedures darin, daß sie stabilisierte Erwartungen oder gar solche, die sie selbst im einzelnen stabilisieren, durch ihren kombinierten Einsatz wieder durchbrechen. Halten wir als Zwischenüberlegung fest: fiktionale Rede verfügt über die zentralen Bestände des iIlokutionären Sprech­aktes. Sie beruft sich auf Konventionen, die von ihr mitgeführt werden; sie besitzt Prozeduren, die als Strategien die Konstitutions­bedingungen des Textes für den Rezipienten vorzeichnen, und sie hat die Qualität der Performanz, da es die Referenz unterschied­licher Konventionsbestände als den Sinn des Textes hervorzubrin­gen gilt. Aus der horizontalen Organisation unterschiedlicher Kon­ventionsbestände und aus der von den Strategien bewirkten Er­wartungsdurchbrechung gewinnt der fiktionale Text seine illocutio­nary force, die als Wirkungspotential die Aufmerksamkeit weckt, die Art des Zugangs lenkt und den Rezipienten zum Reagieren ver­anlaßt.

3. Die Situations bildung fiktionaler Texte

Mit der genannten Charakteristik indes scheint die fiktionale Rede noch nicht alle für den illokutionären Sprechakt geltenden Voraus­setzungen zu erfüllen. Sprachliche Äußerungen fallen immer in einer Situation. Sie sind daher ebenso Reaktionen auf situative Gegebenheiten, wie sie ihrerseits von solchen verursacht werden. Dieser Situationsrahmen bewirkt und konditioniert die Äußerung zugleich. So ist das, was wir sagen und wie wir es sagen, von dem Situationsbezug gesteuert, in dem sich die Rede ereignet. Situations­lose Rede ist' für den normalen Sprachgebrauch schwer vorstellbar; sie wird bestenfalls als Störung registriert und damit wiederum einem angenommenen Situationsbezug zugeordnet. Dieser allge­meine Sachverhalt nuanciert sich noch einmal dadurch, daß die von einem Situationsrahmen bedingte Äußerung sich in der Regel an einen Adressaten richtet. Durch diesen Bezug werden die Va­riablen aktualisiert, die der Situationsrahmen offengelassen hat. Das Bestreben, einen Adressaten durch iIlokutionäre bzw. per-

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lokutionäre Akte zu erreichen, schlägt sich in der Wortwahl, der Syntax, der Intonation sowie vielen anderen Sprachzeichen nieder und dann noch einmal in der Referenz, der Proposition und der Prädikation, aus denen sich die Äußerung aufbaut. So bildet die Situation mit ihren Begleitumständen einen stark definierten Kon­text, durch den Sätze nicht nur in Äußerungen verwandelt werden, sondern als Äußerungen ein dialogisches Verhältnis konstituieren, das die Voraussetzung für eine Kommunikation zwischen Sprecher und Empfänger bildet. Die Sprechakttheorie hat deutlich gemacht, in welchem Maße erst der Kontext Aufschluß über die von der Äußerung gemeinte Bedeutung gibt, ja, inwieweit erst der situative Kontext die Bedeutung des Gemeinten zu stabilisieren vermag.

Die fiktionale Rede, vor allem die der literarischen Prosa, gleicht in ihrer verbalen Struktur der gebrauchssprachlichen Verwendung von Rede oftmals so genau, daß eine Unterscheidung schwerfällt. Folglich wurde sie von Austin und Searle als parasitär qualifiziert. Auch Ingarden empfand diese Ähnlichkeit als ein intrigierendes Problem. Es drängte sich ihm an einer zentralen Stelle' seines Schichtenmodells auf, dort nämlich, wo er die Satzkorrelate in lite­rarischen Werken zu bestimmen versucht. Die Sätze bilden für In­garden die entscheidende Operation im Entwerfen literarischer Ge­genständlichkeiten. Nun aber gleichen die Sätze des Kunstwerks dem Sprachhabitus jener Sätze so genau, die bei der Beschreibung realer Gegenstände bzw. der Konstitution idealer Gegenstände je­weils ganz andere Funktionen zu erfüllen haben. Literarische Ge­genständlichkeit ist für Ingarden eine intentional entworfene, die ihren Gegenstandscharakter dadurch gewinnt, daß sie dem Bewußt­sein eines Empfängers zur Vorstellung und damit zur Erfassung angeboten wird. Wie aber soll der gleiche Sprachhabitus der Sätze ein von Beschreibung und Konstitution unterschiedenes Entwerfen literarischer Gegenständlichkeit leisten? Ingarden nannte daher die Sätze literarischer Texte kurzerhand Quasi-Urteile, womit er die verschiedene Verwendungsfunktion von Sätzen angesichts ihrer sprachlichen Gleichheit bezeichnen wollte.23 Kein Wunder, daß man sich an dieser Kennzeichnung festgebissen hat, wie es die

21 Vgl. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, pp. 169 H.

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Auseinandersetzung um den Begriff des Quasi-Urteils zeigt.24 Die Sätze eines literarischen Kunstwerks Quasi-Urteile zu nennen, soll anzeigen, daß sie den Sprachhabitus von Urteilssätzen haben, ohne jedoch solche zu sein. Denn ihnen fehlt "die Verankerung der In­tentionen der Sinngehalte in der betreffenden Realität"2S, und d. h., sie haben keinen Kontext in dem besprochenen Sinne. In welchem Maße Ingarden hier das eigentliche Problem zur Kennzeichnung des literarischen Kunstwerks sah, läßt sich der folgenden Feststel­lung entnehmen: "Diese große mysteriöse Leistung des literarischen Kunstwerkes hat ihre Quelle in erster Linie in dem eigentüm­lichen, von uns gewiß nic..~t erschöpfend erforschten, quasi urteils­mäßigen Charakter der Behauptungssätze."26

Da der Behauptung der reale Situationskontext mit seinen Be­gleitumständen fehlt, wirkt diese so, als ob sie sich von dem frei gemacht hätte, wovon sie bedingt und wodurch sie verursacht wor­den ist; ja, es scheint, daß mit diesem abgeschnittenen Kontext auch die Bedeutung verlorenzugehen droht, die eigentlich durch die Behauptung angezeigt werden sollte. Mysteriös ist dann vor allem der Eindruck, daß eine solche Rede, die all das verloren hat, was den Sinn gebrauchssprachlicher Verwendung von Rede bewirkt, nicht als Unsinn erscheint.

Die von Ingarden, Austin und Searle getroffenen Feststellungen über fiktionale Rede haben eines gemeinsam: Sie qualifizieren ih­ren Sprachhabitus nicht als Deviation von der gebrauchssprach­lichen Verwendung der Rede, sondern als deren Imitation. Damit entgehen sie zwar dem Problem, die Sprache der Literatur aus der Entgegensetzung von Norm und Normverletzung erklären zu müs­sen. Zugleich aber entzieht sich der Charakter dieser Sprachver­wendung dem Zugriff, wenn er bald als parasitär, bald als myste­riös bezeichnet wird. Eine Sprachverwendung, die den umgangs­sprachlichen Gebrauch nur simuliert, müßte vergleichsweise ähn­liche Konsequenzen hervorbringen, die dann allerdings weder pa-

24 Vgl. dazu u. a. Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 21968, pp. 25 H.

25 Ingarden, Das literarische Kunstwerk, pp. 181 f. 2. Ibid., p. 182.

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rasitär noch mysteriös sein dürften. In dem einen Falle fällt die Simulation hinter das Simulierte zurück, in dem anderen übersteigt sie dieses. Wenn fiktionale Rede beides vermag - und dieses soll für den Augenblick nicht bestritten werden - dann reicht zu ihrer Charakterisierung die Imitation normaler Sprachverwendung eben­sowenig aus wie ihre Kennzeichnung als Quasi-Urteilssätze.

Die Gemeinsamkeit des Sprachhabitus von fiktionaler und ge­brauchs sprachlicher Rede findet an einem entscheidenden Punkt ihre Grenze. Der fiktionalen Rede fehlt der Situationsbezug, dessen hohe Definiertheit im Sprechaktmodell vorausgesetzt ist, wenn die Sprachhandlung gelingen soll. Dieser offensichtliche Mangel indes muß nicht zwangsläufig das Scheitern fiktionaler Rede beinhalten. Er kann vielmehr zum Ansatz einer Verwendungsdifferenzierung werden, durch die sich die Eigentümlichkeit fiktionaler Rede näher fassen läßt.

Ernst Cassirer schrieb in seiner Philosophie der symbolischen Formen, "daß die charakteristische 'Einstellung' des Begriffs ... darin besteht, daß er, im Unterschied von der direkten Wahrneh­mung, sein Objekt in die Ferne, in eine Art ideeller Distanz rücken muß, um es überhaupt in seinen Blickpunkt zu bringen. Er muß die 'Präsenz' aufheben, um zur 'Repräsentation' zu gelangen.'l27 Der Begriff als Fall der Symbolverwendung ermöglicht Erkenntnis durch die übersetzung des Gegebenen in das, was es nicht ist. Un­vermittelte Wahrnehmung gibt es ebensowenig wie unvermittelte Erkenntnis. Vielmehr bedarf es stets einer Spur des Nicht-Gegebe­nen am Gegebenen, damit dieses - unter welcher Optik auch im­mer - erfaßt werden kann. Die Symbole sind diese Spur des Nicht­Gegebenen, ohne die es für uns keinen Zugang zu empirischen Da­ten geben würde. "Der Inbegriff des Sichtbaren erforderte, um sich als Ganzes, als Totalität eines anschaulichen Kosmos konstituieren zu können, bestimmte Grundformen der 'Sicht' - die, wenn sie sich an den sichtbaren Gegenständen auf w eis e n ließen, doch in keiner Weise mit ihnen ver w e eh seI t werden, die nicht

'"/ Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen IlI, Darmstadt '1964, pp. 358 f.

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selbst als sichtbare 0 b j e k t e genommen werden durften. Ohne die Beziehungen der Einheit und Andersheit, der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, der Gleichheit oder Verschiedenheit kann die Welt der Anschauung keine feste Gestalt gewinnen: aber eben diese Be­ziehungen selbst gehören hierbei nur insofern zum Bestand dieser Welt, als sie die B e d i n gun gen für ihn, nicht aber einen Te i I von ihm ausmachen."28 Symbole also werden gerade dadurch zu Konstitutionsbedingungen für das Erfassen gegebener Welt, daß sie weder die Eigenschaften noch Merkmale des Gegebenen verkör­pern, da erst durch diese Andersheit die empirische Welt verfügbar gemacht werden kann. Die Erfassung ist keine Eigenschaft, die den Dingen selbst zukäme. Folglich schafft erst die Umsetzung der Welt in das, was sie nicht ist, die Voraussetzung ihrer Anschau­ung bzw. ihrer Erfassung. Wenn daher Symbole als Ermöglichung von 'Sicht' zunächst vom Sichtbaren unabhängig sind, dann muß es im Prinzip auch möglich sein, durch Symbolorganisationen Vor­stellungen zu erzeugen, die eine Vergegenwärtigung von Nicht­Gegebenem bzw. Abwesendem bewirken.

Die fiktionale Rede ist eine solche Symbolorganisation, der im Sinne Ingardens die Verankerung in der Realität, im Sinne Austins die in einem Situationskontext fehlt. Folglich kann sich die von ihrer Symbolorganisation geleistete 'Repräsentation' nicht auf die Vorgegebenheit empirischer Objekte beziehen. Als Organisation von Symbolen indes besitzt sie eine repräsentierende Funktion. Wenn sich diese nun nicht auf die Präsenz eines Gegebenen be­ziehen läßt, dann kann sie sich nur auf die Rede selbst beziehen. Fiktionale Rede wäre demnach autoreflexiv und ließe sich als Re­präsentation von sprachlicher Äußerung bezeichnen, denn mit die­ser hat sie die Symbolverwendung, jedoch nicht den empirischen Objektbezug gemeinsam. Wenn sie aber Repräsentation von sprach­licher Äußerung ist, so vermag sie das zur Darstellung zu bringen, was sprachliche Äußerung ist bzw. leistet. Das heißt zum einen, sie repräsentiert durch ihre Symbolorganisation den Erfassungsakt sprachlicher Äußerung, und da dieser in fiktionaler Rede nicht einer identifizierbaren empirischen Gegebenheit gilt, zeigt ihre

2. Ibid., pp. 350 f.

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sprachliche Struktur an, wie das zu produzieren ist, was sie ver­meint. Es heißt zum anderen, sie repräsentiert einen illokutionä­ren Sprechakt, der allerdings nicht mit einem gegebenen Situations­kontext rechnen kann und folglich alle die Anweisungen mit sich führen muß, die für den Empfänger der Äußerung die Herstellung eines solchen situativen Kontexts erlauben. Wenn man fiktionale Rede im Sinne der von Cassirer gebrauchten Terminologie als Re­präsentation von Sprache versteht, dann repräsentiert die Symbol­organisation des fiktionalen Textes die Leistung der Symbolver­wendung: sie besteht in der Produktion dessen, was durch das Ge­sagte vermeint ist. Der autoreflexive Charakter fiktionaler Rede stellt daher Auffassungsbedingungen für die Vorstellung bereit, die dann einen imaginären Gegenstand zu erzeugen vermag. Imaginär ist dieser Gegenstand insofern, als er nicht gegeben ist, sondern in der Vorstellung des Empfängers durch die Symbolorganisation des Textes hervorgebracht werden kann.

Dieser Sachverhalt läßt sich durch Argumente stützen, die in der semiotischen Diskussion entwickelt worden sind. Bekanntlich hat Morris die Zeichenverwendung in Literatur und Kunst als Ikone bzw. ikonische Zeichen qualifiziert, um damit die Selbstbezüglich­keit dieser Zeichen herauszuheben. Selbstbezüglichkeit aber kann nicht Selbstgenügsamkeit bedeuten, denn dann wäre gerade der Zugang zu Kunst und Literatur versperrt. Morris selbst schlug da­her vor, die Ikone als eine Totalrepräsentation des bezeichneten Gegenstandes zu verstehen, und das heißt, ikonische Zeichen de­notieren nicht mehr, da sie selbst das Bezeichnete sind.29 Eine solche Definition mag für die darstellenden Künste noch plausibel klingen, für die Literatur indes bietet sie erhebliche Schwierigkeiten. Diese lassen sich erst dann beseitigen, wenn man die von Morris gegebene Definition der Ikone durch die von Eco entwickelte Auf­fassung ersetzt, die weitgehend auf der Linie der vorangegangenen

29 Vgl. da2:u Charles Morris, "Esthetics and the Theory of Signs", in Journal oi Unifled Science 8 (1939), pp. 131-150 sowie die da2:u ange­merkten Korrekturen in Charles Morris, Signiflcation and Signiflcance, Cambridge/Mass. 1964, pp. 68 ff.; ferner Charles Morris, Signs, Language and Behavior, New York 1955, pp. 190 ff.

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Argumentation liegt. "Das ikonisdle ZeidIen konstruiert also ein Modell von Beziehungen . .. das dem Modell der Wahrnehmungs­beziehungen homolog ist, das wir beim Erkennen und Erinnern des Gegenstandes konstruieren. Wenn das ikonische Zeichen mit ir­gendetwas Eigenschaften gemeinsam hat, dann nicht mit dem Ge­genstand, sondern mit dem Wahrnehmungsmodell des Gegenstan­des. Es ist konstruierbar und erkennbar auf Grund derselben gei­stigen Operationen, die wir vollziehen, um das Perzept zu konstru­ieren, unabhängig von der Materie, in der sich diese Beziehungen verwirklichen.JJ30 In diesem Sinne läßt sich die von fiktionaler Rede geleistete Repräsentation um einen weiteren Schritt präzisie­ren. Wenn ikonische Zeichen überhaupt etwas 'abbilden', dann sicherlich nicht Eigenschaften des dargestellten Gegenstandes, da dieser durch sie erst entworfen wird. Vielmehr bilden sie Vor­stellungs- und Wahrnehmungsbedingungen ab, damit das von den Zeichen vermeinte Objekt konstituiert werden kann. Unterstellt man die Angemessenheit der von Eco entwickelten Auffassung über ikonische Zeichenverwendung, dann erlaubt die Zeichen­organisation fiktionaler Texte Aufschlüsse darüber, in welcher Form Vorstellungs- und Wahrnehmungsdispositionen des poten­tiellen Empfängers beansprucht werden. Die ikonischen Zeichen fiktionaler Texte verkörpern daher eine Organisation von Signifi­kanten, die weniger der Bezeichnung von Signifikaten dienen, sondern vielmehr Instruktionen für das Produzieren von Signifi­katen darstellen.

Wenn beispielsweise in Fieldings Tom Tones Allworthy zu Be­ginn als der vollkommene Mensch schlechthin eingeführt und mit einem Heuchler, dem Captain Blifil, konfrontiert wird, auf dessen vorgespiegelte Religiosität er hereinfällt, dann dienen die Signifi­kanten nicht mehr ausschließlich dazu, Vollkommenheit zu deno­tieren. Vielmehr sind sie Instruktionen für den Leser, ein Signifikat zu bilden, das nicht eine Eigenschaft der Vollkommenheit, sondern gerade einen entscheidenden Mangel dieser Vollkommenheit dar­stellt: nämlich das Allworthy fehlende Unterscheidungsvermögen.

'0 Umberto Eeo, Einführung.in die Semiotik (UTB 105), München 1972, p. 213.

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Folglich bezeichnen die Signifikanten nicht die von ihnen deno­tierte Vollkommenheit, sondern Vorstellungsbedingungen, zu de­nen diese Vollkommenheit gewärtigt werden soll. Dabei zeigt sich eine Eigentümlichkeit ikonischer Zeichenverwendung. Ikonische Zeichen erfüllen ihre Funktion in dem Maße, in dem der Charak­ter der Zeichen, bloße Objektmitteilung zu sein, abgeschwächt, ja, negiert wird, wie es dem angezogenen Beispiel zu entnehmen ist. Denn es gilt nun, in der Vorstellung etwas zu vergegenwärtigen, das die Zeichen im Blick auf das, was sie denotieren, gerade aus­gespart haben. Wird die Anweisung ikonischer Zeichen befolgt, durch welche Bedingungen der Vorstellbarkeit bezeichnet sind, dann ergeben sich daraus bestimmte Konsequenzen für den Leser. In der Dimension des Beispiels gesprochen, ·würde dies besagen: Die mangelnde Urteilsfähigkeit des vollkommenen Menschen bewirkt eine Umcodierung dessen, was unter Vollkommenheit zu verste­hen sei. Denn das vom Leser gebildete Signifikat wird seinerseits zu einem Signifikanten, der Erfahrungswerte von Vollkommenheit im Leser aufruft, die angesichts der signifikanten Einschränkung (mangelnde Urteilsfähigkeit des vollkommenen Menschen) zum Bewußtsein gebracht und gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Durch solche von den Zeichen des Textes gelenkten Transforma­tionen produziert der Leser den imaginären Gegenstand. Damit ist zugleich gesagt, daß für den fiktionalen Text das Subjekt eine un­umstößliche Notwendigkeit bildet. Denn der Text ist in seiner materiellen Gegebenheit bloße Virtualität, die nur im Subjekt ihre Aktualität finden kann. Daraus ergibt sich für den fiktionalen Text, daß dieser vorrangig als Kommunikation, und für das Le­sen, daß dieses primär als ein dialogisches Verhältnis zu sehen ist.

Kommunikation und Dialog scheinen nun von der ständigen Gefahr des Mißlingens umlagert zu sein. Zwar führt der fiktionale Text Konventionsbestände mit sich, die ein gewisses Maß an vor­gängiger Gemeinsamkeit zwischen Text und Leser verkörpern. In­des, die Organisation der Konventionsbestände ist so gehalten, daß durch sie die bekannte Geltung weitgehend gelöscht ist. Denn ein fiktionaler Text bildet nicht die in der Lebenswelt herrschenden Normen- und Orientierungs systeme ab, vielmehr selektiert er nur aus ihren Beständen und erweist sich durch die Anordnung ge-

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wählter Elemente gegenüber solchen Systemen als kontingent. Ähnliche Kontingenzbeträge ergeben sich zwischen Text und Leser. So wenig der Text eine homologe Entsprechung zur Realität dar­stellt, so wenig steht er, in homologer Beziehung zum Wert- und Dispositionsrepertoire seiner möglichen Leser.

Doch gerade solche Kontingenzbeträge bringen die Interaktion zwi­schen Text und Leser in Gang. Denn Kommunikation und Dia­log leben vom Abbau der Kontingenz; sie sind Sozialisierungsfor­men von Unvorhersagbarkeit. Das zu betonen, ist deshalb notwen­dig, weil das Gelingen von Kommunikation oftmals so beschrieben wird, als ob es sich dabei nur um eingeübte Vorgänge handeln könnte, die immer über hoch definierte kulturelle und soziale Codes ablaufen müßten. Ein Problem bietet sich allerdings bei der Beziehung von Text und Leser: die zum Abbau der Kontingenz notwendige Definiertheit einer gemeinsamen Situation ist hier nicht vorgegeben. Von der Sprechakttheorie wissen wir, daß gerade die Situationsangemessenheit der Rede über ihren Erfolg entschei­det. Streng genommen ist der fiktionale Text situationslos ; er 'spricht' bestenfalls in leere Situationen hinein, und streng genom­men befindet sich der Leser während der Lektüre in einer unver­trauten Situation, da die Geltung des Vertrauten als suspendiert erscheint. Diese Leere indes wird im Dialogverhältnis von Text und Leser als Antriebsenergie wirksam, nun die Bedingungen der Verständigung zu erzeugen, damit sich ein Situationsrahmen her­auszubilden vermag, über den Text und Leser zur Konvergenz ge­langen. Was der gebrauchssprachlichen Verwendung der Rede vor­gegeben sein muß, gilt es hier erst zu erstellen; das mag den Nach­teil haben, daß es nicht zu einer Verständigung kommt, das kann den Vorteil haben, daß sich der Leser mit dem Text über mehr als nur eine pragmatische Sprachhandlung verständigt. In jedem Falle aber wird der zwischen Text und Leser entstehende Situationstyp von anderer Art sein als jener etwa, den die Sprechakttheorie als das hohe Definiertsein der Begleitumstände von Sprachhandlung voraussetzt.

Diese Eigenart läßt sich durch eine Bemerkung Lotmans über den Charakter literarischer Texte einkreisen: "Neben der Fähigkeit, eine enorme Informationsmenge auf dem 'Raum' eines kurzen

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Textes zu konzentrieren ... hat ein literarischer Text ... noch eine weitere Besonderheit: er gibt an verschiedene Leser jeweils verschiedene Informationen ab - jedem nach Maßgabe seines Ver­ständnisses; und er liefert dem Leser noch dazu auch die Sprache, mit deren Hilfe dieser sich bei einem weiteren Durchlesen die nächste Portion an Daten aneignen kann. Der literarische Text ver­hält sich wie eine Art lebender Organismus, der mit dem Leser durch eine Rückkopplung verbunden ist und ihm Unterricht er­teilt."3! Die Rede vom Text als eines lebendigen Organismus, der mit seinem Leser verbunden ist, legt den Schluß nahe, sich das Ver­hältnis von Text und Leser nach dem Modell selbstgesteuerter Systeme vorzustellen. Der Text verkörperte demnach ein Inventar von impulssetzenden Zeichen (Signifikanten), die der Leser emp­fängt. Zugleich aber geschieht im Lektüreprozeß eine ständige Rückmeldung von 'Information' über erzielte Wirkung, wodurch der Leser seine Vorstellungen in den Wirkungsvorgang eingibt. Das läßt sich schon dem vorhin angezogenen Fielding-Beispiel entneh­men. Kaum. ist Allworthy mit Captain Blifil zusammengetroffen, wird er von diesem getäuscht. Da er sich aber täuschen läßt, erfolgt eine Rückmeldung dieser Information in den Text. Sie lautet: Der sprachlich denotierten Vollkommenheit fehlen entscheidende At­tribute, um 'wirklich' vollkommen zu sein. Ein solcher feed-back steuert die Unvorhersagbarkeit aus, die sich aus der Denotation der Sprachzeichen ergeben hatte. Wenn diese durch den Namen All­worthy, seine Eigenschaften und seinen Wohnsitz in Paradise Hall Vollkommenheit denotieren, dann ist seine partielle Unvollkom­menheit zunächst unvorhersehbar. Sie durch Rückmeldung auszu­steuern, heißt zweierlei: 1. ein Signifikat zu bilden, das die Signi­fikanten gerade nicht denotiert haben, um 2. damit eine Rahmen­bedingung der Verständigung zu schaffen, die es erlaubt, die Be­sonderheit der vom Text intendierten Vollkommenheit aufzufas­sen. Nun aber verändern sich solche vom Leser hervorgebrachten Signifikate im Fortgang der Lektüre. Um im Beispiel zu bleiben: Nachdem der Leser durch das von ihm gebildete Signifikat die von

31 Tu. M. Lotman, Die Struktur literarismer Texte (UTB 1031, Mün­chen 1972, pp. 42 f.

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den Sprachzeichen des Textes denotierte Vollkommenheit All­worthys korrigiert hat, muß dieser eine Fehlhandlung des Helden beurteilen. Nun aber urteilt er nicht, wie es zu erwarten steht, nach dem Anschein, sondern erkennt hinter dem Anschein das verdeckte Motiv. Damit erfolgt eine Rückmeldung dieser 'Information' in das vom Leser gebildete Signifikat, das insofern korrigiert werden muß, als die mangelnde Urteilsfähigkeit Allworthys offenbar dort nicht gilt, wo ein edles Motiv durch widrige Umstände verstellt wird. Erneut kommt es darauf an, eine Unerwartbarkeit auszusteuern, die ihr zusätzliches Gewicht dadurch gewinnt, daß sie die Uner­wartbarkeit eines vom Leser selbst gebildeten Signifikats ist.

So stabilisiert sich das Verhältnis von Text und Leser über die ständigen Rückmeldeeffekte in den Wirkungsvorgang, durch die die Unvorhersagbarkeiten des Textes ausgeglichen werden. Die Ky­bernetik bezeichnet einen solchen Vorgang als 'Servomechanismus', dessen Leistung darin besteht, Dauerwirkungen unter wechselnden Bedingungen zu erzielen.32 Dieser 'Servomechanismus' ist auch zwischen Text und Leser wirksam, da sich der Wirkungsvorgang c;les Textes über die ständigen Rückmeldungen der im Leser erzeug­ten Wirkungen entwickelt. Folglich sind Text und Leser in einer dynamischen Situation miteinander verspannt, die ihnen nicht vorgegeben ist, sondern im Lesevorgang als Bedingung der Ver­ständigung mit dem Text entsteht.

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich für das Verhältnis von Text und Leser ein Vorteil, der die Nachteile aufzuwiegen scheint, die im Fehlen einer vorgängig gemeinsamen, hochdefinierten Situation bestehen. Funktioniert die Beziehung von Text und Leser nach dem Modell selbstgesteuerter Systeme, dann vollzieht sich dieses Verhältnis in einer von ihm selbst erzeugten dynamischen Si­tuation. Diese besagt, daß im RückrneIdeeffekt ständig Eingaben in den Wirkungsvorgang erfolgen, die eine situative und momentane Verständi.gung mit dem Text beinhalten. Die vielen situativen Verständigungen werden ihrerseits durch RückrneIdeeffekte korri­giert, um größere integrative Verständnisleistungen erzielen zu können. Verständigung mit dem Text kommt daher über die la-

32 Vgl. dazu Norbert Wiener, Kybernetik, Düsseldorf und Wien '1963.

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tente Selbstkorrektur der vom Leser situativ gebildeten Signifikate zustande.

Damit rückt eine entscheidende Qualität der aus der Interaktion von Text und Leser entspringenden und diese zugleich stabilisie­renden Situation in den Blick. Die Interaktion erzeugt den Ein­druck des Geschehens, das den paradox anmutenden Charakter von Wirklichkeit zu besitzen scheint. Paradox ist dieser Eindruck inso­fern, als der fiktionale Text weder eine vorgegebene Wirklichkeit denotiert noch das Dispositionsrepertoire seiner möglichen Leser abbildet. Darüber hinaus bezieht er sich auf keinen Text und Leser vorgängig gemeinsamen kulturellen Code, und dennoch vermag dieser defiziente Modus den Eindruck der Realität im Gelesenwer­den hervorzurufen. Was sich hinter dieser scheinbaren Paradoxie verbirgt, läßt sich durch eine Beobachtung von A. N. Whitehead über den Realitätscharakter von Wirklichkeit aufhellen: "One all­pervasive fact, inherent in the very character of what is real is the transition of things, the passage one to another. This passage is not a mere linear procession of discrete entities. However we fix a determinate entity, there is always a narrower determination of something which is presupposed in our first choice. Also there! is always a wider determination into which our first choice fades 'by . transition beyond itself ... These uni ti es, which I call events, are the emergence into actuality of something. How are we to charac­terise the something which thus emerges? The name 'event' given to such a unity, draws attention to the inherent transitorin1ss, combined with the actual unity. But this abstract word cannotl be sufficient to characterise what the fact of the reality of an even~ is in itself. A moment's thought shows us that no one idea can \in itself be sufficient. For every idea which finds its significance 'in each event must represent something which contributes to what realisation is in itself ... Aesthetic attainment is intervowen in the texture of realisation."33 Das Ereignis ist insofern ein Paradigma der Realität, als es keine diskrete Einheit verkörpert, sondern einen Prozeß artikuliert. Es ist die 'Sammellinse' einer Beziehungsvielfalt,

33 A. N. Whitehead, Science and the Modern World, Cambridge 121953, pp. 116f.

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die allerdings das Ereignis in dem Augenblick verändert, in dem es seine Gestalt gewonnen hat. Denn als Gestalt markiert es Begren­zungen zum Zwecke ihrer überschreitung und artikuliert damit Realität als Prozeß der Realisierung. Realisierung aber ist das Prä­dikat von Wirklichkeit schlechthin. Da sich das Verhältnis von Text und Leser über die Rückmeldung der im Leser erzielten Wir­kung in den Wirkungsvorgang vollzieht, entfaltet sich diese Be­ziehung als ein Prozeß ständiger Realisierungen. Der Prozeß ver­läuft über die vom Leser hervorgebrachten und von ihm selbst mo­difizierten Signifikate. Dadurch gewinnt der Geschehenskontext den Charakter einer offenen Situation, die immer zugleich kon­kret und wandlungsfähig ist. Indem das Lesen den Text als Pro­zeß der Realisierung entfaltet, konstituiert es den Text als Wirk­lichkeit, denn was immer Wirklichkeit sein mag, sie ist, indem sie geschieht.

Für Whitehead besitzt diese Fundamentalbestimmung der Wirk­lichkeit ein ästhetisches Moment. Denn im Ereignis als diskreter Einheit der Realität ist das unablässige überschreiten seiner Selbst­genügsamkeit angelegt. Ein Gleiches geschieht mit den Signifikaten des Lesers, wenn diese im Vollzug der Lektüre in unterschiedliche Beziehungen einrücken und durch die ihnen widerfahrene Ver­änderung den Leser in wechselnde Situationsbezüge zum Text brin­gen. So ist der Leser durch die Realisierung zwar immer schon in einer Situation zum Text, doch diese gewinnt ihre konkreten Züge allein durch den Wechsel der Einstellungen, die über den Rück­meldeeffekt erzielter Wirkung ausgelöst werden. Folglich entsteht im Lesen eine Mannigfaltigkeit von Zuwendungen zum Text, die jeweils perspektivischer Natur sind. Denn das Ganze des Textes ist mit einem Schlage nicht zu realisieren. Der perspektivischen Zu­wendung ist die Begrenztheit eingezeichnet, zugleich aber schattet sich in der Perspektive ein Verweisungszusammenhang ab, der die Veränderung von Einstellungen motiviert. über die wechselnden Situationsbezüge realisiert sich folglich für den Leser eine Gesamt­situation, die ähnliches leistet wie jene Situation, die im Sinne der Sprechakttheorie als vorgängige Gemeinsamkeit VOlJ. Sprecher und Empfänger gegeben sein muß, damit die Angemessenheit von Empfang und Auffassung der Rede gewährleistet ist. Was der um-

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gangs sprachlichen Rede für ihr Gelingen vorgegeben sein muß, gilt es hier zu produzieren. Daher fällt die über die Rückmeldung aus­gebildete Situation des Lesers zum Text mit der Auffassung des Textes zusammen. Ein solcher Vorgang macht die von Eco ge­brauchte Wendung einsichtig, daß ein fiktionaler Text seinen eige­nen Code inszeIiiert.34

4. Bezugsfeld und Selektion des Repertoires fiktionaler Texte

Wenn Text und Leser nur über eine Situation zur Konvergenz ge­langen, dann ist im Blick auf die mangelnde Vorgegebenheit einer solchen Situation dem fiktionalen Text eine große Last aufgebür­det, soll die Situationsbildung als Vorgang der Verständigung ge­lingen. Erinnern wir uns, daß Austin für den Handlungserfolg der Sprechakte drei Postulate aufstellte: Die performative Äußerung setzt gemeinsame Konventionen zwischen Sprecher und Empfänger sowie beiderseits akzeptierte Prozeduren und schließlich die Be­reitschaft der Beteiligten voraus, an der Sprachhandlung teilzuneh­men. Unterstellt man, daß das Lesen eines Textes die Forderung der Bereitwilligkeit erfüllt, so sind die übrigen Gemeinsamkeiten, die für das Gelingen der Äußerung notwendig sind, nicht mit der. gleichen Definiertheit vorhanden. Was in umgangssprachlicher Verwendung der Sprechakte vorab gegeben sein muß, gilt es im Blick auf fiktionale Rede erst aufzubauen. Folglich müssen fiktio­nale Texte alle jene Elemente mit sich führen, die das Konstituieren einer Situation zwischen Text und Leser erlauben. Im Blick auf die von Austin geforderten Postulate heißt dies, der fiktionale Text muß selbst 'Konventionen' und 'Prozeduren' enthalten, da er sich nicht über stabilisierte Konventionen und eingeübte Prozeduren realisieren läßt. Daraus resultiert dann auch die relativ hohe Struk­turiertheit solcher Texte angesichts der von ihnen mitgeführten 'Symbolfracht'. Bekanntlich steigt die Strukturiertheit der Rede im­mer dort, wo ihre Wirkung auf den Adressaten nicht mehr voll kontrollierbar ist. Die gesteigerte Grammatikalität der am Telefon

3' Vgl. ECD, pp. 264f.

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miteinander Sprechenden ist dafür nur das einfachste Beispiel. Hier fallen Gestik und Mimik als semantische Unterstützung der Rede aus, so daß deren Gelingen nur über ihre zunehmende Geordnet­heit zu gewährleisten ist. Nun läßt sich der fiktionale Text weder auf eine Denotierung empirischer Gegebenheiten einschränken, noch ist er mit den Werten und Erwartungen seiner möglichen Leser zu verrechnen. Sowenig der Text Objektmitteilung ist, so­wenig bestätigt er die Dispositionen seiner Leser. Diese Negativität ist der Konstitutionsgrund der Beziehung. Wenn der Text weder in der empirischen Welt noch im Habitus des Lesers sein Identi­sches hat, dann muß der Sinn aus dem von ihm mitgeführten An­gebot konstituiert werden.

Die bisher pauschal gebrauchte Rede von den Elementen des Textes gilt es nun in einem ersten Schritt zu differenzieren. Die für das Erstellen einer Situation notwendigen 'Konventionen' sol­len im folgenden als das Repertoire, die 'akzeptierten Prozeduren' als die Strategien und die 'Beteiligung' des Lesers als die Realisa­tion bezeichnet werden.

Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorangegangene Texte, son­dern ebenso, wenn nicht sogar in verstärktem Maße, auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist - kurz auf das, was die Prager Strukturalisten als die außerästhetische Realität bezeichnet haben.35 Das Repertoire bildet jenen Bestandteil des Textes, in dem die Immanenz des Textes überschritten wird. Doch das Hineinziehen außertextueller Normen heißt nicht, daß sie ab­gebildet würden, sondern daß ihnen durch die Wiederkehr im Text etwas geschieht, wodurch zugleich eine wesentliche Bedingung für die Kommunikation entsteht. Die Art, in der Konventionen, Nor­men und Traditionen im Repertoire fiktionaler Texte auftauchen, kann sehr verschieden sein.· Pauschal wird man sagen können, daß

'5 Vgl. dazu Jan Mukarovsky, Kapitel al!s der Ästhetik (edition suhr­kamp 428), Frankfurt 1970, pp. 11 ff.

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solche Repertoire-Elemente immer im Zustand der Reduktion er­scheinen. Selbst Texte, die mit Konventionen vorangegangener Literatur oder mit einer entsprechenden Dichte sozialer und histo­rischer Normen der Lebenswelt überfrachtet sind, lassen sich schon deshalb nicht als bloße Reproduktionen solcher Bestände qualifi­zieren, weil diese nun in eine andere Umgebung eingerückt sind. Daraus ergibt sich, daß wiederkehrende Konventionen sowie ge­sellschaftliche Normen und Traditionen in der Regel im fiktionalen Text zu einem Interaktionspol herabgestuft werden. Sie sind aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und daher an­derer Beziehungen fähig, ohne die alte Beziehung völlig zu verlie­ren, die ursprünglich durch sie bezeichnet war. Ja, diese muß bis zu einem gewissen Grade gegenwärtig bleiben, um den notwen­digen Hintergrund zur Verfügung zu haben, von dem sich die neue Verwendung abheben läßt. So sind die Repertoire-Elemente im Text verschiedenes zugleich. Sie halten den Hintergrund parat, dem sie entnommen worden sind. Gleichzeitig aber setzt die neue Umgebung die Beziehungsfähigkeit der wiederkehrenden Normen bzw. der Konventionsbestände frei, die im alten Kontext durch ihre Funktion gebunden waren. Das Repertoire-Element ist daher weder mit seiner Herkunft noch mit seiner Verwendung ausschließ­lich identisch, und in dem Maße, in dem ein solches Element seine Identität verliert, kommt die individuelle Kontur des Textes zum Vorschein. Sie ist vom Repertoire überhaupt nicht abtrennbar, weil sie sich zunächst nur in dem zeigt, was mit den selektierten Elemen­ten geschieht.

Der Bestimmtheitsgrad des Repertoires bildet eine elementare Voraussetzung für eine mögliche Gemeinsamkeit zwischen Text und Leser. Denn eine Kommunikation kann nur dort stattfinden, wo diese Gemeinsamkeit gegeben ist; zugleich aber ist das Reper­toire nur Material der Kommunikation, und das heißt, daß eine Kommunikation danJl zustande kommt, wenn der gemeinsame Besitz nicht in totaler Deckung steht. "Das in der Kunst notwen­dig Neue läßt sich nicht eindeutig gegen das 'Alte' abgrenzen. Wichtiger als solche Versuche scheint mir die Aufgabe, das Ver­hältnis des Neuen zur 'Wiederholung' zu klären. Dieses Verhältnis konstituiert sich nicht in einem linearen Verlauf von Regressionen

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und Progressionen, es nähern sich in ihm das Neue und die Wie­derholung, ohne sich jemals zu einer harmonischen Identität zu­sammenzuschließen."36 Im Verzicht auf eine solche Harmonisie­rung macht sich in der Wiederholung geltend, daß das Bekannte nicht in seinem Bekanntsein interessiert, sondern daß mit dem Bekannten etwas gemeint werden soll, das seiner noch ungekann­ten Verwendung entspringt. Eine solche Verwendung kann der Text gar nicht formulieren, weil es sich um eine noch unbegriffene 'Bewußtseinsfigur' handelt, die sich nicht mehr an der Geltung ver­einbarter Begriffe festmachen läßt. An diesem Ort gewinnt die nicht-diskursive Sprache der Literatur ihre Funktion. Daraus folgt zunächst, daß das Repertoire eines fiktionalen Textes nicht als Abbild gegebener Verhältnisse zu verstehen ist. Wenn überhaupt, so bildet er bestenfalls gegebene Verhältnisse im Zustand ihres überschrittenseins ab, und da ein solcher Zustand keine Qualität gegebener Verhältnisse ist, steht der fiktionale Text zwischen Ver­gangenheit und Zukunft. Seine 'Gegenwärtigkeit' hat insofern den Charakter des Geschehens, als das Bekannte nicht mehr gemeint und das Intendierte nicht formuliert ist. Durch diese dynamische Zwischenlage bringt sich der ästhetische Wert des Textes zur Gel­tung, und zwar in dem von Robert Kalivoda einmal umschriebe­nen Sinne: "Für die ausschlaggebende Entdeckung der wissen­schaftlichen Ästhetik halten wir die Erkenntnis, daß das Ästhe­tische ein leeres Prinzip ist, das außerästhetische Qualitäten orga­nisiert."37 Der ästhetische Wert ist als solcher nicht greifbar. Er kann weder aus dem Text ausgemendelt noch als eine positive Größe beschrieben werden, da er sich nur in der Umorganisation außertextueller Realität, und das heißt, in der Veränderung ihres Bekanntseins manifestiert. Der ästhetische Wert ist folglich eine negative Größe, die sich in dem zeigt, was sie bewirkt; im Reper­toire eines fiktionalen Textes lassen sich die Auswirkungen dieser Strukturierungsenergie zunächst verdeutlichen.

36 Rerbert Malecki, Spielräume. Aufsätze zur ästhetischen Aktion (edi­tion suhrkamp 333), Frankfurt 1969, pp. 80 f.

37 Robert Kalivoda, DeI Marxismus und die modeme geistige Wirk­lichkeit (edition suhrkamp 373), Frankfurt 1970, p. 29.

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Wenn dem Repertoire Selektionsentscheidungen zugrunde lie­gen, durch die bestimmte Normen sozialer und historischer Wirk­lichkeit, aber auch Bruchstücke vorangegangener Literatur in den Text hineingezogen werden, so darf der Auswahlvorgang bei aller Indivi:dualität der damit verfolgten Absicht nicht gänzlich beliebig sein. Denn das vom Text mitgeführte Repertoire ist trotz der Ver­änderung, die das Bekanntsein seiner Elemente in der 'Wiederho­lung' erfährt, eine wesentliche Vorbedingung dafür, daß sich eine Situation zwischen Text und Leser herauszubilden vermag. Nun fragt es sich, ob es Kriterien gibt, die eine Einschränkung der Be­liebigkeit solcher im Repertoire gefallenen Selektions entscheidungen ermöglichen.

Bezieht man die Frage zunächst auf das Verhältnis von Text und Wirklichkeit, so ist klar, daß sich der Text nicht auf Wirklichkeit schlechthin, sondern nur auf 'Wirklichkeitsmodelle' beziehen kann.38 Wirklichkeit als pure Kontingenz scheidet für den fiktio­nalen Text als Bezugsfeld aus. Vielmehr beziehen sich solche Texte bereits auf Systeme, in denen Kontingenz und Weltkomplexität reduziert und ein je spezifischer Sinnaufbau der Welt geleistet ist.39

Jede Epoche besitzt die ihr eigenen Sinnsysteme, und die Epochen­schwellen markieren dann signifikante Veränderungen, die inner­halb der in hierarchischer Ordnung stehenden bzw. miteinander konkurrierenden Sinnsysteme erfolgen. Systeme indes beziehen sich nicht ausschließlich auf Weltkomplexität. Sie haben auch andere Systeme zu ihrer Umwelt, in denen eine bestimmte Abarbeitung jener Enttäuschungsgefahr geleistet ist, die menschlichem Handeln und menschlichem Erleben aus kontingenten Gegebenheiten droht.4o "Alle Systeme sind durch selektive Beziehungen mit ihrer Umwelt verknüpft, da sie geringere Komplexität aufweisen, also

38 Vgl. Siegfried J. Schmidt, Texttheorie [UTB 2021, München 1973, p. 4S j besonders aber H. Blumenberg, "Wirklichkeitsbegriff und Möglich­keiten des Romans", in Nachahmung und Illusion [Poetik und Herme­neutik Il, ed. H. R. Jauss, München '1969, pp. 9-27.

39 Zur Funktion des Sinnbegriffs als Komplexitätsreduktion vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Opladen 21971, p. 73.

'" Vgl. dazu Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Ge­sellschaft oder Sozialtedmologie, Frankfurt 1971, pp. 32 f.

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nie die ganze Welt für sie relevant werden kann ... Die System­umwelt läßt sich in gewissem Maße dadurch vereinfachen und im­mobilisieren, daß bestimmte Formen der Erlebnisverarbeitung (Wahrnehmungsgewohnheiten, Wirklichkeitsdeutungen, Werte) in­stitutionalisiert werden. Eine Vielzahl von Systemen wird an gleiche oder korrespondierende Auffassungen gebunden, so daß dadurch die Unendlichkeit an sich möglicher Verhaltensweisen reduziert und die Komplementarität des Erwartens sichergestellt wird."41 So erfolgt in jedem System eine Stabilisierung bestimmter Erwartungen, die normative Geltung gewinnen und folglich die Erlebnisverarbeitung von Welt zu regulieren vermögen. In den Systemen verkörpern sich daher Wirklichkeitsmodelle, die eine bestimmte Struktur erkennen lassen. Kommt der Sinnaufbau eines Systems durch die jeweils getroffenen Selektionen zum Vorschein, so kann sich dieser Sinn nur vor dem Hintergrund der nicht ge­wählten Möglichkeiten stabilisieren. Ein solcher Hintergrund ge­winnt insoweit Kontur, als er sich durch virtualisierte und negierte Möglichkeit weiter differenzieren läßt. Daraus folgt, daß sich die sinndominanten Möglichkeiten des jeweiligen Systems auf einen Horizont abschatten, in dem die virtualisierten und negierten Mög­lichkeiten stehen und von dem sich die aktualisierten abheben. Die System theorie bezeichnet diesen Sachverhalt als die notwendige Bestandserhaltung, die ein System bei der Reduktion von Komple­xität leisten muß, um mit der Bereitschaft ausgerüstet zu sein, auf Veränderungen seiner Umwelt durch Umbesetzung von SystemsteI­len reagieren zu können. Der fiktionale Text wird auf seine Weise in diese 'Bestände' eingreifen, denn er hat in der Regel die im Zeit­raum seiner Entstehung herrschenden Systeme zu seiner Umwelt. In diese muß er deshalb eingreifen, weil er sich nicht wie die Sy­steme auf Weltkontingenz bezieht. Folglich kann er auch nicht jene Erwartungserwartungen hervorbringen42, die als die Leistung der Systeme gelten. So lebt der fiktionale Text von den vorhande­nen Strukturen der Weltbemächtigung. Mit den Systemen teilt. er

41 Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemra,tionalität (stw 12). Frankfurt 1973, pp. 182 f.

4Z Vgl. Habermas/Luhmann, pp. 63 f.

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allerdings die Eigenschaft, auch cin sinnkonstituierendes System zu sein. Das heißt, in seinem Aufbau zeigen sich die zur Sinnsta· bilisierung notwendigen Selektionen, die am gewählten Repertoire ablesbar sind. Desgleichen kennt der fiktionale Text sinndomi­nante, virtualisierte und negierte Möglichkeiten. Da er sich aber nur auf die Systeme seiner Umwelt beziehen kann, müssen die sinnkonstituierenden Operationen des Textes ständig in diese ein­greifen. Solche Eingriffe besitzen nicht den Charakter der Abbil­dung. Die Selektionsstruktur des fiktionalen Textes hat eine an­dere Zielrichtung und läßt folglich auch andere Konsequenzen er­kennen. Durch ihn geschieht keine Reproduktion herrschender Sinnsysteme, vielmehr bezieht sich der Text darauf, was in den jeweils herrschenden Sinnsystemen virtualisiert, negiert und daher ausgeschlossen ist. Fiktional sind diese Texte deshalb, weil sie weder das entsprechende Sinnsystem noch dessen Geltung denotie­ren, sondern viel eher dessen Abschattungshorizont bzw. dessen Grenze als Zielpunkt haben. Sie beziehen sich auf etwas, das in der Struktur des Systems nicht enthalten, zugleich aber als dessen Grenze aktualisierbar ist.

Daraus ergibt sich das besondere Zuordnungsverhältnis des fik­tionalen Textes zu Sinnsystemen bzw. Wirklichkeitsmodellen. Er bildet diese weder ab, noch ist er als Deviation von ihnen zu be­greifen, wie es un~ die Widerspiegelungstheorie bzw. die Devia­tionsstilistik immer wieder glauben machen wollen. Vielmehr stellt der fiktionale Text eine Reaktion auf die von ihm gewählten und in seinem Repertoire präsentierten Sinnsysteme dar. Damit ist zu­gleich die einsinnige Perspektive aufgehoben, die die Widerspiege­lungstheorie und Deviationsstilistik gleichermaßen beherrscht. Der Text wird in einer solchen Zuordnung nicht mehr vom Standpunkt einer wie immer dogmatisch fixierten Wirklichkeit als deren Spie­gel bzw. als deren Abweichung gesehen, sondern als ein Inter­aktionsverhältnis begriffen, durch das sich seine elementare Funk­tion im Wirklichkeitskontext fassen läßt.

Der beschriebene Sachverhalt läßt sich durch ein einfaches Bei­spiel veranschaulichen. Die empirische Philosophie Lockescher Her­kunft verkörpert ein dominantes Sinnsystem der englischen Auf­klärung. Dieses enthält eine Anzahl von Selektionsentscheidungen

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im Blick auf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen, die insofern ein zunehmendes Interesse gewann, als die neuzeitliche Problema­tik menschlicher Selbsterhaltung nach Antworten verlangte. Die Dominanz dieses Systems zeigt sich darin, daß sie andere Systeme der Epoche sich einzugliedern und daher zu Subsystemen zu ma­chen vermochte. Das galt vor allem für die zeitgenössische Theo­logie, die die Erkenntnisprämissen des Empirismus, den Wissens­erwerb durch Erfahrung, so weit übernahm, daß sie in Deismus und natürlicher Theologie ihren eigenen Supranaturalismus ab­zubauen begann. In dieser Zuordnung theologischer Sinnsysteme sicherte sich der Empirismus die Geltung für seine Annahmen. Die Stabilität der Systeme bedingt aber auch, daß bestimmte Möglich­keiten nicht gewählt, wenngleich mit repräsentiert werden. Der Verzicht auf apriorische Voraussetzungen menschlicher Erkenntnis subjektiviert den Wissenserwerb. Er hatte den Vorteil, die Er­kenntnismöglichkeiten des Menschen aus der diesem zugänglichen Erfahrung erklären zu können; er hatte den Nachteil, alle Postu­late in Abrede stellen zu müssen, die den zwischenmenschlichen Bereich und damit den des Verhaltens hätten regeln können. "Hence it comes to pass that men's names of very compound ideas, such as for the most part are moral words, have seldom in two different men the same precise signification, since one man's complex idea seldom agrees with another's, and often differs from his own, from that which he had yesterday or will have tomor­row."43 Darin kommt die Systemgrenze des Empirismus zum Vor­schein, die sich wie alle solche Grenzen in der Regel nur durch Neutralisierungen bzw. Negationen stabilisieren läßt. So schuf die vom System bereitgestellte Generalisierung des Wissenserwerbs aus Erfahrung zugleich eine Mangelsituation, indem sie den Be­reich der Moral angesichts der geltenden Erkenntnisprämissen zu­mindest virtualisieren mußte.

An dieser Stelle entsteht ein Defizit, und es charakterisiert Sinn­systeme überhaupt, daß durch die in ihnen gefallenen Entschei­dungen zwangsläufig Defizite produziert werden. Auf diese bezieht

'3 John Locke, An Essay Concerning Human Undelstanding III, 9 (Everyman's Library), London 1968, p. 78.

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sich die Literatur, wie es sich an der massiven Moralisierung von Roman und Drama im 18. Jahrhundert ablesen läßt, die binnen kurzem eine europäische Geltung erlangten. Sie bilanzierten das vom dominanten Sinnsystem der Epoche erzeugte Orientierungs­defizit innerhalb zwischenmenschlicher Beziehungen. Roman und Drama formulierten Möglichkeiten, die im Blick auf die gesamt­gesellschaftlich herrschenden Systeme gerade keine waren und sich folglich nur durch die Fiktion in der Lebenswelt unterbringen ließen. Eine solche Funktion der Literatur erklärt dann auch, war­um man immer wieder geneigt ist, Fiktion und Wirklichkeit als ein Oppositionspaar zu begreifen, während der Sache nach durch fik­tion eher etwas darüber ausgesagt wird, was die herrschenden Sy­steme ausklammern und folglich nicht in die von ihnen organi­sierte Lebenswelt einzubringen vermögen. Konstituiert die Fiktion einen solchen Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit, dann ist sie nicht mehr deren Opposition, sondern deren Kommunikation.

Aus diesem Sachverhalt lassen sich ein paar allgemeine Bedin­gungen ableiten, die für das Repertoire fiktionaler Texte konsti­tutiv sind. Die Literatur hat ihren Ort auf den Grenzen der Sinn­systeme, die in den jeweiligen Epochen dominieren. Deshalb gibt die Literatur auch Aufschluß darüber, welches der jeweiligen Sy­steme im epochalen Kontext die jeweils höchste Stelle der Gel­tungshierarchie besetzt hielt. Da die Literatur eine Reaktion darauf verkörpert, was die jeweils historische Gestalt des Sinnsystems als Problem hinterläßt, liefert sie wichtige Anhaltspunkte über die Geltungsschwäche der betreffenden Sinnsysteme und ermöglicht dadurch eine Rekonstruktion des historischen Problemhorizonts. Damit soll nicht ausgeschlossen sein, daß sich Literatur auch auf Systeme von untergeordnetem Rang beziehen kann. Das aber hat Folgen sowohl für die Beteiligung des zeitgenössischen Lesers als auch für jenen, für den das Sinnsystem schon längst in historischer Ferne steht. Doch selbst die Beziehung auf solche Systeme zeigt an, daß diese in der Epoche eine gewisse Bedeutung gehabt haben müssen. Wenn sich die Funktion der Literatur über die Schwächen der Systeme entfaltet, dann kann das Bezugssystem, das ein fiktio­naler Text zu seiner Umwelt macht, für den epochalen Rahmen nicht beliebig gewesen sein.

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Faßt man das Verhältnis von Sinnsystemen und fiktionalem Text mit dem Schema der Collingwoodschen Frage- und Antwort-10gik44, so wird man sagen müssen, daß der fiktionale Text durch seine Antwort auf die Defizite zunächst das zu rekonstruiereri er­möglicht, was die manifeste Gestalt des Systems entweder ver­deckte oder nicht zu bewältigen erlaubte. Denn als Artikulation des Problemüberhangs bezieht sich der fiktionale Text auf die vir­tualisierten und negierten Möglichkeiten des Systems. Indem er daraus auswählt und in seinem Repertoire diese Wahl thematisch

. macht, muß er in der Regel die dominanten, und das heißt, die realisierten Möglichkeiten des entsprechenden Sinnsystems seiner­seits virtualisieren bzw. negieren. Dadurch hält der fiktionale Text sowohl die relevanten Konturen des Systems bzw. der Systeme parat, auf die er reagiert, als auch die Defizite, die er insofern arti­kuliert, als er eine fiktionale Lösung anbietet. Diese aber kann als solche nur rezipiert werden, wenn die Problemkontur, auf die sie sich bezieht, im Text selbst gegenwärtig gehalten ist. In diesem Sinne ließe sich eine Äußerung von Roland Barthes verstehen: " ... das Werk ist wesentlich paradoxer Natur, es ist Zeichen für die Geschichte und zugleich Widerstand gegen sie. Dieses grund­legende Paradoxon tritt in unseren Literaturgeschichten mehr oder weniger deutlich zutage: jedermann spürt deutlich, daß das Werk dem Zugriff entflieht, daß es etwas anderes ist als seine eigene Geschichte, als die Summe seiner Quellen, der Einflüsse oder seiner Vorbilder. Es bildet einen harten irreduziblen Kern in der unent­schiedenen Masse der Ereignisse, der Bedingungen, der kollektiven Men tali tä ten."45

Aus der beschriebenen Zuordnung des fiktionalen Textes auf epochale Sinnsysteme ergibt sich eine zentrale Qualifikation des Repertoires. Die in den Text eingekapselten außertextuellen Nor­men und Werte erfahren in diesem Vorgang eine Umcodierung ihrer Geltung. Die sinndominanten Selektionsentscheidungen der

« Vgl. R. G. Collingwood, An Autobiography, Oxford 1967, pp. 29 ff. u. 107 ff.

45 Roland Barthes, Literatur oder Geschichte (edition suhrkamp 303), Frankfurt 1969, p. 13.

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Systeme werden zum Hintergrund herabgestuft, um aus dem Hin­tergrund der Systeme die Möglichkeiten hervorzuholen, die das System abgewiesen hatte. Darin gründet der Signalwert des Re­pertoires. Denn in der gelöschten Geltung des Bekannten bringt sich die Reaktion des Textes auf seine Umwelt zum Ausdruck. Diese Reaktion ist jedoch aus dem vom Text gewählten Bezugs­system kausal nicht ableitbar, da das vom System bewirkte Defizit der Systemstruktur selbst nicht eingezeichnet ist. Es wird durch die historische Situation hervorgetrieben, die das System zu bewältigen versucht. Nun aber heben angesichts solcher Situationen die Selek­tionsentscheidungen, die im Repertoire fiktionaler Texte gefallen sind, die Bedingungen heraus, die den vom System erzeugten Mangel verursacht haben. Indem der Text einen defizitären Aspekt des Systems verdeutlicht, stellt er mögliche Einsicht in das Funktio­nieren des Systems bereit. Das heißt, er deckt auf, worin wir be­fangen sind.

Im Gegensatz zu den epochal herrschenden Systemen machen fiktionale Texte ihre eigenen Selektionsentscheidungen nicht expli­zit, so daß der Leser über die angezeigte Umcodierung ihm bekann­ter Geltungen die im Text gefallenen Selektionsentscheidungen motivieren muß. In diesem Vorgang vollzieht sich die Kommuni­kation des Textes, in der die Vermittlung des Lesers mit einer Realität erfolgt, die ihm nicht mehr zu den Bedingungen ihres Be­kanntseins geboten wird.

Die Beziehung von Text und System zeigt in der. Geschichte unterschiedliche Ausprägungen, in denen sich jedoch die spezielle historische Bilanzierungsleistung der Texte fassen läßt. Sie seien durch ein paar Beispiele veranschaulicht.

Der fiktionale Text kann sich direkt auf ein epochales System beziehen. Das gilt etwa für Sternes Tristram Shandy im Blick auf das vorhin schon angesprochene System des Empirismus Lockescher Prägung. Bekanntlich sah Locke in der Ideenassoziation die ent7 scheidende Bedingung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten. Denn sie brachte genau den Kombinationsgewinn, der notwendig war, um die einfachen, vom Zufall in den menschlichen Geist ge­tragenen Ideen für die Erweiterung und die Sicherung der Erkennt­nis zu nutzen. Die Ideenassoziation verkörpert eine sinndominante

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Selektions entscheidung des empiristischen Systems. In Tristram Sbandy wird sie virtualisiert, um das hervorkehren zu können, was im Lockeschen System entweder abgewiesen wurde oder dunkler Hintergrund geblieben ist.46 Denn die Assoziation der Ideen hatte ein problematisches Fundament. Sie regelte sich nach dem Lust­Unlustprinzip, das man als eingeboren annehmen mußte, da es die Ideenassoziation bewirkte, obwohl Locke gerade das Eingeboren­sein apriorischer Prinzipien als einen obsolet gewordenen Erkennt­niscode bestritten hatte. Doch um die Verläßlichkeit der Erkenntnis zu sichern, mußte die Ideenassoziation steuerbar sein, sollte sie menschlicher Beeinflussung nicht entzogen werden. In Tristram Sbandy kehrt die Ideenassoziation als idee fixe wieder, durch die eine Umcodierung der sinndominanten Selektionsentscheidung des empiristischen Systems angezeigt ist. Anders als über eine habi­tuelle Verklammerung mit bestimmten Verrichtungen bzw. mit einem bestimmten Sprachgebrauch ist für Sterne die Ideenassozia­tion überhaupt nicht zu stabilisieren. Die Schrullen der Brüder Shandy verkörpern das Prinzip, nach dem Ideen miteinander ver­bunden werden. Das erzeugt zwar eine gewisse Stabilität, doch diese gilt nur für die Binnenwelt des Subjekts, was dazu führt, daß die einzelnen Subjekte mit bestimmten Ideen immer etwas ganz anderes assoziieren und folglich das zwischenmenschliche Verhält­nis gerade durch Ideenassoziation totaler Unvorhersagbarkeit über­antworten.47

.. Da es sich hier lediglich um eine Veranschaulichung einer systema­tischen überlegung handelt, sind nicht alle Bezugnahmen Sternes auf das empiristische System diskutiert worden. Sie sind zahlreicher, als es die Beschränkung auf den gewiß primären Aspekt der Ideenassoziation na­helegt. über Sternes Verhältnis zu Locke finden sich wichtige Bemer­kungen bei Rainer Warning, Illusion und Wirklichkeit in Tristram Shandy und lacques le Fataliste (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 4), München 1965, pp. 60 H.; vgl. dazu ferner J ohn Traugott, Tristram Shandy' s World, Berkeley and Los Angeles 1954, pp. 3 H.

"Vgl. dazu besonders die Situation zwischen Walter Shandy und Uncle Toby, Tristram Shandy V, 3 (Everyman's Library), London 1956, pp. 258 H., in der Walter Ciceros Totenklage rezitiert. Angesichts der für Uncle Toby geltenden Bedingung der Sprachverwendung produziert die Rezitation eine Kettenreaktion von Unvorhersagbarkeiten.

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Damit kehrt Sterne in seinem Roman jene Möglichkeit als sinn­dominant heraus, die bei Locke virtualisiert, wenn nicht gar im bewußten Verzicht auf zwischenmenschliche Verhaltensregeln pau­schal abgewiesen worden war. Locke hat die Möglichkeit der Kom­bination einfacher Ideen als eine dem menschlichen Habitus ein­gezeichnete Garantie vorausgesetzt. In der Habitualisierung der Assoziation von Ideen nimmt Sterne Locke beim Wort. Was Sterne jedoch in der Umcodierung dieser Erkenntnisnorm aufdeckt, ist die Kontingenz solcher Ideenverbindungen, wie sie Walter Shandy und Uncle Toby unentwegt vollziehen. So destruktiv sich diese Kon­tingenz im Blick auf die Erkenntnisnorm des Lock:eschen Systems auch ausnehmen mag, so' bringt sie doch in diesem Gegenzug die Subjektivität in ihrer Undurchdringlichkeit wie auch in ihrer Un­verwechselbarkeit zum Vorschein. Damit ist nicht nur die Geltung einer Lockeschen Norm negiert. Vielmehr entdeckt diese Negation die bei Locke verschwiegene Referenz: nämlich die Subjektivität als Selektions- und Motivationsinstanz der Ideenassoziation. Doch das ist nur die eine Seite der in Tristram Shandy erfolgten Umgel­tung einer empiristischen Norm. Bricht durch diese Entdeckung die Verläßlichkeit der Erkenntnis zusammen, weil diese bestenfalls -wenngleich in höchst problematischer Form - nur noch in der Binnenwelt des Subjekts stabil zu sein scheint, dann verwandelt sich die problematisierte Erkenntnisnorm zu einem Hintergrund, der den Blick des Lesers für eine neue Aufgabe: die Ausarbeitung zwischenmenschlichen Verhaltens, zu schärfen beginnt. Die von der Subjektivität gegebenen Welterklärungen schrumpfen zur Schrulle. Da dieses Bewußtsein den Figuren des Romans fremd ist, gewinnt der Leser angesichts der gezeigten Naivität eine Perspek­tive zu den Erklärungsleistungen des empiristischen Systems. Diese ins Bewußtsein zu heben, heißt, die Aufmerksamkeit für die sinn­dominanten Selektionsentscheidungen des Romans zu wecken. Die von Sterne entdeckte Subjektivität kehrt die verschwiegene Refe­renz empiristischer Ideenassoziation hervor, und zwar so, daß die Subjektivität nach dem Erkenntnisstand dieses Systems scheitern müßte. Indem diese Erwartung durchbrachen wird, stabilisiert sich vor dem Hintergrund des überschrittenen empiristischen Systems die noch unbegriffene soziale Natur des Menschen, die sich nicht

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durch Erkenntnis, sondern durch Handeln erhält. So treibt die im Repertoire des Tristram Sl1andy erfolgte Umcodierung eines zen­tralen Konzepts des Empirismus die Begrenztheit des Bezugssy­stems hervor; die gestrichene Geltung der gewählten Norm deckt das auf, was durch die Norm nicht mehr gedeckt ist.

Texte müssen sich nicht immer in dieser direkten Form auf die dominanten Systeme ihrer Umwelt beziehen, wenngleich der di­rekte Bezug die prominente Stellung des gewählten Systems im epochalen Kontext anzeigt. Ein wesentlich indirekteres Verhält­nis läßt sich etwa in Fieldings Tom Tones ausmachen, in dem nach der erklärten Absicht seines Autors ein Bild der menschlichen Na­tur entworfen werden soll. Dieses Bild verdeutlicht sich über ein Repertoire, das aus sehr unterschiedlichen Systemen der Ep9che geschöpft ist. So wird eine Vielfalt zeitgenössischer Normen in den Text eingezogen und als das jeweilige Orientierungsprinzip der wichtigsten Figuren vorgestellt. Allworthy verkörpert den Zentral­gedanken der latitudinaristischen Moral von der Benevolenz; Square, der eine Erzieher des Helden, die Norm deistischer Philo­sophie von der natürlichen Geordnetheit der Dinge; Thwackum, der andere Erzieher des Helden, die Norm anglikanischer Ortho­doxie von der Verderbtheit der menschlichen Natur; Squire We­stern das Grundprinzip aufklärerischer Anthropologie von der ruling passion, und Mrs. Western schließlich die gesellschaftlichen Konventionen des Kleinadels von der natürlichen überlegenheit der Hochgeborenen.48

Die oppositive Anordnung der Figuren macht die durch sie vor­gestellten Normen zu wechselseitigen Blickpunkten, die es dem Leser erlauben, die eine Norm aus der Sicht der anderen jeweils thematisch zu machen. Dabei schält sich eine Gemeinsamkeit her­aus; sie alle reduzieren die menschliche Natur auf ein Prinzip und schließen demnach jene Möglichkeiten aus, die sich mit diesem

48 Wie das Zusammenspiel dieser von den Figuren repräsentierten Normen sowie deren Absetzung von der gegenläufigen Orientierung des Helden entfaltet wird, habe ich in meinem Buch Der implizite Lesel. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett rUTB 163), München 1972, pp. 86-92, zu skizzieren versucht.

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Prinzip nicht harmonisieren lassen. Folglich steht das, was die Normen repräsentieren, und das, was durch diese Repräsentation ausgeschlossen ist, gleichermaßen im Blick des Lesers. Diese Diffe­renzierung wird vom Leser insoweit selbst entfaltet, als die Nor­men des Repertoires in wechselseitig fremde Beobachtungshori­zonte einrücken, die es erlauben, sie in ihrer problematisierten Begrenztheit zu gewärtigen. Eine solche Anordnung des Repertoires besitzt eine horizontale Organisation, und das heißt, hier sind die Normen verschiedener Systeme miteinander kombiniert, die in der historischen Lebenswelt getrennt voneinander existieren. Dadurch gewinnt das Repertoire den Charakter der Information. Denn es zeigt durch die in ihm gewählte Kombination an, über welche Systeme das Bild der menschlichen Natur gewonnen werden soll. Die einzelnen Normen sind insofern umcodiert, als sich die menschliche Natur nicht auf das Prinzip einer konsistenten Defi­nition einschränken läßt, sondern über die von den einzelnen Nor­men abgewiesenen Möglichkeiten entdeckt werden soll. Diese sind relativ deutlich; sie schließen die Vermittlung des jeweiligen Prin­zips mit der Erfahrungswirklichkeit des Menschen aus. Damit kon­stituiert sich das Thema des Romans, das gerade in der Veran­schaulichung dieser Vermittlung liegt. Die Selbsterhaltung ist nicht mehr über die Befolgung von Prinzipien zu leisten, sondern nur über die Selbstverwirklichung menschlicher Potentiale inmitten der Erfahrungswirklichkeit, deren Verdeutlichung allerdings nur von der Fiktion und nicht mehr von der Diskursivität der Systeme zu leisten ist.

Tom Tones bezieht sich daher nicht direkt auf ein dominantes Sinnsystem der Aufklärung, sondern auf den Problemüberhang, den die herrschenden Systeme geschaffen haben. Er macht die Kluft deutlich, die sich zwischen der Prinzipienorientiertheit der Systeme und der Erfahrungswirklichkeit des Menschen aufgetan hat. Die an den Erkenntnismöglichkeiten der menschlichen Vernunft orientier­ten Systeme ließen die Frage nach dem Verhalten inmitten der situativen Wechselhaftigkeit des Lebens offen. Die in der latitu­dinaristischen Theologie formulierten Verhaltensnormen setzten eine menschliche Natur voraus, der die Praktizierung der Moral gleichsam eingeboren war. Der daraus entstehende Problemüber-

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hang hatte Rückwirkungen auf das We1tvertrauen des Menschen, das der Roman insofern wieder zu stabilisieren trachtete, als er seinen Lesern ein Bild der menschlichen Natur zu entdecken gab, aus dem sie die Gewißheit schöpfen konnten, inmitten der Wech­selfälle des Lebens der Se1bstkorrektur fähig zu sein. So läßt das in Tom Tones eingezogene Repertoire den historischen Horizont auf­scheinen, dessen Problemkontur in die vom Roman gegebene Lö­sung deutlich eingezeichnet ist.49

Es versteht sich, daß die Literatur im historischen Kontext unter­schiedliche Funktionen erfüllen kann. Bezog sich Fielding in Tom Tones auf den Problemüberhang der herrschenden Systeme, so deckte Sterne in Tristram Sbandy die kontingente Fundierung menschlicher Erkenntnis im dominanten System des Empirismus auf. Bei aller Unterschiedlichkeit des Bezugs innerhalb eines ver­hältnismäßig verwandten historischen Kontexts liegt ihre Gemein­samkeit in der Gegenstellung zu den von ihnen gewählten Be­zugssystemen. Nun zeigt die Geschichte durchaus Situationen, in denen die Bilanzierungsleistung fiktionaler Texte der Bestands­erhaltung herrschender Systeme selbst gilt. Dabei muß eine sy­stemstabilisierende Verwendung von Literatur nicht einmal den trivialliterarischen Charakter gewinnen, den man immer dort ge­wärtigt, wo Literatur bestimmte Normen eines sozio-kulturellen

" Bilanziert der Roman im 18. Jahrhundert die von den dominanten Systemen erzeugte Problematik des zwischenmenschlichen Verhältnisses, so ist es nur zwangsläufig, wenn eine solche Funktion ihrerseits wieder­um Probleme hinterläßt. Die Komplementarisierungsleistung des Ro­mans bewirkte das Herauskehren moralischer Potentiale der mensch­lichen Natur. Diese gewannen folglich eine solche Dominanz, daß andere Seiten dieser Natur völlig verdeckt blieben. In diesem Sinne erzeugt die Bilanzierung der Literatur selbst Problemüberhänge, auf die die Literatur ihrerseits reagiert, wie es sich im Schauerroman und in der vorromanti­schen Dichtung bezeugt. Nun werden die dunklen Seiten des Menschen sowie die Abgründigkeit im Verhalten aufgedeckt, die angesichts der von Roman und Drama in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu leistenden Funktion nicht in den Blick kommen konnten. Man muß daher im Kon­text der Geschichte immer ein komplexes Reaktionsverhältnis des fiktio­nalen Textes annehmen, der seine eigene Historizität in den von semen Antworten hinterlassenen Problemen besitzt.

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Codes zum Zwecke der Einübung ihrer Leser in diesen Code re­produziert.

Eine im Dienst herrschender Systeme funktionierende Literatur bietet sich etwa im höfischen Roman des Hochmittelalters. Verein­zelung und Reintegration bilden das Schema der Aventiure, durch die Chrestien sowohl den Auszug des Artus-Ritters aus der höfi­schen Gesellschaft als auch dessen Rückbindung an deren Werthie­rarchie vorführt. In der Aventiure ist die Kluft gefaßt, die sich zwischen dem gesellschaftlichen System des ritterlichen Lehens­verhältnisses und der komplexer gewordenen Welt des Hochmittel­alters aufgetan hat. Höfisches System und Lebenswirklichkeit ste­hen nicht mehr in Deckung. Die Aventiure trägt durch ihr Schema von Vereinzelung und Reintegration dieser Lage Rechnung, doch nur, um in der Bewährung höfischer Tugenden zu zeigen, wie das System höfischer Gesellschaft gegen die Einbrüche kontingent er Le­benswirklichkeit abgedichtet und vor möglicher Problematisierung bewahrt werden kann.50 In diesem Falle funktioniert die Fiktion als die Beseitigung einer die Stabilität des Systems bedrohenden Gegebenheit.

Darin zeigt sich eine Ausgleichsoperation, wie sie auch dort zu beobachten ist, wo Literatur die Normen der von ihr gewählten Bezugssysteme umcodiert. In beiden Fällen jedoch gewinnt die

50 Vgl. dazu Erich Köhler, Ideal und WirkliChkeit in der höfisChen Epik (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie 97), Tübingen 1956, pp. 66-128. Köhler faßt jedoch die Beziehung von Literatur und Realität als ein mimetisches Abbildverhältnis von Ideal und Wirklichkeit auf, nicht aber als ein solches der Interaktion von Literatur und höfischem System. Daher verkörpert sich für Köhler im höfischen Roman ein Spie­gel, der es der Gesellschaft erlaubt, sich in ihrer Vollkommenheit zu gewärtigen. Die interessanten Befunde Köhlers gewinnen indes eine andere Reichweite, wenn man ihre Relevanz als Abdichtung gefährdeter Geltung aus der Sicht des höfischen Systems versteht. Dafür spricht auch die Tatsache, daß die lebensweltlichen Störungen des höfischen Systems sich im Gegenbild des Renart-Zyklus versammelten, um im 'Tierepos' vom System höfischer Gesellschaft abgesetzt werden zu können. Als Ge­genwelt waren diese Störungen zugleich beherrschbar gemacht und her­abgestuft. Zum Renart-Zyklus als Gegenbild höfischer Gesellschaft vgl. H. R. Tauss, UntersuChungen zur mittelalterliChen TierdiChtung (Bei­hefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie IOD), Tübingen 1959.

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Literatur ihre Funktion aus den Geltungsschwächen der Systeme; in dem einen riegelt sie das System von umweltstärenden Einbrü­chen ab, in dem anderen deckt sie deren Probleme auf, bzw. rea­giert sie auf den von den Systemen erzeugten Problemüberhang. Dadurch entsteht die Beteiligung des Lesers am Text, der im Re­pertoire einen wenn auch verfremdeten Konventionsbestand gebo­ten erhält, durch den sich eine dialogische Beziehung zu entfalten vermag.

Diese Beteiligung gilt aber nicht nur für den zeitgenössischen Leser, dem die Normen des Repertoires aus seiner Umwelt vertraut sind; sie gilt auch für den historisch späteren Leser. Die geschicht­liche Distanz zwischen Text und Leser muß daher nicht bedeuten, daß der Text seinen innovativen Charakter verliert; dieser zeigt sich nur in unterschiedlicher Gestalt. Entstammt der Text der Le­benswelt des Lesers, so hebt er durch die im Repertoire erfolgte Umcodierung geltender Normen diese aus ihrem sozio-kulturellen Funktionszusammenhang heraus und läßt dadurch die Reichweite ihrer Wirksamkeit erkennen. Sind aber die Normen des Repertoires für den Leser durch die zeitliche Distanz zu einer historischen Welt geworden, weil er nicht mehr an dem Geltungshorizont partizi­piert, aus dem das Repertoire geschöpft ist, dann bieten sich ihm die umcodierten Normen als Verweisungen auf diesen Geltungs­horizont. Dadurch läßt sich die historische Situation wiedergewin­nen, auf die sich der Text als Reaktion bezogen hatte.

In dem einen Fall handelt es sich um eine partizipierende, in dem anderen um eine betrachtende Einstellung des Lesers, die beide selbstverständlich als Typisierungen gemeint sind. Die dadurch be­dingten Unterschiede lassen sich durch das vorhin angezogene Fielding-Beispiel veranschaulichen. Für den Zeitgenossen stand das Verhaltensproblem im Vordergrund, wie es die hitzigen Debatten um die scheinbare Amoralität des Helden und seines Autors im 18. Jahrhundert bezeugen. Aus betrachtender Einstellung indes schwenkt die Perspektive über die umcodierten Normen auf den Verweisungszusammenhang, aus dem das Repertoire selektiert worden ist. Dabei rücken die dominanten Sinnsysteme der Epoche in ihrer jeweils defizitären Gestalt in den Blick, deren Mangel der Roman durch seine Antwort auf das, was die menschliche Natur

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sei, aufzuheben trachtete. In beiden Fällen zeigt die konstituierte Sinngestalt des Romans eine jeweils andere Konfiguration, ohne daß sich die eine bzw. die andere als willkürlich qualifizieren ließe. Denn der Einstellungswechsel ist durch das zeitliche Vergangensein der Geschichte und nicht durch einen selbst gewählten Akt des Lesers bedingt. So bewirkt die Umcodierung wiederkehrender Nor­men den innovativen Charakter des Textrepertoires, der in den genannten Einstellungen zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. In partizipierender Einstellung eröffnet er die Sicht auf das, was in den Handlungsvollzügen selbst nicht gesehen werden kann, und in betrachtender Einstellung ermöglicht er das Begreifen dessen, was für den Leser niemals wirklich war. Daraus folgt zweierlei: 1. Der fiktionale Text erlaubt es seinen Lesern, die jeweilige Posi­tion zu transzendieren, an die sie in der Lebenswelt gebunden sind. 2. Der fiktionale Text ist keine Widerspiegelung gegebener Realität, sondern deren Vollendung in einem jeweils bestimmten Sinne. Dazu hat Kosfk einmal bemerkt: "Jedes künstlerische Werk hat in unteilbarer Einheit einen doppelten Charakter: es ist Aus­druck der Wirklichkeit, aber es bildet auch die Wirklichkeit, die nicht neben dem Werk und vor dem Werk, sondern gerade nur im Werk existiert . .. das Kunstwerk ist nicht eine Illustration von Vorstellungen über die Wirklichkeit. Als Werk und als Kunst stellt es die Wirklichkeit dar und bildet gleichzeitig und untrennbar damit die Wirldichkeit."51

Nun besteht das Repertoire fiktionaler Texte nicht bloß aus jenen außertextuellen Normen, die den epochalen Sinnsystemen entnommen sind; es zieht in mehr oder minder verstärktem Maße auch vorangegangene Literatur, ja oftmals ganze Traditionen in zitathafter Abbreviatur in den Text hinein. Die Elemente des Re­pertoires bieten sich immer als eine Mischung aus vorangegange­ner Literatur und außertextuellen Normen. Man wird sogar sagen können, daß in solchen Mischungsverhaltnissen elementare Diffe­renzierungen literarischer Gattungen gründen. Es gibt solche, die sich verstärkt auf empirische Gegebenheiten beziehen, wodurch der

51 Karel Kosfk, Die Dialektik des Konkreten, Frankfurt 1967, pp. 123 f.

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Anteil außertextueller Normen im Repertoire steigt; dies gilt in erster Linie für den Roman. Es gibt aber auch solche, in denen die vorausliegende Literatur zum Magazin des Repertoires wird, wie es sich etwa in der Lyrik beobachten läßt. Diese Differenzierung bleibt auch dann noch aufschlußreich, wenn sich die Mischungs­verhältnisse wie in der Literatur des 20. Jahrhunderts oftmals eklatant verkehren, so daß nun der Roman wie bei Joyee eine große Literaturfraeht mit sich führt, während die Lyrik etwa der Beat-Generation diese gerade abstößt, um in der Selektion aus den sozio-kulturellen Codes der modernen Industriegesellschaft eine Vielfalt höchst verschiedener Normen in die Verse einzuziehen.

Die in wechselnder Anspielungsdichte parat gehaltene Literatur erscheint im Repertoire des Textes in der gleichen Reduktion, wie sie die selektierten Nonnen der Sinnsysteme erfahren. Denn auch hier geht es nicht um Reproduktion, sondern um die Funktionali­sierung des Wiederholten. Wenn es in dem oben diskutierten Sinne richtig ist, daß fiktionale Texte auf den Grenzen zeitgenössischer Sinnsysteme angesiedelt sind, um in der Aufdeckung ihrer Gel­tungsschwäche Antworten auf jene Fragen zu geben, die durch die Systeme produziert worden sind, dann gibt die Wiederholung vor­angegangener Literatur im Repertoire einen wichtigen Aufschluß darüber, wie die vom Text vermeinte Antwort zu konstituieren sei.

Folglich ist das literarische Repertoire nicht ohne Beziehung zu den selektierten Normen der Sinnsysteme, die in den fiktionalen Text eingegangen sind. Doch die Anspielung auf vorausgegangene Literatur erschöpft sich nicht darin, einen bekannten Horizont auf­zublenden, so gewiß sie dieses auch bewirkt; sie 'zitiert' darüber hinaus in einer solchen Wiederkehr Artikulationsmuster bestimm­ter Textintentionen, die nun nicht mehr gemeint sind, zugleich aber eine Orientierung setzen, in deren Verfolgung das Gemeinte zu suchen ist. Wie wenig die Wiederkehr literarischer Elemente als bloße Reproduktion gedacht werden kann, geht allein schon daraus hervor, daß der Kontext des wiederholten Elements gestrichen ist; die Wiederholung entpragmatisiert das wiederholte Element und rückt es in eine neue Umgebung ein. Die Entpragmatisierung be­dingt zunächst, daß die virtualisierten und negierten Sinnmöglich­keiten der wiederholten Textelemente aus der Zuordnung auf die

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dort und damals gewählten sinndominanten Möglichkeiten ent­lassen werden. Wenn Fielding in Shamela die von Richardson ent­wickelte Tugendhaftigkeit Pamelas 'wiederholt', so virtualisiert er die für Richardson geltende Sinndominanz der Standfestigkeit und setzt die von Richardson ausgeschlossenen Möglichkeiten frei, die sich darin zeigen, daß man nur zäh und ausdauernd sein muß, um sich durch die bewahrte Tugend gut verkaufen zu können. Wenn aber der alte Kontext gestrichen und durch einen neuen ersetzt wird, so heißt das nicht, daß er verschwindet; er bleibt gegenwärtig, wenngleich seine Geltung gelöscht ist. Er verwandelt sich dadurch in einen virtuellen Hintergrund, der zur Verdeutlichung der vom Re­pertoire organisierten Thematik des Textes notwendig ist.

Das Repertoire eines fiktiona'len Textes besitzt erkennbare Stufen der Komplexion, die das Bilden der Situation zwischen Text und Leser unterschiedlich beeinflussen. Durch das Einzi!;:hen außertex­tueller Normen und die Wiederholung von Elementen vorangegan­gener Literatur sind gewisse Bestimmtheitsgrade markiert; durch sie erfolgt im Text eine Horizontsetzung, die zugleich den Situations­rahmen für den 'Dialog' zwischen Text und Leser bereitstellt.

Die Notwendigkeit, selektierte Normen derSinnsysteme im Text­repertoire mit einer wechselnden Anspielungsdichte auf vorange­gangene Literatur zu durchsetzen, ergibt sich aus· der Funktion des Textes, Reaktion zu sein. Te komplexer der Problemüberhang ist, auf den sich der Text bezieht, desto stärker wird sich das Repertoire differenzieren müssen. Denn es gilt, die historische Situation fest­zuhalten, auf die der Text reagiert. Folglich kommt es zu einer wachsenden Differenzierung innerhalb des Repertoires, das nun allerdings bestimmter Generalisierungen bedarf, soll die Kontur der Reaktion nicht verschwimmen. Diese Notwendigkeit bildet einen wesentlichen Grund dafür, daß Elemente der literarischen Tradition in den jeweiligen Text hineingezogen werden. Sie erbringen die ge­forderte Generalisierungsleistung, die es ermöglicht, die heterogene Vielfalt außertextueller Normen so zu organisieren, daß die Motiva­tion für ihre Wahl mitteilbar wird. Wenn Fielding in Tom Tones die Fabel seines Romans aus Elementen konstruiert, die der Ro­manze und dem Schelmenroman entnommen sind, dann bieten die

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literarischen Schemata eine Organisationsform an, die es erlaubt, den Helden gegen das Nt>rmensystem 'laufen' zu lassen (picaresker plot) und die in solcher Gegenläufigkeit gezeigten Qualitäten der menschlichen Natur gleichzeitig mit einer Erfolgsgarantie (Roman­zen-plot) zu versehen.52 So la'ßt sich über die selektierten Schemata vorangegangener Literatur das spezifische Maß an Generalisierung erzielen, das für den Antwortcharakter des Textes auf komplexere Verhältnisse unabdingbar ist.

Dieser Sachverhalt gilt auch dort, wo das Textrepertoire - wie etwa in den älteren lyrischen Gattungen - vorwiegend literarischer Herkunft ist. Spensers Eklogen sind dafür ein anschauliches Beispiel. Sie waren als Reaktion auf eine historische Problemlage konzipiert, indem sie die Gefahren verdeutlichen wollten, die für England her­aufziehen, falls Elisabeth die bevorstehende Verbindung mit einem Katholiken wirklich eingehen sollte. Spenser stand dafür nur das relativ stark definierte bukolische Inventar zur Verfügung, wenn­gleich er damit rechnen konnte, daß die Ekloge als Gattung für das höfische Publikum einen Wirklichkeits bezug signalisierte. Doch um die Besonderheit dieses Bezugs zu verdeutlichen, konnte Spenser nicht einfach bestimmte gesellschaftliche Normen selektieren, viel­mehr mußte er die mit den bukolischen Topoi verknüpften Seman­teme so umcodieren, daß er die Aufmerksamkeit des Publikums für die gewünschte Einstellung gewann. Nun aber bergen solche weit­reichenden Veränderungen bukolischer Topoi die Gefahr in sich, mißverstanden zu werden. Spenser zog daher Schemata anderer Gat­tungen wie die des Streitgedichts und der Fabel in die Eklogen hin­ein, die es ihm erlaubten, bestimmte Bedeutungen des umcodierten bukolischen Inventars abzublenden, um andere akzentuieren zu können. Dadurch vermochte er den Signalwert der umcodierten To­poi für das höfische Publikum im Sinn der von ihm verfolgten Mit­teilung entsprechend zu organisierenY Darin kommt die für litera-

52 Zur Funktion solcher literarischer Schemata vgl. die demnächst er­scheinende Arbeit von G. Birkner, Wirkungsstrukturen des Romans im 18. und 19. Jahrhundert.

S] Dieses Problem habe ich in meiner Schrift Spensers Arkadien. Fik­tion und GeschiChte in der englischen Renaissance (Schriften und Vor­träge des Petrarca-Instituts Köln 24L Krefeld 1970, näher ausgeführt.

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rische Repertoire-Elemente charakteristische Doppelheit zum Aus­druck. In der Umcodierung bekannter Schemata erzeugen sie zu­nächst ein Mitteilungsverhältnis, denn durch die Wiederkehr be­stimmter Schemata gewinnt der Text einen Horizont. Sodann aber dienen sie als Generalisierungen dazu, das gesamte Textrepertoire so weit vorzustrukturieren, daß sich die Botschaft organisieren läßt.

Die selektierten Normen außertextueller Realitäten und die lite­rarischen Anspielungen als zentrale Bestandteile des Textrepertoires sind zwei verschiedenen Systemen entnommen. Das eine Element entstammt den epochalen Sinnsystemen, das andere dem Arsenal der Artikulationsmuster, durch die in vorangegangener Literatur die Reaktion der Texte auf ihre Umwelt formuliert worden ist. Die se­lektierten Normen und die selektierten Schemata sind einander nicht äquivalent, und sollte dies gelegentlich der Fall sein, dann schwin­det der Informationsgrad des Textes, weil die zitierten Artikulations­muster eines wiederholten Textes, die damals galten, auch jetzt noch gelten sollen, obwohl sich die historischen Verhältnisse gewan­delt haben. In der Regel jedoch sind die verschiedenen Systemen entnommenen Elemente des Repertoires gerade in ihrem Bekannt­heitsgrad einander nicht äquivalent. Zugleich aber signalisiert ihre Zusammenstellung, daß sie aufeinander bezogen werden müssen, und das trifft selbst dort noch zu, wo durch sie Differenzen mar­kiert werden sollen. Wird durch die Selektionsentscheidungen im Text die Äquivalenz des Vertrauten aufgehoben, so ist damit das Prinzip der Äquivalenz im Text selbst noch nicht preisgegeben. Vielmehr zeigt sich das Äquivalenzsystem des Textes dadurch an, daß über das Bekanntsein der Elemente keine Entsprechungen mehr zu konstituieren sind. Daraus ergeben sich zwei Folgen, zunächst eine für den Text, sodann eine für den Leser. Merleau-Ponty sagte einmal: "Eine Bedeutung ist immer dann vorhanden, wenn die Gegebenheiten der Welt durch uns einer 'kohärenten Deformierung' unterworfen werden."S4 Das geschieht im fiktionalen Text mit den

5. M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, übers. von Hans Wer­ner Arndt, Hamburg 1967, p. 84.

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aus unterschiedlichen Systemen geschöpften Elementen seines Re­pertoires. Wenn Joyce beispielsweise in Ulysses die Fülle der Ho­mer- und Shakespeareanspielungen auf den Dubliner Alltag pro­jiziert, so durchlöchert er damit die illusionistische Abgeschlossen­heit realistischer Darstellung; zugleich aber werden die vielen reali­stischen Details des alltäglichen Lebens auf die Homeranspielungen zurückgekoppelt, durch die das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr wie das von Ideal und Wirklichkeit erscheint. Durch die wechselseitige Projektion entstehen Deformationen des Repertoires. Was soll die überfremdung des Repertoires eines klein­bürgerlichen Alltags durch Literatur, und was soll die überfremdung eines Archetyps durch die Fülle unstrukturierter Materialien, die den Adreßbüchern und den Tageszeitungen des Jahrhundertanfangs entnommen sind? Beide Elementbereiche irritieren sich gegenseitig; in ihrem Bekanntsein sind sie einander nicht äquivalent. So bildet sich erst über ihre Deformation das Äquivalenzsystem des Textes. Die literarischen Anspielungen sprengen den monotonen Rhythmus des kleinbürgerlichen Alltags durch eine ihm unbekannte Zeiten­tiefe auf und 'deformieren' seine Unabänderlichkeit zur Illusion. Die realistischen Details machen kenntlich, was der ideale Archetyp der historischen Ferne alles nicht gekannt hat, und 'deformieren' das nicht mehr erreichbare Ideal zu einer historischen Manifestation dessen, was dem Menschen möglich ist.

In der 'kohärenten Deformation' bringt sich das Äquivalenz­system des Textes zur Geltung; es ist weitgehend identisch mit dem, was man gewöhnlich als Stil bezeichnet und was zu Beginn dieser Diskussion ästhetischer Wert genannt worden ist. Der ästhetische Wert ist das, was der Text nicht formuliert und was im Ensemble des Repertoires nicht gegeben ist. Da er etwas bewirkt, vermag er nicht schon Teil dessen zu sein, worauf er seine Wirkung ausübt. Diese Wirkung läßt sich an zwei Tendenzen ablesen, die in schein­bar unterschiedliche Richtungen zielen, aber dennoch konvergieren. Im fiktionalen Text bedingt der ästhetische Wert die Selektion des Repertoires; er deformiert in diesem Vorgang die Gegebenheit der gewählten Elemente, um dadurch ein textspezifisches Äquivalenz­system anzuzeigen. In diesem Sinne bildet er die konstitutive Hohl­form des Textes. Als 'Strukturierungsenergie' des Textes jedoch ist

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er ebenso für den Kommunikationsvorgang relevant. Denn die von ihm suspendierte Äquivalenz der im Repertoire zusammengestellten Elemente besagt, daß der Text nicht mehr in Entsprechung zum Dispositionsrepertoire seiner möglichen Leser steht. In diesem Sinne ist der ästhetische Wert die Initiierung des Konstitutionsaktes.

Damit berühren wir die Auswirkungen suspendierter Äquivalen­zen innerhalb des Textrepertoires auf den Leser. Das Repertoire er­weckt für ihn nur den Anschein des Bekanntseins, denn durch die im Text erfolgte 'kohärente Deformation' haben die wiederkehren­den Elemente ihre Referenz verloren, durch die ihre jeweilige Bedeu­tung stabilisiert war. Daraus ergibt sich zweierlei: 1. Die Entwertung des Bekannten macht dem Leser,allererst die ihm bekannte Anwen­dungssituation der nun entwerteten Norm bewußt. 2. Die Entwer­tung des Bekannten markiert einen Scheitelpunkt, der das Bekannte zum Erinnerungsbild entrückt, das die Suche nach dem Äquivalenz­system des Textes allerdings insoweit orientiert, als dieses gegen das Erinnerungsbild bzw. vor diesem gewonnen werden muß.

Dieser Vorgang vollzieht sich nach den allgemeinen Vorausset­zungen der Kommunikation, die Moles einmal wie folgt umschrie­ben hat: "Der grundlegende Kommunikationsprozeß zwischen einem Sender und einem Empfänger ... besteht ... darin: erkenn­bare Zeichen einem Repertoire des Senders entnehmen, sie zusam­menfügen und über einen Kommunikationskanal verschicken; der Empfänger hat dann die Identität der empfangenen ~eichen mit denen festzustellen, die er im eigenen Repertoire vorrätig hat. Eine Kommunikation von Ideen findet nur insoweit statt, als die beiden Repertoire gemeinsamer Besitz sind ... In dem Maße aber, in dem ein solcher Prozeß innerhalb von Systemen stattfindet, die wie die menschliche Intelligenz mit Gedächtnis und statistischem Auffas­sungsvermögen ausgestattet sind, verändert die Wahrnehmung von immer gleichartigen Zeichen ganz langsam das Repertoire des Emp­fängers und führt schließlich zur vollständigen Verschmelzung mit dem Repertoire des Senders .. . Die Kommunikationsakte in ihrer Gesamtheit nehmen also durch ihren fortgesetzten Einfluß auf das Empfänger-Repertoire einen kumulativen Charakter an ... Die vom Sender am häufigsten angebotenen Semanteme fügen sich allmäh­lich in das Repertoire des Empfängers ein und verändern es. Darin

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besteht der Reiz eines soziokulturellen Kreislaufs."ss Bildet die Teil­überlagerung der Rtpertoire-Elemente des Textes mit solchen des Lesers eine Vorauspetzung dieses Kreislaufs, so nähert sich diese in fiktionalen Texten einem Nullwert. Denn die identifizierbaren Elemente des Textrepertoires, die dem Leser aus Anwendungssitua­tionen bekannt sind, haben in der Regel ihre Geltung verloren. Die Nicht-Identität des Bekannten bildet dann den minimalen Kontakt, der noch zwischen den beiden Repertoires besteht. Im Extremfall läßt sich die Teilüberlagerung bis auf diesen Punkt auseinander­ziehen, wodurch das semantische Potential des Textes steigt.

Die Verschiebbarkeit einer solcher partiellen Deckung der Reper­toirebestände erlaubt es, Kriterien für die Wirkung der Texte zu gewinnen. Rhetorische, didaktische und propagandistische Literatur nehmen in der Regel das ihrem Publikum vorgängig gemeinsame Sinnsystem in weitgehend intakter Form in ihr Repertoire auf. Das heißt, sie übernehmen auch die vertikal stabilisierten Geltungen des Sinnsystems und verzichten auf eine horizontale Organisation der Repertoire-Elemente, die immer ein Anzeichen für Umgeltung ist. Dieser Sachverhalt läßt sich in der publikumsbezogenen Literatur vom mittelalterlichen Fastnachtsspiel bis hin zum sozialistischen Realismus durchgängig beobachten. Die kommunikative Absicht solcher Texte besteht darin, dem Publikum die Geltung des Be­kannten erneut zu vermitteln. Die vorgängige Gemeinsamkeit von Text und Leser zu bestätigen, ist als Kommunikationsvorgang nur dann sinnvoll, wenn solche Geltungen in der Lebenswelt des Publi­kums angefochten sind. Um Kontingenz auszuschalten, muß das System stabilisiert werden. Daher reproduzieren solche Texte die zentralen Strukturen der Sinnsysteme, um durch die Affirmation ihrer Geltung diese vor Einbrüchen zu schützen. Doch nur wenn lebensweltliche Situationen eine Schwäche der Systemleistung er­kennbar machen, gewinnen diese Texte ihren kommunikativen Sinn.

Die Geltungsschwäche herrschender Systeme abzudichten, zeigt jedoch die gleiche Bilanzierungsfunktion, die fiktionale Texte auch dort ausüben, wo sie die Geltungsschwäche herrschender Systeme

55 Abraham A. Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahmeh· mung, übers. von Hans Ronge et al., Köln 1971, p. 22.

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aufdecken. Je nach der Zielrichhmg dieser Funktionen wird sich die Selektion des Repertoires jeweils anders präsentieren. In dem einen Fall herrscht hohe Systemkonformität und daher weitgehende Dek­kUJ;lg zwischen den Repertoirebeständen von Text und Leser. In dem anderen Fall herrscht ein hohes Maß entwerteter Geltung und daher eine abnehmende Deckung überlagerter Repertoirebestände.

Diesen Pol auf der Skala der Mischungsverhältnisse repräsentiert etwa Joyce. Das Repertoire des Ulysses ist nicht nur einer Vielzahl von Systemen entnommen, sondern auch in einer Dichte geboten, die dem Leser erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Diese gründen jedoch weniger in der Unvertrautheit der Elemente, die sich bei ent­sprechendem Aufwand identifizieren ließen, sondern eher in der gebotenen Massierung, wodurch das Repertoire seine Konturen zu verlieren beginnt. Nicht einzelne Elemente sind in ihrer Geltung umcodiert; sie alle scheinen nichts mehr zu bedeuten, weil sie sich kaum noch beziehen lassen. Die Teilüberlagerung von Sender- und Empfängerrepertoire ist so angelegt, daß durch die vielen erkenn­baren realistischen und literarischen Elemente der Eindruck eines nahezu vollständigen Auseinandergezogenseins der Repertoirebe­stände von Text und Leser entsteht. Tendiert eine solche Deckung zum Nullwert, dann verändert sich die kommunikative Funktion des Repertoires. Nun enthält es weniger Mitteilungen darüber, wie die Defizite der Bezugssysteme, aus denen es selektiert worden ist, zu bilanzieren seien. Statt dessen wird es als Kommunikations­medium reflexiv, und das heißt, es macht seine eigentliche Leistung: das Entwerfen von Beziehung selbst, thematisch. Das Repertoire des Ulysses erscheint deshalb als so verwirrend, weil wir die Beziehbar­keit der Vielzahl so verschiedenen Systemen entnommener Ele­mente kaum mehr zu sehen vermögen. Zugleich bietet der Text durch den Stilwechsel der einzelnen Kapitel eine Anzahl von Be­ziehungsmöglichkeiten an, ohne diese wiederum aufeinander zu be­ziehen. Dem Reflexivwerden der kommunikativen Leistung des Re­pertoires entspringen zwei Konsequenzen, die eng miteinander ver­flochten sind. Zum einen erzeugt die ausgesparte Beziehung einen Leerstellenbetrag unter den Repertoire-Elementen, der nur durch die Vorstellung besetzt werden kann. Zum anderen suggerieren die einzelnen Kapitel andere Beziehbarkeiten, so daß es zu einem be-

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ständigen Vorstellungswandel kommt, der bei aller Individualität seiner Inhalte eine intersubjektive Kommunikationsstruktur des Ulysses bleibt. Der Vorstellungswandel wird dann zum konstitutiven Modus dafür, die in Ulysses entworfene Alltäglichkeit zu einer Er­fahrung des Lesers zu machen, Denn Alltäglichkeit als sie selbst läßt sich nur über die inkonsistente Vorstellungsfolge von ihr ver­mitteln.

Das Reflexivwerden eines Kommunikationsmediums besagt aber auch, daß es die Regeln seines Codes reflektiert. Für den Ulysses heißt dies, der Leser gewärtigt angesichts der unverbundenen De­tailfülle, wie durchlässig, grobmaschig und selektiv unsere Wahr­nehmungs- und Vorstellungsvorgänge sind. Wir müssen immer viel auslassen, um Orientierungen zu gewinnen, und gerade daran hin­dert uns die Dichte des Repertoires in Ulysses. Ferner zeigt der Stil­wechsel der einzelnen Kapitel in seiner perspektivischen Gebunden­heit, wie sehr Wahrnehmung und Vorstellung nur über Blickpunkt­konstellationen zu funktionieren vermögen. Dies wird uns durch das Dementi der Perspektive angezeigt. Schließlich bedeutet die De­tailfracht des Repertoires, daß hier unsere habituellen Automatisie­rungen von Wahrnehmung und Vorstellung versagen und damit die Orientierung schwindet, die wir aus solchen Automatisierungen gewinnen. So läßt sich der Vorstellungswechsel nur über die Sus­pension der Durchlässigkeit, der Perspektive und der Automatisie­rung als den Regeln unseres Wahrnehmungscodes in Gang bringen. Die Vorstellbarkeit des Alltags regelt sich nicht mehr über einen Code, sondern erfolgt über das Reflexivwerden des Mediums, das uns zugleich das Funktionieren des Wahrnehmungscodes bewußt werden läß t.

Die Extremwerte auf der Skala partieller Deckung der Repertoire­bestände von Text und Leser machen deutlich, daß die Beteiligung des Lesers am Text in unterschiedlicher Weise beansprucht wird. Sie ist dort verhältnismäßig gering, wo der Text eine vorgängige Ge­meinsamkeit weitgehend reproduziert, und dort verhältnismäßig intensIv, wo sich die Deckung einem Nullwert nähert. In beiden Fällen jedoch organisiert das Repertoire Einstellungen des Lesers zum Text und damit zu der im Repertoire parat gehaltenen Problem­kontur der Bezugssysteme. Das Repertoire bildet somit eine Organi-

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sationsstruktur von Sinn, die es im Lesen des Textes zu optimieren gilt.56 Diese Optimierung ist abhängig vom Kenntnisstand des Le­sers und seiner Bereitschaft, sich auf eine ihm fremde Erfahrung einzulassen. Sie hängt aber auch von den Strategien des Textes ab, die als Lenkungspotential die Bahnen der Realisierung vorzeichnen. Wenn der Leser in der Aktualisierung des Textes das Äquivalenz­system der Repertoire-Elemente entdecken muß, so ist der daraus entspringende Sinn nicht von beliebiger Natur. Die Repertoire­Elemente haben einen hohen Bestimmtheitsgrad; ihr Äquivalenz­system ist insoweit unbestimmt, als es nicht formuliert ist. Es läßt sich nur über die Optimierung angebotener Strukturen gewinnen. Da aber das Repertoire durch Umgeltung von Geltung charakteri­siert ist, präsentiert sich in ihm immer ein Verweisungszusammen­hang, der unterschiedliche Verteilung im Blick auf dominante, vir­tualisierte und negierte Sinnmöglichkeiten besitzt. Die Optimierung der Struktur zielt auf das Herstellen von Ordnung, die den Ver­weisungszusammenhang des Repertoires als einen bestimmten Sinn des Textes erfahrbar macht. Dieser hat zwangsläufig pragmatischen Charakter; denn er schöpft die semantischen Potentiale des Textes nicht aus, sondern schafft einen bestimmten Zugang zu ihnen. Die­ser ist deshalb nicht arbiträr, weil der Verweisungszusammenhang des Repertoires aus einer abgestuften Organisation besteht, die sich von den sinndominanten Möglichkeiten über die virtualisierten bis zu den negierten erstreckt. Der pragmatische Sinn wird eine solche Stufung jedoch immer nur selektiv realisieren. Doch gerade dadurch zeigt er an, welche Entscheidungen seitens des Lesers im Verwei-

56 Struktur ist hier in dem von Jan Mukarovsky, Kapitel aus der Poetik (edition suhrkamp 230), Frankfurt 1967, p. 11, skizzierten Sinne verstan­den: "Ein weiteres Grundmerkmal der Struktur ist ihr energetischer und dynamischer Charakter. Die Energetik der Struktur beruht darauf, daß jedes der Elemente in der gemeinsamen Einheit eine bestimmte Funktion hat, die es in das strukturelle Ganze eingliedert, die es an das Ganze bindet; die Dynamik des strukturellen Ganzen ist dadurch gegeben, daß diese einzelnen Funktionen und ihre gegenseitigen Beziehungen wegen ihres energetischen Charakters ständigen Veränderungen unterworfen sind. Die Struktur als Ganzes befindet sich daher in einer unaufhörli­chen Bewegung, im Gegensatz zu einer summativen Ganzheit, die durch eine Veränderung zerstört wird."

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sungszusammenhang des Repertoires gefallen sind und welche Ein­stellung der Text im Leser zur Problemkontur des Bezugssystems hervorgerufen hat.

Der pragmatische Sinn ist ein Verwendungssinn, der insofern die Funktion des fiktionalen Textes einlöst, als dessen Antwortcharakter einen Komplementarisierungsprozeß in Gang bringt, durch den die Defizite der Bezugssysteme aufgedeckt und bilanziert werden. Der pragmatische Sinn setzt den Leser in ein bestimmtes Reaktionsver­hältnis zu der vom Text vermeinten 'Wirklichkeit' mit dem Ziel, diese nun der Verarbeitung aufzugeben. Dabei wird es genauso zur Umschichtung sedimentierter Erfahrung im Habitus des Lesers kom­men wie zur pragmatischen Auslegung des gebotenen Verweisungs­zusammenhangs im Repertoire. Der pragmatische Sinn gibt diesen Spielraum der Aneignung frei, damit das geleistet werden kann, was er intersubjektiv vorzeichnet: die imaginäre Bewältigung defizitärer Realitäten.

B Textstrategien

1. Aufgabe der Strategien

Das Textrepertoire bezeichnet das selektierte Material, durch das der Text auf die Systeme seiner Umwelt bezogen ist, die im Prinzip solche der sozialen Lebenswelt und solche vorangegangener Literatur sind. Eingekapselte Normen und literarische Bezugnahmen setzen den Horizont des Textes, durch den ein bestimmter Verweisungs­zusammenhang der gewählten Repertoire-Elemente vorgegeben ist, aus dem das Äquivalenzsystem des Textes gebildet werden muß. Zur Konkretisierung dieser virtuell gebliebenen Äquivalenz des Re­pertoires bedarf es der Organisation, die von den Textstrategien geleistet wird. Ihre Aufgaben sind von unterschiedlicher Zielrich­tung. Sie müssen die Beziehungen zwischen den Elementen des Re­pertoires vorzeichnen, und das heißt bestimmte, für das Erzeugen der Äquivalenz notwendige Kombinationsmöglichkeiten solcher Ele­mente entwerfen. Sie müssen aber auch Beziehungen stiften zwi­schen dem von ihnen organisierten Verweisungszusammenhang des

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Repertoires und dem Leser des Textes, der das Äquivalenzsystem zu realisieren hat. Strategien organisieren folglich die Sujetfügung des Textes genauso wie dessen Kommunikationsbedingungen. Sie sind daher weder mit der Darstellung noch mit der Wirkung des ':'extes ausschließlich zu verrechnenj vielmehr liegen sie dieser begriffs­realistischen Trennung der Ästhetik immer schon voraus. Denn in ihnen fällt die textimmanente Organisation des Repertoires mit der Initiierung der Erfassungsakte des Lesers zusammen.

In welcher Form Strategien die Zuordnung der Repertoire-Ele­mente im Text sowie die Sicherstellung von Empfangsbedingungen regulieren, läßt sich immer dann ermessen, wenn sie ausgeschaltet sind. Dies geschieht in der Nacherzählung von Romanen bzw. Dra­men oder in Gedichtparaphrasen. Solche Wiedergaben vernichten den Text geradezu, weil es nun gilt, den 'Inhalt' einigermaßen voll­ständig zu bieten. Dabei ersetzt der Nacherzählende die Strategien des Textes durch eigene Organisationsgesichtspunkte. Die Texte scheinen dann oft eine höchst merkwürdige 'Geschichte' zu habenj man hat diese Erfahrung mit solchen erzählten Wiedergaben viel­fach gemacht. Inhaltsangaben denotieren den Stoff, der als reines 'Denotat' zugleich bedeutungslos ist.

Da sich jedoch das Äquivalenzsystem des Textes aus der Kom­bination seiner Elemente ergibt, können die Textstrategien ihrer­seits weder den Verweisungszusammenhang des Repertoires noch dessen Empfangsbedingungen total organisieren. Durch sie werden dem Leser nur bestimmte Kombinationsmöglichkeiten vorgegeben, denn totale Organisation hieße, das Zusammenwirken der Reper­toire-Elemente sowie deren Erfassung bereits in der Anlage vollkom­men bestimmbar zu machen. Geschähe dies wirklich, dann würde sich sogleich die Frage aufdrängen, in welcher Hinsicht diese Be­stimmung eine vollkommene sein sollte. In fiktionalen Texten läßt sich eine solche Frage - ganz im Gegensatz zu Sachtexten - schwer beantwortenj denn der fiktionale Text protokolliert keine Sachver­halte, sondern entwirft bestenfalls solche für die Vorstellungstätig­keit des Lesers. Diese aber würde ausgeschaltet, wenn die Strategien eine totale Bestimmung dessen lieferten, was der Leser in der Be­folgung ihrer Instruktionen hervorzubringen hat. Je deutlicher die von den Strategien bewirkte Organisation ein solches Ansinnen er-

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kennen läßt, desto eher dürfte der Leser auf ein solches Ansinnen reagieren, wodurch er gerade von dem Sachverhalt abgelenkt würde, auf den er gerichtet werden soll. Sind Strategien die Kombinations­bedingungen des fiktionalen Textes, so können sie das, was sie er­möglichen, weder selbst sein noch repräsentieren.

Nun lassen sich die Strategien in der Regel durch die im einzelnen Text jeweils auffindbaren Techniken ausmachen. Man denke dabei nur an die oft sehr unterschiedlich praktizierte Erzähltechnik im Ro­man oder an jene Techniken, wie sie etwa im Sonett durch die dialektische Entgegensetzung von Oktave und Sextett sowie deren Aufhebung im Reimpaar gegeben sind. Daraus folgt, da.ß eine Dis­kussion der Textstrategien sich nicht auf die Inventare ihrer höchst variantenreichen Techniken einlassen kann, durch die sich Strate­gien realisieren; vielmehr muß sie der Struktur gelten, die den in­dividuell praktizierten Techniken unterliegt. Von welcher Art nun ist diese Struktur? Bedenkt man, daß Strategien nicht nur den Ver­weisungszusammenhang des Repertoires organisieren und dessen Erfassung vorzeichnen, sondern auch jene Funktion erfüllen müs­sen, die im Dialogmodell der Sprechakte den accepted procedures zufällt, dann wird die Frage nach ihrer Struktur zugleich als Pro­blem deutlich. 'Akzeptierte Prozeduren' verkörpern im Sprechakt­modell jene Verfahren bzw. Regeln, die dem Sprecher und dem Hörer vorgegeben sein müssen, soll die Sprachhandlung gelingen. Wie aber kann in einem fiktionalen Text, dessen horizontale Re­pertoireorganisation gerade die Geltung des Bekannten problemati­siert hat, durch Strategien jene 'Gemeinsamkeit' gewonnen werden, die den Erfolg der Kommunikation zu sichern vermag? In der Regel ist es doch geradezu Aufgabe der Strategien, in Texten dieser Art das Unerwartete am Bekannten aufzudecken.

2. Die alte Antwort: Deviation

Diese unbestrittene Funktion der Strategien hat sich immer schon als ein Problem gestellt, das von einer strukturalistisch verfahrenden Texttheorie durch das Deviationsmodell gelöst werden sollte. Nun kann es hier nicht darum gehen, die weitverzweigte und oft auch

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unergiebige Diskussion über die Entstehung der 'Poetizität' eines Textes durch Abweichung erneut aufzurollen; dennoch ist es not­wendig, sich die begrenzte Reichweite des Deviationsmodells ins Ge­dächtnis zu rufen, um eine Struktur zur Beschreibung der Strate­gien zu gewinnen, die es erlaubt, das Deviationsmodell zu über­schreiten. Abweichung als zentrale Bedingung der 'Poetizität' eines Textes ist längst als IIdeviationist talkIlI in Verruf geraten, ohne daß die damit angebotene Erklärungshypothese zum Verschwinden ge­bracht worden wäre; wie es etwa die Arbeiten von Riffaterre und Lotman bezeugen. Das Deviationsmodell scheint eng mit einer strukturalistischen Position verbunden zu sein.

Seine klassische Formulierung hat das Deviationsmodell in dem Aufsatz von Mukarovsky IIStandard Language and Poetic Languagell

aus dem Jahre 1940 gefunden.2 Dort entwickelt Mukarovsky den Kontrast von sprachlicher Norm und poetischer Sprache: IIThe vio­lation of the norm of the standard, its systematic violation, is what makes possible the poetic utilization of language; without this pos­sibility there would be no poetry.1I3 Läßt man einmal die vielen Argumente beiseite, durch die dieses Gegensatzpaar zu Recht kriti­siert worden ist, so steckt doch in der von Mukarovsky getroffenen Feststellung die entscheidende Implikation der ganzen Deviations­stilistik und folglich das stärkste ihrer Argumente, das bis hin zu Riffaterre wirksam geblieben ist. Explizit gemacht würde es besagen, daß ein Verletzen des Standards insofern 'poetische Qualität' besitzt, als der Standard in der Verletzung immer mitzitiert ist, so daß nicht die Verletzung als solche, sondern das durch sie hergestellte Ver­hältnis zur Bedingung der 'poetischen Qualität' wird. Diesen Sach­verhalt hat Mukarovsky in seinem Aufsatz auch gelegentlich ange­sprochen: "The background which we perceive behind the work of

1 Vgl. dazu Stanley Fish, "Literature in the Reader: Affective Styli­sties", in New Literary History 2 (1970), p. 155. Zum weiteren Umkreis der Deviationsstilistik vgl. ferner Raymond Chapman, Linguistics and Literature. An Introduction to Literary Stylistics, London 1973.

2 Jan Mukarovsky, "Standard Language and Poetic Language", in A Prague Sd1001 Reader on Esthetics, ed. Paul 1. Garvin, Georgetown 31964, pp. 17 fI.

3 Ibid., p. 18.

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poetry as consisting of the unforegrounded components reslstmg foregrounding is thus dual: the norm of the standard language and the traditional esthetic canon. Both backgrounds are always poten­tially present, though one of them will predominate in the con­crete case.JJ4

Sieht man für den Augenblick einmal davon ab, daß die 'poetische Qualität' offensichtlich nicht allein nur der Verletzung eines poten­tiell parat gehaltenen Standards entspringt, sondern daß auch der 'ästhetische Kanon' immer mitzitiert werden muß, um eine Staffe­lung verschiedenartiger Abweichungen zu schaffen, so macht Mu­katovskys These in jedem Falle deutlich, daß eine Verletzung des Standards sowie des 'ästhetischen Kanons' nur die Funktion haben kann, das Sinnpotential eines Textes zu erzeugen, nicht aber dieses durch Abweichung erzeugte Potential schon zu strukturieren. Da­mit kommt die begrenzte Reichweite des Deviationsmodells für die Beschreibung von Textstrategien in den Blick. Diese Begrenzung entspringt nicht einmal ausschließlich den Problemen des Modells, sie zeigt sich auch in dessen Leistung. Die Probleme stellen sich in der Frage, was sprachllche Norm und was ästhetischer Kanon ist. Die heiden Bezugspunkte der Abweichung müssen den Charakter von Konstanten besitzen, und seien es auch nur solche von historisch oder gesellschaftlich eingeübten Mustern, die als Invarianten wirk­sam sind. Wenn daher Abweichung von ihnen zur Bedingung 'poe­tischer Qualität' wird, die den literarischen Texten vorbehalten bleibt, so fragt es sich etwa, welchen Status umgangssprachliche Ver­letzungen besitzen. Darin kommt ein eigentümlich puristischer Zug der Deviationsstilistik zum Vorschein: sie reklamiert ästhetische Phänomene nur für die Kunst, so daß es für sie solche Phänomene in der Lebenswelt kaum zu geben scheint. Diese Trennung ist un­gleich problematischer als die ohnehin schwer zu leistende Bestim­mung dessen, wie sprachliche Norm und ästhetischer Kanon ermit­telt werden - ein Sachverhalt, an dem sich die Auseinandersetzung mit dem Deviationsmodell vornehmlich festgebissen hat. In jedem Falle aber hinterläßt das Konzept der Normverletzung eine recht eindimensionale Bestimmung literarischer Texte, indem eigentlich

4 Ibid., p. 22.

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nur eine Differenz übrigbleibt, die die Besonderheit solcher Texte ausmacht: diejenige zwischen Text und Norm bzw. Text und Ka­non. Dadurch aber schwinden weitgehend jene Differenzen aus dem Blick, die sich im Text aus seinen Konstituenten ergeben und die in erhöhtem Maße Bedingung für das Erzeugen des ästhetischen Ge­genstandes sind, der im Endeffekt ungleich konkretere Züge besitzt als die etwas verschwommene Qualifikation der 'Poetizität'.

Nun hat die Deviationsstilistik diesen eklatanten Mangel durch­aus bemerkt. Die Art indes, in der sie ihn zu beheben trachtete, macht erneut die konstitutive Begrenzung des Modells deutlich. Die Deviationsstilistik führte eine Reihe von Zusatzbedingungen ein, durch die Verletzung und Abweichung näher klassifiziert werden. So hat die linguistisch orientierte Poetik ein großes Arsenal von Ab­weichungstypen zusammengetragen, die sich nicht nur aus der Ab­setzung von Mustern eines eingeübten Sprachhabitus ergaben, son­dern noch einmal aus den klischeehaften Wendungen selbst, die der literarische Text in sich hineingezogen hat, wofür die strukturali­stische Stilistik Riffatehes ein bedeutsames Beispiel ist. Diese Zusatz­bedingungen haben alle den Charakter von Klassifikationen und verkörpern folglich nur Register, die sich im Prinzip immer weiter differenzieren lassen, ohne daß sie dadurch aufhören, doch nur In­ventare zu sein. So unbestreitbar nützlich solche Inventare sind: eine Funktion vermögen sie nicht zu erklären.

Wenn sich eine strukturalistisch orientierte Deviationsstilistik von diesem Einwand nicht sonderlich getroffen fühlt, so vorwiegend des­halb, weil die von ihr betriebene Klassifikation der Abweichungs­typen als Vervollständigung jener Struktur verstanden wird, die sich als die Struktur des literarischen Textes ausgibt. Doch wenn lies die Letzte Struktur gibt, dann kann diese nicht definiert werden: Es gibt keine Metasprache, die sie einfangen könnte. Wenn man sie identifiziert, dann ist es nicht die Letzte. Die Letzte ist diejenige, die - verborgen und ungreifbar und nicht-strukturiert - neue Er­scheinungen erzeugt."S Folglich verfehlt eine taxonomisch verfah" rende Bestimmung einer solchen Struktur ihren Sinn.

5 Umberto Eco, Einführung in die Semiotik (UTB 105), übers. von Jürgen Trabant, München 1972, p. 411.

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Nun aber gibt es Aspekte der Deviationsstilistik - und diese wä­ren als ihre Leistungen zu bezeichnen - die sich nicht ohne weite­res mit der Ontologisierung der Struktur verrechnen lassen. Abwei­chungen können von der Verletzung der Norm und des Kanons bis zur Löschung der Geltung des Bekannten reichen. Dadurch erhöht sich das semantische Potential des Textes, und diese Steigerung ma­nifestiert sich als Spannung. In ihr transformiert sich die Verletzung in eine Irritation, die die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken be­ginnt. Die Spannung muß sich entladen, und dafür ist ein Bezugs­pol notwendig, der nicht mit jenen Polen identisch sein kann, die sie erzeugt haben. Die Spannung entlädt sich folglich im Empfän­ger und stellt dadurch das Verhältnis von Text und Leser überhaupt erst her. In diesem Falle wird die durch Abweichung erzeugte 'poetische Qualität' weder auf die Normen eines abstrakten Stan­dards noch auf einen gleichermaßen abstrakten ästhetischen Kanon zuruckgekoppelt, sondern auf die Dispositionen und Habitualisie­rungen des Lesers bezogen. Damit gewinnt die 'poetische Qualität' einen Funktionswert, der zunächst auf die Mobilisierung der Auf­merksamkeit hinausläuft und folglich jene Aufgabe erfüllt, die Austin in den illokutionären Sprechakten als seeuring llptake6 be­zeichnet hatte.

Versteht man Abweichung in diesem Sinne, dann kann sie sich nicht mehr ausschließlich auf eine postulierte Sprachnorm beziehen, die durch sie verletzt wird7, sondern allenfalls auf 'Erwartungsnor­men' des Lesers, deren Verletzung sich nicht in der bloßen Erzeu­gung eines semantischen Potentials erschöpft. 'Erwartungsnormen' des Textes können im Prinzip zweifacher Natur sein. Geht man da­von aus, daß soziale Normen und literarische Bezugnahmen als Re­pertoire des Textes zugleich dessen Horizontbildung leisten, so ge­schieht damit ein Setzen von 'Erwartungsnormen', die den Hinter­grund für die nun im Text erfolgenden Operationen abgeben. Zum anderen kann sich die 'Erwartungsnorm' auf die sozio-kulturellen

6 J. 1. Austin, How to do Things witb Words, ed. J. O. Urmson, Cam­bridge/Mass. 1962, p. 120.

7 Vgl. dazu auch Broder Carstensen, "Stil und Norm", in Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 37 (1970), pp. 260 H.

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Habitualisierungen eines bestimmten Publikums beziehen, das der Text als einen mehr oder minder deutlich gemachten Adressaten versteht. In einer solchen publikumsbezogenen 'Erwartungsnorm', die in didaktischer und propagandistischer Literatur eine kontinuier­liche Beispielreihe vom Mittelalter bis zur Gegenwart besitzt, wer­den jeweils zeitgenössische Bewußtseinskonditionierungen in den Text hineingezogen, um zu diesem Hintergrund eine wie immer geartete Einstellung erzeugen zu können. Verletzungen solcher im Text selbst markierten 'Erwartungsnormen' rufen sicherlich eine Spannung hervor; sie vermögen jedoch nicht, die dadurch geweckte Aufmerksamkeit ihrerseits schon zu strukturieren. Da aber die der Abweichung entspringende Steigerung des semantischen Potentials nicht Selbstzweck sein kann, sondern immer eine Steigerung für einen möglichen Empfänger ist, entzieht sich diese pragmatische Komponente der Bestimmung durch eine strukturalistische Devia­tionsstilistik. Für sie ist die Abweichung nur signifikant und folglich klassifizierbar im Blick auf ein wie immer postuliertes System der Semantik, nicht aber aus den daraus resultierenden Konsequenzen für die Pragmatik des Textes. Es gehört zu den Paradoxien der De­viationsstilistik, daß ihre strukturalistische Orientierung die der Ab­weichung entspringenden Kommunikationssituationen von Text und Leser nicht mehr zu strukturieren vermag. Immer dort, wo die Struktur das Letzte und folglich der Funktion vorgeordnet ist, entsteht eine Bedeutungshierarchie, deren ontologische Natur darin zum Vorschein kommt, daß die Verwendungssituationen dieser Be­deutungen deren Status offensichtlich unberührt lassen.

Daraus folgt, daß die Deviationsstilistik keine zureichende Matrix dafür abzugeben vermag, wie Struktur und Leistung der Textstrate­gien zu beschreiben sind, die die Kommunikation von Text und Leser regulieren. Die dafür notwendige Umorientierung der Blick­richtung hat A. E. Darbyshire in seiner Grammar 01 Style auf die formelhafte .Wendung zusammengezogen: Stil sei nicht "a deviation from the norm", sondern "deviation into sense".8 Diese Opposition gründet Darbyshire auf die wichtige Unterscheidung zwischen In-

, Vgl. A. E. Darbyshire, A Grammar of Style, London 1971, pp. 98, 107, 111 ff.

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formation und Sinn, durch die erkennbar wird, daß sich Textstrate­gien nicht auf bloße Darstellungsverfahren einschränken lassen. "I wish to make a distinction between the words meaning and in­formation as technical terms used in the discussion of the grammar of style. To speak generally, one might say that information is pro­vided by the encoders of messages in order to give the messages meaning, and that meaning, therefore, is a totality of the experien­ces of responding to a given amount of information."9

überlegungen dieser Art lagen schon dem Konzept von Gombrich zugrunde, der in seinem Buch Art and Illusion die Konstitutions­weise und die Auffassungsakte von Werken der bildenden Kunst analysiert hat. Die von ihm entwickelte Theorie arbeitet mit dem Begriffspaar von Schema und KorrekturIO, das aus den gestaltpsycho­logischen Wahrnehmungsexperimenten gewonnen ist, ohne jedoch vollständig mit ihnen zusammenzufallen. Gombrich bezieht dieses Begriffspaar zunächst auf die Beschreibung des Darstellungsaktes in den Bildenden Künsten; doch er trennt Darstellungsleistungen nie­mals von ihren Rezeptionsbedingungen ab, vielmehr versucht er, Darstellung über solche konstitutiven Bedingungen der Rezeption zu fassen. Das Schema hat die Funktion eines Filters, der es erlaubt, die Wahrnehmungs daten zu gruppieren. " ... the idea of some basic scaffolding or armature that determines the 'essence' of things, re­fleets our need for a schema with which to grasp the infinite variety of this world of change ... This tendency of our minds to classify and register our experience in terms of the known must present a real problem to the artist in his encounter with the particular."ll Im Schema - so muß man ergänzen - zeigt sich nicht nur das von der Gestaltpsychologie entdeckte Ökonomieprinzip des Sehens12, das als solches auch unsere alltäglichen Wahrnehmungen reguliert, sondern in verstärktem Maße die notwendige Kontingenzreddztion der Welt, die durch die zunehmende Komplizierung des Schemas repräsentiert

9 Ibid., p. 14l. Iv Vgl. E. H. Gombrich, Art and Illusion, London 21962, pp. 24 u. 99. 11 Ibid., pp. 132 f. u. 144. 12 Vgl. dazu Rudolf Arnheim, Art and Visual Perceptioll, Berkeley and

Los Angeles 1966, pp. 46 f.

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und dadurch der Auffassung zugänglich wird. Damit hat das Schema bereits eine dialektische Strukturj denn es balanciert das auf Aus­blenden von Wahrnehmungsdaten gerichtete Ökonomieprinzip des Sehens mit der Erhöhung der Eigenkomplexität des Schemas aus, das in der Reduktion von Kontingenz ja nicht Verluste produzieren soll. Erst dadurch vermögen sich Schemata zu bewähren, und je häu­figer sie diese Sicherheit vermitteln, und das heißt, je adäquater durch sie eine jeweils historisch gegebene Welt repräsentierbar wird, desto mehr beginnt sich ihre 'Verläßlichkeit' zu stabilisieren - sie werden zur Stereotype.

Damit kommt der zweite von Gombrich entwickelte Gesichts­punkt ins Spiel. Vorgegebene Schemata machen die Welt nur unter bestimmten Vorentscheidungen repräsentierbar. Da man aber immer nur im Blick auf solche in den Schemata materialisierten Entschei­dungen auf die Welt blicken kann, ist jede wahrnehmbare Beson­derheit, die vom Schema nicht gedeckt wird, nur durch dessen Kor­rektur darstellbar. Schemata müssen folglich korrigiert werden, da­mit durch ihre Veränderung die Besonderheit der Eindruckserfahrung hervorgerufen werden kann. Daraus folgt nicht nur die Absage an einen naiven Abbildrealismus, sondern auch, daß die Erfassung von Besonderheit bereits für die Darstellung nur über eine latente Ne­gation bekannter Elemente des Schemas zustandekommt. In diesem Vorgang gründet die Funktionstüchtigkeit des Modells. Das Schema besitzt eine Referenz, die in der Korrektur überschritten wird. Macht das Schema die Welt repräsentierbar, so ruft die Korrektur im Be­trachter Reaktionen auf die repräsentierte Welt hervor.

An diesem Punkt allerdings scheint Gombrich den operativen Charakter seines Modells wiederum einzuschränken. Denn er meint, daß die Korrekturen der Schemata durch ein "matching"13 gesteuert werden, und darunter versteht er das Bestreben des Malers, die er­erbten Muster der Besonderheit des von ihm Wahrgenommenen anzugleichen. So ist der Darstellungsakt ein ständiger Differenzie­rungsprozeß überlieferter Schemata, deren jeweilige Korrektur im Sinne Gombrichs ein immer 'angemesseneres' Darstellen der Welt ermöglicht - ein Prozeß, dessen Ziel Wollheim in seiner Kritik an

13 Vgl. u. a. Gombrich, p. 121.

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diesem Konzept nicht zu Unrecht als "a fully fledged Naturalism"14 klassifiziert hat. Denn eine so verstandene Korrektur setzt normative Orientierungen voraus, die die Beobachtung der Welt regulieren und deren jeweilige Erfüllung sich dann in der Korrektur des Schemas anzeigt. Folglich werden für Gombrich seit dem Impressionismus in der Malerei die Schemata immer mehr zurückgedrängt, bis in der Moderne im Aufstand gegen das Schema15 die Beziehung von Stereo­type und Korrektur ihren Sinn zu verlieren beginnt. - Doch dessen ungeachtet sollte man festhalten, daß die Korrektur durch ihre dem Schema eingezeichnete Veränderung eine im Bild gesetzte 'Erwar­tungsnorm' verletzt. Dadurch schafft der Darstellungsakt selbst Re­zeptionsbedingungen. Er weckt die Beobachtung und initiiert die Vorstellungs tätigkeit des Betrachters, der insofern von der Korrektur gelenkt wird, als es die Motive zu entdecken gilt, die sich in der Ver­änderung des Schemas anzeigen.

In diesem Sinne besitzt das Begriffspaar von Schema und Korrek­tur auch für die Strategien fiktionaler Texte einen heuristischen Wert. überträgt man das von Gombrich entwickelte Begriffspaar auf die Beschreibung fiktionaler Texte, so ist zunächst eine nicht un­wesentliche Modifikation notwendig, durch die zugleich der von Wollheim erhobene Einwand gegen den sich selbst vervollkomm­nenden Naturalismus schwindet. In fiktionalen Texten kann sich die Korrektur der Schemata nicht von der Besonderheit einer bestimm­ten Wahrnehmung herleiten, wie es Gombrich für die Bildenden Künste postuliert hatte. Denn es gibt für den Text nicht das Vor­gegebensein einer bestimmten objekthaften Welt, die durch ihn ab­gebildet würde. Der Weltbezug des fiktionalen Textes läßt sich erst in den von ihm mitgeführten 'Schemata' ausmachen, die - wie es die Repertoirediskussion gezeigt hat - aus Normen der sozialen Welt und aus Darstellungsweisen vorangegangener Texte bestehen, durch die jene Ansichten signalisiert werden, die in den entsprechen­den Sinnsystemen sowie in den entsprechenden Texten die Bedin­gungen für die jeweilige WeItsicht abgegeben haben. Wenn diese

" Richard Wollheim, 11 Art and Illusion", in Aesthetics in the Modern World, ed. Harold Osborne, London 1968, p. 245.

15 Gombrich, pp. 149, 169,301 u. 330 f.

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nun verändert werden, so kann sich die 'Korrektur' nicht an Wahr­nehmungsdaten einer gegebenen Objektwelt orientieren, da durch die 'Korrektur' in der Regel etwas evoziert werden soll, das in der realen Umwelt des Textes weder gegeben noch formuliert ist. Folg­lich kann sich die 'Korrektur' überhaupt nur in der Umstrukturie­rung der Signifikanzpunkte mitgeführter 'Schemata' manifestieren. Daraus ergibt sich die eigentümliche Darstellungsfunktion der 'Sche­mata'. Als sie selbst sind sie zwar Elemente des Textes, doch als solche sind sie weder Aspekt noch Teil von dessen ästhetischer Gegenständlichkeit. Diese kommt erst in den Deformationen der parat gehaltenen Schemata zum Vorscheinj folglich drückt sich der ästhetische Gegenstand als Hohlform in der Veränderung der 'Sche­mata' ab. Damit ist zugleich gesagt, daß der ästhetische Gegenstand ein Vorstellungsgegenstand ist, der vom Leser über deformierte und dementierte Schemata hervorgebracht werden muß. Denn es ist die mangelnde Bestimmtheit des ästhetischen Gegenstands im Text, die seine Erschließung durch die Vorstellung des Lesers notwendig macht. Mangelnde Bestimmtheit aber besagt nicht, daß die Vorstel­lung nun völlig frei wäre, sich alles und jedes zu imaginieren. Viel­mehr zeichnen die Textstrategien jene Bahnen vor, durch die die Vorstellungstätigkeit gelenkt und damit der ästhetische Gegenstand im Rezeptionsbewußtsein hervorgebracht werden kann. Wie aber Textstrategien beschaffen sein müssen, um diese Aufgabe zu be­werkstelligen, darüber sagt weder das Deviationsmodell noch das Gombrichsche Begriffspaar von Schema und Korrektur Zureichen­des aus.

'Schemata' gehören zu den Elementen des Textesj sie lassen sich je nach der vorhandenen Kompetenz des Lesers identifizieren.16 Sie haben ihren Bezugsrahmen in den Sinnsystemen sowie in der litera­rischen Tradition, die beide zwar nicht den Charakter einer logi­schen Referenz besitzen, aber dennoch eine gewisse Bedeutungssta­bilisierung garantieren. Im Gegensatz dazu hat der ästhetische Ge­genstand des Textes weder die Elementqualität der 'Schemata' noch deren Stabilität, geschweige denn ein ihnen vergleichbares Referenz-

16 Zur Kompetenz des Lesers vgl. J. P. Sartre, Was ist Literatm! (rde 65), übers. von Hans Georg Brenner, Hamburg 1958, p. 29.

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system. Deshalb läßt sich der ästhetische Gegenstand im Gegensatz zu den 'Schemata' auch nicht vom Text abheben und getrennt von ihm formulieren. Bezeichnet man einmal im Anschluß an eine For­mulierung Posners die 'Schemata' als den ersten Code des Textes, so ließe sich der ästhetische Gegenstand als die vom Leser hervorzu­bringende Formulierung eines zweiten Codes charakterisieren: " ... er ist dem Text, der ihn realisiert, nicht vorgegeben, sondern kon­stituiert sich erst in diesem, und er ist nicht allen Sprachteilnehmern bekannt, sondern wird erst beim Lesen ermittelt. Vorwiegend auf diese Tätigkeit, das Entziffern des 'zweiten Kodes', ist der ästhetische Genuß zurückzuführen, den der Leser während des Lesens ver­spürt."17

3. Die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung

Versteht man die 'Schemata' als Primäreode des Textes, dessen Funk­tion darin besteht, dem Leser die notwendigen Anweisungen für das Hervorbringen eines Sekundäreodes zu liefern, so kann der Pri­märeode nicht ohne Struktur sein, denn erst durch sie erfolgt die Obertragung des Textes in das Rezeptionsbewußtsein. Die Struktur muß folglich die 'Schemata' so organisieren, daß durch sie zugleich Auffassungsbedingungen entstehen. Eeo hat seine Diskussion der ikonischen Zeichen mit der Feststellung beschlossen: "Alles bisher Gesagte will beweisen, daß die ikonischen Zeichen konventionell sind, d. h. daß sie nicht die Eigenschaften der dargestellten Sache besitzen, sondern eiriige Erfahrungsbedingungen nach einem Code umschreiben."IS Wenn ikonische Zeichen Erfahrungsbedingungen denotieren, dann entwerfen sie Strategien für die mögliche Auffas­sung des Textes. Sie sind Bedingungen für die Konstituierung des ästhetischen Gegenstands und keineswegs schon der sich selbst be-

17 Roland Posner, "Zur strukturalistischen Interpretation von Gedich­ten. Darstellung einer Methoden-Kontroverse am Beispiel von Baude­laires Gedicht 'Les Chats"', in Die Sprache im technischen Zeitalter 29 (1969), p. 3l.

18 Eco, pp. 220 f.

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zeichnende Gegenstand des Textes. Verkörpern ikonische Zeichen Modelle der Auffassungsakte, so ist damit zugleich immer ein Sub­jektbezug angezeigt, denn solche Modelle gewinnen doch ihre Funk­tion erst dadurch, daß sie Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Bc­wußtseinsdispositionen des Subjekts abbilden. "If the artist attempts to give us something to see, he is only ratifying and exercising our conceptual powers."19 Daraus folgt, daß die Organisation ikonischer Zeichen eine Entsprechung zwischen dem fiktionalen Text und den fundamentalen Auffassungsbedingungen des Subjekts herstellen muß. Da diese Entsprechung jedoch keine solche zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand, sondern eine solche zwischen Zei­chen und bezeichneten Erfahrungsbedingungen ist, funktionieren ikonische Zeichen als Instruktionen für das Hervorbringen des ästhe­tischen Gegenstands. Auf die Unterscheidung von Primärcode und Sekundärcode angewandt, heißt dies: Weil die Organisation des Primärcodes im fiktionalen Text Auffassungsbedingungen denotiert, ist der Sekundärcode als deren Realisierung niemals mit dem Primär­code identisch.

Diese Unterscheidung gilt es festzuhalten, da sie die Differenz er­klärbar macht, die sich zwischen dem identischen Primärcode des Textes und der Variabilität des von den Lesern erzeugten Sekundär­codes ausspannt. Der Primärcode präskribiert keineswegs bestimmte Auffassungen des Textes, sondern ist als Modell der Auffassungs­akte die Bedingung vieler in ihm enthaltenen Realisationsmöglich­keiten. Zwar entspringt der vom Leser produzierte Sekundärcode dem im Primärcode vorgezeichneten Modell der Auffassungsakte; die einzelne Realisation indes bleibt von dem sozio-kulturellen Code gesteuert, der für den jeweiligen Leser gilt. Da der Primärcode nur ein Organisationsmodell für Auffassungsakte bereithält, ist es mög­lich, die Botschaft des Textes über den erzeugten Sekundärcode mit den höchst unterschiedlichen Dispositionen seiner möglichen Leser zu vermitteln.

Textstrategien entwerfen die Erfahrungsbedingungen des Textes;

" Mikel Dufrenne, The Phenomenology of Aesthetic Experience, transl. by Edward S. Casey et al., Evanston 1973, p. 511.

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sie sollen Strategien heißen, weil sich durch sie nur die operativen Zielrichtungen des Textes ausmachen lassen. Die Basisstruktur der Strategien ergibt sich aus der Funktion des Textes, die sich zunächst in den Selektionen aus den verschiedenen Umweltsystemen fassen läßt. Wird durch Selektion ein bestimmtes Element in den Text eingekapselt, so ist damit zugleich ein Bezugsfeld angezeigt, dem das Element entstammt. Folglich bildet die Selektion immer ein Ver­hältnis von Vordergrund und Hintergrund, indem das gewählte Mo­ment den Hintergrund aufscheinen läßt, in den es ursprünglich ein­gebettet war. Ohne eine solche Beziehung erschiene das gewählte Element als sinnlos. Geht man davon aus, daß die Normen außer­textueller Realitäten in ihrem jeweiligen Bezugssystem Bestimmtes meinen und dadurch ebenso Bestimmtes nicht meinen können, so wird im Falle ihrer Entpragmatisierung durch die Selektion einiges von dem virulent, was sie im ursprünglichen Bezugsfeld nicht ge­meint haben. Ähnliches gilt auch für die Anspielung auf vorange­gangene Literatur, wie es sich am deutlichsten in der parodistischen Beziehung zeigt. Wird aber nun das im jeweiligen Bezugsfeld nicht Gemeinte durch seine Transponierung in den Text viiulent, so drängt sich dieses in den Vordergrund, ruft aber zugleich das Be­zugsfeld auf, von dem es sich abhebt. Ta, das in den Vordergrund gerückte Element gewinnt seine Kontur erst durch diese Absetzung von einem Hintergrund, der sich als solcher überhaupt nur kon­stituiert, weil das herausgelöste Element ursprünglich dessen Be­standteil war. So entspringen den Selektionsentscheidungen im Text ständig solche Vordergrund-Hintergrund-Beziehungen, durch die im Prinzip zweierlei geschieht. 1. Ruft das gewählte Element sein ur­sprüngliches Bezugssystem auf, so markiert es gleichzeitig eine se­mantische Differenz, die sich zwischen dem bekannten und dem noch unbekannten Verwendungszusammenhang ausspannt. 2. Die Selektion läßt nicht nur die semantischen Differenzen des Textes zu seinen verschiedenen Bezugssystemen entsteheni sie erzeugt durch die Vordergrund-Hintergrund-Beziehung eine elementare Verste­hensbedingung des Textes. Denn die noch ungekannte Verwendung des gewählten Elements entzöge sich dem Verstehen, wäre der be­kannte Hintergrund durch die im Text erfolgende Entpragmatisie­rung des gewählten Elements nicht aufgerufen.

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Diese Staffelung von Vordergrund und Hintergrund ist gewiß eine elementare Organisation der Erfassungsbedingungen des Textes. Sie scheint auf den ersten Blick mit dem nachrichtentechnischen Modell von Redundanz und Innovation, aber auch mit dem wahrnehmungs­psychologischen von Figur und Grund zusammenzufallenj beide Mo­delle basieren auf der gleichen Vordergrund-Hintergrund-Beziehung. Aus dieser Ähnlichkeit ist indes nur zu folgern, daß Schichtungen von Vordergrund und Hintergrund die zentrale Struktur für Er­fassungs vorgänge, ja für das Verstehen überhaupt bilden. Nun aber zeigt die Vordergrund-Hintergrund-Relation in fiktionalen Texten doch Eigentümlichkeiten, die sich nicht ohne weiteres auf die ge­nannten Modelle reduzieren lassen. Das hängt ohne Zweifel mit der unterschiedlichen Funktion zusammen, die diese Struktur in der Nachrichtenübermittlung, im Wahrnehmungsvorgang und in der Konstitution ästhetischer Gegenständlichkeit zu erfüllen hat.

Die Nachricht wird in dem Maße informationshaltig, in dem sie sich von der Einbettung in mitgeführte Redundanzen absetzt. "Die Redundanz gewährt eine Garantie gegen Obertragungsirrtümer, da sie die Wiederherstellung der Nachricht auf Grund der Kenntnisse erlaubt, die der Empfänger von der Struktur der verwendeten Sprache von vornherein mitbringt."2o Folglich ist die Redundanz "als Ausdruck eines Zwanges anzusehen, der die Wahlfreiheit des Senders einengt'J21, wodurch die Information zu einer meßbaren Quantität wird.22 Einen solchen Redundanzcharakter besitzt der im Text durch Selektion aufgerufene Bezugshintergrund nicht. Das zeigt sich allein schon darin, daß dieser Hintergrund im Text selbst nicht formuliert ist und folglich in Umfang sowie Differenzierung von der oft sehr unterschiedlichen Kompetenz der jeweiligen Leser abhängig bleibt. Im nachrichtentechnischen Modell hingegen muß die Redundanz gegeben sein, damit das Unvorhersehbare der Infor­mation transportiert werden kann. Vordergrund und Hintergrund gehen daher in fiktionalen Texten eine andere Beziehung ein, in

20 Abraham A. Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrneh­mung' übers. von Hans Ronge et al., Köln 1971, p. 82.

21 Ibid. 22 Ibid., pp. 213 u. 259.

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deren Entwicklung beide verändert werden. Denn die in der Selek­tion erfolgende Entpragmatisierung bestimmter Elemente läßt die entsprechenden Bezugssysteme zwar aufscheinen, rückt diese jedoch zugleich in eine Perspektive, die die Bezugssysteme in ihrem bloßen Bekanntsein noch gar nicht haben konnten. Daraus folgt: Das Auf­rufen des bekannten Hintergrunds und die Veränderung seines Be­kanntseins fallen zusammen. Bedenkt man, daß dieser Hintergrund nur virtuellen Charakter hat, da er sprachlich im Text nicht mani­festiert ist, so wird dieser in der Selektion nicht nur parat gehalten, sondern auch noch in seinen Signifikanzpunkten umstrukturiert. Eine solche im Aufrufen des Bezugshintergrunds erfolgende Ver­wandlung muß wiederum auf die Einschätzung der selektierten Elemente zurückstrahlen, die jetzt nicht nur vor ihrem Bezugshin­tergrund situiert werden, sondern vor einem solchen, den sie selbst durch die von ihnen bereitgestellte Perspektive verändert haben. Die Beziehung von Vordergrund und Hintergrund wird dialektisch - ein Sachverhalt, der für die Redundanz nicht gilt, da diese nur die Einbettung der Information zu leisten hat.

Aber auch zu dem von der Gestaltpsychologie entwickelten Kon­zept von Figur und Grund ergeben sich gewisse Unterschiede. Mit diesem Begriffspaar beschreibt die Gestalttheorie die Zuordnung ge­gebener 'Felder', durch die sich Wahrnehmungsbedingungen kon­stituieren. Dabei wird das umschlossene 'Feld' als Figur, das um­schließende als Grund bezeichnet.23 Das Wahrnehmen läßt sich mit diesem Modell beschreiben; denn aus der Eindrucksvielfalt heben wir immer nur bestimmte Daten heraus, je nach der Antizipation, die in unserem jeweiligen Wahrnehmungs akt waltet. Diese 'Figuren' bleiben umschlossen von der diffusen Vielfalt der abgeblendeten Wahrnehmungsdaten. Aus diesem für das Wahrnehmen fundamen­talen Verhältnis ergeben sich einige differenzierende Momente. "Das wichtigste von diesen ist, daß die erlebte Figur und der erlebte Grund nicht auf dieselbe Weise Form haben, indem der erlebte Grund in gewissem Sinne keine Form hat. Wenn ein Feld, welches

2J Vgl. Edgar Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren, Kopenhagen 1921, pp. 5 u. 68.

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früher als Grund erlebt ist, das erste Mal, wenn es als Figur erlebt wird, überraschend wirken kann, beruht diese Wirkung auf der neuen Form, die früher nicht im Bewußtsein gewesen ist, und die man jetzt erlebt ... Es ist zur Kennzeichnung des fundamenta­len Unterschiedes zwischen Figur und Grund zweckdienlich, die Kontur einzuführen, die als die gemeinsame Grenze der beiden Fel­der zu definieren ist ... Wenn zwei Felder aneinander grenzen und das eine als Figur und das andere als Grund erlebt wird, kann das unmittelbar anschaulich Erlebte als dadurch gekennzeichnet be­trachtet werden, daß von der gemeinsamen Kontur der Felder ein formendes Wirken ausgeht, das sich nur bei dem einen oder in einem höheren Grade bei dem einen Feld als bei dem anderen gel­tend macht. Das Feld, das am meisten von diesem formenden Wir­ken berührt wird, ist die Figur, das andere Feld ist der Grund.,,24 Wird die Zuordnung vertauscht, indem die formende Wirkung der Kontur auf den bisherigen Grund bezogen wird, dann tritt eine er­hebliche Veränderung im Erleben ein, das sich in der Überraschung anzeigt. Obwohl es in fiktionalen Texten die Kontur als Trennlinie zwischen Vordergrund und Hintergrund nicht mit jener für die Wahrnehmungsverhältnisse geltenden Deutlichkeit gibt, so läßt sich doch in der Vertauschung von Vordergrund und Hintergrund ein ähnlicher Effekt beobachten. Dieser zeigt sich beispielsweise im sozialen Roman, wo die in den Figuren vorgestellten Normen oft­mals dazu dienen, den Blick auf den Bezugshintergrund zurückzu­koppeIn, dem diese entnommen sind. In solchen Momenten wird der Hintergrund zur 'Figur', und der sich im Leser einstellende Überraschungseffekt zeigt an, daß er nun das Bezugssystem zu er­leben beginnt, in dem er befangen ist und das ihm nicht gegen­ständlich werden konnte, solange es sein Verhalten steuerte. Be­kanntlich hat Dickens mit diesem Effekt sehr stark gearbeitet, um seinen Lesern jenes Sozialsystem erlebbar zu machen, das ihre Le­benswelt bildete.25

Trotz dieser Ähnlichkeit zwischen dem Modell der Gestalttheorie

24 Ibid., pp. 36 f. 25 Vgl. dazu auch Kathleen Tillotson, Novels of the Eighteen-Porties

(Oxford Paperbacks), Oxford 1961, pp. 73-88.

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und der Beziehung von Vordergrund und Hintergrund in fiktionalen Texten bestehen unverkennbare Unterschiede. Figur und Grund strukturieren gegebene Wahrnehmungsdaten; Vordergrund- und Hintergrund-Relationen müssen in fiktionalen Texten über die in ihnen angezeigten Selektionen konstituiert werden. Figur und Grund sind wechselseitig austauschbar und zeigen durch den überraschungs­effekt einen Umschwung des Erlebens an. Obwohl es diesen Per­spektivwechsel für fiktionale Texte auch gibt, so ist er im Figur und Grundmodell meist außengesteuert und in der Regel von kon­tingenten Bedingungen abhängig, während er in fiktionalen Texten durch eine Struktur gesteuert bleibt. Schließlich erlaubt das Figur und Grundmodell nur die Beschreibung eines Wechsels, welches 'Feld' jeweils als geformtes Ding bzw. welches als ungeformter Stoff erlebt wird26, während sich die Vordergrund-Hintergrund-Relation im Text nicht darin erschöpfen kann, bald das selektierte Element, bald dessen Bezugshintergrund in den Blickpunkt der Aufmerksam­keit zu rücken. Zwar geschieht dies laufend, aber doch nur als Vor­aussetzung für eine Operation, die man mit einer Metapher Arn­heims als "mutual bombardment"27 bezeichnen könnte. Damit aber ist für den Augenblick bereits gesagt, daß die Vordergrund-Hinter­grund-Beziehung als Basisstruktur der Textstrategien eine Span­nung erzeugt, die sich zu einer Folge von Interaktionen ausdiffe­renziert, um schließlich in einer dritten Dimension - dem Hervor­treiben des ästhetischen Gegenstands - entspannt zu werden.

4. Die Struktur von Thema und Horizont

Die beschriebene Vordergrund-Hintergrund-Beziehung liegt als zen­trale Erfassungsbedingung allen Textstrategien zugrunde. Zu ihrer Kennzeichnung haben wir uns zunächst auf das Verhältnis von Textrepertoire und Bezugssystem beschränkt, weil dadurch das Ein-

26 Rubin, p. 48. 27 VgL dazu RudoIf Arnheim, Toward a PSycl1010gy oi Art, Berkeley

and Los Angeles 1967, pp. 226 f.

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greifen des Textes in seine Umwelt und somit dessen 'Außenbe­ziehung' angezeigt ist. Die Selektion sozialer Normen und literari­scher Anspielungen wird zur Bedingung dafür, daß sich der jewei­lige Bezugshintergrund konstituieren läßt, der es dann seinerseits erlaubt, die Relevanz der selektierten Elemente zu fassen. Nun aber müssen die Textstrategien vor allem die 'Innenbeziehungen' des Textes organisieren, durch die der ästhetische Gegenstand vorge­zeichnet wird, den es im Leseakt hervorzubringen gilt. Daraus folgt, daß die durch Selektion in den Text eingekapselten Elemente nun in bestimmte Kombinationen überführt werden müssen. Denn Se­lektion und Kombination sind im Sinne einer Formulierung Roman Jakobsons "the two basic modes of arrangement used in verbal behavior", woraus sich dann für Jakobson der Schluß ergibt: "The poetic function projects the principle of equivalence from the axis of se1ection into the axis of combination."28

Läßt die Selektion eine Vordergrund-Hintergrund-Beziehung ent­stehen, so ermöglicht diese die Erfassung des Textes. Aufgabe der Kombination ist es nun, die selektierten Elemente so zu organisie­ren, daß sie aufgefaßt werden können. Wenn die Selektion das Er­fassen und die Kombination das Auffassen bewirkt, so ist mit die­sem Unterschied angezeigt, daß es sich im Fall der Selektion um die Eröffnung des Zugangs zur Welt des Textes, im Falle der Kom­bination um Synthesen der selektierten Elemente handelt. Bezieht sich die Kombination auf die innertextuelle Organisation, so muß man davon ausgehen, daß der_ Text ein perspektivisches System darstellt. Das heißt nicht nur, daß der Text vom Blickpunkt eines Autors als eine perspektivische Hinsicht auf eine Welt angelegt ist­so gewiß er dieses auch verkörpert; es heißt vor allem, daß die In­nenorganisation des Textes selbst ein System der Perspektivität ist. Denn erst durch dieses wird die perspektivische Hinsicht auf eine intendierte Gegenständlichkeit so gebündelt, daß dieser Gegenstand, der als solcher nicht gegeben ist, vorstellbar wird. Das System der Perspektivität läßt sich in erzählender Literatur am deutlichsten beobachten. In der Regel sind es vier Perspektiven, in denen eine

28 Roman Jakobson, "Closing Statement: Linguistics and Poetics", in Style in Language, ed. Thomas A. Sebeok, Cambridge/Mass. '1964, p. 358.

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bestimmte Vorsortierung der selektierten Elemente und damit eine erste Kombination des Repertoires erfolgt. Es handelt sich um die Perspektive des Erzählers, die der Figuren, die der Handlung bzw. Fa­bel (plot) sowie die der markierten Leserfiktion. Dabei kann man zu­nächst einmal davon ausgehen, daß diese Perspektiven nichtin to­taler Deckung stehen; immer dann, wenn sie ein gewisses Maß an Parallelität übersteigen, beginnen sie, ineinander zu verschwinden, so daß in manchen Fällen nur noch ein Unterschied innerhalb der Figurenperspektive - der zwischen Held und Nebenfiguren - übrig bleibt.

Als System der Perspektivität besagen die genannten Perspekti­ven, daß sie jeweils unterschiedliche Hinsichten auf eine ihnen ge­meinsame Gegenständlichkeit vorstellbar machen, woraus folgt, daß keine von ihnen den intendierten Gegenstand des Textes total re­präsentieren kann. Die einzelnen Perspektiven indes erlauben nicht nur eine bestimmte Hinsicht auf die intendierte Gegenständlichkeit, sie eröffnen zugleich immer auch eine Hinsicht aufeinander. Diese ergibt sich allein daraus, daß die genannten Perspektiven im Text nicht voneinander gesondert sind, geschweige denn in strenger Pa­rallelität aufeinander folgen. Erzählkommentare, erlebte Rede von Held und Nebenfiguren, Handlungskonsequenzen sowie markierte Leserpositionen durchschichten sich im Textgewebe und bieten durch die in ihnen angelegten Blickpunkte eine Konstellation wechsel­seitiger Beobachtbarkeit. Daraus läßt sich bereits folgern, daß die ästhetische Gegenständlichkeit des Textes über eine solche von den einzelnen Textperspektiven eröffnete wechselseitige Hinsicht aufein­ander zustande kommt. So entsteht der ästhetische Gegenstand aus dem Spiel dieser 'Innenperspektiven' des Textes; er ist insofern ein ästhetischer, als ihn der Leser über die von der wechselnden Blick­punktkonstellation vorgezeichnete Lenkung hervorzubringen hat.

Wir nennen diese Konstellation die Innenperspektivik des Textes, um sie von jener perspektivischen Hinsicht zu unterscheiden, die ein Text auf die Bezugssysteme seiner Umwelt eröffnet. Die Innen­perspektivik bildet den Rahmen für die Kombination der selektier­ten Elemente; sie besitzt aber auch eine bestimmte Struktur, durch die sich die Kombination regelt. Diese soll in Anlehnung an ein Begriffspaar von Alfred Schütz als die Struktur von Thema und

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Horizont bezeichnet werden.29 Damit ist folgendes gemeint: Da die einzelnen Textperspektiven unterschiedlichen Blickpunkten ent­springen, entsteht die Notwendigkeit ihrer Verbindung, wenn der Text als System der Perspektivität aufgefaßt werden soll. Daher können die einzelnen Perspektivträger: Erzähler, Figuren, Handlung und Leserfiktion bei aller Verschiedenheit ihrer Anlage letztlich nicht auseinanderlaufen, obgleich ihre Divergenz vielfach unver­kennbar ist. Folglich müssen Operationen vorgezeichnet sein, die eine Zuordnung der einzelnen Perspektiven aufeinander erlauben. Dafür sorgt die Struktur von Thema und Horizont. Sie regelt zu­nächst die attentionalen Zuwendungen des Lesers zum Text, dessen Darstellungsperspektiven weder nacheinander noch parallel entrollt werden, sondern sich in der Anlage des Textgewebes durchschich­ten. Daher vermag der Leser nicht in allen Perspektiven gleichzeitig zu sein, vielmehr wird er sich im Lesevorgang durch die wechseln­den Segmente der verschiedenen Darstellungsperspektiven hindurch­bewegen. Worauf er jeweils blickt bzw. worin er gerade 'ruht', ist für ihn in diesem Augenblick Thema. Dieses jedoch steht immer vor dem Horizont der anderen Segmente, in denen er vorher si­tuiert war. "Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist.,,3o Nun ist der Horizont, in den der Leser einrückt, kein beliebigerj er bildet sich aus den Segmenten, die in den vergangenen Lektürephasen thema­tisch waren. Blickt der Leser beispielsweise auf ein bestimmtes Ver­halten des Helden, das dadurch für ihn zum Thema wird, so ist der Horizont, von dem aus diese Zuwendung erfolgt, etwa durch ein Segment der Erzählerperspektive bzw. ein solches der Nebenfiguren, der Handlung des Helden oder der Leserfiktion immer schon kon­ditioniert. In dieser Form organisiert die Thema- und Horizont­struktur die Zuwendungen des Lesers, wodurch sich zugleich der Text als ein System der Perspektivität konstituieren läßt. Sie bildet folglich die zentrale Kombinationsregel der Textstrategien, durch die

29 Vgl. dazu Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz, Frankfurt 1971, pp. 30 f. u. 36 H., der allerdings dieses Begriffspaar in einem anderen Zusammenhang verwendet und folglich damit auch etwas anderes als in dem hier gemeinten Sinne bezeichnet.

30 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, p.286.

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mehreres bewirkt wird. l. Sie organisiert zunächst eine für die Auf­fassung zentrale Beziehung zwischen Text und Leser. Als perspekti­vische Hinsicht seines Autors auf die Welt kann der Text von vorn­herein nicht beanspruchen, daß die in ihm entfaltete Sicht mit der Sicht seiner möglichen Leser identisch ist. Diese Kluft läßt sich durch den "willing suspension of disbelief" noch nicht überbrücken; denn ,der Leser soll ja nicht einfach nur etwas hinnehmen, sondern das, was er hinnehmen soll, erst einmal konstituieren. Dafür schafft die Struktur von Thema und Horizont eine wesentliche Voraussetzung, da durch sie die mögliche Beziehbarkeit divergierender Darstellungs­perspektiven vorgezeichnet ist. Sie schachtelt den Leser in das not­wendige Zusammenspiel der Perspektiven ein, das es zum System der Perspektivität aufzuheben gilt, soll die Fremdheit des Textes er­schlossen werden. Damit eröffnet diese Struktur einen Zugang zum Unvertrauten; denn sie bewirkt im stromzeitlichen fluß des Lesens einen ständigen Perspektivenwechsel des Lesers zwischen den Dar­stellungsperspektiven des Textes. Folglich springt der Blickpunkt des Lesers unentwegt um, wodurch die Segmente der einzelnen Perspektiven bald Thema, bald Horizont werden. Läßt diese Struk­tur jede perspektivische Position vor dem Horizont der anderen er­scheinen, so ergeben sich aus dem Wechsel der Zuordnungen fort­laufend Standpunktverhältnisse, die sich als zentrale Bedingungen für eine Synthese der Textperspektiven erweisen. Wird die Bezieh­barkeit der Textperspektiven in dieser Form reguliert, dann ist auch der Leser nicht mehr frei, sich alles und jedes vorzustellen; vielmehr schränkt die von einer solchen Struktur geleistete Vermittlung die Beliebigkeit der Auffassung des Textes durch den Leser erheblich ein. Dadurch läßt sich dann die dem Leser in der Regel fremde WeItsicht des Autors auch zu den vom Autor gesetzten Bedingungen übernehmen. In der Struktur von Thema und Horizont konkreti­siert sich folglich eine bestimmte Form des Vordergrund-Hinter­grund-Vernältnisses; sie bildet die Matrix für die Koordination der Textperspektiven, indem sie die Strategien des Textes zu einer für das Verstehen zentralen Bedingung organisiert. Diese Struktur macht die Kluft zwischen Text und Leser deshalb überbrückbar, weil sie als Struktur der Textperspektiven zugleich eine solche der Bewußtseins­tätigkeit ist.

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2. Wenn im Prinzip alle Positionen des Textes von dieser Struk­tur erfaßt werden, dann geraten sie in ein Interaktionsverhältnis. Folglich wird im Perspektivenwechsel von Thema und Horizont an den sprachlich manifestierten Positionen jeweils das Verdeckte her­vorgekehrt, wodurch sich die aufeinander bezogenen Positionen zum Material der Vorstellung dessen wandeln, was in ihnen ange­sichts ihrer Bestimmtheit ausgeschlossen und daher nicht formu­liert ist. So transformiert die Thema- und Horizontstruktur die Seg­mente der Darstellungsperspektiven in Kipp-Phänomene, und das heißt, indem sie voreinander erscheinen, bieten sie sich nicht als sie selbst, sondern immer im Spiegel wechselseitiger Beobachtbarkeit. Dadurch wächst ihnen etwas zu, das sie als bloße Positionen noch nicht besitzen können. Denn nun erscheinen sie in der Perspektive ihres Gesehenwerdens, und dafür bietet allein die andere, in Hori­zontstellung gerückte Position den notwendigen Blickpunkt. Folg­lich erfahren sie eine Veränderung, wenn sie aus einem solchen Horizont wahrgenommen werden. Damit nimmt der fiktionale Text nur eine allgemeine Voraussetzung der Beobachtung in Anspruch. Denn Gegebenheiten verändern sich, wenn sie beobachtet werden. Das in der Zuwendung zu den einzelnen Positionen waltende In­teresse läßt sie dann in einer bestimmten Weise erscheinen, und dieses Interesse ist im Perspektivenwechsel von Thema und Hori­zont seinerseits von den vorangegangenen Positionen der Darstel­lungsperspektiven bedingt. Daraus folgt, daß die einzelnen Seg­mente ihre Signifikanz erst durch die wechselseitigen Beziehungen gewinnen, die sie im Text durch die Thema- und Horizontstruktur zu entfalten vermögen. über das Netz solcher Beziehungen baut sich dann der ästhetische Gegenstand auf. Er ist keine gegebene Größe, sondern eine solche, die sich aus der wechselseitigen Ver­änderung gegebener Positionen bilden läßt. Bedenkt man, daß die Textpositionen, wie sie jeweils in den Perspektiven des Erzählers, des Helden, der Nebenfiguren, der Handlung und der Leserfiktion gegeben sind, immer etwas Bestimmtes repräsentieren, dann besagt ihre im Netz reziproker Beziehungen erfahrene Veränderung, daß der ästhetische Gegenstand des Textes das transzendiert, was im Text mit Bestimmtheit gegeben ist. Diese formale Struktur beinhal­tet jedoch, daß der ästhetische Gegenstand letzten Endes alle jene

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in den Textpositionen repräsentierten Sachverhalte zum Gegenstand der Beobachtung und damit zwangsläufig zu einem veränderbaren Gegenstand zu machen vermag. Repräsentieren die Textpositionen bestimmte Selektionen der Umweltsysteme des Textes, - seien diese nun sozialer oder literarischer Natur - so ist die transzendierende Qualität des ästhetischen Gegenstandes zugleich die Bedingung da­für, daß mit seinem Hervorbringen im Vorstellungsbewußtsein des Lesers eine Reaktion auf die in den Text eingezogene 'Welt' mög­lich wird. Darin kommt der ästhetische Gegenstand in seine volle Funktion. Er etabliert sich als transzendentaler Blickpunkt für jene im Text repräsentierten Positionen, aus denen er gebildet ist und auf deren Beobachtbarkeit er nun zurücklenkt. Wenn es richtig ist, daß fiktionale Texte eine Reaktion auf die Welt darstellen, so kann sich diese Reaktion nur dergestalt materialisieren, daß sie eine Reak­tion auf die bestimmte, in den Text eingezogene Welt hervorzuru­fen vermag. Das Bilden des ästhetischen Gegenstandes fällt daher mit der ausgelösten Reaktion auf jene Positionen zusammen, die durch die Thema- und Horizontstruktur in den Transformations­vorgang einbezogen sind.

3. Wenn sich der ästhetische Gegenstand erst über die wechselsei­tige Veränderung der Textpositionen zu bilden vermag, so kann man sich ihn nicht so denken, wie ihn Ingarden in seiner Theorie des Kunstwerks konzipiert hat. Für ihn verkörpern die schematisier­ten Ansichten des Textes ein Medium, das die Durchblicke auf den, wie er sagte, intentionalen Gegenstand des Kunstwerks freigibt.31

Schematisierte Ansichten müssen folglich diesen Gegenstand reprä­sentieren, während doch eigentlich die Ansichtenmannigfaltigkeit des Textes - in der bisher verwendeten Terminologie die verschiedenen Segmente der Textperspektiven - weniger den ästhetischen Gegen­stand als vielmehr bestimmte, in den Text eingezogene Weltbezüge repräsentieren. Diese sind - wie es das Textrepertoire zeigt - sehr heterogener Natur; folglich vermag erst ihre wechselseitige Verände­rung das Äquivalenzsystem des Textes zu erzeugen, das mit dem ästhetischen Gegenstand zusammenfällt. Gewiß meinte auch In-

3I Vgl. dazu Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen 21960, pp. 294 H.

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garden, daß der intentionale Gegenstand entworfen werden müsse, doch dafür reichen die von den schematisierten Ansichten eröffne­ten Durchblicke noch nicht aus. Zwar sind sie als Schemata gedacht, die die auf den intentionalen Gegenstand gerichtete Vorstellungs­tätigkeit des Lesers orientieren sollen; indes, über die Art, wie sich die Ansichten miteinander verbinden lassen, sagt Ingardens Schich­tenmodell wenig aus. Sie scheinen jeweils immer nur eine Bestim­mungsbedürftigkeit zu hinterlassen, die als "unerfüllte Qualität" von der folgenden Ansicht erfüllt wirdY Damit aber ist nur ein be­stimmter Komplettierungsvorgang angezeigt, in dem eher Ingardens Prämisse vom polyphonen Charakter des Kunstwerks durchschlägt und weniger die Beschaffenheit des ästhetischen Gegenstands zum Vorschein kommt. Wenn in den schematisierten Ansichten be­stimmte Positionen repräsentiert sind, so fragt es sich, wie aus ihnen der ästhetische Gegenstand gebildet werden kann, der doch stets mehr als die in den Positionen repräsentierten Sachlagen ist. Geht man davon aus, daß die Thema- und Horizontstruktur alle Text­positionen durch den vorgezeichneten Perspektivenwechsel in eine wechselseitige Beobachtbarkeit bringt, - wodurch der einzelnen Po­sition etwas zuwächst, das sie selbst in ihrer Gegebenheit nicht be­sitzt - so entsteht in diesem Vorgang ein eigentümlicher Kumula­tionseffekt wachsender Veränderung. Wird beispielsweise der Held in einem Lektüreaugenblick thematisch und steht das von ihm ge­zeigte Verhalten vor dem Horizont einer soeben vorangegangenen Bewertung des Erzählers, so kommt es hier wie in allen solchen Fällen des Perspektivenwechsels zu selektiven Hervorhebungen und selektiven Suspensionen an dem thematisch gewordenen Seg­ment. Dieses steht dann nicht mehr einfach als solches, sondern als ein in bestimmter Hinsicht interpretiertes im Blick. Rückt nun das interpretierte Segment in die Horizontstellung - bedingt durch den stromzeitlichen Fluß der Lektüre - so wird die erfahrene Differen­zierung von ihm auf das thematisch gewordene Segment aus­strahlen. Das heißt, die erfahrene Veränderung teilt sich dem je­weils nächsten, zum Thema erhobenen Segment mit. Dadurch geht die vom Perspektivenwechsel bewirkte Veränderung der einzelnen

32 Ibid., p. 277.

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Position nicht verloren; vielmehr potenziert sich die Auslegungs­mannigfaltigkeit, so daß die kumulativen Veränderungen aller Posi­tionen in den ästhetischen Gegenstand einzugehen vermögen. Erst dadurch gewinnen die Positionen ihre Äquivalenz. Folglich ist das Äquivalenzsystem etwas, das in keiner der einzelnen Textpositionen, aber auch in keiner der einzelnen Textperspektiven je für sich selbst gegeben ist. Es ist auch mehr als alle Positionen und Perspektiven zusammen. Ist aber das Äquivalenzsystem als der ästhetische Ge­genstand eine Formulierung dessen, was keine Textposition je für sich formuliert, so ist er als die Formulierung eines noch Unformu­lierten die Möglichkeit, formulierte Positionen zu durchschauen, weil durch ihn ein bislang Unformuliertes entstanden ist.

Die Struktur von Thema und Horizont organisiert das Zusam­menspiel der Textperspektiven und schafft so die Voraussetzung dafür, daß der Leser den Verweisungszusammenhang der Perspek­tiven hervorzubringen vermag. Sie ist folglich keine Struktur des Informationstransports wie die von Redundanz und Information; sie ist auch nicht identisch mit der Wahrnehmungsstruktur von Fi­gur und Grund. Sie ist vielmehr die Struktur der Vorstellungs­tätigkeit. Es kennzeichnet diese Struktur, daß sie den Text als Wech­sel perspektivischer Standorte organisiert und damit zugleich eine Verstehensoperation des Bewußtseins im Text abbildet. Die wechsel­weise voreinander erscheinenden Segmente der Textperspektiven lösen synthetisierende Operationen aus, in denen sich die Erfas­sungsakte des Textes vollziehen.

5. Modalisierungen der Thema- und Horizontstruktur

Die Struktur von Thema und Horizont bildet die zentrale Kombi­nationsregel der Darstellungsperspektiven; durch sie läßt sich die kommunikative Absicht des fiktionalen Textes fassen. Ihre ent­scheidende Vermittlungsleistung besteht darin, daß sie den Welt­bezug des Textes für das Rezeptionsbewußtsein seiner möglichen Leser übersetzbar macht. Eine wichtige Station dieser Vermittlung zeigt sich in der IVorsortierungl des gewählten Repertoires durch die Verteilung auf die einzelnen Darstellungsperspektiven. Daraus er-

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geben sich bestimmte Einschätzungen der selektierten Normen bzw. der literarischen Verweisungen, je nachdem, ob sie Bestandteile der Figurenperspektive, der Handlung, des Erzählers oder der Leser­fiktion sind. Dadurch bewirkt die Selektion nicht nur die Entprag­matisierung gewählter Normen aus den entsprechenden Bezugs­systemen; sie bewirkt immer auch unterschiedliche Qualifizierungen der gewählten Elemente durch die Verteilung auf die nach ihrer Be­deutung voneinander unterschiedenen Textperspektiven. Welche Vorentscheidungen sich über die Einstufung gewählter Repertoire­Elemente ergeben, läßt sich schon im Blick auf die Figurenperspek­tive ermessen. Im Prinzip ist zweierlei möglich: Entweder der Held oder die Nebenfiguren repräsentieren die selektierten Normen. In beiden Fällen wird die Vorsortierung der Repertoire-Elemente für den Perspektivenwechsel von Thema und Horizont unterschiedliche Folgen zeitigen. Repräsentiert der Held die Normen, dann werden sie von den Nebenfiguren in der Regel verfehlt; repräsentieren die Nebenfiguren die Normen, dann eröffnet der Held in der Regel eine kritische Sicht auf das Bezugssystem des Textes. In dem einen Fall handelt es sich um Affirmation der selektierten Normen, im ande­ren um deren Negativierung. In solcher Verteilung des Textreper­toires auf die Darstellungsperspektiven sind Bewertungskriterien für die jeweilige Funktion der gewählten Elemente gegeben. Zur Aus­wirkung gelangen sie jedoch erst voll durch den Perspektivenwech­sel von Thema und Horizont, der es dem Leser erlaubt, über die wechselseitige Veränderung der in den Segmenten vorgestellten Nor­men den Verweisungszusammenhang im Bewußtsein hervorzubrin­gen. Dieser wiederum ließe sich als Antwort auf jene Systeme be­ziehen, die durch die Selektionen des Repertoires aufgerufen, zu­gleich aber durch den Eingriff in sie als problematisch gekennzeich­net sind. Somit schließt die Struktur von Thema und Horizont die Bewußtseinstätigkeit des Lesers mit der geschichtlichen Situation des Textes zusammen, auf die er reagierte.

Bedingt der Text als perspektivisches Gebilde die Sortierung des Repertoires und damit dessen unterschiedliche Kombinationsmög­lichkeiten, so sind der Zuordnung der Textperspektiven Modalisie­rungen eingezeichnet, die deren Kombinierbarkeit bis zu einem ge­wissen Grade festlegen. Solche Modalisierungen haben einen syste-

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matischen und einen historischen Aspekt. Vier zentrale Modalisie­rungen der Zuordnung von Textperspektiven aufeinander lassen sich in der erzählenden wie in der dramatischen Literatur ausma­chen. Es sind dies: die kontrafaktische, die oppositive, die gestaffelte und die serielle Anordnung der Textperspektiven. In dieser Reihe drückt sich zugleich der systematische und der historische Aspekt aus. Kontrafaktische Stabilisierung des Zuordnungsverhältnisses be­sagt, daß unter den Textperspektiven eine bestimmte Hierarchie der Beziehungen herrscht. Damit ist nicht nur das gewählte Reper­toire durch seine Verteilung auf die in ihrer Geltung und Exempla­rität deutlich abgestuften Perspektiven qualifiziert; es herrscht auch ein verhältnismäßig hoher Eindeutigkeitsgrad im Blick auf die Funk­tion des Textes. Bunyans Pilgrim's Progress etwa ist ein Beispiel für diesen Fall. Der Held dient als zentraler Perspektivträger dazu, einen Normenkatalog zu entrollen, dessen Befolgung zu einer unabding­baren Voraussetzung für das Erlangen der erstrebten Heilsgewiß­heit wird. Damit sind die in der zentralen Perspektive dargestellten Normen affirmiert; ihre Verletzung durch den Helden wird daher auch mit Sanktionen belegt. Die Nebenfiguren sind in deutlicher Abstufung der Perspektive des Helden untergeordnet; wer den höch­sten Grad der Konformität mit den repräsentierten Normen erreicht, bleibt dem Pilger auf dem Heilsweg am längsten verbunden. Be­kanntlich ist dies Hopeful. Den Bezugshintergrund für die in der zentralen Perspektive gewählten und zugleich affirmierten Normen bilden die Glaubensnot und Heilsverzweiflung kalvinistischer Sek­ten, die in der affirmativen Darstellung des exemplarischen Heils­wegs durchbrochen wurden. Denn nun bot ein fiktionaler Text eine Lösung an, die der Prädestinationsbeschluß explizit verweigert hatte. Wenn aber im Text die in der zentralen Perspektive dargestellten Normen so nachhaltig affirmiert sind, dann ruft er die negative Beschaffenheit seines Bezugshintergrunds auf. Die Textperspektiven sind folglich untereinander kontrafaktisch stabilisiert. Was die Ne­benfiguren verfehlen, erfüllt der Held; was der Held in bestimmten Situationen verfehlt, vermag er selbst zu korrigieren. Unterstrichen wird diese beinahe fugenlose Verzahnung der beiden Perspektiven durch die Bewertung der in den einzelnen Figuren vorgestellten Re­pertoire-Elemente; je nach dem Grad ihrer Verfehlung scheiden sie

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mehr oder minder rasch aus dem Geschehen aus. Sie verdeutlichen nur die negativen Seiten des Helden, deren zunehmende Vermin­derung sie bedeutungslos werden läßt. Der Perspektivenwechsel von Thema und Horizont vollzieht sich nach einem vom Text selbst festgelegten Abbau vorhandener Ungewißheiten, woraus sich der Verweisungszusammenhang der Perspektiven ergibt. Dadurch redu­ziert sich die dem Perspektivenwechsel entspringende Transforma­tion der einzelnen Positionen; denn diese ist weitgehend im Text selbst ausformuliert. Indes, die Thema- und Horizontstruktur bleibt als Kombinationsregel auch hier noch wirksam; sie ist nur auf die stark definierte Möglichkeit eingeschränkt, sich durch die Kombina­tion der Perspektiven das als wirklich vorzustellen, was das Sinn­system der kalvinistischen Theologie ausschließt: das selbsttätige Erwerben der HeiIsgnade.

Erbauliche, didaktische und propagandistische Literatur organisiert in der Regel die Anlage der Textperspektiven in kontrafaktischer Zuordnung. Denn der Perspektivenwechsel von Thema und Hori­zont ist hier nicht auf das Erzeugen des ästhetischen Gegenstandes als Konkurrenzwelt zu den Umweltsystemen des Textes angelegt, sondern soll die direkte Kompensation bestimmter Defizite in be­stimmten Umweltsystemen vorstellbar machen.

In der oppositiven Anordnung der Textperspektiven ist die von kontrafaktischer Zuordnung bewirkte Entschiedenheit aufgehoben. Sie macht die in den Textperspektiven vorgestellten Normen di­stinkt gegeneinander, indem sie das aufscheinen läßt, was der jewei­ligen Norm aus der Sicht der anderen fehlt. Bezieht der Leser die als Opposition angelegten Normen aufeinander, so produziert er ihre wechselseitige Negation, je nachdem, welche Norm das Thema und welche den Horizont ihrer Betrachtung bildet. Die Negation zeigt an, was die jeweils thematisch gemachte Norm angesichts ihrer Besonderheit zwangsläufig ausschließt. So wandeln sich die Normen in wechselseitige Negativfolien und erhalten dadurch jeweils einen Kontext, den sie in dem System, dem sie entnommen worden sind, nicht besitzen konnten.33 Dieser Kontext ist das Produkt des Per-

33 Zur näheren Veranschaulichung dieser Zuordnung vgl. das Beispiel in Kapitel IV, B, 3, pp. 307-311.

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spektivenwechsels. Indem der Leser diesen Kontext erzeugt, beginnt er selbst, die Normen zu entpragmatisieren. Das aber heißt, er kann sie von ihrem Geltungszusammenhang ablösen, weil er nun zu ge­wärtigen vermag, was sie im Blick auf andere Normen alles aus­schließen, woraus sich dann eine Einsicht in die von der einzelnen Norm jeweils repräsentierte Geltung, aber auch in ihre Funktion ergibt, die sie im jeweiligen System zu erfüllen hatte. Geschieht dies, dann ist es dem Leser möglich, das Normenrepertoire zu überschrei­ten, denn er gewärtigt nun, was dieses als Regulativ im sozio-kultu­rellen Zusammenhang zu bewirken vermochte.

Die oppositive Modalisierung der Textperspektiven kann den ver­schiedensten Absichten dienstbar gemacht werden. Ein interessanter Fall ihrer variantenreichen Verwendung zeigt sich etwa bei Smollett, wo sie in Humphry Clinker dazu benutzt wird, topographische so­wie alltägliche Wirklichkeit vorstellbar zu machen. Als Briefroman bietet Humphry Clinker einen Fächer höchst individueller Figuren­perspektiven, die sich häufig auf die gleiche Realität richten und dabei oft bis zur Feststellung des glatten Gegenteils über identische Lokalitäten auseinanderschnellen.34 Wirklichkeit wird hier vorstell­bar durch die oppositive -Entgrenzung bestimmter Formulierungen von ihr, wodurch zugleich angezeigt ist, in welchem Maße Wirklich­keit mit bestimmten Ansichten über sie zusammenfällt. Damit rückt jede Formulierung von Wirklichkeit in den Horizont ihrer mög­lichen Veränderbarkeit, so daß die soziale und temperamentsbe­dingte Verfaßtheit solcher Wirklichkeitsbilder als der ästhetische Ge­genstand dieses Romans aufscheint, der zugleich deutlich werden läßt, daß wir Wirklichkeit immer nur in solcher Verfaßtheit be­sitzen.

Die Modalisierungen der gestaffelten und der seriellen Anord­nung der Textperspektiven suspendieren die in der Opposition noch vorgezeichnete Lenkung der Beziehbarkeit. Diese war vorwiegend durch die Entgegensetzung von Held und Nebenfiguren sowie durch die dem Spiel der Opposition entzogene Erzählerperspektive stabili-

J4 Wie das im einzelnen dargestellt ist, habe ich in meinem Buch Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972, pp. 107 H. ausgeführt.

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siert. Der Roman ohne Held, wie ihn Thackeray propagierte, ebnet nun solche Unterschiede in der Anordnung der Textperspektiven ein. Die prominenten und die peripheren Figuren dienen dem glei­chen Zweck, eine Vielfalt der Bezugssysteme aufzurufen, um die ge­wählten Normen in ihrer Problematisierung vorführen zu können. Gehen die Figuren in der negativen Repräsentanz der gewählten Bezugssysteme auf, so beginnt im Text eine zentrale Orientierung zu schwinden. Die oppositive Anordnung wird hier durch einen Fächer gestaffelter Beziehbarkeiten zwischen einem nunmehr stark vermehrten Romanpersonal ersetzt. In eine solche Staffelung wer­den dann auch die anderen Textperspektiven einbezogen. Von der Erzählperspektive spaltet sich eine Erzählerfigur ab und neutrali­siert unter dem Anschein einer vorgespiegelten überlegenheit die in der Erzählperspektive angelegten Bewertungen des Zusammen­spiels. Der damit einsetzende Orientierungsschwund läßt sich nur über die Aktivierung von Einstellungen abfangen, die dem Habitus des Lesers selbst entspringen. Sie gezielt hervorzurufen und in den Perspektivenwechsel von Thema und Horizont einzubeziehen, cha­rakterisiert die gestaffelte Anordnung der Textperspektiven von Thackeray bis Joyce.

Doch schon bei J oyce potenziert sich dieser Vorgang, so daß man bei ihm eine serielle Modalisierung der Textperspektiven deutlich er­kennen kann. Der Abbau hierarchischer Zuordnungen ist dann to­

tal. Er manifestiert sich in einer segmentierenden Erzählweise, durch die oftmals von Satz zu Satz die Perspektive wechselt, so daß es gilt, den perspektivischen Ort der jeweiligen Sätze allererst zu finden. Eine solche Struktur bestimmt auch die Anlage der Textperspektiven im nouveau roman. Ist der Leser dadurch gehalten, den perspektivi­schen Ursprung und die möglichen Beziehungen solcher unterschied­lich situierten Sätze zu entdecken, so wird er immer wieder genötigt, gewärtigte Beziehungen preiszugeben. Er muß daher die von ihm je­weils gebildete Referenz im Wechsel von Thema und Horizont selbst einer seriellen Transformation unterwerfen.35

35 Zur Veranschaulichung der daraus entspringenden Konsequenzen vgl. Kapitel IV, B, 4, pp. 322-327.

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III PHÄNOMENOLOGIE DES LESENS

A Die Erfassungsakte des Textes

1. Das Zusammenspiel von Text und Leser

Textmodelle umschreiben immer nur einen Pol der Kommunika­tionssituation. Daher halten Repertoire und Strategien ,den Text le­diglich parat, dessen Potential sie zwar entwerfen und vorstruktu­rieren, das jedoch der Aktualisierung durch den Leser bedarf, um sich einlösen zu können. Textstruktur und Aktstruktur bilden folg­lich die Komplemente der Kommunikationssituation, die sich in dem Maße erfüllt, in dem der Text als Bewußtseinskorrelat im Leser er­scheint. Dieser Transfer des Textes in das Bewußtsein des Lesers wird häufig so verstanden, als ob er ausschließlich vom Text besorgt würde. Gewiß initiiert der Text seinen Transfer; doch dieser vermag nur zu gelingen, insofern durch ihn Dispositionen des Bewußtseins - solche des Erfassens wie solche des Verarbeitens - in Anspruch genommen werden. Indem sich der Text auf diese Gegebenheiten bezieht, zu denen ohne Zweifel auch das soziale Verhaltensrepertoire seiner möglichen Leser gehört, vermag er die Akte auszulösen, die zu seiner Auffassung führen. Vollendet sich der Text in der vom Leser zu vollziehenden Sinnkonstitution, dann funktioniert er primär als Anweisung auf das, was es hervorzubringen gilt, und kann daher selbst noch nicht das Hervorgebrachte sein. Diese Tatsache gilt es deshalb zu unterstreichen, weil eine Reihe gegenwärtiger Texttheo­rien vielfach den Eindruck vermitteln, als ob sich ein Text dem Be­wußtsein seiner Leser gleichsam von selbst 'einbilden' würde. Das trifft nicht nur auf linguistisch orientierte Texttheorien zu, sondern auch auf solche marxistischer Provenienz, wie es sich in dem neuer­dings von Wissenschaftlern der DDR gep~ägten Terminus der "Re­zeptionsvorgabe"1 zeigt. Gewiß ist der Text eine strukturierte Vor­gabe für seine Leser; doch wie soll man sich die 'Hinnahme' dieser

1 Vgl. Manfred Naumann u. a. GesellsChaft - Literatur - L~sen. Lite­raturrezeption in theoretisCher SiCht, Berlin und Weimar 1973, p. 35.

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'Vorgabe' denken? Ist sie mehr als nur eine Form direkter 'Inter­nalisierung' durch den Leser? Texttheorien solcher Art legen immer wieder die Vermutung nahe, als ob die Kommunikation nur als eine Einbahnstraße vom Text zum Leser vorstellbar wäre. Aus die­sem Grunde erscheint es geboten, das Lesen als Prozeß einer dyna­mischen Wechselwirkung von Text und Leser beschreibbar zu ma­chen. Denn die Sprachzeichen des Textes bzw. seine Strukturen ge­winnen dadurch ihre Finalität, daß sie Akte auszulösen vermögen, in deren Entwicklung eine übersetzbarkeit des Textes in das Be­wußtsein des Lesers erfolgt. Damit ist zugleich gesagt, daß sich diese vom Text ausgelösten Akte einer totalen Steuerbarkeit durch den Text entziehen. Diese Kluft indes begründet erst die Kreativität der Rezeption.

Eine solche Auffassung läßt sich durch relativ frühe Belege in der Literatur stützen. Laurence Sterne bemerkte schon im Tristram Shandy (11, 11) " ... no author, who understands the just boundaries of decorum and good-breeding, would presume to think all: The truest respect which you can pay to the reader's understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine, in his turn, as well as yourself."2 Autor und Leser also teilen in sich das Spiel der Phantasie, das überhaupt nicht in Gang käme, be­anspruchte der Text mehr, als nur Spielregel zu sein. Denn das Le­sen wird erst dort zum Vergnügen, wo unsere Produktivität ins Spiel kommt, und das heißt, wo Texte eine Chance bieten, unsere Ver­mögen zu betätigen. Für eine solche Produktivität gibt es ohne Zwei­fel Toleranzgrenzen, die überschritten werden, wenn uns alles deut­lich gesagt wird oder wenn das Gesagte in Diffusion zu verschwim­men droht, so daß Langeweile und Strapaziertwerden Grenzpunkte verkörpern, die in der Regel unser Ausscheiden aus der Beteiligung anzeigen.

Hatte Sterne mit seinem Leser über die ihm zugedachte Beteili­gung am erzählten Geschehen noch geplaudert, so wird zwei Jahr­hunderte später die dem Leser abverlangte Produktivität für Sartre -dem man gewiß keine innere Verwandtschaft zu dem Humoristen

2 Laurence Sterne, Tristram Shandy H, 11 (Everyman's LibraryL Lon­don 1956, p. 79.

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des 18. Jahrhunderts nachsagen kann - zu einem "Pakt"3; "Der schöpferische Akt ist beim Erschaffen eines Werkes nur ein unvoll­ständiges, abstraktes Moment; wenn der Autor allein existierte, könnte er schreiben, soviel er wollte - das Werk würde nie als Objekt das Licht der Welt erblicken, er müßte die Feder niederlegen oder verzweifeln. Aber der Vorgang des Schreibens schließt als dia­lektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens ein, und diese beiden zusammenhängenden Akte verlangen zwei verschieden tätige Men­schen. Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und imaginäre Objekt erstehen, das das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch den anderen.,,4

2. Der wandernde Blickpunkt

Es fragt sich nun, inwieweit dieser Vorgang eine der Beschreibung zugängliche intersubjektive Struktur besitzt. Denn auf der einen Seite ist der Text nur eine Partitur, und auf der anderen sind es die individuell verschiedenen Fähigkeiten der Leser, die das Werk in­strumentieren. Eine Phänomenologie des Lesens muß folglich die Erfassungsakte verdeutlichen, durch die sich der Text in das Bewußt­sein des Lesers übersetzt. Nun aber sind wir gar nicht in der Lage, einen Text in einem einzigen Augenblick aufzunehmen, ganz im Gegensatz etwa zur Objektwahrnehmung, die vielleicht ihren Ge­genstand im Akt der Zuwendung nicht voll erfaßt, ihn jedoch in einem solchen Akt zunächst als ganzen vor sich hat. Bereits in die­ser Hinsicht unterscheidet sich ein Text von Wahrnehmungsobjek­ten, wenngleich er wie diese erfaßt werden soll. Steht das Wahr­nehmungsobjekt als Ganzes im Blick, so ist ein Text nur über die Ablaufphasen der Lektüre als ein 'Objekt' zu erschließen. Stehen wir dem Wahrnehmungsobjekt immer gegenüber, so sind wir im Text immer mitten drin. Daraus folgt, daß der Beziehung zwischen Text und Leser ein vom Wahrnehmungsvorgang unterschiedener Er-

3 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur! (rde 65), übers. von Hans Georg Brenner, Hamburg 1958, p. 35.

• Ibid., pp. 27 f.

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fassungsmodus zugrunde liegt. Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Ge­genstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte.

Dieser allgemeine Sachverhalt wird noch dadurch kompliziert, daß sich fiktionale Texte nicht in der Denotation empirisch gegebener Objekte erschöpfen. Zwar wählen solche Texte - wie es die Reper­toirediskussion gezeigt hat - aus der empirischen Objektwelt aus; doch allein die dadurch erfolgende Entpragmatisierung zeigt an, daß es nicht mehr um die Bezeichnung der Objekte, sondern um die Transformation des Bezeichneten geht. Denotation setzt eine Refe­renz voraus, um verdeutlichen zu können, in welchem Sinne die Be­zeichnung erfolgt. Die Entpragmatisierung fiktionaler Texte aber sprengt diese Referenzrahmen auf, um am Bezeichneten etwas zu enthüllen, das nicht zu sehen war, solange die Referenz galt. Dem Leser wird dadurch eine wichtige Distanzierungschance verwehrt, die sich immer dort ergibt, wo ein Text vorwiegend denotiert. Statt zu vergleichen, ob der Text das gemeinte Objekt richtig oder falsch, angemessen oder abweichend etc. bezeichnet, muß der Leser den 'Gegenstand' oftmals gegen die vertraute Objektwelt konstituieren, die der Text aufruft.

Daraus ergibt sich dann freilich auch ein Verhältnis zwischen Text und Leser; doch statt der gewohnten Subjekt-Objekt-Beziehung, die dem Erfassungsakt der Wahrnehmung zugrunde liegt, bleibt ein Text, der sich der Referentialisierbarkeit entzieht, dem wandernden Blickpunkt des Lesers gegenüber eigentümlich transzendent. Mitten drin zu sein und gleichzeitig von dem überstiegen zu werden, worin man ist, charakterisiert das Verhältnis von Text und Leser. Ist der Leser als ständig sich verschiebender Punkt im Text, so ist ihm die­ser jeweils nur in Phasen gegenwärtig; es kennzeichnet diese Pha­sen, daß in ihnen die Gegenständlichkeit des Textes zwarvorhan­den ist, zugleich aber als inadäquat erscheint. Denn die Gegen­ständlichkeit ist immer mehr als das, was der Leser von ihr in der jeweiligen Erstreckung des Lektüreaugenblicks zu gewärtigen ver­mag. Folglich ist die Gegenständlichkeit des Textes mit keiner ihrer Erscheinungsweisen im stromzeitlichen Fluß der Lektüre identisch.

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weshalb ihre Ganzheit nur durch Synthesen zu gewinnen ist. Durch sie übersetzt sich der Text in das Bewußtsein des Lesers, so daß sich die Gegenständlichkeit des Textes durch die Abfolge der Synthesen als ein Bewußtseinskorrelat aufzubauen beginnt. Solche Synthesen indes erfolgen nicht etwa nach bestimmten Abschnitten der Lek­türe, vielmehr ist diese synthetische Aktivität in allen Augenblik­ken lebendig, die der wandernde Blickpunkt des Lesers durchmißt.

Wir reduzieren daher im folgenden zunächst einmal den Lesevor­gang auf einen paradigmatischen Augenblick, um den Charakter der synthetischen Aktivität solcher Augenblicke fassen zu können. Wenn wir in einem ersten Schritt die Analyse auf die Satzperspektive des Lesens einschränken, so läßt sich dieses Vorgehen durch empirisch ermittelte Befunde der Psycholinguistik abstützen. Was dort die "eye - voice span!!5 genannt wird, bezeichnet die Spanne des Tex­tes, die wir in den jeweiligen Augenblicken des Lesens immer zu überschauen und von der aus wir im Vorgriff die nächste zu visie­ren vermögen. Daraus folgt "that decoding proceeds in 'chunks' rather than in units of single words, and ... these 'chunks' corres­pond to the syntactic units of a sentence."6 Syntaktische Einheiten der Sätze markieren zugleich die minimalisierte Wahrnehmungs­dimension, die im Text noch geblieben ist, wenngleich diese Ein­heiten nicht mehr ausschließlich als Wahrnehmungsobjekte zu iden­tifizieren sind.

Im Blick auf die Satzoperationen fiktionaler Texte wird man im­mer bedenken müssen, daß sich diese nicht in der Denotation em­pirisch gegebener Gegenstände erfüllen; folglich gilt dem Satzkor­relat das vorwiegende Interesse. Denn die dargestellte Welt fiktio­naler Texte baut sich aus diesen intentionalen Satzkorrelaten auf.

, Vgl. 1. M. Schlesinger, Sentence Structure and the Reading Process, The Hague 1968, pp. 27 ff. Die weitgehende Deckung von" eye-voice span" mit der Spanne des Kurzzeitgedächtnisses hat Frank Smith, Understand­ing Reading. A Psymolinguistic AnalYSis of Reading and Leaming to Read, New York 1971, pp. 196-200, durch psycholinguistische Befunde nachgewiesen. Dort finden sich auch wichtige Hinweise über das Ver­hältnis der "eye-voice span" für die "identification of meaning".

6 Schlesinger, p. 42; vgl. dazu ferner Ronald Wardhaugh, Reading. A Linguistic Perspective, New York 1969, p. 54.

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"Die Sätze verbinden sich auf verschiedene Weise miteinander zu Sinneinheiten höherer Stufe, die eine sehr verschiedene Struktur aufweisen, wodurch solche Ganzheiten, wie z. B. eine Erzählung, ein Roman, ein Gespräch, ein Drama, eine wissenschaftliche Theorie entstehen. Andererseits bilden sich nicht nur die den einzelnen Sätzen entsprechenden Sachverhalte, sondern auch ganze Systeme von Sachverhalten sehr verschiedener Typen, wie gegenständliche Situationen, komplizierte Prozesse zwischen den Dingen, Konflikte und übereinstimmungen zwischen ihnen usw. Letzten Endes ent­steht eine gewisse Welt mit so oder anders bestimmten Bestand­teilen und den sich in ihnen vollziehenden Wandlungen - all dies als ein rein intentionales Korrelat eines Satzzusammenhanges. Bildet dieser Zusammenhang schließlich ein literarisches Werk, dann nenne ich den ganzen Bestand an zusammenhängenden intentionalen Satzkorrelaten die im Werk 'dargestellte Welt,.,,7

Wie sind nun die Beziehungen dieser Korrelate zu denken, zu­mal diese nicht jenen Bestimmtheitsgrad besitzen, der den Aus­sagen und Behauptungen jeweils isolierter Sätze zukommt? Wenn Ingarden von intentionalen Satzkorrelaten spricht, so sind Aus­sage, Behauptung und Information bereits in einem bestimmten Sinne qualifiziert, weil jeder Satz mit dem, was er 'besagen' will, dieses nur zu erreichen vermag, wenn er auf etwas hinzielt. Da dies für alle Sätze in fiktionalen Texten gilt, strahlen ihre Korrelate ständig ineinander, wodurch die von ihnen visierte s,emantische Erfüllung angezeigt ist. Diese Erfüllung indes findet nicht im Text, sondern im Leser statt, der das in der Satzfolge vorstrukturierte Zu­sammenspiel der Korrelate 'betätigen' muß. Die Sätze selbst sind als Aussagen und Behauptungen immer Anweisungen auf Kommen­des, das durch ihren jeweils konkreten Inhalt vorentworfen wird. Sie bringen einen Prozeß in Gang, aus dem sich der Gegenstand des Textes als Bewußtseinskorrelat zu bilden vermag. Husserl hat ein­mal bei der Beschreibung des inneren Zeitbewußtseins bemerkt: "J eder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Proten-

7 Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarisChen Kunstwerks, Tü­bingen 1968, p. 29.

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tionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auf­fangen, zur Erfüllung bringen."s Diese Bemerkung hebt ein dialekti­sches Moment heraus, das auch im Lesevorgang eine zentrale Rolle spielt. Der semantische Richtungsstrahl einzelner Sätze impliziert immer eine Erwartung, die auf Kommendes zielt. Husserl nennt solche Erwartungen Protentionen. Da diese Struktur allen Satzkor­relaten in fiktionalen Texten eigentümlich ist, wird ihr Zusammen­spiel weniger eine Einlösung ihrer jeweils erzeugten Erwartung, sondern viel eher deren unausgesetzte Modifikation zur Folge haben.

In diesem Vorgang kommt eine elementare Struktur des wan­dernden Blickpunktes zur Geltung. Das Mittendrin-Sein des Lesers im Text bestimmt sich als Scheitelpunkt zwischen Protention und Retention, der die Satzfolge organisiert und dadurch die Innenhori­zonte des Textes eröffnet. Mit jedem einzelnen Satzkorrelat wird ein bestimmter Horizont vorentworfen, der sich aber sogleich in eine Projektionsfläche für das folgende Korrelat wandelt und da­durch zwangsläufig eine Veränderung erfährt. Da das einzelne Satzkorrelat immer nur in einem begrenzten Sinne auf Kommendes zielt, bietet der von ihm erweckte Horizont eine Anschauung, die bei aller Konkretheit gewisse Leervorstellungen enthält; diese be­sitzen insofern den Charakter der Erwartung, als sie ihre Auffüllung antizipieren. Jedes Satzkorrelat besteht daher aus gesättigter An­schauung und Leervorstellung zugleich. Für die Satzfolge ergeben sich daraus zwei prinzipiell verschiedene Entfaltungsmöglichkeiten. Beginnt das folgende Korrelat die Leervorstellung des vorangegan­genen im Sinne der Antizipation aufzufüllen, dann geschieht eine zunehmende Sättigung der evozierten Erwartung. Verläuft die Satz­folge in einer solchen Reihung, dann entwickelt sie sich als eine zu­nehmende Bestätigung der von den jeweiligen Leervorstellungen der Korrelate erzeugten Erwartungen. In der Tendenz werden Texte, die einer Objektbeschreibung dienen, eine solche Struktur haben, denn ihnen kommt es auf eine bestimmte Individualisierung des zu beschreibenden Gegenstandes an.

8 Edmund HusserI, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Gesammelte Werke 10), Den Haag 1966, p. 52.

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Anders entfalten sich jene Satzfolgen, in denen die Korrelate die ihnen vorgegebenen Erwartungen modifizieren oder gar enttäu­schen. Wecken die Leervorstellungen der einzelnen Korrelate zu­nächst einmal die Aufmerksamkeit für das Kommende, so wird die Modifikation der Erwartung durch die Satzfolge nicht ohne Rück­wirkung auf das vorher Gelesene bleiben. Denn dieses nimmt sich nun im Blick auf solche Modifikationen ein wenig anders aus, als es im jeweiligen Augenblick der Lektüre erschienen war. Was wir gelesen haben, sinkt in die Erinnerung, verkürzt sich zu Perspek­tiven und bleicht über abnehmende Grade der Deutlichkeit in einen Leerhorizont aus, der nur noch einen ganz allgemeinen Rahmen für das in Retention Festgehaltene bildet. Nun aber kommt es im Fortgang der Lektüre zu einer oft vielfältigen Weckung dessen, was wir nur noch in Retention besitzen, und das heißt, daß Erinnertes vor einen neuen Horizont gestellt wird, den es noch nicht gab, als es selbst erfaßt wurde. Dadurch wird zwar das Erinnerte nicht wie­der volle Gegenwart - denn dies würde bedeuten, daß Erinnerung und Wahrnehmung zusammenfielen. Dennoch wird sich das Er­innerte wandeln, da der neue Horizont es nun anders zu sehen erlaubt. Das Erinnerte wird neuer Beziehungen fähig, die ihrerseits nicht ohne Einfluß auf die Erwartungslenkung der einzelnen Korre­late in der Satzfolge bleiben. So spielen im Lesevorgang ständig modifizierte Erwartungen und erneut abgewandelte Erinnerungen ineinander. Da aber der Text selbst weder die Modifikationen der Erwartung noch die Beziehungsfähigkeit des Erinnerten formuliert, gibt das Produkt, das aus dieser im einzelnen noch zu klärenden Verspannung entsteht, eine erste Anschauung davon, wie sich der Text durch die synthetische Aktivität des Lesens in ein Bewußt­seinskorrelat übersetzt. In einem solchen übersetzungsvorgang wird zugleich die hermeneutische Grundstruktur des Lesens deutlich. Im Text enthält jedes Satzkorrelat durch seine Leervorstellungen einen Vorblick auf den nächsten und bildet durch seine gesättigte An­schauung den Horizont für den vorhergehenden Satz. Daraus folgt: Jeder Augenblick der Lektüre ist eine Dialektik von Protention und Retention, indem sich ein noch leerer, aber zu füllender Zukunfts­horizont mit einem gesättigten, aber kontinuierlich ausbleichenden Vergangenheitshorizont so vermittelt, daß durch den wandernden

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Blickpunkt des Lesers ständig die beiden Innenhorizonte des Textes eröffnet werden, um miteinander verschmelzen zu können. Die Notwendigkeit dieses Vorgangs ergibt sich aus der eingangs festge­stellten Tatsache, daß wir einen Text nicht in einem einzigen Augenblick erfassen können. Was aber zunächst wie ein bloßer Nachteil gegenüber unseren Wahrnehmungsakten erschien, zeigt sich nun als ein Erfassungsmodus, der es erlaubt, den Text im Lesevorgang als ständige Abspaltung und Verschmelzung seiner Innenhorizonte zu organisieren. Da dem Ineinanderstrahlen der Satzkorrelate im Text eine Referenz fehlt, auf die sich ihre An­weisungen an den Leser beziehen, bietet sich die Horizontstruktur des Lesens als ein elementarer Formgebungsakt. Dieser findet im­mer dort statt, wo kommunikative Prozesse nicht mehr durch einen herrschenden Code geregelt sind, so daß sich Formgebungsakte im­mer zugleich als Weisen eines produktiven Verstehens zu erken­nen geben.

Damit aber ist nur eine Rahmenbedingung für das im Lektürevor­gang erzeugte Bewußtseinskorrelat des Textes angegeben. Es muß nun in seinen Grundelementen noch verdeutlicht werden, damit eine Voraussetzung für die es kennzeichnenden Modalisierungen gewonnen werden kann. Bereits auf der Satzebene wird man be­obachten können, daß sich die Satzfolgen keineswegs als eine glatte Wechselwirkung von Protention und Retention vollziehen. Ingarden hat auf diesen Sachverhalt schon einmal hingewiesen, wenngleich er ihm eine recht problematische Interpretation gibt: "Wenn wir ... einmal in den Fluß des Satzdenkens versetzt sind, sind wir bereit, nach dem Vollzug des Denkens des einen Satzes, auch die 'Fort­setzung' wiederum in der Form eines Satzes zu denken, und zwar als eines Satzes, der mit dem soeben gedachten Satz in Zusammen­hang steht. So schreitet der Vorgang des Lesens eines Textes mühe­los fort. Wenn aber der darauf folgende Satz zufälligerweise mit dem soeben gedachten Satz in gar keinem fühlbaren Zusammen­hang steht, dann kommt es im Strom des Denkens zu einer Hem­mung. Dieser Hiatus ist mit einer mehr oder weniger lebhaften Verwunderung oder mit Unwillen verbunden. Diese Hemmung muß überwunden werden, soll es aufs neue zu fließendem Lesen

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kommen."9 Der Hiatus als Hemmung im fluß der Sätze ist für In­garden ein Manko, und darin zeigt sich zunächst, inwieweit er auch dem Lesevorgang seine organologische Konzeption des Kunst­werks als polyphoner Harmonie unterlegt. Denkt man die Satzfolge als ein kontinuierliches Fließen, so heißt dies, daß der Vorblick des einen Satzes vom folgenden weithin eingelöst wird, weshalb dann die ausbleibende Einlösung der erweckten Erwartung Unwillen er­zeugt. Nun sind die Satzfolgen fiktionaler Texte nicht nur reich an unerwarteten Wendungen, vielmehr erwartet man geradezu von ihnen solche Unerwartbarkeiten, so daß ein kontinuierliches Fließen der Satzfolge dann sogar zum Signal für eine zu entdeckende Ver­borgenheit werden kann. Ohne im Augenblick auf die Gründe näher einzugehen, die Ingarden für seine Forderung nach einem fließenden Satzdenken geltend gemacht hat, besitzt der von ihm verurteilte Hiatus eine entscheidende Funktion. Denn durch ihn geschieht eine Abhebung der Satzkorrelate voneinander. Die Unter­brechung erwarteter Verbindung mag als Signal auf der Satzebene noch keine weitreichende Bedeutung besitzen. Dennoch ist sie para­digmatisch für die verschiedenartigen Abhebungsvorgänge, die sich während des Lesens in fiktionalen Texten ereignen. Die Notwen­digkeit der Abhebung ergibt sich allein daraus, daß der Gegenstand des fiktionalen Textes nicht die Selbstgegebenheit von Wahmeh­mungsobjekten besitzt und folglich erst über solche Abhebungen zu kons ti tuieren is t.

Diese lassen sich nun besser auf der Ebene der Textperspektiven fassen, zumal der fiktionale Text in der Regel nur ein sehr schwach entwickeltes Signalrepertoire besitzt, um in der Satzfolge die 'Si­tuierung' einzelner Sätze besonders zu markieren. Anführungs­zeichen für direkte Rede dürften noch das markanteste Signal sein, um einen Satz etwa als Äußerung einer Romanfigur auszugeben. Aber schon indirekte oder gar erlebte Rede der Figuren sind un­gleich schwächer bezeichnet, und solche Signale verschwinden voll­ends bei der Intervention des Autors, bei der Entwicklung der Hand­lung sowie bei der dem 'Leser zugeschriebenen Position. Es kann dann sein, daß in der Satzfolge etwas über eine Figur, über die Ent-

• Ingarden, Vom Erkennen, p. 32.

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faltung der Handlung, über die Bewertung des Autors oder die Op­tik des Lesers gesagt wird, ohne daß diese in den einzelnen Sätzen vorgestellten Segmente solcher verschiedenen Orientierungszentren durch explizite Signale voneinander abgehoben wären. Wie wichtig indes solche Abhebungen sind, läßt sich daran ablesen, daß manche Autoren etwa mit Drucktypen variieren, um dadurch Abhebungen zu erzielen, die sich aus der Satzfolge nicht ohne weiteres ergeben hätten. Faulkners The Sound and the Fury ist dafür ein wichtiges Beispiel- wie sich überhaupt solche Signale am häufigsten dort fin­den, wo es, wie bei Faulkner, Joyce oder Virginia Woolf, um das Ausloten von Bewußtseinsschichten geht, die sich der Formulierbar­keit entziehen und deren verdinglichte Darstellung dadurch vermie­den wird, daß man über signalisierte Abhebungen Staffelungen schafft, durch die Bewußtseinsvorgänge unter Ausblendung herr­schender Codes mitgeteilt werden sollen. Doch geht man vom Nor­malfall aus, so wird in der Satzfolge des Romantextes nahezu kaum zwischen den verschiedenen Perspektiven des Erzählers, der Figuren, der Handlung sowie der der Leserfiktion durch explizite Signale un­terschieden. Dabei haben aber die Sätze bzw. die Satzfolgen eine jeweils unterschiedliche Situierung in den genannten Perspektiven, die bis zu den von J oyce praktizierten Extremen reichen, daß auf manchen Seiten des Ulysses mit jedem neuen Satz in kaleidoskopi­schem Wechsel eine andere Perspektive aufgeblendet wird. Der hier verwendete Begriff der Perspektive impliziert, daß von einem be­stimmten Standpunkt aus ein Sachverhalt intendiert wird. Sodann meint er eine Form der Zugänglichkeit zu diesem Sachverhalt. 1o

Beide Charakteristika sind für einen nicht-denotierenden Text von zentraler Bedeutung; denn hier liefern Standpunkt und Zugänglich­keit allererst Steuerungsbedingungen, zu denen der Gegenstand des Textes hervorgebracht werden soll. Deshalb spielt in dem hier ver­wendeten Begriff der Perspektive weniger die optische Sicht eine Rolle, sondern der Zugang zu einem Sachverhalt, der von einem bestimmten'Funkt aus intendiert ist.

10 Zur näheren Charakteristik dieser Funktion vgl. C. F. Graumann, Motivation. Einführung in die Psychologie I, Bern und Stuttgart 21971, p.118.

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Da Persp( punkt Lektü daß (

ltworfenen rnde Blick­'erspektive. u sondern, tiven um-

springt. Dadurch beginnen sich die Textperspektiven voneinander abzuheben, so daß sich der wandernde Blickpunkt immer als Son­derung von Textperspektiven artikuliert. Folglich ist der von In­garden verworfene Hiat in der Satzfolge eine unabdingbare Vor­aussetzung dafür, daß es zu einer wechselseitigen Abhebung von Textperspektiven kommt. Wäre das nicht der Fall, dann würde sich das Lesen im unartikulierten Strom reiner Dauer erschöpfen. Arti­kuliert sich aber der wandernde Blickpunkt gerade durch den Per­spektivenwechsel, so heißt dies doch, daß in den Lektüreaugen­blicken die verE -'T~ne perspektivische Situierung retentional gegen-wärtig bleibt. I 1\1 oie Eigenart artikulierter Lektüre-augenblicke, di • ~ ·""~r wandernde Blick-punkt die Pers~_"._. _ 1-

derheit wie folgt beschreiben: Die Artikulation des Lektüreaugen­blicks kommt durch die Abhebung zustande. Diese aber setzt vor­aus, daß der vergangene Augenblick der früheren perspektivischen Situierung des wandernden Blickpunkts retentional gegenwärtig bleibt. Denn nur so ist die Differenz des Perspektiven wechsels mar­kiert. Da aber der neue Augenblick nicht in reiner Isolation gegeben ist, sondern über die Abhebung vom vergangenen entsteht, beginnt die retentionale Vergegenwärtigung des vergangenen in eine stän­dige Modifikation des jeweiligen Jetzt umzuschlagen. Das ist eine für den stromzeitlichen Fluß des Lesens entscheidende Struktur. Durch sie wird zunächst der Leserblickpunkt des Textes eingerichtet. Da der wandernde Blickpunkt in keiner Textperspektive ausschließ­lich situiert ist, vermag sich der Ort des Lesers nur über die Kombi­nationsvielfalt der Textperspektiven zu etablieren. Diese Kombina­tionen müssen die perspektivische Anlage des Textes entfalten, was nur über die retentionalen Modifikationen der vielen im Lesen durch Abhebung artikulierten Augenblicke möglich ist. Dadurch wird diese Struktur zur Voraussetzung für den Transfer des Textes in das Bewußtsein des Lesers.

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Um diesen Prozeß wenigstens ausschnitthaft zu veranschaulichen, arretieren wir einmal einen solchen Lektüreaugenblick anhand eines Beispiels, gegriffen aus Thackerays Vanity Fair. Wenn der Blick­punkt des Lesers in einer bestimmten Phase des Lektüre in der Per­spektive von Becky Sharp situiert ist, - als sie einen Brief an ihre Freundin Amelia schreibt, um ihr zu sagen, was sie sich alles von ihrer neuen Tätigkeit auf dem Landsitz der Familie Crawley ver­spricht - so ist die Erzählerperspektive als Hintergrund gegenwärtig. Sie wird durch ein Signal des Autors aufgerufen, der das Kapitel, in dem die Briefe geschrieben werden, mit Arcadian Simplicity be­titeltY Dieser Weckungsstrahl macht Ansichten gegenwärtig, die der Erzähler über den sozialen Ehrgeiz, mehr aber noch über die Ge­lenkigkeit entwickelt hat, mit der sich die "little Becky puppet" in ihrem sozialen Hochseilakt zu bewegen vermag. Das Aufrufen der Erzählerperspektive bedingt die Abhebung. Dadurch aber geschieht in diesem Augenblick eine Modifikation der beiden durch Abhebung aufeinander bezogenen Textperspektiven. Beckys naiver Wunsch, nun alles zu tun, um der neuen Herrschaft gefällig zu sein, wird als Ausdruck der von ihr gemeinten Liebenswürdigkeit gelöscht und schlägt in den Ausdruck eines habituellen Opportunismus um. Gleichzeitig beginnt sich die pauschale Metapher des Erzählers von Becky als einer Marionette auf dem Drahtseil in einer für die Ge­sellschaft des 19. Jahrhunderts charakteristischen Form des Oppor­tunismus zu individualisieren. Denn dieser verspricht nur dann den gewünschten Erfolg, wenn man moralisch handelt, ohne damit von der unterstellten Selbstlosigkeit der Moral motiviert zu sein. Moral - und damit den zentralen Verhaltenskodex bürgerlicher Gesell­schaft im 19. Jahrhundert - manipulieren zu können, erweist sich dann als die Individualisierung, die die Erzählerperspektive . in die­sem Augenblick vor dem Hintergrund der Figurenperspektive er­fährt. So geht von jedem Augenblick der Lektüre ein mehr oder min­der deutlicher Weckungsstrahl in die Erinnerung, um durch retentio-

11 Einzelheiten, wie auch die Voraussetzung für die folgende Argu­mentation, habe ich ausgeführt in Der implizite Leser. Kommunikations­formen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 1631, München 1972, pp. 179 ff.

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nale Vergegenwärtigung die Textperspektiven als solche soweit zu aktivieren, daß ihre Abhebung voneinander zur Bedingung ihrer Modifikation wird. Dabei zeigt dieses Beispiel bereits, daß sich der Fluß des Lesens nicht in eins inniger, unumkehrbarer Richtung voll­zieht, sondern daß die retentionale Vergegenwärtigung den Blick auch zurückspringen läßt, wodurch das gegenwärtige Jetzt in eine Modifikation des vergangenen umschlägt. Indem die aufgerufene Erzählerperspektive das explizit Gesagte der Figurenperspektive löscht, entsteht eine Sinnkonfiguration, die im konkreten Fall die Figur als opportunistisch und den Erzählerkommentar als indivi­dualisiert erscheinen läßt.

Diese Modifikation wiederum wirkt sich nun auf die Erwartung aus. Denn retentionale Vergegenwärtigung einer vergangenen per­spektivischen Situierung des Blickpunkts bedeutet nicht nur, daß der gegenwärtige Augenblick modifiziert wird; sie bedeutet auch, daß diese Modifikation ihrerseits die Protention vorzustrukturieren beginnt. Die so erzeugte Erwartung ist im Blick auf ihre mögliche Einlösbarkeit immer mehrstrahlig. Auf das angezogene Beispiel an­gewandt, heißt dies: die hier entstehende Erwartung projiziert sich zunächst einmal als Alternative des zukünftigen Gelingens bzw. Mißlingens von Beckys Opportunismus. In dem einen Falle würde die Einlösung etwas über die Gesellschaft, im anderen etwas über das Schicksal des Opportunismus in dieser Gesellschaft erwar'ten lassen. Vielleicht aber sind zu dem angeführten Augenblick die Figurenper­spektiven schon soweit individualisiert, daß eine solche pauschale Erwartung bestenfalls als Rahmen gegenwärtig ist, dessen nuancierte Füllung wir erwarten. Statt auf Sieg oder Niederlage des Opportunis­mus gerichtet zu sein, erwarten wir viel eher spezifische Ausprägun­gen eines solchen Verhaltens. Dafür sorgt bereits die Perspektivie­rung der Figurenperspektive. Denn im· Blick auf die einfältige und tränenselige Amelia, an die Becky in dem herangezogenen Augenblick schreibt, wird sich eine andere Variante des Opportunismus ergeben als im Blick auf die adlige Gesellschaft, in der sich Becky nun zu be­wegen beginnt. Der so entstehende Leerhorizont läßt dann eine In­dividualisierung jener Form des Opportunismus erwarten, die der Autor als Signum der Gesellschaft brandmarken wollte.

Damit ist das Schema des wandernden Blickpunkts deutlich. Der

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dem Leser vorgezeichnete Blickpunktwechsel bewirkt eine Abhebung der Textperspektiven voneinander, die sich dadurch zu wechselsei­tigen Horizonten organisierenY Der Horizont gibt dem, was im Vordergrund steht, eine jeweils bestimmte Konturj denn Kontur ist die entscheidende Vorbedingung von Form. Der erneute Blickpunkt­wechsel beginnt die Form wieder zu entdifferenzieren, wenn sie in den Hintergrund rückt, um als Horizont Kontur für eine neue Form zu werden, die folglich von ihr konditioniert bleibt. Kommt es in jedem artikulierten Lektüreaugenblick zu einem Perspektivenwech­sel, so heißt dies, daß die ständig voneinander abgehobenen Text­perspektiven vom Leerhorizont ausbleichender Erinnerung über die jeweils retentionalen Modifikationen sowie die daraus entstehenden protentionalen Richtungsstrahlen bis hin zum Leerhorizont der Er­wartung unauflöslich miteinander verklammert sind. Auf diese Weise bleiben im stromzeitlichen Fluß des Lesens Vergangenheit und Zukunft in gradueller Abschattung gleichsam immer gegenwär­tig, so daß der wandernde Blickpunkt durch seine synthetischen Ope­rationen den Text als ein Beziehungsnetz im Bewußtsein des Lesers entfaltet. Dadurch beginnt sich auch die zeitliche Erstreckung der Lektüre zu verräumlichen. Denn Retention und Protention bedin­gen es, daß die sprachliche Formulierung des Textes in jedem arti­kulierten Lektüreaugenblick als Instruktion für die Kombination der Textperspektiven wirksam wird. Wir haben die Illusion einer abge­stuften Raumtiefe, und diese vermittelt den Eindruck, als ob wir uns beim Lesen in einer Welt bewegten.

Dieses allgemeine Schema des wandernden Blickpunkts bedarf noch einer Ergänzung, um die Stelle genauer zu markieren, in der die Textstruktur in eine individuell differenzierte Konstitutionsakti­vität des Lesers umschlägt. Das wechselseitige Aufrufen der Text­perspektiven geschieht in der Regel nicht in einem strengen zeit­lichen Nacheinander. Verhielte es sich so, dann müßte das früher Gelesene immer mehr aus dem Blick schwinden, weil es zuneh-

12 Smith, p. 185 H., macht anhand psycholinguistischer Befunde deut­lich, in welchem Maße Differenzen bzw. Abhebungen im Lesen selbst entdeckt und stabilisiert werden müssen.

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mend inaktuell würde. Folglich rufen die Signale der Textperspek­tiven nicht immer die unmittelbar vorhergehenden, sondern oft­mals schon in die Vergangenheit gesunkene Momente anderer Text­perspektiven auf. Dadurch erfährt das Schema des wandernden Blickpunkts eine wichtige Differenzierung. Fällt nämlich ein Wek­kungsstrahl auf einen bestimmten, in die Erinnerung eingegangenen Sachverhalt, so wird das intentional Geweckte nicht isoliert, son­dern immer in einer Umgebung auftauchen. Wenn aus dem Erin­nerungszusammenhang etwas Bestimmtes hervorgeholt wird, dann erscheint das Aufgerufene stets als eingebettet. Damit ist zunächst der Punkt bezeichnet, an dem die Reichweite des Textsignals an seine Grenze kommt. Denn das Signal ruft nicht die Einbettung des Geweckten auf, vielmehr ergibt sich diese Beziehung aus dem retentionalen Bewußtsein des Lesers. Der Weckungsstrahl gilt ledig­lich dem im Erinnerungssediment Aufgerufenen, wozu sich dann aus dem retentionalen Bewußtsein des Lesers Umfang und Art der Einbettung ergeben. Diese indes vermag das weckende Signal selbst nicht mehr zureichend zu bestimmen. Da aber das Geweckte von der Einbettung in seine Umgebung nicht unabhängig ist, bietet es sich im Blick auf seine Umgebung so, daß es von einem Punkt außerhalb selner gewärtigt werden kann. Nun ist es möglich, daß am Geweckten Aspekte sichtbar werden, die nicht im Blick standen, als sich der Erinnerungszusammenhang sedimentierte. Daraus folgt, daß die vom Textsignal bewirkte Weckung das Geweckte im Hori­zont seiner möglichen Beobachtbarkeit erscheinen läßt. Damit wird ein schematischer Punkt greifbar, an dem Textsignal und Bewußt­seinstätigkeit des Lesers zu einem produktiven Akt verschmelzen, der auf keine seiner beiden Komponenten reduzierbar ist. Indem dieser Akt das Geweckte in den Horizont seiner Beobachtbarkeit rückt, geschieht eine Apperzeption, denn das Geweckte und seine Einbettung stehen nicht getrennt im Leserblickpunkt, sondern als eine synt4.~tische Einheit, durch die das Geweckte immer zugleich als ein Erfaßtes gegenwärtig werden kann.

Dieser Sachverhalt ist für den Aufbau ästhetischer Gegenständ­lichkeit im Lektürevorgang von großer Bedeutung. Bringt der Wek­kungsstrahl eine Bewußtseinstätigkeit in Gang, durch die der Er­innerungszusammenhang immer in einem Horizontverhältnis auf-

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taucht, so bindet er doch zugleich die sich daraus ergebende Sinnkon­figuration an den weckenden Augenblick jenerTextperspektive, in der der wandernde Blickpunkt gerade ruht. Erscheint aber die geweckte Perspektive bereits als eine Sinnkonfiguration und nicht als ein iso­liertes Element, so wird sie sich zwangsläufig als ein differenziertes Beobachtungsspektrum für die weckende Perspektive einstellen, die dadurch eine zunehmende Individualisierung erfährt.

Das läßt sich noch einmal im Rückgriff auf das angezogene Thak­keray-Beispiel veranschaulichen. Das Textsignal 'Arcadian Simpli­city' ruft die Erzählerperspektive gerade dann auf, wenn der Leser mehr oder minder ganz in der Perspektive der Figur istj denn Becky schreibt einen Brief, und das heißt, wir haben hier eine Ich-Perspek­tive, von der Butor einmal sagte: "Wenn der Leser an die Stelle des Helden versetzt wird, muß er auch in dessen Augenblick versetzt werden, darf er nicht wissen, was jener nicht weiß, und müssen die Dinge ihm so erscheinen, wie sie jenem erschienen."J3 Das Text­signal 'Arcadian Simplicity' ist ein explizites Ironiesignal und weckt den ironischen Tenor der Erzählerperspektive. Dabei scheint die 'Ar­kadische Einfalt' eine vergleichsweise milde Form der Ironie zu sein, wodurch die anderen Formen der Ironie als Einbettungszusammen­hang gegenwärtig werden. Vor dem Hintergrund ihrer Varianten rückt sie dann zumindest unter die Beobachtung ihrer Angemessen­heit. Sie wird unter einem Horizontverhältnis gegenwärtig, und das heißt, wenn nun Erzählerperspektive und Figurenperspektive durch den Weckungsstrahl als wechselseitige Horizonte erscheinen, so kann der zentrale Wunsch Beckys, allen gefällig zu sein, nicht in den Horizont bloßer lronisierung einrücken, sondern noch einmal in einen solchen, der Beckys Anliegen unter die zusätzliche Bewer­tung von angemessener oder unangemessener Ironie bringt, wobei gerade die Unangemessenheit dem Vorhaben Beckys eine Dimension gibt, die - obwohl unausgesprochen - einen hohen Grad semanti­scher Individualität besitzt.

Dadurch geben sich die Projektionsflächen der beiden Textper­spektiven wechselseitig ein bestimmtes Relief. Die aufgerufene Iro-

13 Michel ButOI, Repertoire II, übers. von H. Scheffel, München 1965, p.98.

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nie der Erzählerperspektive transformiert sich in eine Aufforderung zur Bewertung dessen, was die Figur will, während ein solcher Wunsch vor dem Horizont der Erzählerperspektive diese wiederum unter die Beobachtung von Angemessenheitskriterien bringt. Damit hat sich die in retentionaler Weckung gebildete Horizontbeziehung erneut differenziert, und eine solche Staffelung von Standpunktver­hältnissen, wie sie im Leseakt hervorgebracht werden, bilden ihrer­seits den Anstoß für die Synthesen des Lesers, aus denen sich be­stimmte Vorstellungsgegenstände des Textes zu entwickeln be­ginnen.

Wenn aufgerufene Textperspektiven weniger in ihren Elementen, sondern eher als bestimmte Sinnkonfigurationen im artikulierten Leseaugenblick gegenwärtig sind, so ist diese intersubjektive Struktur immer zugleich die Bedingung ihrer je subjektiven Realisierung. Denn es wird von sehr vielen subjektiven Faktoren des einzelnen Lesers abhängen, in welchem Maße die vom Text vorgezeichneten Beziehungen seiner Perspektiven durch das retentionale Bewußtsein eingelöst werden können. Wenn die Einbettung des intentional Ge­weckten eine entscheidende Rolle für die Sinnkonfiguration einer geweckten Perspektive spielt, die ihrerseits als Horizont für die weckende dient, dann sind Erinnerungsvermögen, Interesse, Auf­merksamkeit und Kompetenz die Bedingung dafür, in welchem Umfang Einbettungsverhältnisse gegenwärtig werden. Von diesem gewiß sehr schwankenden Umfang sind zunächst die Apperzeptio­nen bedingt, die dem Zusammenschluß des geweckten Elements mit seiner Umgebung entspringen. Das daraus entstehende Hori­zontverhältnis aber wirkt auf die Individualisierung der weckenden Perspektive zurück und wird folglich von Leser zu Leser unter­schiedliche Nuancen in der Individualisierung der weckenden Per­spektive zeitigen. Hier ist dann der Quellpunkt für die subjektiv ver­schiedene Inhaltlichkeit der im wandernden Blickpunkt vorgezeich­neten intersubjektiven Struktur der Erfassungsakte fiktionaler Texte. Doch es ist die intersubjektive Struktur, die eine Verständigung über ihre je subjektiven Realisierungen erlaubt.

Wichtiger indes bleibt die Tatsache, daß es der wandernde Blick­punkt dem Leser erlaubt, den Text in die Beziehungsvielfalt seiner Perspektiven aufzufächern, die sich im Blickpunktwechsel vonein-

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ander abheben. Daraus ergibt sich ein Netz von Beziehungsmöglich­keiten, dessen Besonderheit darin liegt, daß nicht isolierte Daten verschiedener Textperspektiven miteinander verbunden werden, sondern daß weckende und geweckte Perspektiven zu Standpunkt­verhältnissen wechselseitiger Beobachtung zusammenlaufen. Da­durch vermag der wandernde Blickpunkt ein Beziehungsnetz zu ent­falten, das in den artikulierten Leseaugenblicken potentiell immer den ganzen Text parat zu halten vermag. Ein solches Beziehungs­netz kann niemals total realisiert werden; es bietet jedoch die Basis für die vielen Selektionsentscheidungen, die im Lesen fallen und die - wie es die Interpretationsvielfalt zeigt -intersubjektiv zwar nicht mehr identisch sind, aber doch insoweit intersubjektiv versteh­bar bleiben, als sie der angestrebten Optimierung dieses Beziehungs­netzes entsprungen sind.

3. Die Bewußtseinskorrelate des wandernden Blickpunkts

a) Konsistenzbildung als Basis des Geschehenscharqkters und der Verstrickung

Der wandernde Blickpunkt bezeichnet den Modus, durch den der Leser im Text gegenwärtig ist. Diese Gegenwart bestimmt sich als Strukturierung des Textes, der dadurch in die Innenhorizonte von Erinnerung und Erwartung aufgefächert wird. Die daraus entsprin­gende dialektische Bewegung bewirkt eine ständige Modifikation der Erinnerung sowie eine Komplizierung der Erwartung. Dafür sorgen die voneinander abgehobenen Textperspektiven, die sich als wech­selseitige Horizonte stabilisieren und damit ständig aufeinander be­zogen sind. Diese Horizontdialektik wird zum Antrieb für die vom Leser zu leistenden synthetischen Aktivitäten. Für sie aber gilt: " ... it is the prerogative of the perceiver, not a characteristic of the stimuli, to decide which differences shall be significant - which sets of features shall be criterial - in the establishment of equivalen­ces."14 Synthesen sind daher zunächst Gruppierungen, durch die in-

" Smith, p. 113.

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teragierende Textperspektiven zu einelil Äquivalent zusammenge­schlossen werden, das den Charakter einer Sinnkonfiguration be­sitzt. Damit kommt eine zentrale Tätigkeit des Lesens zum Vor­schein. Faltet der wandernde Blickpunkt den Text zu Interaktions­strukturen auseinander, so wird die daraus entspringende Gruppie­rungsaktivität zur Basis des Erfassens.

Eine Beobachtung von Gombrich macht die Eigenart des sich hier abspielenden Vorgangs deutlich: "In the reading of images, as in the hearing of speech, it is always hard to distinguish what is given to us from what we supplement in the process of projection which is triggered off by recognition ... it is the guess of the beholder that tests the medley of forms and colours for coherent meaning, crystallizing it into shape when a consistent interpretation has been found." 15 In dem hier skizzierten Prozeß - den Gombrich ursprüng­lich im Umgang mit Texten abgelesen und dann auf die Bildbe­trachtung übertragen hat - steckt ein Problem, dessen Verdeut­lichung etwas über die im Lesevorgang erfolgende Konsistenzbildung auszusagen vermag. Die Gestalt als eine konsistente Interpretation erweist sich als ein Produkt, das aus der Interaktion von Text und Leser hervorgeht und daher weder auf die Zeichen des Textes noch auf die Dispositionen des Lesers ausschließlich zu reduzieren ist. Die psycholinguistischen Leseexperimente haben gezeigt, daß Bedeutun­gen weder über die mittelbare noch über die unmittelbare Deco­dierung von Buchstaben oder Wörtern erfaßt werden können, son· dem erst über einen Gruppierungseffekt zu gewinnen sind. "Wenn wir eine Textseite lesen, gilt unsere Aufmerksamkeit nicht den kleinen Fehlern im Papier, obwohl sie sich mitten in unserem Blick­feld befinden, und wir erhalten sogar von der Form der verwende­ten Druckbuchstaben nur eine verschwommene und latente Vor­stellung. Von einer noch höheren Betrachtungsebene wissen wir aus den zahlreichen Arbeiten der Wahrnehmungspsychologen über das Lesen gedruckter Texte (Richaudeau, Zeitler, Shen), daß bei fort­laufendem Lesen die Zahl der Fixationspunkte des Auges nicht über zwei bis drei pro Zeile hinausgeht und daß es für das Auge mate­riell nicht möglich ist, die Form eines jeden Buchstaben zu erfassen.

15 E. H. Gombrich, Art and Illusion, London 21962, p. 204.

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Hier gibt es noch zahlreiche 'typographische Illusionen', und alle Betrachtungen führen die Psychologie zur Anerkennung der Gestalt­theorie auf Kosten der einseitigen Vorstellungen des Abtastens.,,16 Denn würden wir wirklich im Lesen Buchstaben und Wörter im Computerstil abtasten, dann verliefe der Leseprozeß als ein bloßes Gewärtigen solcher Einheiten, die aber noch keine Sinneinheiten sind. "Meaning is at a level of language where words do not be­long ... Meaning is part of the deep structure, the semantic, cog­nitive level. And you may recall that between the surface level and the deep level of language there is no one-to-one correspondence. Meaning may always resist mere wordS."17

Da sich Bedeutung nicht in Worten manifestiert und folglich das Lesen nicht als fortlaufende Identifikation einzelner Sprachzeichen verläuft, bewirken erst die Gestaltgruppierungen eine mögliche Er­fassung. Die Minimaldefinition solcher Gestalten ließe sich unter Verwendung eines von Moles geprägten Begriffs als die 'Autokorre­lation' der Textzeichen angebenY Als Autokorrelation muß die Verbindung der Textzeichen schon deshalb beschrieben werden, weil es sich dabei um ihre Beziehung untereinander, nicht aber schon um die Erweckung bestimmter Dispositionen des Lesers handelt. Die Gestalt ergäbe sich zunächst durch die Korrelation der Zeichen mit­einander; diese gilt es in einen Zusammenhang zu bringen, den wir als Konsistenz bezeichnen, wobei es durchaus möglich ist, daß solche Zusammenhänge ihrerseits zum Zeichen für weitere Korrelierungen werden können. Autokorrelation besagt dann zweierlei: erst die Be­ziehung schafft die Gestalt; die Gestalt aber ist nicht diese Bezie­hung selbst, sondern ihr Äquivalent, also jene Projektion, von der Gombrich gesprochen hatte. Der Anteil des Lesers an der Gestalt besteht in der Identifikation der Zeichenbeziehung, und allein dar­aus ergibt sich, daß solche Projektionen keine dem Text oktroyier­ten Bedeutungen darstellen, wenngleich sich die Gestalt als identifi­zierte Äquivalenz erst aus dem hermeneutischen Schema von Vor-

16 Abraham A. Moles, Informationstheorie und ästhetische Wahrneh­mung, übers. von H. Ronge et al., Köln 1971, p. 59.

17 Smith, p. 185. " Vgl. Moles, pp. 140 H.

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griff und Erfüllung der wahrgenommenen Zeichen beziehungen er­gibt.

Ein solcher Sachverhalt und die daraus resultierenden Folgerun­gen lassen sich etwa an dem folgenden Beispiel verdeutlichen, das schon einmal in einem anderen Zusammenhang herangezogen wor­den iSt.19 In Fieldings Tom Tones wird Allworthy als der homo per­fectus eingeführt. Er wohnt in Paradise Hall "and ... might weIl be called the favourite of both nature and fortune".lo Mit einem neuen Kapitel wird Dr. Blifil in den Kreis der Familie Allworthy einge­führt, und es heißt von ihm: "the doctor had one positive recom­mendation - this was a great appearance of religion. Whether his religion was real, or consisted only in appearance, I shall not pre­sume to say, as I am not possessed of any touchs tone which can distinguish the true frorn the false".ll Dennoch ist davon die Rede, daß der Doktor wie ein Heiliger wirke. Damit ist an diesem Punkt des Textes, den wir hier wieder einmal arretieren wollen, eine be­stimmte Zeichenmenge gegeben, die ein bestimmtes Spiel der Kor­relationen in Gang setzt. Die Zeichen denotieren zunächst, daß sich Blifil den Anschein tiefer Religiosität gibt und daß Allworthy ein vollkommener Mensch ist. Gleichzeitig aber setzt der Erzähler ein bestimmtes Aufmerksamkeitssignal, das sich auf die notwendige Unterscheidung von wahrem und falschem Anschein bezieht. Nun begegnet Blifil Allworthy, und dadurch wird die retentional gehal­tene Darstellungsperspektive Allworthys gegenwärtig. Zwei Seg­mente aus Darstellungsperspektiven der Figuren werden sich - vor allem durch das explizite Signal des Erzählers - zu wechselseitigen Horizonten. Es kommt zu einer Korrelation der Sprachzeichen durch den Leser und damit zu einer Gestalt der beiden Zeichenkomplexe. Denotieren die Zeichen im Falle Blifils den Anschein tiefer Religio­sität und im Falle Allworthys Vollkommenheit, so denotieren die Zeichen des Erzählers eine gewisse Notwendigkeit, Unterschei­dungskriterien in Anwendung zu bringen. Die Äquivalenz der Zei-

2. Vgl. dazu Kapitel II, A, 3, pp. 107 f. u. 110 f. 20 Henry Fielding, Tom Tones I, 2 (Everyman's Library), London 1962,

p.3. 21 Ibid., I, 10, p. 26.

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chen ergibt sich in dem Augenblick, in dem wir die Heuchelei Blifils und die Naivität Allworthys gewärtigen, wodurch sich zugleich die vom Erzähler denotierte Unterscheidungsnotwendigkeit realisiert. Blifil gibt sich den Anschein der Religiosität, um Allworthy zu beeindrucken, damit er sich in die Familie einschleichen und viel­leicht deren Besitz an sich bringen kann. Allworthy vertraut dem Anschein, weil sich die Vollkommenheit eine bloß gespielte Ideali­tät überhaupt nicht vorstellen kann. Den einen als Heuchler und den anderen in seiner Naivität zu gewärtigen, heißt, aus drei unter­schiedlichen Segmenten der Darstellungsperspektiven (zwei Seg­mente der Figurenperspektive und eines der Erzählerperspektive) eine Äquivalenz gebildet zu haben, die den Charakter einer kon­sistenten Gestalt besitzt. In der Gestalt sind die Spannungen auf­gehoben, die sich aus unterschiedlichen Zeichenkomplexen ergeben haben. Sie ist im Text selbst nicht explizit vorhanden, sondern ent­steht als eine Projektion des Lesers, die insofern gelenkt ist, als sie sich aus der Identifikation der Zeichenbeziehungen ergibt. Im vor­liegenden Falle aber ist sie von der Art, daß durch sie gerade das repräsentiert wird, was die Sprachzeichen nicht sagen, bzw. daß sie das Gemeinte als Gegenteil des Gesagten repräsentiert.

So gewinnen die Sprachzeichen erst durch die Gestaltkohärenz ihren bestimmten Sinn, und dieser stellt sich - wie im vorliegenden Falle - über die wechselseitigen Modifikationen ein, der die einzel­nen Positionen durch die geforderte Äquivalenz unterworfen sind. Die Gestaltkohärenz ließe sich daher mit einem Begriff von Gur­witsch als das perzeptuelle Noema des Textes bezeichnen.22 Damit ist folgendes gemeint: Da sich mit jedem Sprachzeichen dem Be­wußtsein mehr als nur dieses Zeichen bietet, muß es mit seinen Verweisungskontexten zu einer Einheit zusammengeschlossen wer­den. Die Einheit des perzeptuellen Noemas aber entsteht durch die Erfassungsakte des Lesers, der die Beziehung der Sprachzeichen iden­tifiziert, um dadurch den sprachlich nicht manifestierten Verwei­sungszusammenhang zu konkretisieren. So sind im perzeptuellen

22 Vgl. Aron Gurwitsch, The Field 01 Consciousness, Pittsburgh '1964, pp. 175 H., der dieses Konzept im Anschluß an Husserls Begriff des Wahrnehmungssinnes entwickelt.

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Noema die Sprachzeichen, ihre Implikationen, ihre wechselseitige Beziehung sowie die Identifikationsakte des Lesers zur Einheit ge­bracht; der Text beginnt als Gestalt im Bewußtsein zu existieren.

Das perzeptuelle Noema mag für die bisher besprochene Dimen­sion des Fieldingbeispiels noch problemlos sein; die hier erzielte Gestaltkohärenz dürfte in hohem Maße eine intersubjektive Geltung beanspruchen. Nun aber existiert diese Gestalt nicht in Isolation~ Ließen die unterschiedlichen Zeichenkomplexe Allworthy/Blifil eine Spannung entstehen, die ohne Schwierigkeit in eine Äquivalenz auf­hebbar war, so fragt es sich nun, ob diese Gestalt, durch die All­worthy als der Naive und Blifil als der Heuchler repräsentiert wird, ihrerseits schon endgültig geschlossen ist. Wir wissen, daß unvoll­ständige Gestalten wiederum ein Spannungssystem hervorrufen, das nach einer Gestaltkohärenz mit größerer Integrationsleistung ver­langt. Gesetzt den Fall, man hielte die Gestalt, in der Allworthys und Blifils Positionen als Heuchelei und Naivität zur Äquivalenz gebracht sind, wirklich für geschlossen, dann bedeutete sie: All­worthy wird von einem Tartüff betrogen. Mit einer solchen Sinn­konfiguration aber gibt man sich in der Regel nicht zufrieden, und Fragen nach dem 'warum' und 'weshalb' stellen sich ein, wofür nicht zuletzt das Signal des Erzählers maßgebend ist, das uns anzeigt, wie schwierig es sei, einen Prüfstein zu finden, der wahr und falsch ver­läßlich voneinander zu sondern erlaube. Den Leser auf das Problem tragfähiger Unterscheidungskriterien aufmerksam zu machen, um die von ihm dann gefundene Unterscheidung bloß auf diesen Fall einzuschränken, hieße, der Erzählerperspektive ihre generalisierende Intention zu nehmen. Folglich ist mit der erzeugten Gestaltkohä­renz - daß Allworthy einem Tartüff aufgesessen ist - nicht nur dieses, sondern immer zugleich auch mehr gemeint. Dieses 'mehr' aber ist nicht beliebig; es bleibt zunächst vom Gewicht des Erzähler­signals und von der in der Gestalt offenbar gewordenen paradoxen Entdeckung gelenkt, daß der Vollkommenheit offensichtlich etwas zu fehlen scheint. Dennoch entsteht ein gewisser Spielraum durch die Art, wie die latente Offenheit der erzeugten Gestalt geschlossen werden kann. Folgende Möglichkeiten böten sich an, ohne damit schon restlos ausgeschöpft zu sein: 1. Durchschaut der Leser Blifil als Tartüff, warum durchschaut ihn dann Allworthy nicht, wo er

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doch vollkommen ist? Ergo fehlt der Vollkommenheit ein entschei­dendes Attribut: die Urteilsfähigkeit. Dadurch wird eine retentional gehaltene Fehlentscheidung Allworthys wieder geweckt; er hatte vordem als Friedensrichter Tenny Tones, ein unbescholtenes Dienst­mädchen, im Blick auf den Anschein vermeintlicher Schuld ver­urteilt. 2. Warum muß das Fehlen der Urteilsfähigkeit gerade am vollkommenen Menschen gezeigt werden? Die paradoxe Verkeh­rung scheint die Wichtigkeit der Urteilsfähigkeit herauszustellen -eine Sinngestalt, die der Erzähler durch seine Bemerkungen stützt. 3. Fühlen wir uns im Augenblick dem vollkommenen Menschen überlegen, weil wir das durchschauen, was er nicht zu sehen ver­mag, so fragt es sich, ob wir angesichts solcher temporärer über­legenheit gegenüber dem vollkommenen Menschen nicht auch das gewärtigen sollten, was er besitzt und uns abgeht? Die genannten Möglichkeiten veranschaulichen, in welch unterschiedlicher Richtung die Offenheit der Gestalt erster Stufe über den von ihr mitgeführten Verweisungszusammenhang geschlossen werden kann. Die Offen­heit läßt ferner erkennen, daß in ihr verschiedene Möglichkeiten angelegt sind, durch die die Gestalt erster Stufe in eine Kohärenz zwei­ter Stufe aufgehoben werden kann. Das aber heißt, in der latenten Offenheit erzeugter Gestalten sind Selektionsentscheidungen für ihre mögliche Schließung angelegt. Das perzeptuelle Noema, das sich dann bildet, zeigt gewiß schon Spuren subjektiver Präferenz dieses intersubjektiven Erfassungsaktes der Konsistenzbildung. Die angesprochenen Möglichkeiten erweisen sich als Selektionsparadig­men mit unterschiedlicher Zielrichtung. Sie sind alle legitim, ob­gleich sie sehr Verschiedenes visieren. Das erste Paradigma ließe sich als die Realisierung des Themas bezeichnen: Urteilsfähigkeit ist ein zentraler Sachverhalt für die menschliche Natur. Das zweite Para­digma wäre die Realisierung der thematischen Signifikanz. Urteils­fähigkeit ist offenbar nur über die Negativität der Erfahrung zu erwerben und kein Vermögen, das durch die Begünstigung der For­tuna oder gar durch die Natur schon gegeben wäre. Deshalb läßt Fielding die Urteilsfähigkeit mit der Vollkommenheit kollidieren, um die Notwendigkeit der Erfahrung zu unterstreichen. Das dritte Paradigma schließlich realisiert die didaktische Absicht., Der Leser soll im Spiegel der Figuren zur Anschauung seiner selbst gebracht

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werden; denn der Scharfsinn des Urteilens ist ohne moralische Ver­ankerung nutzlos, weil er dann nur zu der von Blifil gezeigten Ver­schlagenheit führen würde.

Damit sind gewiß die Möglichkeiten unterschiedlicher Selektionen nicht erschöpft. Das Beispiel indes ist soweit entfaltet, daß sich aus ihm eine allgemeine Folgerung für die Konsistenzbildung in der Lektüre ableiten läßt. Zwei voneinander abheb bare Modalitäten sind erkennbar. Die eine zeigt sich in der Gestalt des von einem Tartüff betrogenen Allworthy, die andere in den vorgeführten Se­lektionsparadigmen, wobei im ersten Typ eine hohe intersubjektive Gemeinsamkeit, in den folgenden hingegen eine gewisse Streubreite im Blick auf die gewählten Möglichkeiten herrschen dürfte. Den­noch sind die beiden Typen der Gestaltbildung eng miteinander verknüpft, ja sie schließen sich zum Schema der Konsistenzbildung zusammen. Nun, die Gestalt des ersten Typs repräsentiert Fig~en­konstellationen und Handlungszusammenhänge, kurz das, was man im aristotelischen Sinne die Fabel des Textes nennen könnte. Daß die Beziehung der Figuren untereinander sowie die daraus entsprin­genden Handlungsfolgen sich nicht durch ein Abtasten gegebener Sprachzeichen im Computerstil vollziehen, sondern als Gestaltbil­dung, hat das Beispiel sehr deutlich werden lassen. Die Gestalt -Allworthy sitzt einem Tartüff auf - entstand aus den retentionalen Modifikationen der Sprachzeichen, durch welche die denotierte Voll­kommenheit Allworthys genau wie der denotierte Anschein von Blifils tiefer Religiosität in der Äquivalenz der Gestalt gleicher­maßen transformiert wurden. Also selbst das Herstellen der Hand­lungsebene eines Textes im Rezeptionsbewußtsein vollzieht sich als Gestaltbildung. Nun aber ist die Handlungsebene kein Selbstzweck; denn durch sie ist immer etwas bedeutet - ablesbar an der ein­fachen Tatsache, daß eine Geschichte nicht wegen ihrer Handlung, sondern wegen des Beispielwerts einer solchen Handlung erzählt wird. Deshalb ist die Gestalt, die ein Handlungsmoment repräsen­tiert, noch nicht restlos geschlossen. Schließen läßt sie sich erst, wenn das durch sie Bedeutete als die Sinnhaftigkeit dieser Hand­lungskonstellation durch eine weitere Gestalt repräsentierbar wird. An diesem Punkt entsteht - wie es das Beispiel gezeigt hat - ein Fächer von Möglichkeiten, die immer nur selektiv realisiert werden

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können. Folglich herrscht in der Gestaltbildung der Handlungs· ebene ein hoher Grad intersubjektiver Eindeutigkeit, während auf der Sinnebene Selektionsentscheidungen fallen, die nicht deshalb subjektiv sind, weil sie von Willkür gezeichnet wären, sondern weil sich eine Gestalt nur dann schließen läßt, wenn eine und nicht alle Möglichkeiten gleichzeitig gewählt werden. Gerade die Spannung, die die Gestalt der Handlungsebene hinterläßt, verlangt - um ab­gebaut zu werden - den Eindeutigkeitsgrad einer geschlossenen Sinngestalt, der nur über die Selektionsentscheidungen zu gewinnen ist. Daß diese von den individuellen Dispositionen des Lesers, von seinen Bewußtseinsinhalten, seinen epochal und sozial bedingten Anschauungen - kurz, von seiner Erfahrungsgeschichte beeinflußt sein wird, ändert nichts daran, daß die Gestalten der Handlungs­ebene einen Fächer von Bedeutungsmöglichkeiten parat halten, der aller subjektiv bedingten Realisierung strukturell vorgegeben ist. Doch genauso versteht es sich, daß eine gewisse Optimierung dieser Vorgegebenheit von der Kompetenz des Lesers abhängig bleibt. In diesem Sinne hat Sartre recht, wenn er meint: "So bleibt für den Leser noch alles zu tun, und doch ist alles schon getanj das Werk existiert nur genau auf der Ebene seiner Fähigkeitenj während er liest und schafft, weiß er, daß er in seiner Lektüre immer weiter­gehen, daß er immer tiefgründiger schaffen könntej und deshalb kommt das Werk ihm unerschöpflich und undurchdringlich vor wie ein Ding. Dieses von Qualität unabhängige Produzieren, das sich entsprechend der Subjektivität, die es hervorruft, unter unseren Augen in undurchdringliche Objektivitäten verwandelt, würde ich gern mit jener 'rationalen Intuition' vergleichen, die KANT der göttlichen Vernunft vorbehalten hat."23

Wie man sich das "immer tiefgründiger schaffen" und die daraus hervorgehenden "undurchdringbaren Objektivitäten" denken könnte, ließen die Selektionsparadigmen des vorgeführten Beispiels erkennen, in denen sich die Gestalt der Handlungsebene zur kon­kreten Mehrsinnigkeit des durch sie Bedeuteten ausfächerte. Den

23 Sartre, p. 29; vgl. dazu auch Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symboli­schen Formen (stw 107), Frankfurt 1974, pp. 165 u. 169.

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Charakter einer /lundurchdringbaren Objektivität" besitzt die ein­zelne Selektions entscheidung insofern, als die aus ihr resultie­rende Sinngestalt intersubjektiv zugänglich bleibt, wenngleich sich die Bestimmtheit der getroffenen Entscheidung angesichts des vor­handenen Möglichkeitsfächers im konkreten Subjekt verliert.

Daraus ergibt sich dann ein Anhaltspunkt für eine wichtige Qua­lität der Gestalt, die - so scheint es - der fiktionale Text zum Auf­bau seiner Bewußtseinskorrelate nutzt. Eine Gestalt, so wissen wir, schließt sich in dem Maße, in dem die Spannung zwischen den zu gruppierenden Zeichen abgebaut wird. Das gilt auch für die Ge­staltsequenz, die sich in dem Maße bildet, in dem die good conti­nuation als Modus der Anschließbarkeit beachtet ist. Die Äquiva­lenz der Zeichen kommt über ihre wechselseitige Modifikation zu­stande, die sich in dem Maße einstellt, in dem sich antizipierte Er­wartungen erfüllen. Erwartungen indes verkörpern eine zentrale Vorbedingung für das Erzeugen einer Illusion; sie richtet uns auf Bestimmtes und blendet folglich anderes ab. Daher hat Gombrich recht, wenn er meint: " (Whenever) consistent reading suggests it­seH ... illusion takes over."24 Nun ist die Konsistenzbildung selbst kein Vorgang der Illusion; wohl aber realisiert sich die Konsistenzbildung in der Folge von Gestaltgruppierungen, die insofern ein illusionäres Moment besitzen, als die durch sie jeweils vorgestellte Ganzheit­von allem, wenn diese ein Produkt der Selektionsentscheidung ist -nicht ein Charakteristikum des Textes, sondern bereits die Reprä­sentation einer Sinnkonfiguration darstellt. Denn der fiktionale Text ist als nicht-denotierendes Zeichensystem zunächst offen, und das heißt, er erschöpft sich nicht in der Bezeichnung vorfindbarer em­pirischer Gegebenheiten. Folglich bietet er sich dem Leser als ein Strukturierungsangebot, durch das etwas konstituiert werden kann, das in der empirischen Welt der Objekte gerade nicht gegeben ist. Für diesen Konstitutionsvorgang aber müssen die gleichen Voraus­setzungen in Anspruch genommen werden, die für die Erfassungs­akte überhaupt gelten: die Konsistenzbildung. Diese vollzieht sich als Folge ständig zu schließender Gestalten. So läuft die Gestalt-

" Gombrich, p. 278.

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bildung gegen die Offenheit des Textes, und dem Grad ihrer Ge­schlossenheit entspricht der Illusionsanteil.

Wie sehr solche Illusionsanteile für unsere Erfassungsakte maß­gebend sind, hat Eeo einmal an der Reaktion von Fernsehzuschau­ern auf Live-Sendungen verdeutlicht. Hier handelt es sich um einen "Erzähltyp, der, wie zusammenhängend und konsequent er auch erscheinen mag, als Ausgangsmaterial stets die rohe Folge der na­türlichen Ereignisse verwendet; bei dem die Erzählung, selbst wenn sie einen durchgehenden Handlungsfaden besitzt, doch ständig in die bloße Notierung von Unwesentlichem ausweicht."25 Folglich kommt es bei der Live-Sendung - ganz ähnlich wie bei der gewoll­ten Zufälligkeit des modernen Films - zu einer "Frustrierung der 'romanhaften' Instinkte des Zuschauers/.26 "Nun wird die Live­Sendung in ihrem Ablauf von den spezifischen Erwartungen und Forderungen ihres Publikums bestimmt; eines Publikums, das, wenn es einen Bericht über das, was geschieht, von ihr verlangt, dieses Geschehen in Kategorien des traditionellen Romans denkt und das Leben nur insoweit als real anerkennt, als es seiner Zufälligkeit enthoben und zu einer Handlung vereinigt und ausgewählt er­scheint ... Es ist nur natürlich, daß das Leben mehr dem Ulysses als den Drei Musketieren gleicht: dennoch sind wir alle eher ge­neigt, es in den Kategorien der Drei Musketiere zu denken als in denen des Ulysses: oder besser, ich kann das Leben nur erinnern und beurteilen, wenn ich es als traditionellen Roman denke."27 Denn - so ließe sich das Argument fortführen - nur in der Erinne­rung herrscht das notwendige Maß an Freiheit, das es gestattet, die ungeordnete Vielfalt des erfahrenen Lebens in die Sinngestalt eines stimmigen Zusammenhanges zu bringen - vielleicht weil nur so überhaupt Bedeutungen des erfahrenen Lebens aufbewahrt werden können. So bringt die Erinnerungsgestalt die Heteronomie des Le­bens durch die aus ihr gewonnene Bedeutung zum Verschwinden. Der Illusionsroman ließe sich danach nicht mehr als das täuschende

2S Umberto Eeo, Das offene Kunstwerk, übers. von G. Memmert, Frankfurt 1973, p. 202.

26 Ibid., p. 203. 27 Ibid., p. 206.

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Abbild einer gegebenen Wirklichkeit begreifen, sondern eher als das Paradigma der Erinnerungsstruktur, weil die Wirklichkeit nur in­soweit Wirklichkeit ist, als sie durch Bedeutung repräsentiert wer­den kann. Denn es kennzeichnet "die Illusion, daß sie sich für echte Wahrnehmung ausgibt, deren Bedeutung dem Sinnlichen selbst entspringt und nirgendwo anders. Sie ahmt jene Erfahrungsart nach, die sich auszeichnet durch die Deckung von Sinn und Sinnlichem, durch die im Sinnlichen sichtbare oder sich bekundende Artikulation des Sinnes.,,28 Deshalb präsentiert dann auch der moderne Roman Wirklichkeit als kontingent und bedeutungslos, womit er allerdings zu erkennen gibt, daß er auf eingeübte Wahrnehmungsgewohn­heiten reagiert, indem nun Wirklichkeit aus der Illusionsstruktur der Erinnerung befreit wird. Doch das Aufdecken einer historisch gewordenen Form des Verstehens muß seinerseits repräsentiert werden, so daß die Notwendigkeit der Illusion für die Konsistenz­bildung - die das Begreifen allererst gewährleistet - auch dort nicht zum Verschwinden gebracht werden kann, wo uns der Widerstand der Texte gegen die Illusionsbildung so unabweisbar erscheint, daß unsere Aufmerksamkeit auf seine Ursachen gelenkt wird.

So bietet sich im Illusionsmoment der Gestaltbildung eine ent­scheidende Voraussetzung für die Erfassung des Textes. "Der Leser ist daran interessiert, die notwendige Information mit dem gering­sten Aufwand an Mühe zu erlangen ... Wenn daher der Autor be­strebt ist, die Anzahl der Kodesysteme und die Kompliziertheit ihrer Struktur zu erhöhen, so ist der Leser geneigt, sie auf das, wie ihm scheint, ausreichende Minimum zu reduzieren. Die Tendenz, die Charaktere zu komplizieren, ist eine Tendenz des Autors, die kon­trastreiche Schwarz-Weiß-Struktur ist die des Lesers.,,29

b) Der GesclIehenscharakter als Bewußtseinskorrelat des Textes

Die Konsistenzbildung ist die unabdingbare Grundlage für Erfas­sungsakte überhaupt. Sie vollzieht sich über die Gruppierungsakti-

28 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von R. Boehm, Berlin 1966, p. 41.

" Ju. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (UTB 103), übers. von Ralf-Dietrich Keil, München 1972, pp. 418 f.

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vität des Lesers, durch welche die Zeichenbeziehungen des Textes identifiziert und als Gestalten repräsentiert werden. Entspringt die Gestalt der gewärtigten Beziehung zwischen den Zeichen, so heißt dies, daß die Beziehung selbst sprachlich nicht manifestiert ist, son­dern aus der retentionalen Modifikation der zur Äquivalenz zu­sammengeschlossenen Zeichen hervorgeht. So gewiß die Zeichen durch die Textstruktur eine wechselseitige Beziehung vorgeben, so gewiß ist die der retentionalen Modifikation der Zeichen entsprin­gende Äquivalenz ein Produkt des Lesers. Damit ist der Punkt mar­kiert, an dem die Textstruktur in eine Aktstruktur umschlägt, bzw. an dem die Sprachzeichen die zu ihrer Erfüllung notwendige Affek­tion des Lesers bewirken. Nun hat die vorangegangene Diskussion gezeigt, daß die identifizierten Zeichenbeziehungen sich prinzipiell in zwei verschiedenen, wenngleich eng miteinander verbundenen Gestalttypen repräsentieren lassen: solche mit minimalisierter Se­lektionsnotwendigkeit und solche mit hoher Selektionsnotwendig­keit im Blick auf die durch die Gestalt erzeugte Äquivalenz der Sprachzeichen. Damit waren zugleich zwei Textebenen markiert: die der Handlung bzw. die der Figurenkonstellation und die der Sinnhaftigkeit von Handlung und Figurenspiel. Keine ist ohne die andere denkbar. Denn der Sinn hat nur Sinn im Blick auf die in der Handlung organisierte Faktizität, und diese wiederum bedarf der Auslegung, damit man begreift, was durch sie gesagt ist. Die Ge­staltbildung der Handlungsebene hat in der Regel einen hohen Ein­deutigkeitsgrad, und das heißt, die in der Gestalt vorstellbar ge­machte Äquivalenz der Zeichen läßt sich ohne Schwierigkeit mit hoher intersubjektiver übereinstimmung schließen. Da aber nur geschlossene Gestalten die notwendige Prägnanz besitzen, kommt es bei der Auslegung der Handlung - wie es das Fieldingbeispiel zeigte - zu Selektionsentscheidungen für bestimmte Möglichkeiten. Diese Grundstruktur der Erfassungsakte wird nun von fiktionalen Texten in einer bestimmten Weise in Anspruch genommen, um den Transfer des Textes in das Bewußtsein des Lesers entsprechend zu sichern. Folglich muß die Anlage des Textes Modalitäten er­kennen lassen, durch die auf den Prozeß der Gestaltbildung wie auf die in ihm erfolgenden Selektionsentscheidungen des Lesers einge­wirkt werden kann.

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Walter Pater bemerkte einmal zu der im Lesen sich einstellenden Erfahrung: "For to the grave reader words too are grave; and the ornamental word, the figure, the accessory form or colour or re­ference, is rarely content to die to thought precisely at the right moment, but will inevitably linger awhile, stirring a long 'brain­wave' behind it of perhaps quite alien associations."3o So bringt die Konsistenzbildung während der Lektüre auch diejenigen Momente mit hervor, die sich der Integration in die jeweils gebildete Gestalt entziehen (ta die ta thaught). Schon die Horizontdialektik des wan­dernden Blickpunktes hatte erkennen lassen, daß die im Lesen er­öffnete Beziehungsvielfalt der zu Projektionsflächen zusammenge­schlossenen Darstellungsperspektiven des Textes zwangsläufig zu Selektionsentscheidungen für bestimmte Beziehungen zwingt. Daraus ergibt sich dann jeweils eine bestimmte Sinngestalt. Da diese aber über einen Auswahlvorgang zustande kommt, bleibt die nicht­gewählte Beziehungsvielfalt im Hintergrund.

Die Notwendigkeit, durch Selektionsentscheidungen nur be­stimmte Relationen aus dem von uns selbst entfalteten Beziehungs­ne.tz zu realisieren, ist ferner dadurch gegeben, daß wir fm Lesen die Gedanken eines anderen denken, die - was immer sie auch im einzelnen sein mögen - als Gedanken eines anderen zunächst eine Fremderfahrung darstellen. Nun überschießen Fremderfahrungen ihrer Natur nach unsere eigenen Erfahrungen und halten daher im­mer mehr parat, als uns im Augenblick unmittelbar zugänglich ist. Daher orientieren sich Selektionsentscheidungen zunächst an jenem Teilbereich der Fremderfahrung, der noch vertraut zu sein scheint. Diese Orientierung wird die gebildete Sinngestalt beeinflussen und folglich bestimmte Möglichkeiten unberücksichtigt lassen; wenn­gleich solche Möglichkeiten durch die gefallene Selektionsentschei­dung gleichsam erst mit erweckt werden. Im Prinzip ist daher jede Sinngestalt immer von den Möglichkeiten überschattet, die die Ent­scheidung geweckt, aber nicht gewählt hat.

So bringen die Selektionsentscheidungen im Lesen zugleich einen

'0 Walter Pater, Appreciations, London 1920, p. 18.

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Möglichkeitsüberschuß hervor, und das heißt, daß in solchen Akten auch die Möglichkeiten mit präsentiert werden, die virtualisiert worden sind. Sie verkörpern denjenigen Bereich der Fremderfahrung, der im Leseakt konturiert wird, ohne zunächst von Belang zu sein. Seiner Virtualität entspringen dann jene "alien associations", die sich über die stabilisierten Sinngestalten lagern und diese soweit zu irritieren vermögen, daß sie in die Schwebe geraten und dadurch eine Umorientierung der Erfassungsakte bewirken können. Deshalb gewinnen wir beim Lesen oftmals den Eindruck, als ob Charaktere, Ereignisse und Vorgänge ihre Bedeutsamkeit geändert hätten; sie er­scheinen uns dann 'in einem anderen Licht', und das heißt, daß sich die Richtung der Selektionsentscheidung geändert hat, weil die "alien associations" der damals nur mit präsentierten, aber virtuell gebliebenen Möglichkeiten nun die gebildeten Sinngestalten so weit relativiert haben, daß sich unsere Einstellung zu verändern beginnt.

Von hier aus lassen sich dann auch Textstrategien beurteilen. Verkörpert die Gestaltbildung eine Selektionsentscheidung, durch die Zeichenbeziehungen als deren Bedeutung identifiziert worden sind, so kann der von einer solchen Wahl mit konstituierte, aber ausgeschlossene Möglichkeitskranz im Prinzip stark abgeblendet bleiben. Geschieht dies, dann gewinnt der Text eine didaktische oder indoktrinierende Intention. Die Strategien des Textes können aber auch so angelegt sein, daß sie die Intention der "alien asso­ciations" von Fall zu Fall verstärken, wodurch die in der Gestalt repräsentierte Zeichenäquivalenz nicht mehr die Orientierung der Intention bildet, sondern selbst Gegenstand der Zuwendung zu werden vermag. Die Strategien fiktionaler Texte sind in der Regel so angelegt, daß die in der Lektüre erfolgende Gestaltbildung ihre latente Störung mit produziert. Unterliegen die GestaLten der Mo­difikation durch die von ihnen ausgeschlossenen Möglichkeiten, so tendiert ihre Geschlossenheit immer wieder dazu, geöffnet zu wer­den. Daraus ergeben sich Rückwirkungen auf die Leserrolle. Durch die Gestaltbildung partizipieren wir am Text, und das heißt, wir sind in dem befangen, was wir hervorbringen. Deshalb haben wir oft den Eindruck, während des Lesens ein anderes Leben gelebt zu haben. Henry J am es sah in dieser 'illusion ... of having lived another

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lifel31 die entscheidende Qualität erzählender Prosa. Eine Illusion ist diese Beteiligung am Text insofern, als wir durch ein solches Befan­gensein das hinter uns lassen, was wir sind. tI • •• an event in which we participate is not knowable apart from our knowledge of our participation in it."32 Gombrich kommt über gestaltpsychologische Experimente zu einem ähnlichen Ergebnis: " ... though we may be intellectually aware of the fact that any given experience must be an illusion, we cannot, strictly speaking, watch ourselves having an illusion."33 In diesem Befangensein bringt sich eine andere Qualität der Illusion zur Geltung als jene, die wir bei der Konsistenzbildung im Blick hatten. Dort bestand das illusionäre Moment darin, daß Gestalten Ganzheiten verkörperten, in denen die Beziehungsvielfalt der Zeichenkomplexe soweit reduziert wurde, bis die Gestalt ge­schlossen werden konnte. Hier meint Illusion unseren Projektions­anteil an der Gestaltbildung, in der wir befangen sind, weil wir sie hervorbringen. Nun aber ist angesichts der Irritation der Gestalten durch die von ihnen ausgeschlossenen, aber gerade dadurch mit prä­sentierten Möglichkeiten dieses Befangensein niemals vollkommen. Im Gegenteil, die latente Störung eines solchen Befangenseins er­zeugt eine Spannung, die den Leser zwischen vollkommenem Be­fangensein und latenter Distanzierung oszillieren läßt. Daraus er­gibt sich eine vom Leser selbst erweckte Dialektik von Illusionsbil­dung und Illusionsdurchbrechung. Sie provoziert Ausgleichsopera­tionen - allein schon deshalb, weil eine von _der Fremdheit der "alien associations" gestörte Gestalt ja nicht sofort fallengelassen wird. Denn jetzt wirkt das Befangensein in der von uns hervorge­brachten Gestalt nach, und diese Nachwirkung ist notwendig, damit sich die "alien associations" überhaupt auszuwirken vermögen. Solche in der Lektüre dauernd entstehenden 'Konflikte' sind nur

31 Henry James, Theory of Fiction, ed. James E. Miller, Jr., Lincoln 1972, p. 93. Das genaue Zitat lautet: tlThe success of a work of art ... may be measured by the degree to which it produces a certain illusion; that illusion makes it appear to us for the time that we have lived another life - that we have had a miraculous enlargement of expe­rience." Die Äußerung stammt aus dem Jahre 1883.

32 Stanley CaveIl, The World Viewed, New York 1971, p. 128. JJ Gombrich, p. 5.

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dadurch zu entspannen, daß sie eine dritte Dimension hervortrei­ben, zu der sie sich aufheben. Diese entspringt der Bewegung, durch die der Leser ständig zwischen Befangenheit und Beobachtung hin­und herschwingt, wodurch er den Text als ein Geschehen erfährt. Im Geschehen sind die vom Text gesteuerten Gegenläufigkeiten der Gestaltbildung miteinander verbunden. Gleichzeitig gewinnt das Geschehen seine charakteristische Offenheit im Manifestwerden der von den Selektionsentscheidungen ausgeschlossenen Möglichkeiten, die nun auf die Geschlossenheit der Sinngestalten zurückwirken. Der Geschehenscharakter ist ein zentrales Bewußtseinskorrelat des Textes, das aus der von den Textstrategien erzeugten Irritation der Konsistenzbildung entsteht. Indem der fiktionale Text den allen Erfassungsakten zugrundeliegenden Gestaltbildungsprozeß in der beschriebenen Weise in Anspruch nimmt, vermag er ein Bewußt­seinskorrelat hervorzurufen, durch das der Text für den Leser zu einem Geschehen und damit schließlich zu einer Welt wird.

Wie sich solche Ausgleichsoperationen vollziehen, hat B. Ritchie einmal im Blick auf das Erwartungsspiel der Texte beschrieben. Jeder Text baut bereits mit seinem Anfang bestimmte Erwartungen auf, verändert diese in seinem Fortgang, ja, erfüllt sie gelegentlich zu einem Zeitpunkt, zu dem wir längst nicht mehr an ihre Ein­lösung glauben und zu dem sie bereits unserer Aufmerksamkeit ent­schwunden sind. "Furthermore, to say merely that 'our expectations are satisfied' is to be guilty of another serious ambiguity. At first sight sueb a statement seems to deny the obvious fact that much of our enjoyment is derived from surprises, from betrayals of our ex­pectations. The solution to this paradox is to find some ground for a distinction between 'surprise' and 'frustration'. Roughly, the di­stinction can be made in terms of effects which the two kinds of experiences have upon uso Frustration blocks or checks activity. It necessitates new orientation for our activity, if we are to escape the cul de sac. Consequently, we abandon the frustrating object and re­turn to blind impulsive activity. On the other hand, surprise merely causes a temporary cessation of the exploratory phase of the ex­perience, and arecourse to intense contemplation and scrutiny. In the latter phase the surprising elements are seen in their connection with what has gone before, with the whole drift of the experience,

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and the enjoyment of these values is then extremely intense. Finally, it appears that there must always be some degree of novelty or surprise in all these values if there is a progressive specification of the direction of the total act ... and any aesthetic experience tends to exhibit a continuous interplay between 'deductive' and 'inductive' operations."34

Daraus folgt, daß der Sinn des Textes weder in den Erwartungen noch in den überraschungen und Enttäuschungen, geschweige denn in den Frustrationen steckt, die wir im Vorgang der Gestaltbildung durchleben. Diese verkörpern eher Reaktionen, die durch das Auf­brechen, die Störung und das Durchkreuztwerden der von uns im Lesen gebildeten Gestalten zustande kommen. Das aber heißt, wir reagieren im Lesen auf das, was wir selbst hervorgebracht haben, und dieser Reaktionsmodus erst macht es plausibel, weshalb wir den Text wie ein reales Geschehen zu erfahren vermögen. Wir fassen ihn nicht auf wie ein gegebenes Objekt, wir begreifen ihn auch nicht wie einen Sachverhalt, der durch prädikative Urteile bestimmt wird i

vielmehr ist er uns durch unsere Reaktionen gegenwärtig. Der Sinn des Werks gewinnt damit selbst den Charakter des Geschehens, und da wir dieses als das Bewußtseinskorrelat des Textes erzeugen, er­fahren wir dessen Sinn als Wirklichkeit.

c) Das Verstricktsein als Erfahrungsbedingung

Geschehen als Bewußtseinskorrelat des Textes entspringt einem Ge­staltbildungsprozeß, in dessen Verlauf die einzelne Gestalt sowohl aktuelle Einheit als auch transitorisches Moment ist. Die Gestalt artikuliert dadurch einen Realisierungsvorgang, der sich im Bewußt-

. sein des Lesers vollzieht. Voraussetzung dafür bildet die latente Störung der erzeugten Gestalten durch die in der Selektion ausge­schlossenen Möglichkeiten. Dadurch nimmt der fiktionale Text die für das Erfassen notwendige Konsistenzbildung auf eine ihn cha­rakterisierende Weise in Anspruch. Nun läßt sich diese Tendenz verstärken, indem alternative Möglichkeiten der Konsistenzbildung deutlicher hervorgekehrt werden. Dadurch wird sich dann das Ge-

l< Benbow Ritchie, "The Formal Structure of the Aesthetic Object", in The Problems 0/ Aesthetics, ed. Eliseo Vivas and Murray Krieger, New York 1965, pp. 230 f.

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schehen als Bewußtseinskorrelat weiter differenzieren müssen. Im alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnen wir solche alternative· Mög­lichkeiten als Ambiguitäten und meinen damit nicht nur ihre stö­rende Rückwirkung auf den Prozeß der Konsistenzbildung, sondern dessen eklatante Erschwerung. Diese drängt sich besonders dann auf, wenn sich die Ambiguität als Produkt unserer Gestaltbildung einstellt. Sie ist dann nicht mehr ausschließlich auf bestimmte Sprachzeichen im Text einzugrenzen, sondern scheint unserer Tätig­keit im Vorgang der Gestaltbildung entsprungen zu sein. Manifeste Ambiguitäten im Text bieten sich uns mehr wie ein Rätsel, dessen Lösung uns aufgegeben ist; erzeugte Ambiguitäten im Gestaltbil­dungsprozeß hingegen funktionieren als Antriebsenergie, den vor­enthaltenen Ausgleich angesichts der von uns selbst produzierten Sperre nun desto intensiver herbeizuführen. Denn genauso wie die wechselseitige Irritation der Gestalten sich zur Dimension des Ge­schehens aufhebt, in der Illusionsbildung und Illusionsdurchbre­chung integriert sind, so bedarf es auch hier einer Integrationsstufe. Wenn die Ambiguität als Antriebsmoment divergierender Gestalt­bildung verstanden wird, dann fragt es sich, was eine solche Ver­stärkung der Antriebe bewirken soll.

Was hier geschieht, läßt sich an einem relativ einfachen Beispiel verdeutlichen. Wie strukturiert man etwa jene Stelle in Joyces Ulysses, in der die Zigarre Blooms auf den Speer des Odysseus an­spielt, um nur einen punktuellen Textausschnitt herauszugreifen, an dem sich die Erschwerung der Gestaltbildung zeigen läßt? Mit dem Speer ist ein bestimmtes Repertoire-Element aus dem homeri­schen Bezugsfeld in dem Roman von Joyce aufgerufen und schein­bar mit der Zigarre Blooms so zur Deckung gebracht, als ob es sich um Gleichartiges handele. Wie organisieren wir nun diese Elemente, die gerade durch ihre angedeutete Bezogenheit so unverkennbar voneinander wegschwingen, daß wir auf die Hintergründigkeit die­ser scheinbaren Identität gelenkt sind? Wir sagen vielleicht, diese Deckung sei ironisch gemeint. Wenigstens haben dies eine Reihe beachtenswerter Joyce-Leser so verstanden.35 Ironie wäre dann die

" Richard Ellmann, "Ulysses. The Divine Nobody", in Twelve Origi­nal Essays on Great English Novels, ed. Charles Shapiro, Detroit 1960, p. 247, klassifiziert diese Anspielung als "mock-heroic".

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Gestalt, durch die sich die Beziehung der Zeichen identifizieren ließe. Doch was wird hier eigentlich ironisiert? Der Speer des Odys­seus oder die Zigarre Blooms? Die mangelnde Eindeutigkeit dieser Frage strapaziert bereits die in der Ironie 'scheinbar gewärtigte Ge­stalt. Aber selbst wenn man in der Ironie das zureichende Maß an Konsistenz entdecken zu können glaubt, so ist diese doch von eigen­tümlicher Natur. Sie läßt nicht ihre geläufige Intention erkennen, daß der formulierte Text das Gegenteil der Formulierung meint. Bestenfalls meint der formulierte Text etwas, das nicht formuliert worden ist. Vielleicht meint er auch etwas, das sich der 'Formulie­rung' durch Ironie entzieht, obwohl es gerade noch über eine ver­meintliche Ironie angezeigt werden kann.

Wie immer es sich auch verhalten mag: in jedem Falle produ­ziert die für die Erfassung geforderte Konsistenz eine Diskrepanz. Diese aber ist mehr als nur eine ausgeschlossene, weil nicht ge­wählte Möglichkeit. Denn sie wirkt nicht bloß als Stärung auf die gebildete Gestalt zurück; sie läßt deren Unzulänglichkeit hervor­treten. Die so entstandene Diskrepanz depotenziert die Gestalt zu einer problematischen Möglichkeit, die deshalb bestritten wird, weil es ihr an zureichender Motivationskraft für die Äquivalenz der Zeichenbeziehung fehlt. Das muß jedoch nicht heißen, daß es sinn­los sei, überhaupt solche unzulänglichen Gestalten zu bilden. Im Gegenteil: die problematische Möglichkeit wird zum Antrieb, die Zeichenbeziehung durch eine andere Gestalt repräsentierbar zu ma­chen, und zwar oft deshalb, weil sich die naheliegende Kombination gerade nicht bewährt hat. Auch das läßt sich noch an dem Joyce­Beispiel veranschaulichen. Statt der Ironie sah man vielfach im Phallus die Konvergenz der Zeichenbeziehung, durch die sich die Diskrepanz der Ironie scheinbar aufheben ließ. Doch in diesem Augenblick kommt die problematisierte Gestalt wieder zum Vor­schein, und zwar in einem Maße, das sie nicht gehabt hat, solange sie nur die wechselseitige Ironisierung homerischer und alltäglicher Anspielungen zu verkörpern schien. Die phallische Symbolik des Speers ist mythologisch eindeutig; Blooms Zigarre mit diesem My­thologem zur Deckung zu bringen, läßt dieses in seine Kreatürlich­keit kippen, und damit wäre die hergestellte Konsistenz in die Assoziationsvielfalt individueller Phantasie aufgesprengt. Doch

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selbst diese vermag sich nicht voll auszuleben. Entwickelt sie sich doch vor dem Hintergrund einer problematisierten Ironie, die nun in das individuelle Spiel der Phantasie einstrahlt und deren Gestalt­bildung gleichsam laufend kippen läßt. Gestalten bilden zu müssen, um Zeichenbeziehungen identifizieren zu können und sie ange­sichts mangelnder Integrationsleistung selbst wieder zum Kippen zu bringen, läßt den Erfassungsakt als eine Kettenreaktion von Ge­staltsprengungen verlaufen. In solchen Fällen wird die für das Er­fassen notwendige Konsistenzbildung dazu benutzt, den Leser selbst Diskrepanzen erzeugen zu lassen.

Ohne Zweifel sind solche Vorgänge in der Lektüre moderner Texte weit häufiger als in solchen der älteren Literatur. Daß aber die Diskrepanz als Bedingung von Gestaltsprengung kein ausschließ­lich modernes Phänomen darstellt, belegt ein in der erzählenden Li­teratur durchgängig beobachtbares Verfahren, durch das Diskrepan­zen im Konsistenzbildungsprozeß 'vorprogrammiert' sind. Von Cer­vantes bis Fielding funktionierte die eingelegte Geschichte als spie­gelbildliche Verkehrung der Haupthandlung, wodurch sich die Ge­staltbildung als das wechselseitige Bestreiten der Handlungsstränge vollzieht, um im Hervorkehren des jeweils Abgedeckten die Sinn­konfiguration entstehen zu lassen. Im 19. Jahrhundert spaltet sich vom Erzähler die Figur eines unreliable narrator ab, der Urteile und Bewertungen des implied author bald offen, bald latent bestreitet.36

Seit Conrads Lord Tim (1900) sind wir mit dem Auseinanderschnel­len der Darstellungsperspektiven des Textes vertraut, die im De­menti ihrer Konvergenz die Verläßlichkeit ihrer jeweiligen Orien­tierung herabsetzen. Joyce hat dann die Darstellungsperspektiven selbst in wechselseitiger segmentierender Durchschichtung angeord­net, um den einheitlichen perspektivischen Ort des Textes zu ver­schleiern. Beckett schließlich entwirft eine Satzstruktur, in der das Gesagte des einen Satzes vom folgenden negiert wird, der seinerseits als Negation des Gesagten jedoch zu einem solchen wird, um da­durch die Motivation solcher Aufhebungen zu einem ständig von den Orientierungen des Lesers weglaufenden Prozeß zu machen.

36 Vgl. dazu Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicagö '1963, pp. 211 ff. u. 339 ff.

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Solche Inversionsverfahren bewirken im Lektürevorgang eine Problematisierung erzeugter Gestalten durch die von uns hervor­gebrachten Diskrepanzen. Diese bestreiten die Integrationsleistung gewonnener Gestalten. Da aber die Aufhebung der Diskrepanz von der bestrittenen Möglichkeit ihren Ausgang nimmt, bleibt die pro­blematisierte Gestalt als Hintergrund erhalten, so daß sich die nun geforderte Integrationsleistung vor jenen von uns erzeugten Pro­blematisierungen ausweisen muß. Da sich dieser Vorgang in unserer Einbildungskraft abspielt, vermögen wir uns von ihm nicht abzu­lösen. Das aber heißt, wir sind in das verstrickt, was wir hervor­bringen. Verstricktsein ist der Modus, durch den wir in der Gegen­wart des Textes sind, und durch den der Text für uns zur Gegen­wart geworden ist. "Soweit Verstrickung vorliegt, liegt Gegenwart vor. ,,37

In solchen Verstrickungen gründet ein entscheidendes Moment des Lesens überhaupt. Es ereignet sich mehreres zugleich. Unsere vom Text geweckten Antizipationen kommen nicht restlos zur Ein­lösung, da wir im Vorgang der Konsistenzbildung ständig verdeckte Möglichkeiten hervorkehren, die wir dann als konkurrierende zu jenen erfahren, die scheinbar offenkundig waren. Dadurch kommen die visierten Gestaltkonfigurationen wieder in Bewegung, nicht zu­letzt, weil wir die vom Text geweckten Erwartungen oftmals selbst wieder löschen müssen, wodurch freilich dann auch erfüllte Er­wartungen einen ganz anderen Hintergrund gewinnen. Indem wir in Texte verstrickt sind, wissen wir zunächst nicht, was uns in sol­cher Beteiligung geschieht. Deshalb verspüren wir auch immer wie­der das Bedürfnis, über gelesene Texte zu reden - weniger, um uns von ihnen zu distanzieren, als vielmehr, um in solcher Distanz das zu begreifen, worin wir verstrickt waren. Hierin wurzelt nicht zu­letzt eine latente Notwendigkeit der Literaturkritik, die auf weiten Strecken nur der diskursive Versuch des Einholens solcher Verstrik­kungen ist. Bewirkt die Verstrickung unser Gegenwärtigsein im Text, so ist dieses ein Bewußtseinskorrelat, durch das der Gesche­henscharakter seine notwendige Ergänzung erfährt. Einem Gesche­hen gegenwärtig zu sein, heißt, daß uns in solcher Gegenwart auch

37 Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt, Hamburg 1953, p. 143.

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etwas geschieht. Je mehr der Text für uns zur Gegenwart wird, desto mehr wird das, was wir sind - jedenfalls für die Dauer der Lektüre - zur Vergangenheit. Indem ein fiktionaler Text die uns beherrschenden Ansichten zur Vergangenheit entrückt, bietet er sich selbst als eine Erfahrung; denn was nun geschieht bzw. geschehen kann, war nicht möglich, solange die uns orientierenden Ansichten selbst unsere Gegenwart bildeten. Erfahrungen indes kommen nicht über das bloße Wiedererkennen des Bekannten zustande. Denn tI(sJpräche man nur von Erfahrungen, mit denen man koinzidiert, so spräche man von gar nichts mehr. tl38 Vielmehr entstehen Erfah­rungen erst im überschreiten bzw. im Unterminieren des Gewuß­ten, so daß die latente Falsifikation dessen, worüber wir verfügen, den Anfang jeder Erfahrung bildet. G. B. Shaw hat diesen Sachver­halt einmal auf die Formel gebracht: "You have learnt some­thing. That always feels at first as if you had lost something. tl39

Das Lesen zeigt insofern 'die Struktur der Erfahrung, als das Ver­stricktsein unsere Vorstellungsorientierungen zur Vergangenheit entrückt und damit zugleich deren Geltung für die neue Gegenwart suspendiert. Das heißt jedoch nicht, daß jene in die Vergangenheit zurückgeschobene Erfahrung damit verschwände. Im Gegenteil: Als Vergangenheit ist sie immer noch meine Erfahrung, die nun aller­dings in eine Interaktion mit der noch unvertrauten Gegenwart des Textes tritt. Unvertraut ist die neue Gegenwart indes nur, solange die im Lesen zur Vergangenheit gewordene Erfahrung das bleibt, was sie war, als sie noch unsere Orientierung bildete. Nun aber ist der Erfahrungserwerb kein Additionsvorgang, sondern im Sinne der von Shaw gebrauchten Formulierung eher ein Umstrukturieren des­sen, worüber wir verfügen. Dies bezeugt sich auch in umgangs­sprachlichen Wendungen: so sagen wir etwa, daß wir um eine Er­fahrung reicher sind, wenn wir eine Illusion verloren haben.

Das aber heißt: durch die Erfahrung des Textes geschieht etwas mit unserer Erfahrung. Diese kann sich schon deshalb nicht gleich­bleiben, weil sich unsere Gegenwart im Text nicht als ein Wieder­erkennen dessen abspielt, worüber wir verfügen. Gewiß gibt es in

1I Merleau-Ponty, p. 388. " G. B. Shaw, Major Barbara, London 1964, p. 316.

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fiktionalen Texten momentane Evidenzen, doch diese dienen weni­ger der Bestätigung dessen, was wir schon kennen, sondern zeigen viel eher an, daß das Gewußte eben nur das Momentane ist. Je häufiger sich solche Augenblicke in der Lektüre einstellen, desto deutlicher wird die Interaktion zwischen der Gegenwart des Textes und unserer zur Vergangenheit entrückten Erfahrung. Was aber passiert in solcher Interaktion? "The junction of the new and old is not a mere composition of forces,but a re-creation in which the present impulsion gets form and solidity while the old, the 'stored', material is literally revived, given new life and soul through ha­ving to meet a new situation."4o Dieser von Dewey beschriebene Vorgang ist für die Erfahrungsstruktur des Lesens in doppelter Hin­sicht aufschlußreich: zunächst im Blick auf die Interaktion selbst, sodann aber für die Auswirkungen, die sich aus einer solchen Inter-' aktion ergeben.

Die neue Erfahrung bringt sich in der Umschichtung sedimentier­ter Erfahrung zur Geltung, die ihrerseits durch eine solche Um­strukturierung der neuen Erfahrung Form zu geben vermag. Was jedoch in einer solchen Umschichtung wirklich geschieht, kann wie­derum nur erfahren werden, wenn die von einem solchen Prozeß aufgerufenen Empfindungen, Orientierungen, Ansichten und Werte aus unserer zur Vergangenheit entrückten Erfahrung mit der neuen verschmelzen. Gibt die sedimentierte Erfahrung die Bedingung der Form ab, so manifestiert sich die Form neuer Erfahrung in den se­lektiven Umschichtungen der sedimentierten. Nicht die Identifika­tion zweier unterschiedlicher Erfahrungen erweist sich als Basis des Rezeptionsaktes, sondern die Wechselwirkung von Umschichtung und Formgebung.

Nun gilt dieses Interaktionsverhältnis weitgehend für die Struk­tur des Erfahrungserwerbs überhaupt, ohne daß dadurch bereits ästhetische Qualitäten greifbar wären. Dewey versucht, das ästhe­tische Moment -dieser Struktur durch zwei verschiedene Argumente herauszuheben. "That which distinguishes an experience as esthetic is conversion of resistance and tensions, of excitations that in them-

40 John Dewey, Art as Experience, New York (Capricorn Books) 121958, p,60.

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selves are temptations to diversion, into a movement toward an inelusive and fulfilling elose ... An object is 1?eculiarly and domi­nantly esthetic, yielding the enjoyment characteristic of esthetic perception, when the factors that determine anything which can be called an experience are lifted high above the threshold of per­ception and are made manifest for their own sake.,,41 Das -eine Ar­gument deckt sich mit den Anschauungen der russischen Forma­listen, die in der Wahrnehmungsverzögerung ein zentrales Quali­tätskriterium ästhetischer Erfahrung sehen wollten. Das andere Ar­gument Deweys besagt, daß sich ästhetische Erfahrung von Erfah­rung dadurch abhebt, daß der Prozeß des Zusammenspiels der Fak­toren thematisch zu werden vermag. Mit einem Wort: ästhetische Erfahrung macht den Erfahrungserwerb selbst bewußt; das Zu­standekommen der Erfahrung ist von der ständigen Einsicht in die Bedingungsverhältnisse begleitet. Dadurch gewinnt die ästhetische Erfahrung ein transzendentales Moment. Geht die Struktur des all­gemeinen Erfahrungserwerbs im pragmatischen Handlungszusam­menhang auf, so zielt die ästhetische Struktur der Erfahrung auf die Durchsichtigkeit solcher Vorgänge ab. Ihre Totalität ist nicht so sehr die neue Erfahrung, die sich durch Interaktion gebildet hat, als viel­mehr Einsicht in das Bilden einer solchen Totalität. Warum das so ist, beantwortet Dewey mit dem Hinweis auf den zweckfreien Cha­rakter der Kunst.

Nun läßt sich die Antwort auf den von Dewey beschriebenen Sachverhalt auch anders wenden. Wenn im Lesen eines fiktionalen Textes eine Interaktion zwischen seiner Gegenwart in mir und mei­ner zur Vergangenheit entrückten Erfahrung entsteht, die sich in der Wechselwirkung von Umschichtung und Formgebung manifestiert,

41 Ibid., pp. 56 f' i vgl. ferner p. 272. Eliseo Vivas, Creation and Dis­covery, Chicago 1955, p. 146, beschreibt die ästhetische Erfahrung wie folgt: "Grounded on this assumption the aesthetic experience can be defined, I sub mit, in terms of attention. The advantages of such a defi­nition are manifold, and the only dif!iculty it presents is the rather easy task of distinguishing aesthetic attention from that involved in other modes of experience. A brief statement of such definition would read als follows: An aesthetic experience is an experience of rapt atten­tion whiCb. involves the intransitive apprehension of an object's imma· nent meanings and values in their full presentational immediacy."

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dann heißt dies, daß das Begreifen eines solchen Textes kein pas­siver Vorgang des Hinnehmens ist, sondern eine produktive Ant­wort auf die erfahrene Differenz darstellt. Da eine solche Reaktion in der Regel die für den Leser geltenden Orientierungen über­schießt, fragt es sich, wodurch sie kontrolliert bleibt. Ein herrschen­der Code vermag diese Kontrolle ebensowenig abzugeben wie die im Leser sedimentierten Erfahrungen; denn beide werden durch ästhetische Erfahrung transzendiert. An diesem Punkt gewinnen die vom Leser im Gestaltbildungsprozeß erzeugten Diskrepanzen ihre eigentliche Relevanz. Sie bewirken es, daß der Leser die Unzu­länglichkeit der von ihm erzeugten Gestalten selbst gewärtigen kann und folglich in eine latente Distanz zu seiner eigenen Betei­ligung am Text gerät, so daß er sich in einer fremd gelenkten Tätig­keit zu beobachten, wenigstens aber zu sehen vermag. Sich im Vor­gang der Beteiligung selbst wahrnehmen zu können, bildet ein zen­trales Moment ästhetischer Erfahrung; es gewährt einen eigentüm­lichen Zwischenzustand: man sieht sich zu, worin man ist. Deshalb sollte man ästhetische Erfahrung nicht so ausschließlich mit dem zweckfreien Charakter der Kunst verrechnen, da sie ebenfalls eine unverkennbar praktische Bedeutung besitzt. Für das Erfassen des fiktionalen Textes ist sie deshalb wichtig, weil hier die Kommuni­kation zwischen Text und Leser nicht mehr durch die Geltung herr­schender Codes geregelt ist. Wenn aber der Code aufgehört hat, Re­gulativ zu sein, dann gründet die Kontrollmöglichkeit der Kommu­nikation nicht mehr im Signalrepertoire des Codes, sondern muß in die Formgebungsakte des Lesers selbst eingelagert sein, zumal sich diese als Umschichtung sedimentierter Erfahrung und damit als Sus­pendierung vorgegebener Orientierung vollziehen. Da diese Form­gebungsakte im Gegensatz zum Code stabilisierte Referenzen ent­weder überschreiten oder außer Kurs setzen, ist das aus der Diskre­panz im Gestaltbildungsprozeß erzeugte Verhältnis von Beteiligung und Distanz für den kommunikativen Charakter ästhetischer Er­fahrung unabdingbar. Denn nur die kontrollierte Beobachtung des­sen, wozu mich der Text veranlaßt, schafft die Möglichkeit, im Vor­gang der Verarbeitung die Referenz für das Verarbeitete selbst zu bilden. Das transzendentale Element der ästhetischen Erfahrung ge­winnt an diesem Punkt seine praktische Relevanz.

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B Die passiven Synthesen des Lesevorgangs

1. Der Bildcharakter der Vorstellung

Die Erfassungsakte des wandernden Blickpunkts organISIeren den Transfer des Textes in das Bewußtsein. Der Wechsel des Blick­punkts zwischen den Darstellungsperspektiven fächert den Text im Bewußtsein zur Struktur von Protention und Retention auseinan­der, woraus sich Erwartung und Erinnerung als wechselseitige Pro­jektionsflächen im Lektürevorgang ergeben. Der Text selbst ist we­der Erwartung noch Erinnerung, so daß die Dialektik von Vorblick und Rückkoppelung zum Anstoß wird, eine Synthese zu bilden, durch die die Zeichenbeziehungen identifiziert und ihre Äquivalenz repräsentiert werden können. Solche Synthesen indes sind von eigentümlicher Natur. Sie sind weder in der Sprachlichkeit des Tex­tes manifestiert, noch sind sie reines Phantasma der Einbildungs­kraft des Lesers. Die Projektion, die sich hier vollzieht, verläuft auch nicht eingleisig. So gewiß sie eine Projektion des Lesers ist, die von ihm ausgeht, so gewiß. bleibt sie gelenkt durch die Zeichen, die sich in ihn 'hineinprojizieren'. Der Anteil des Lesers und der Anteil der Zeichen an dieser Projektion erweisen sich dann als schwer vonein­ander zu trennen. "Genaugenommen sieht man hier eine komplexe Realität aufsteigen, bei der der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt schwindet."l Komplex istcliese Realität aber niCht -aiIein lfa~ch die Zeichen des Textes erst in den Projektionen eines Subjekts erfüllen, - Projektionen allerdings, die ihrerseits zu fremden Bedingungen konturiert werden - sondern auch dadurch, daß diese Synthesen unter der Schwelle des Bewußtwerdens ver­laufen und dadurch selbst nicht gegenständlich werden, es sei denn, man hebt sie zum Zweck der Analyse über diese Schwelle hinweg. Doch selbst in einem solchen Fall müssen sie erst einmal gebildet werden, ehe sie Gegenstand der Beobachtung sein können. Weil ihre Bildung so unabhängig von beobachtender Einstellung ist, sol­len sie in Anlehnung an eine von Husserl gebrauchte Termino-

I Jean Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, übers. von Eckhart Rohloff, Frankfurt 1973, p. 78.

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logie passive Synthesen heißen, um sie von jenen zu unterscheiden, die über Urteile und Prädikationen zustande kommen. Passive Synthesen sind daher vorprädikative Synthesen, die sich unterhalb der Schwelle unseres Bewußtwerdens vollziehen, weshalb wir dann auch im Lesen in dieser synthetischen Aktivität befangen bleiben. Es fragt sich nun, inwieweit passive Synthesen einen bestimmten Modus besitzen, dessen Ermittlung eine Voraussetzung für die Be­schreibung der in den passiven Synthesen geleisteten Auffassung des Gelesenen bleibt.

Der zentrale Modus passiver Synthesen ist das Bild. "The image", so meint Dufrenne, "which is itself a metaxu or middle term be­tween the brute pr·esenee where the objeet is experieneed and the thought where it beeomes ideal allows the objeet to appear, to be present as represented."2 So bringt das Bild etwas zur Erscheinung, das weder mit der Gegebenheit des empirischen Objekts noch mit der Bedeutung eines repräsentierten Gegenstands identisch ist. Die bloße Gegenstandserfahrung ist im Bild überstiegen, ohne dadurch schon eine Prädikatisierung des im Bild zur Erscheinung Gebrachten zu sein. Eine solche Charakteristik des Bildes läßt wieder an die eingangs diskutierte Novelle von Henry James denken, in welcher der Sinn des Romans weder als eine Botschaft noch als eine be­stimmte Bedeutung zu fassen war, sondern in einem Bild: 'der Figur im Teppich', zur Erscheinung kam. Darüber hinaus stimmt der BHdcharakter passiver Synthesen zu einer Erfahrung der Lektüre, die häufig von einem mehr oder minder deutlichen Bilderstrom be­gleitet ist, ohne daß diese Bildfolgen - selbst dort, wo sie sich zu einem ganzen Panorama zusammenschließen - für uns selbst ge­genständlich würden.

Die konstitutiven Bedingungen solcher Bilder hat Gilbert Ryle in seiner Analyse der Einbildungskraft einmal wie folgt beschrieben: Auf die Frage: "How ean a person faney that he sees something, without realizing that he is not seeing it?" gibt er die folgende Antwort: "Seeing Helvellyn (Name eines Berges, den Ryle zur Ex­emplifizierung seines Sachverhaltes benutzt) in one's mind's eye

2 Mikel Dufrenne, The Phenomenology of Aesthetic Experience, trans!. by Edward S. Casey et al., Evanston 1973, p. 345.

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does not entail, what seeing Helvellyn and seeing snapshots of Helvellyn entail, the having of visual sensations. It does involve the thought of having a view of Helvellyn and it is therefore a more sophisticated operation than that of having a view of Hel­vellyn. It is one utilization among others of the knowledge of how Helvellyn should look, or, in one sense of the verb, it is thinking how it should look. The expectations which are fulfilled in the recognition at sight of Helvellyn are not indeed fulfilled in pic­turing it, but the picturing of it is something like a rehearsal of get­ting them fulfilled. So far from picturing involving the having of faint sensations, or wraiths of sensations, it involves missing just what one would be due to get, if one were seeing the mountain."3

Gilbert Ryle ist hier nicht ohne Vorsatz zitiert worden. Denn seine Äußerungen verkörpern eine für die empiristische Tradition bemerkenswerte Revision des Bildbegriffs. Für die Empiristen ver­körperte das Bild immer nur die Art, durch die sich die Gegenstände der Außenwelt auf der Wachstafel unseres Geistes abdrücken. Bilder also sind Dinge, soweit sie wahrgenommen werden. Bis hin zu Bergson galten sie "als ein Inhalt, für den das Gedächtnis nur Gefäß ist, nicht als ein lebendiger Moment geistiger Tätigkeit".4

Als einen solchen aber begreift ihn Ryle, der dadurch auch die folgende Diskussion des Bildes von dem Verdacht reinigt, Bilder seien nur 'a ghost in the machine's, wie Ryle jene Phänomene be­zeichnet, die nirgendwo, außer in den Spekulationen unseres Gei­stes ihren Ort haben. Das Bildersehen der Einbildungskraft ist folg­lich nicht der Abdruck von Gegenständen in unserer 'Empfindung', wie Hume noch zu sagen pflegte; es ist auch kein optisches Sehen im eigentlichen Sinne, sondern gerade der Versuch, sich das vorzu­stellen, was man als solches niemals sehen kann. Der eigentümliche Charakter solcher Bilder besteht darin, daß in ihnen Ansichten zur Erscheinung kommen, die sich im unmittelbaren Wahrnehmen des

J Gilbert Ryle, The Concept of the Mind, Harmondsworth 1968, pp. 244 u. 255.

• Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego, übers. von Alexa Wag­ner, Reinbek 1964, p. 82.

5 Vgl. Ryle, pp. 17 H. passim.

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Gegenstandes nicht hätten einstellen können. So setzt das Bilder­sehen die faktische Abwesenheit dessen voraus, was in den Bildern zur Anschauung gelangt. Daraus folgt, daß wir zwischen Wahr­nehmen und Vorstellen als zwei verschiedenen Weltzugängen un­terscheiden müssen, da für die Wahrnehmung immer ein Objekt vorgegeben sein muß, während die konstitutive Bedingung für- die Vorstellung gerade darin besteht, daß sie sich auf Nicht-Gegebenes oder Abwesendes bezieht, das durch sie zur Erscheinung gelangt.6

In der Lektüre fiktionaler Texte müssen wir uns deshalb immer Vorstellungen bilden, weil die "schematisierten Ansichten" des Textes uns nur ein Wissen davon bieten, über welche Vorausset­zungen der imaginäre Gegenstand erzeugt werden soll. So kommt der Bildcharakter der Vorstellung durch das Nutzbarmachen eines angebotenen bzw. eines im Leser aufgerufenen Wissens zustande, und das heißt, nicht das Wissen als solches soll vorgestellt werden, sondern die nicht-gegebene Kombination angebotener Daten soll im Bild zur Erscheinung gelangen. Ryle sagt daher auch zu Recht, daß das probeweise Zusammenstellen gegebenen Wissens etwas im Bild gegenwärtig macht, das mir im Augenblick als Objekt nicht gegeben ist.

Halten wir zunächst fest: Das Bild ist die zentrale Kategorie der Vorstellung. Es bezieht sich auf das Nicht-Gegebene bzw. Abwe­sende, dessen Vergegenwärtigung im Bild geleistet ist. Es macht aber auch Innovationen vorstellbar, die dem Dementi vorgegebenen Wissens bzw. der Ungewöhnlichkeit von Zeichenkombinationen entspringen. "Finally, the image adheres to perception in constitu­ting the object. It is not a piece of mental equipment in con­sciousness but a way in which consciousness opens itself to the object, prefiguring it from deep within itself as a function of its implicit knowledge".7 Die Eigenart des Vorstellungsbildes läßt

• Vgl. dazu Jean-Paul Sartre, Das Imaginäre. PhänomenologisChe Psy· Chologie der Einbildungskraft, übers. von H. Schöneberg, Reinbek 1971, pp. 199 ff. u. 281; ferner die über den von Sartre skizzierten Unterschied hinausführende Arbeit von Manfred Smuda, Konstitutionsmodalitäten von GegenständliChkeit in bildender Kunst und Literatur (Habilitations­schrift Konstanz 1975), der diese Differenz zur Verdeutlichung für das Erzeugen imaginärer Objekte in der Kunst weiterentwickelt.

7 Dufrenne, p. 350.

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sich dort besonders deutlich fassen, wo man die Verfilmung eines gelesenen Romans sieht. Denn hier habe ich eine optische Wahr­nehmung, die vor dem Hintergrund meiner Erinnerung an Vor­stellungs bilder steht. Der spontane Eindruck, der sich etwa bei der Verfilmung von Fieldings Tom Jones einstellt, beinhaltet eine ge­wisse Enttäuschung über die relative Armut der Figur im Vergleich zu jenem Bild, das man sich von ihr in der Lektüre gemacht hatte. Wie immer sich ein solcher Eindruck im einzelnen auch ausnimmt, die unmittelbare Reaktion, daß man sich diese Figur anders vorge­stellt hat, ist allgemein und verweist auf die für die Vorstellung geltenden Besonderheiten. Der Unterschied zwischen den beiden Bildtypen besteht zunächst darin, daß ich im Film eine optische Wahrnehmung habe, der ein Objekt vorgegeben ist. Objekte haben im Gegensatz zu Vorstellungen einen höheren Bestimmtheitsgrad. Doch es ist diese Bestimmtheit, die man als Enttäuschung, wenn nicht gar als Verarmung empfindet. Rufe ich angesichts einer sol­chen Erfahrung meine Vorstellungsbilder von Tom Jones wieder hervor, so wirken sie nun im Zustand reflexiver Betrachtung eigen­tümlich diffus, ohne daß mich dieser Eindruck dazu veranlassen würde, die optische Wahrnehmung des Films als das bessere Bild von der Figur zu übernehmen. Befrage ich daraufhin mein Vors tel­lungsbild, ob Tom Jones groß oder klein, blauäugig oder schwarz­haarig ist, so werde ich die optische Kargheit solcher Vorstellungs-

- bilder gewärtigen. Denn diese zielen nicht darauf ab, die Roman­figur leibhaftig sehbar zu machen; vielmehr zeigt ihre optische Kargheit an, daß durch sie die Figur nicht als Gegenstand, sondern als Bedeutungsträger zur Erscheinung kommen soll. Das gilt auch dort noch, wo uns eine relativ detaillierte Beschreibung von Roman­figuren gegeben wird, die wir in der Regel nicht als pure Beschrei­bung der Person lesen; vielmehr richten wir uns bereits durch Vor­stellungen darauf, was durch sie bedeutet werden soll. Wahrneh­mungsbild und Vorstellungsbild unterscheiden sich aber nicht bloß dadurch voneinander, daß sich das eine auf ein vorgegebenes, das andere auf ein vorenthaltenes Objekt bezieht. Gilbert Ryle hat in der oben zitierten Stelle bereits angemerkt, daß man in der Vorstel­lung eines Gegenstandes etwas 'sieht', was überhaupt nicht in den Blick kommt, wenn uns der Gegenstand in Wahrnehmung gegeben

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ist. Folglich macht die Abwesenheit des Objekts noch nicht den ganzen Unterschied zwischen Vorstellen und Wahrnehmen aus.

Wenn wir uns Tom Jones während der Romanlektüre vorstellen, so sind uns - im Gegensatz zum Film, wo wir die Figur in jeder Situation immer als ganze gewärtigen - lediglich Facetten gegeben, die wir zu einem Bild von ihr zusammensetzen müssen. Das ge­schieht jedoch nicht als additiver Vorgang. In den jeweiligen Fa­cetten sind immer Verweisungen auf andere enthalten, und jede Ansicht von Tom Jones gewinnt ihre Signifikanz erst durch die Ver­bindung mit jenen anderen, die sie überlagern, einschränken oder modifizieren. Daraus folgt, daß das Bild des Tom J ones nicht an einer bestimmten Ansicht festzumachen ist, denn jede durch eine Facette vorstellbar gemachte Ansicht unterliegt latenten Modifika­tionen, wenn die Verweisungen in der folgenden dominant wer­den. Das Bild von Tom Jones ist daher während der Lektüre in stän­diger Bewegung, und diese manifestiert sich darin, daß die Folge der Facetten die jeweils gebildete Vorstellung durch neue Nuancie­rungen umstrukturiert. Am deutlichsten verspüren wir einen sol­chen Vorgang immer dort, wo der Held unerwartetes Verhalten zeigt; die Facetten kollidieren, und wir sind gehalten, eine solche Kontamination in unsere Vorstellung aufzunehmen, wodurch sich rückwirkend das bislang geformte Bild des Helden wandelt. Denn in der Vorstellung versuchen wir nicht, den einen oder anderen Aspekt der Figur festzuhalten, vielmehr gewärtigen wir die Figur stets als Synthese ihrer Aspekte. Deshalb ist auch das Bild der Figur, das in der Vorstellung entsteht, immer mehr als die im' je­weiligen Lektüreaugenblick gegebene Facette. Diese liefert nur Material für die Vorstellung, die sich über viele solcher unterschied­lichen Facetten bildet. Keine 'Teilansicht' ist daher mit der Figur identisch; im Gegenteil, jede isolierte Facette zeigt die Figur nur im Zustand ihrer Nicht-Identität. Das Nicht-Identische zur Gemein­samkeit aufzuheben, erfordert die synthetischen Akte der Vorstel­lung, die insoweit als eine passive Synthesis verläuft, als in keinem ihrer Schritte eine explizite Prädikatisierung erfolgt, nicht zuletzt deswegen, weil sich der ganze Vorgang unterhalb der Bewußtseins­schwelle vollzieht. Statt dessen löst jede neue Verbindung der ein­zelnen Facetten eine Vorstellung aus, auf die wir wiederum mit

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einer Vorstellung reagieren, wenn es neue Aspekte zu integrieren gilt, wodurch sich dann das Bild der Figur als Affektion im Leser auszubreiten beginnt.

Daraus ergibt sich im Prinzip zweierlei: Durch die Vorstellung produzieren wir ein Bild des imaginären Gegenstandes, der als sol­cher im Unterschied zur Wahrnehmung nicht gegeben ist. Doch indem wir uns etwas vorstellen, sind wir zugleich in der Präsenz des Vorgestelltenj denn dieses existiert während seines Vorgestellt­s,eins nur durch uns, so daß wir in der Gegenwart dessen sind, was wir hervorgebracht haben. Hier hat dann auch die Enttäuschung unserer Vorstellung beim Sehen der Romanverfilmung ihre Wurzel. Denn im Film geschieht "(the) removing (of) the human agent from the task of reproduction ... The reality in a photograph is present to me while I am not present to it j and a world I know, and see, but to which I am nevertheless not present (through no fault of my subjectivityL is a world past."8 Das Bild der Kamera gibt nicht nur ein Wahrnehmungsobjekt wieder, es schließt mich auch von jener Welt aus, die ich sehe und an deren Zustandekommen ich selbst nicht beteiligt bin. Deshalb bildet weniger die Empfindung, sich den Romanhelden anders vorgestellt zu haben, den Grund der Enttäu­schung. Vielmehr ist diese nur ein Epiphänomen, in dem sich die Enttäuschung über mein Ausgeschlossensein manifestiert, das mir allerdings auch anzeigt, was es heißt, in der Vorstellung ein Bild nicht-gegebener Gegenständlichkeit zu produzieren und so in deren Gegenwart zu sein, als ob diese ein Besitz wäre. Was der Film hin­gegen verdeutlicht, ist "the camera's outsidedness to its world and my absence from it."9 Die Romanverfilmung hebt die Komposi­tionsaktivität der Lektüre auf. Alles kann leibhaftig wahrgenom­men werden, ohne daß ich mich dem Geschehen gegenwärtig ma­chen muß. Deshalb empfinden wir dann auch die optische Genauig­keit des Wahrnehmungsbildes im Gegensatz zur Undeutlichkeit des Vorstellungsbildes nicht als Zuwachs, sondern als Verarmung.

• Stanley Cavell, The World Viewed, New York 1971, p. 23. • Ibid., p. 133.

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2. Der affektive Cbarakter des Vorstellungs bildes

Der paradoxe Umstand, daß die optische Bereicherung durch den Film als eine Verarmung des Vorstellungsbildes empfunden wird, ergibt sich aus der Natur solcher Bilder. In ihnen wird das Unge­sagte, wenngleich vom Text Gemeinte, vorstellbar. "Every definite image in the mind", so sagt William James, "is steeped and dyed in the free water that flows round it. With it goes the sense of its relations, ne ar and remote, the dying echo of whence it came to us, the dawning sense of whither it is to lead. The significance, the value, of the image is all in this halo or penumbra that surrounds and escorts it, - or rather that is fused into one with it and has become bone of its bone and flesh of its flesh; leaving it, it is true, an image of the same tbing it was before, but making it an image of that thing newly taken and freshly understood."lo Dieser eigen­tümlich transitorische Charakter des Bildes zeigt an, in welchem Maße durch das Bild Beziehungen und Verknüpfungen gegenwärtig werden. Wenn das Bild daher etwas zur Erscheinung bringt, so ist das Erscheinende der Verweisungszusammenhang der Zeichenkom­plexe. So sehr diese durch die Anordnung auch vorgezeichnet sein mögen, zur Einlösung gelangen ihre Beziehungen erst in solchen Vors teIlungs bildern.

Daraus ergibt sich ein unzertrennlicher Zusammenhang von Vor­stellungsbild und lesendem Subjekt. Das aber heißt nun nicht, daß die im Vorstellungsbild gegenwärtige Beziehung der Zeichenkom­plexe der Willkür der Subjektivität entspringt - so subjektiv ihre Inhalte auch eingefärbt sein mögen; es heißt vielmehr, daß das Subjekt durch den im Bild vorgestellten Zusammenhang seinerseits affiziert wird. Charakterisieren sich die von uns im Lesen gebilde­ten Vorstellungsgegenstände dadurch, daß sie Abwesendes bzw. Nicht-Gegebenes zur Präsenz bringen, so besagt dieses immer zu­gleich, daß wir in der Präsenz des Vorgestellten sind. Ist man aber in einer Vorstellung, so ist man nicht in der Realität. In der Ge­genwart einer Vorstellung zu sein bedeutet daher stets, eine gewisse

10 Williarn Tarnes, Psymo]ogy, ed. with Introduction by Ashley Mon­tagu, New York 1963, pp. 157 f.

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Irrealisierung zu erlebenIl j denn eine Vorstellung ist insofern eine Irrealitätssetzung, als ich durch sie mit etwas beschäftigt bin, das mich aus der Gegebenheit meiner Realität heraushebt. Deshalb spricht man auch oft von den Fluchtreaktionen, die die Literatur zu ge­währen scheint, und qualifiziert damit häufig nur jenen in der Lek­türe geschehenden Vorgang der Irrealisierung. Wenn nun ein fik­tionaler Text über die von ihm hervorgerufenen Vorstellungen den Leser zumindest für die Dauer der Lektüre irrealisiert, so ist es l).ur folgerichtig, wenn am Ende eines solchen Vorganges ein 'Erwachen' stattfindet. Dieses hat oft den Charakter der Ernüchterung und ist dort besonders deutlich zu verspüren, wo uns ein Text gefesselt hat. Doch wie immer es um die Qualität eines solchen Erwachens be­stellt sein mag, wir erwachen zu einer Realität, der wir vorüber­gehend durch die Irrealisierung der vom Text bewirkten Vors tel­lungsbildung entzogen waren. Diese zeitweilige Isolierung von un­serer realen Welt indes bedeutet nicht, daß wir nun in sie gleich­sam mit neuen Direktiven zurückkehrten. Vielmehr gestattet uns die vom Text verursachte Irrealisierung, daß uns nach der Rück­kehr die eigene Welt wie eine beobachtbare Realität erscheint. Die Bedeutung eines solchen Vorganges liegt darin, daß in der Vorstel­lungsbildung die für alle Beobachtung und für alle Wahrnehmung unabdingbare Subjekt-Objekt-Spaltung gelöscht ist, die sich aller­dings im Erwachen zu unserer Lebenswelt desto schärfer akzen­tuiert. Diese Akzentuierung gibt uns die Möglichkeit, in eine Po­sition zu unserer Welt zu geraten, und das, worin wir unverrück­bar eingebunden sind, wie einen Beobachtungsgegenstand wahr­zunehmen. Geschieht im Vorstellungsbild eine Irrealisierung des Lesers, so ist diese Irrealisierung die Bedingung dafür, daß ihm im Bild das Ungesagte der Zeichenbeziehung als Realität erscheinen kann. Dadurch vermag die vom Leser produzierte Sinnkonfiguration zu einer Erfahrung zu werden.

11 Vgl. dazu auch Sartre, Das Imaginäre, p. 206.

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3. Vorstellungsbildung

Das Bild ist die Erscheinungsweise des imaginären Gegenstandes. Dieser besitzt jedoch im Blick auf die Literatur eine Besonderheit, die ihn von jenen Gegenständen unterscheidet, deren bloße Ab­wesenheit im Bild vergegenwärtigt wird. An Gilbert Ryles Beispiel des Vorstellungsbildes wurde deutlich, daß der Gegenstand - Hel­vellyn, ein Berg im Lake District - wirklich existierte, weshalb das Bild von ihm nur seine momentane Abwesenheit aufhob und damit einen anderen Modus des existierenden Objekts bezeichnete. Im lebensweltlichen Verhalten dient das Vorstellungsbild vornehmlich einer solchen Vergegenwärtigung abwesender, aber doch existieren­der Gegenstände, deren Erscheinungsweise natürlich von dem Wis­sen abhängt, das man von diesem Gegenstand hat und das folglich in die Vorstellungstätigkeit eingebracht werden muß. Dem imagi­nären Gegenstand fiktionaler Texte aber fehlt die Qualität empi­risch vorhandener Existenz. Hier wird nicht ein abwesender, an­sonsten aber existierender Gegenstand vergegenwärtigt, sondern vielmehr ein solcher erzeugt, der nicht seinesgleichen hat. Nicht die Abwesenheit bildet den Anstoß zu seiner Hervorbringung; viel­mehr ist seine Erscheinungsweise eher ein Zuwachs zu jenem vor­handenen Wissen, das auch für seine Hervorbringung eine Rolle spielt. Damit ist zugleich gesagt, daß das Vorstellungsbild eines existierenden, wenngleich abwesenden Objekts durch die Kenntnis des Objekts kontrolliert werden kann, während jenes Objekt, das sich als ein Zuwachs einstellt, sich der Kontrolle eher zu entziehen scheint. Deshalb sind die Phasen seines Zustandekommens wichtig; denn die Vorstellungsbildung in fiktionalen Texten vollzieht sich über bestimmte Vorgegebenheiten, die jedoch bloß eine Steuerungs­funktion besitzen und nicht selbst im Vorstellungsbild vergegen­wärtigt werden sollen. In den Phasen der Vorstellungsbildung voll­ziehen sich die passiven Synthesen während der Lektüre eines fik­tionalen Textes; in diesem Vorgang entstehen Bilder, die etwas zur Erscheinung bringen, das es im Blick auf das vorhandene Wissen noch nicht gegeben hat.

Als Anknüpfungspunkt für die Vorstellungsbildung kann eine Überlegung von Wittgenstein dienen. "Im Satz", so meint Wittgen-

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stein, "wird gleichsam eine Sachlage probeweise zusammenge­stellt"12, die dann als wahr gelten kann, wenn ihr ein Sachverhalt entsprichtl3. Nun kennzeichnet es aber den fiktionalen Text, daß eine solche Zuordnung in ihm nicht gegeben ist. Denn seine "Sachla­gen" lassen sich nicht ohne weiteres auf einen dem Text vorgegebe­nen "Sachverhalt" beziehen. Dennoch besteht kein Zweifel, daß das Repertoire und die Strategien des Textes - die man im Anschluß an Wittgenstein als seine "Sachlagen" bezeichnen könnte - auf etwas bezogen sind. Da dieses 'etwas' nicht gegeben ist, muß es entdeckt bzw. erzeugt werden. In dieser Hinsicht nutzt der fiktionale Text eine basale Struktur des Verstehens aus; denn mit jeder sprachlichen Äußerung ist die Erwartung gegeben, daß diese einem Sachverhalt entspricht. Nun bietet der literarische Text durch sein Repertoire und seine Strategien eine Sequenz von "Sachlagen" oder- in unserer Terminologie - von Schemata an, die den Charakter von Aspekten jenes Sachverhalts besitzen, der im Text selbst nicht mehr ver­sprachlicht ist. Folglich funktionieren die Schemata als Auslöser und Lenkung für die Vorstellung dessen, wovon sie Aspekte sindl4. Daraus folgt, daß der Leser die Ganzheit konstituieren muß, die in der Gegebenheit der Textschemata nur ihre Aspekte besitzt. Gleich­zeitig richten diese Aspekte auch einen Leserblickpunkt ein. Dieser liegt zwar "diesseits von allem Sehen"ls, und d.h., außerhalb des Textes, er ist jedoch durch die Aspekthaftigkeit der Textschemata insofern festgelegt, als er nicht mehr die Freiheit der Standpunkt­wahl erlaubt, wie sie in der alltäglichen Wahrnehmung etwa immer gegeben ist. Damit erfüllt die Sequenz der Textschemata eine dop­pelte Funktion. Als die Aspekte einer Ganzheit sind sie Anweisung, sich diese vorzustellen; gleichzeitig fixieren sie einen perspektivi­schen Ort, von dem aus diese Vorstellung zu erfolgen hat. Die Ganz-

12 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, with an In­troduction by Bertrand Russell, London '1951, Abschnitt 4.031, p. 68.

B Vgl. ibid., Abschnitt 2.11, p. 38. Diesen Argumentationsansatz ver­danke ich dem Aufsatz von Karlheinz Stierle, "Der Gebrauch der Nega­tion in fiktionalen Texten", in Positionen deI Negativität (Poetik und Hermeneutik VI), ed. Harald Weinrich, München 1975, pp. 236 f.

14 Vgl. dazu StierIe, pp. 237 f. 's Merleau-Ponty, p. 117.

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heit realisiert sich in dem Maße, in dem der Leser die ihm vorge­zeichnete Einstellung bezieht und so über die Aspekthaftigkeit des Textes dessen Sinn in seiner Vorstellung zur Erscheinung bringt.

Dieser Sinn ist von eigentümlicher Qualität: Er muß erzeugt wer­den, obwohl er doch von den Sprachzeichen des Textes strukturiert ist. Nun sind Zeichen immer Verweis auf das, was sie bezeichnen. Im umgangssprachlichen Gebrauch sind Zeichen und Zeichenbe­deutung durch ihre denotierende Funktion geregelt. Anders verhält es sich in fiktionalen Texten, in denen die Zeichen nicht in der Be­zeichnung eines Gegebenen aufgehen, sondern sich auf etwas ande­res hin zu öffnen beginnen. Diese Veränderung ist durch den Als-Ob Charakter des fiktionalen Textes bedingt, dessen durch Konvention stabilisierte Fiktionssignale anzeigen, daß das Gesagte nur so ver­standen werden soll, als ob es etwas bezeichnete. Wird die Bezeich­nungsfunktion stillgelegt, dann verwandelt sich das Zeichen in ei­nen figurativen Verweis, durch den die Finalität des Zeigens über­schritten wird, um die Vorstellbarkeit dessen zu eröffnen, was sich der Bezeichnung entzieht. Ricoeur hat diesen Vorgang einmal wie folgt beschrieben: " ... dort, wo die Sprache sich selbst und uns ent­gleitet, da kommt sie andererseits gerade zu sich, da verwirklicht sie sich als Sagen. Ob ich die Beziehung von Zeigen-Verbergen nach der Art des Psychoanalytikers oder des Religionsphänomenologen ver­stehe (und ich glaube, daß man heute beide Möglichkeiten vereint er­greifen muß), hier wie dort macht sich die Sprache als ein Vermögen geltend, das enthüllt, das manifestiert und an den Tag bringt; darin findet sie ihr eigentliches Element, sie wird sie selbst; sie hüllt sich inSchweigen vor dem, was sie sagt" 16. Dieses 'enthüllende Schwei­gen' indes kann nur in der Vorstellung eine Existenz gewinnen, da es etwas zur Erscheinung bringt, das durch die Sprache des Textes nicht verbalisiert ist. Für den fiktionalen Text heißt dies, daß dessen Sinn noch nicht mit der formulierten Aspekthaftigkeit seiner Schemata identisch ist, sondern sich erst in der Vorstellung über die wechsel­seitige Qualifizierung der im Text gegebenen Aspekte zu bilden ver­mag. So bleibt zwar der Sinn auf das bezogen, was der Text sagt, und

16 Paul Ricoeur, Hermeneutik und Strukturalismus, übers. von Johan-nes Rütsche, München 1973, pp. 86 f. .

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ist nicht eine willkürliche Produktion des Lesers; dennoch muß er in der Vorstellung erzeugt werden, da die Schemata des Textes nur Aspekte dieses Sinnes sind. Darüber hinaus stehen die Aspekte in In­teraktion miteinander, weshalb das vom jeweiligen Aspekt Inten­dierte noch nicht der Sinn des Textes sein kann. Daraus folgt, daß die in der Vorstellungsbildung sich vollziehende Sinnkonstitution des Textes einen kreativen Akt darstellt, für den allerdings jene Bedingungen gelten, die Dewey einmal im weiteren Zusammenhang der Kunstwahrnehmung wie folgt beschrieben hat: "For to perceive, a beholder must create his own experience. And his ereation must include relations eomparable to those which the original producer underwent. They are not the same in any literal sense. But with the perceiver, as with the artist, there must be an ordering of the elements of the whole that is in form, although not in details, the same as the proeess of organization the creator of the work eonsciously experienced. Without an aet of reereation the objeet is not pereeived as a work of art.,,17

Um dem Vorgang der Vorstellungs bildung ein gewisses Maß an Anschaulichkeit zu geben, empfiehlt es sich, die Betrachtung an einem Beispiel zu entwickeln, dem sich paradigmatische Züge für den Charakter der Vorstellung entnehmen lassen. Es sei daher ein Beispiel gewählt, in dem der Autor seinen Lesern explizit aufgibt, sich etwas vorzustellen. In Fieldings loseph Andrews findet sich gleich zu Anfang des Romans jene Szene, in der Lady Booby, eine Dame des Adels, ihren Diener - den sie schon dazu bewegen konnte, sich auf ihr Bett zu setzen - zu allerlei Zärtlichkeiten er­muntert. Vor solchen Aufforderungen indes schreckt der keusche J oseph schließlich unter Berufung auf seine Tugend zurück. Statt das Entsetzen der 'Potiphar' zu beschreiben, fährt Fielding auf dem Höhepunkt der Krise fort: "You have heard, reader, poets talk of the statue of Surprise; you have heard likewise, or else you have heard very little, how Surprise made one of the sons of Croesus speak, though he was dumb. You have seen the faces, in the eighteen-

17 John Dewey, Art as Experience, New York (Capricorn Books), "1958, p. 54.

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penny gallery, when, through the trap-door, to soft or no music, Mr. Bridgewater, Mr. William Mills, or some other of ghostly appeararice, hath ascended, with a face all pale with powder, and a shirt aIl bloody with ribbonsj - but from none of these, nor from Phidias or Praxiteles, if they should return to life - no, not from the inimitable pencil of my friend Hogarth, could you receive such an idea of surprise as would have entered in at your eyes had they beheld the Lady Booby, when those last words issued out from the lips of Joseph. 'Your virtuel' said the lady, recovering after a silence of two minutesj 'I shall never survive it. ' ,,18

Was die Darstellung der Szene ausspart, ist die von ihr inten" dierte Vorstellung der überraschung, die sich der Leser selbst 'aus­malen' soll. Dafür werden ihm jedoch Schemata vorgegeben, die in der zitierten Stelle als Sequenz von Aspekten formuliert sind. Diese Schemata haben zunächst die Funktion, dem Leser ein bestimmtes Wissen anzubieten, mit dessen Hilfe er sich die überraschung vor­stellen soll. Damit konditionieren die Schemata die Einstellung des Leserblickpunkts. Das heißt, die Blickpunktwahl wird in einem be­stimmten Sinne festgelegt, und was immer sich der Leser im einzel­nen konkret auch vorstellen mag, seine Vorstellungsinhalte werden von den Schemata des Textes gelenkt. Dabei muß es uns nicht be­kümmern, daß sich viele Leser bei der Nennung von Phidias, Pra­xiteles oder Hogarth wahrscheinlich sehr Unterschiedliches über deren Kunst vorstellen, die hier als eine erste Vorstellungslenkung gedacht ist. Denn in diesem Falle gilt die gleiche Beobachtung, die Joseph Albers aus seinen Farbkursen berichtet, als er seine Schüler das Rot im Schild der Coca-Cola-Flasche beschreiben ließ und dabei ebenso viele Rotnuancen erhielt, wie es Schüler in seinem Kurs gab.19 Selbst in der Wahrnehmung also 'bildet' sich der identische Gegenstand nicht in identischer Weise in den ihn wahrnehmenden Subjekten ab. In der Vorstellungsbildung wird sich eine solche Streubreite gewiß noch stärker ausfächern. Das aber muß kein

11 Henry Fielding, Toseph Andrews, I, 8 (Everyman's Library), Londoll 1948, p. 20.

I' Josef Albers; Interaction 01 Color. Grundlegung einer Didaktik des Sehens, übers. von Gui Bonsiepe, Köln 1970, p. 25.

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Nachteil sein; bietet sich doch hier die Möglichkeit, die subjektiven Sedimentierungen vorhandenen Wissens in höchst unterschi~d­

lichen Lesern zu mobilisieren, um sich ihrer dann in einer bestimm­ten Weise zu bedienen. Eine solche Mobilisierung des Lesers gilt für die vom Schema ausgelöste Vorstellungsbildung in fiktionalen Texten überhaupt. Der Anteil der Subjektivität ist bei aller Schwan­kung dennoch kontrolliert, da der vorgegebene Bezugsrahmen über das Aufrufen des Erinnerten entscheidet. Das Schema bietet sich durch die Kargheit seiner Formulierung als Hohlform, in die das sedimentierte Wissen des Lesers in unterschiedlichem Umfang, aber auch in unterschiedlicher Nuanciertheit einströmen kann. Dadurch gibt das Schema der Vorstellung des Lesers eine Form, die zugleich die entscheidende Funktion des Textrepertoires für die Vorstellungs­bildung deutlich werden läßt. Soziale Normen, zeitgenössische und literarische Anspielungen etc. erweisen sich nun als Schemata, die den Umfang aufgerufener Erinnerung bzw. des geweckten Wissens­vorrats konturieren.

Doch zur ästhetischen Möglichkeit wird dieser Vorgang erst da­durch, daß die Schemata alle in einer bestimmten Weise modali­siert sind. In der angezogenen Fieldingstelle erscheinen sie im Mo­dus ihrer Unzulänglichkeit. Solche Modalisierurtgen lassen dann erst die bedeutsame Rolle erkennen, die dem durch die Schemata aufgerufenen höchst individuellen Wissen zugedacht ist. Denn nun erscheinen dem Leser die Assoziationen seines Wissenvorrats im Zustand des Aufgehobenseins. Damit nutzt der Text durch seine Schemata die individuelle Erfahrungsgeschichte seiner Leser, zu­gleich aber bedient er sich ihrer zu eigenen Bedingungen. Das ist auch ein wesentlicher Grund dafür, weshalb die Schemata des Text­repertoires meist negiert, aufgehoben, segmentiert oder mit durch­gestrichener Geltung erscheinen. Daraus folgt, daß das vom Schema aufgerufene bzw. angebotene Wissen gerade in dem Augenblick außer Kurs gesetzt wird, in dem es dem Leser wieder erscheint. Zu­gleich jedoch funktioniert das in seiner Geltung gelöschte Wissen als ein Analogon, durch das hindurch der intendierte Sachverhalt vorgestellt werden soll. Das retentionale Bewußtsein hält in sol­chen Augenblicken das aufgerufene, zugleich aber als unzulänglich qualifizierte Wissen fest, um nun von diesem Hintergrund die

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Sinnrichtung abzuheben, die sich in der Modalisierung der Sche­mata ankündigt.20

Fielding verzichtet in der zitierten Stelle darauf, die überraschung der Lady Booby darzustellen. Statt dessen bietet er Schemata an, die sich alle auf Darstellungsleistungen beziehen, um sie jedoch außer Kurs zu setzen. Darstellbarkeit überhaupt soll aufgehoben werden, was Fielding bezeichnenderweise über die Darstellung auf­gehobener Schemata von Darstellung zu vermitteln versuchte. Sich das Unvorstellbare vorzustellen, kann dann nicht mehr heißen, daß wir herumprobieren, um uns gleichsam in Konkurrenz zu den ent­werteten Darstellungsleistungen ein Bild zu machen; vielmehr wird diese 'Zumutung' als ein massives Aufmerksamkeitssignal virulent.

Die so erzwungene Aufmerksamkeit macht deutlich, daß die Un­vors teIlbarkeit keinen Selbstzweck verkörpert, sondern Signal für das Auftauchen eines neuen Themas ist. Die Vorstellung ist dann nicht mehr darauf gerichtet, die unvorstellbare Entgeisterung der Lady Booby vorstellbar zu machen, sondern darauf, sich das vorzu­stellen, was sich in dieser 'Unvorstellbarkeit' zum Vorschein bringt. Das neue Thema drängt sich in Form der Unvertrautheit auf. Dafür sorgen die vom Text angebotenen Vorstellungs schemata, deren Ent­wertung zum Signal für ein durch sie nicht mehr faßbares Thema wird. Deshalb ist das Thema zunächst auch leer, weil die unvorstell­bare Entgeisterung, die man sich 'ausmalen' soll, noch keine zurei­chende Signifikanz besitzt. Daraus ergibt sich dann der Antrieb, die Vorstellung auf eine solche im Text nicht versprachlichte Signifi­kanz zu richten, für deren Vorstellbarkeit wiederum die angebote­nen, wenngleich negierten Schemata eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Sie verlocken zu Assoziationen, die es zugleich wieder zu löschen gilt, um in solcher Entleerung das Thema als den Bruch mit Vertrautem erfahren zu können.

20 Hier ist dann auch die Ansicht Ingardens zu korrigieren, daß der Text Schemata parat hält, durch die hindurch der intentionale Gegen­stand visiert werden muß. Ein solcher Vorgang kommt doch· erst da­durch in Gang, daß die Schemata in uns etwas bewirken, ehe sie zum Analogon der Vorstellungsbildung zu werden vermögen. Die negative Modalisierung der Schemata des Textrepertoires entrückt den aufge­rufenen Wissensvorrat zur Vergangenheit und mobilisiert angesichfs der durchgestrichenen Geltung die Aufmerksamkeit des Lesers.

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Die Schemata der zitierten Stelle sind sehr unterschiedlichen Be­reichen entnommen: der klassischen Skulptur (Phidias und Praxite­les), dem klassischen Mythos (Croesus), der zeitgenössischen Malerei (Hogarth) und dem zeitgenössischen Gruseltheater, dessen soziale Implikationen durch die Preisangabe des Sitzplatzes verstärkt sind. In den Schemata ist ein Repertoire selektiert, das starke soziale Unter­schiede bezeichnet, je nachdem, ob man über eine klassische Bil­dung verfügt, die zeitgenössische Malerei kennt, einen Kunstver­stand besitzt oder sich nur mit den Belustigungen begnügt, die die überzogenen Effekte der Schaubühne gewähren. Damit kommt in der Selektion des Repertoires eine Differenz zur Geltung, die Fiel­ding gleich zu Anfang seines Romans in der Unterscheidung zwi­schen dem "classical reader" und dem "mere English reader"21 herausgehoben hat. Es werden unterschiedliche Horizonte aufge­blendet, die auf die Systeme verweisen, denen die Elemente ent­nommen sind, so daß sich die Vorstellungsbildung des Lesers je nach seiner Kompetenz bzw. seinem Anteil am aufgerufenen Be­zugssystem reguliert. Nimmt man den Extremfall an, daß die ge­bildeten Leser keine Ahnung vom Gruseltheater haben und daß jene, die daran Gefallen finden, nichts von klassischer Bildung wis­sen, dann bleiben bestimmte Bereiche für die Vorstellungsbildung inaktiv.

Es fallen damit gegebene Vororientierungen für die Signifikanz des Themas aus, das dann schwer zu optimieren sein wird. Denn die klassischen und zeitgenössischen Reminiszenzen haben nicht nur eine soziale Implikation, sondern auch eine strategische. So appellieren klassische Kunst und klassischer Mythos nicht aus­schließlich an einen gebildeten Leser; sie evozieren auch die Attri­bute dieser Kunst und dieses Mythos: ihre Erhabenheit und ihr Erschrecken, die nun allerdings durch die decouvrierende Kunst des Satirikers Hogarth unterlaufen und schließlich in den belustigenden Schauereffekten des Gruseltheaters trivialisiert werden. Nun treibt die im Text behauptete Gleichartigkeit, die den genannten Sche­mata eigen sein soll, ihre Ungleich artigkeit heraus. Diese ist dann nicht mehr auf das soziale Niveau des Lesers, sondern auf die Sig-

11 Vgl. Fielding, pp. XXVII f.

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nifikanz des Themas bezogen. Denn die klassischen Anspielungen lassen die Entgeisterung der Lady Booby als pathetisch, die zeitge­nössischen hingegen als komisch, wenn nicht gar als trivial erschei-' nen. Die Vermischung von Pathos und Komik bewirkt das Zerplat­zen des falschen Anscheins, durch den Lady Booby ihre Lüsternheit zu drapieren versuchte. In diesem Sinne vermögen die Schemata die Vorstellungs tätigkeit des Lesers zu lenken, dessen Vorstellung nun nicht die unvorstellbare Entgeisterung, sondern das Durch­schauen einer Verstellung zum Inhalt hat, in der das Thema seine Signifikanz gewinnt. Gewiß ist diese Signifikanz insofern noch recht instabil, als das Durchschauen von Verstellung nicht bloßer Selbstzweck ist, sondern wiederum nur Zeichen für etwas sein kann. Dieses ist in der vorgestellten Signifikanz des Themas noch nicht gegeben und läßt sich nur über die kontextuelle Einbettung der zitierten Stelle konkretisieren. "Das thematische Feld ist je­doch ... implizit 'im Thema' enthalten - wie es umgekehrt kein isoliertes Thema gibt, sondern sich dieses immer von einem thema­tischen Feld abhebt. In diesem Sinn hat das thematische Feld eine unabänderliche, sozusagen' auferlegte' Vorgeschichte.,,22

Diese "Vorgeschichte" ist in unserem Fieldingbeispiel durch ein explizites Signal des Erzählers an die zitierte Stelle herangebunden. Ein paar Seiten vor der Szene zwischen Lady Booby und ihrem Diener war Joseph den Liebeswallungen der Slipslop, einer Do­mestike im Haushalt der Lady Booby, ausgesetzt gewesen, und wie im Falle der Herrin erhält der Leser lediglich ein paar Schemata an­geboten, um sich die nicht-erzählte Attacke selbst 'auszumalen'. DieseSchemata sollen elementarische Vorstellungen wecken, so wenn es vonSlipslop heißt, daß sieJoseph wie eine hungernde Tigerin um­schlich, um sich schließlich auf ihn zu stürzen. Die Verknüpfung der beiden Szenen indes geschieht durch eine Feststellung im Text; am übergang zwischen ihnen bedeutet der Erzähler seinen Lesern: "We hope, therefore,' a judicious reader will give himself some pains to observe, what we have so greatly laboured to describe, the different operations of this passion of love in the gentle and culti­vated mind of the Lady Booby, from those which it effected in the

22 Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neu­wied und Darmstadt 1975, p. 197.

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less polished and coarser disposition of Mrs. Slipslop."23 Der Er­zähler postuliert eine Differenz, derzufolge sich die Liebesleiden­schaft in jedem sozialen Stand unterschiedlich auswirke. Die Szene mit Lady Booby erscheint daher unter dem Vorzeichen, daß sich der Leser die Leidenschaft einer Aristokratin anders als die einer Do­mestike vorzustellen habe. In der expliziten Verknüpfung der bei­den Szenen wird die Sozialstruktur der Gesellschaft des 18. Jahr­hunderts zum Schema der Vorstellungsbildung. Dem Schema ist die zentrale Norm dieser Sozialstruktur eingezeichnet: die Menschen unterscheiden sich durch ihren sozialen Rang grundsätzlich vonein­ander. Diese Affirmation herrschender Geltung aber erfolgt mit dem Ziel, sie im Hervorkehren der Gleichartigkeit menschlicher Begier­den zusammenbrechen zu lassen. Das explizite Textsignal weist dem Leser Urteilsfähigkeit (judicious reader) zu, und diese kann sich nur bewähren, wenn dieser weniger die ihm bekannte soziale Dif­ferenz als vielmehr die von ihr verdeckte Gemeinsamkeit der menschlichen Natur gewahrt. Hier ist der Leser selbst gehalten, das ihm angebotene Schema der Vorstellungsbildung zusammenbrechen zu lassen, wodurch sich die Signifikanz des Themas stabilisiert: im Durchschauen sozialer Prätentionen die Beschaffenheit der mensch­lichen Natur zu entdecken. Dient die Aufhebung sozialer Differen­zen der strategischen Absicht, den Leser auf die Beschaffenheit der menschlichen Natur zu lenken, so ist das Gewärtigen der identi­schen Begierden gerade angesichts dieser negativen Kennzeichnung ein Auslöser dafür, nun diese menschliche Natur - die sich in den animalischen Begierden nicht erschöpfen kann - ihrerseits zu dif­ferenzieren. So ist zwar die Signifikanz des Themas durch den Kon­text stabilisiert, zugleich aber erzeugt diese Stabilisierung ein neues Problem, das nach einer Positivierung jener zunächst negativen Be­stimmtheit der menschlichen Natur verlangt. Denn nur so läßt sich die im Durchschauen der Verstellung gewonnene Schärfung des Ur­teils in seine notwendige Bewährung überführen. Damit ist wieder­um ein 'leerer Verweis' gegeben, der zur Bedingung von Folgevor­stellungen wird, durch die sich der 'Schneeballeffekt' der Vors tel­lungsbildung anzeigt.

13 Fielding, p. 15.

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Wir waren von der überlegung ausgegangen, daß der geschriebene Text sich als eine Folge von Aspekten bietet, die eine Totalität im­plizieren, welche selbst nicht formuliert ist, wohl aber die Struktur dieser Aspekthaftigkeit bedingt. Folglich muß diese Totalität kon­stituiert werden, wodurch die Aspekte ihr volles Gewicht erhalten, da sie erst über die Einlösung ihrer Verweisung sinnvoll werden. Aspekte indes sind sie vor allem für den Leser, der sich das vorstel­len muß, was sie ihm vorentworfen haben. Folglich gewinnt der Text durch die Vorstellung den notwendigen Zusammenhang im Bewußtsein des Lesers. Das zeigte sich schon an dem Einbettungs­verhältnis, das die zitierte Stelle der Lady Booby in der Vorstellung entstehen ließ, wobei es im Augenblick von untergeordneter Be­deutung ist, ob man der in der A\lsführung des Beispiels gegebenen Interpretation in allen Einzelheiten folgt - wichtig bleibt die darin zum Vorschein kommende Struktur der Vorstellungsbildung.

Thema, Signifikanz und Auslegung hatten wir als die zentralen Elemente der Vorstellungsbildung erkannt. Man darf diese Zer­legung der Vorstellung in solche Elemente jedoch nicht dahin miß­verstehen, als ob es Vorstellungen des Themas, so dann solche der Signifikanz und schließlich solche der Auslegung gäbe, oder daß in einer Vorstellung zunächst das Thema und danach dessen Signifi­kanz erscheinen würde. Vielmehr erscheinen Thema und Signifi­kanz immer in einer Kontamination, die ihrerseits der Auslegung bedarf und daher die Folgevorstellung motiviert. "Niemals wird man", wie Sartre sagt, "eine Vorstellung wirklich auf ihre Elemente reduzieren können, weil eine Vorstellung, wie übrigens alle psYchi­schen Synthesen, etwas anderes und mehr als die Summe ihrer Elemente ist. Was hier zählt, ist der neue Sinn, der das Ganze durchdringt."24 Im "neuen Sinn" der Vorstellung sind Thema und Signifikanz zusammengeschlossen. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem eigentümlich hybriden Charakter, den unsere Vorstellungen im Lektüreakt besitzen; bald sind sie bildhaft, bald sind sie bedeu­tungshaft.

Thema und Signifikanz sind folglich nur Konstituenten der Vor­stellung. Ein Thema bildet sich für die Vorstellung über die vom

" Sartre, Das Imaginäre, p. 163.

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problematisierten Wissen des Repertoires erzeugte Aufmerksam­keit. Die Signifikanz des Themas bildet sich für die Vorstellung aus der Leerstelle des Themas, die dadurch entsteht, daß das Thema nicht Selbstzweck, sondern Zeichen für das in ihm noch nicht Ge­gebene ist. So produziert die Vorstellung ein imaginäres Objekt, in dem das zur Erscheinung gelangt, was der formulierte Text ver­schweigt. Doch das Verschwiegene entsteht aus dem Gesagtenj des­halb muß~so moiraHsleitsern~aK-das-Verschwiegene vorstellbar wird. Zentrale Modalisierung des fiktionalen Textes ist die latente Negativierung des Repertoires, dessen horizontale Or­ganisation25 damit in seine volle Funktion kommt. Denn für die Vorstellung ist der "negative Akt ... konstitutiv.,,26 Das Fielding­beispiel hatte zwei unterschiedliche Möglichkeiten solcher negati­ven Modalisierungen erkennen lassen. In der zitierten Stelle der Lady Booby waren die Schemata des Repertoires, die als Analogon der Vorstellung funktionieren sollen, als unzulänglich markiertj das Schema des Kontextes hingegen, das der Autor mit der zitierten Stelle explizit verknüpft hatte, war so angelegt, daß es der Leser selbst entwerten muß. Damit wird die im Text markierte Negati­vierung durch eine zusätzliche vom Leser selbst zu leistende Negati­vierung verstärkt, woraus folgt, daß es hier nicht nur ein imaginäres Objekt für die Vorstellbarkeit einer Szene, sondern ein solches zu bilden gilt, das für die Romanintention überhaupt signifikant ist. Diese wiederum kann sich nicht in einem einzigen Augenblick oder gleichsam auf ein paar Seiten des TexteS verwirklichen, son­dern manifestiert sich in dem imaginären Objekt der beschriebenen Szene darin, daß sie sich diesem als 'leerer Verweis' einzeichnet und damit Folgevorstellungen motiviert. In solchen poly thetisch verlaufenden Vorstellungsakten realisiert sich das im Gesagten Verschwiegene zu einem Vorstellungszusammenhang im Bewußt-sein des Lesers. ~-~

Die so verlaufende Vorstellungsbildung ist in ihrer Abfolge we-sentlich durch die zeitliche Erstreckung der Lektüre bedingt. Das Le­sen bringt durch seiIi-en Verlauf eil1e Zeitachse hervor,auTaer sich

25 Vgl. zu diesem Sachverhalt Kapitel Il, A, 2, pp. 99f. 26 Sartre, Das Imaginäre, pp. 284f.

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die von der Vorstellung erzeugten imaginären Objekte im Nachein­ander versammeln. Folglich läuft auf der Zeitachse alles zusammen, was die Vorstellung hervorgebracht hat, so gegenläufig und hetero­gen das im einzelnen auch sein mag. Ein solches Nacheinander er­möglicht dann, Unterschiede, Kontraste und Oppositionen zwi­schen den im Lektüreprozeß erzeugten Vorstellungsgegenständen zu gewärtigen. Die Zeitachse erfährt dadurch ihre Gliederung, und die imaginären Objekte gewinnen im Abheben voneinander ihre je­weilige Identität. Verdeutlicht der Zeitfaktor die Differenz, die zwi­schen den einzelnen Vorstellungs gegenständen herrscht, so ist deren Unterscheidung voneinander für den zeitlichen Verlauf der Lektüre wiederum Anstoß, sie aufeinander zu beziehen. "Es ist also", wie Husserl einmal formuliert hat, "ein allgemeines Gesetz, daß an jede gegebene Vorstellung sich von Natur aus eine kontinuierliche Reihe von Vorstellungen anknüpft, wovon jede den Inhalt der vorhergehen­den reproduziert, aber so, daß sie der neuen stets das Moment der Vergangenheit anheftet. So erweist sich die Phantasie hier in eigen­tümlicher Weise als produktiv. Es liegt hier der einzige Fall vor, wo sie ein in Wahrheit neues Moment der Vorstellung schafft, nämlich das Zeitmomentl/27 .

So erscheint in der Vorstellungsfolge der Lektüre das einzelne ima­ginäre Objekt vor dem Hintergrund eines bereits zur Vergangenheit entrückten. Es erhält damit seine Position in der Vorstellungsfolge, die ihm den vollen Sinn dadurch sichert, daß es seine Abgeschlossen­heit wieder öffnet, um es dem folgenden imaginären Objekt zu ver­binden. Da das jeweils neue seinerseits durch die zeitliche Erstrek­kung der Lektüre in die Vergangenheit rückt, zeichnet es sich mit der ihm widerfahrenen Modifikation dem jeweils gegenwärtigen Vor­stellungsobjekt ein. Jedes dieser Objekte muß zu einem vergangenen werden, um sich auswirken zu können.

Daraus ergeben sich dann die kumulativen Modifikationen der auf der Zeitachse zusammenlaufenden Vorstellungsgegenstände. Es dürfte daher unmöglich sein, einzelne Phasen dieses Prozesses zu isolieren und sie als den Sinn des Textes zu bezeichnen. Denn der

27 Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Gesammelte Werke X), Den Haag 1966, p. 11.

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Sinn bildet sich erst im Ablauf der Lektüre und ist von deren gesam­ter Erstreckung nicht abzulösen. Das produktive Moment der Phan­tasie kommt darin zum Vorschein, daß die dem wandernden Blick­punkt der Lektüre entspringende Zeitgliederung des Textes in Ver­gangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht dessen Zerstreuung in ausbleichende Erinnerungen und unvorhersehbare Erwartungen zur Folge hat, sondern gerade eine Synthese all dieser Phasen bewirkt. Wenn die Phantasie des Le~s den einzelnen Vorstellungsobjekten das Zeitmoment hinzugewinnt, dann bildet sich Sinn aus der zeitli­chen Modifikation der Vorstellungsgegenstände. Sinn erweist sich dann als die Transformation der von den Zeichen vorstrukturierten, im Lektüreaugenblick zur Gestalt erweckten und in der Zeiterstrek­kung transformierten Vorstellungsgegenstände. Mit dem Zeitmo­ment der Phantasie hat ihm der Leser einen Modus geschaffen, der seine Entfaltung nicht nur ermöglicht, sondern auch reguliert. Das aber heißt, Sinn ist eine im Text angelegte Forderung, die sich ohne das in der Lektüre aktualisierte Zeitmoment nicht erfüllen könnte. Der Leser bestimmt zwar nicht, was der Sinn ist; indem er ihm je­doch die Bedingung seiner Aktualisierung schafft, vermag er das zu erfassen, was ihm zu produzieren aufgegeben war.

In dieser Zeitqualität des Sinnes steckt eine weitere Implikation. ~ ~

Das von der PhantaSIe den Vorstellungsgegenständen hinzugewon-nene Zeitmoment besitzt nicht den Charakter einer Referenz, die den Verlauf der Vorstellungsbildung in einer bestimmten Weise re­geln würde. Wenn daher der Sinn des Textes so unablösbar mit der zeitlichen Erstreckung der Lektüre verquiClzfrst;-sowirdTede Re-ili­sierung einen,,~-rgleichsweise hohenGrad an-Indi~idu-alität besit­Zell:Als-Be1eguafür kann die ErfahrUilgdienen,dresIChbei der er­~ten Lektüre des gleichen Textes ergibt. Sie wird mit der Erstlek­türe nie ganz identisch sein, und dafür braucht man noch nicht ein­mal die veränderten subjektiven Befindlichkeiten des Lesers ver­antwortlich zu machen, so gewiß diese dabei auch eine Rolle spielen. Der in der Erstlektüre konstituierte Sinn wird den Sinnbildungspro­zeß der Zweitlektüre überschatten. Denn nun steht der Sinn der Erstlektüre als ein Wissen bereit, das ständig in die erneute Lektüre hineinspielt. Dieses Wissen nimmt Einfluß auf die Konstituierung der Vorstellungsgegenstände sowie auf die Transformationen, die

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diese auf der Zeitachse erfahren. Der in der ZweitlektÜTe realisierte Sinn kann daher mit dem der Erstlektüre nie ganz zusammenfallen; er ist entweder reicher oder von anderer Gestalt. Für die Literaturkri­tik spielt eine solche Erfahrung eine wichtige Rolle, wenn etwa in der zweitlektüre aus der Sicht des gewonnenen Sinnes die Verfahren des Textes thematisch gemacht werden sollen, um die Bedingungen für das Zustandekommen des in der Erstlektüre konstituierten Sin­nes zu verdeutlichen. Dieser gezielte Einsatz des nun vorhandenen Wissens wird sich nicht mehr darin erschöpfen, den Sinn der Erstlek­türe plausibel zu machen; viel eher wird eine solche Plausibilität zur Voraussetzung dafür, den besonderen Kunstcharakter des Textes aufzuzeigen. Damit ist gleichsam ein neuer Sinn konstituiert, der in der Erstlektüre deshalb nicht gewärtigt oder gar realisiert werden konnte, weil dieser Kunstcharakter die Besonderheit des erfahrenen Sinnes bedingte und folglich nicht thematisch zu werden ver­mochte.

Wir hatten im Anschluß an Husserl festgestellt, daß das Zeitmo­ment das einzig Neue verkörpert, das der Leser in jeder Lektüre dem Text hinzufügt, und können nun ergänzen, daß dieses Neue statt identische stets variierende Ausprägungen besitzt. Die im Lesen sich bildende Zeitachse bewirkt es, daß die auf ihr zusammenlaufenden Vorstellungsobjekte sich immer zugleich voneinander abheben und ineinander einzeichnen. Die Art indes, in der sich Unterschiede und Verbindungen auf die jeweiligen Vorstellungsobjekte auswirken, entscheidet das Zeitrnoment. Durch dieses gewinnen die Vorstel­lungsobjekte nicht allein ihren wechselseitigen Bezug, sondern er­halten gerade durch diese Verknüpfung erst ihre jeweilige Individua­lität. Das Zeitmoment ist folglich, wie Husserl einmal betonte, "Ur­quell der Individualität"28, und dies in einem doppelten Sinne: Es be­dingt nicht nur die Individualität der Vorstellungs gegenstände, es besitzt selbst in der wiederholten Lektüre des identischen Textes eine je andere Individualität. Denn für dieses Zeitmoment gibt es keinen Bezugsrahmen, so daß sich in jeder Lektüre die Ablaufskonti -nuität der Vorstellungsgegenstände immer wieder anders ausneh­men wird. Da das Zeitmoment selbst nicht bestimmt ist, bestimmt

2. Ibid., p. 66.

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es sich durch die von ihm erzeugte Individualität des realisierten Sin­nes.

Sinn muß immer Prägnanz haben, wenn er Sinn sein soll, und d. h., daß nun der Sinn der Erstlektüre nicht etwa neben den Sinn der Zweitlektüre rückt, sondern in die Sinnprägnanz integriert ist, die sich aus der erneuten Lektüre ergeben hat. Die mangelnde Be­stimmtheit des Zeitmoments bildet so die notwendige Vorausset­zung dafür, daß jede Realisierung des Textes zu einem semantischen Bestimmungsvorgang wird. Daraus folgt: Obwohl das Zeitmoment immer nur in der Lektüre durch den Leser den einzelnen Vorstel­lungsgegenständen hinzugewonnen wird, ist der Sinn als das Pro­dukt der jeweiligen Realisation als ein identischer nicht wiederhol­bar. Diese strukturbedingte Unwiederholbarkeit des identischen Sinnes bedingt jedoch ihrerseits die Wiederholbarkeit von innovati­ven Lektüren des identischen Textes. So überfremdet der Leser nicht notwendigerweise den Text mit seinen eigenen Vorstellungen; viel­mehr wird das dem Text hinzugewonnene Zeitmoment zur 'Refe­renz' einer Vorstellungsfolge, deren Gliederung zugleich auch die Be­stimmung des Zeitmoments bewirkt. Zwar hängt das Zeitmoment nicht von dem ab, was es organisiert, obgleich es sich erst durch das einstellt, was es zu organisieren gilt.

Das Zeitmoment erweist sich daher als Katalysator der passiven Synthesen, durch die sich der Sinn des Textes dem Vorstellungbe­wußtsein des Lesers erschließt. Passive Synthesen unterscheiden sich von prädikativen darin, daß sie keine Urteile sind. Im Gegensatz zum Urteil, das zeitunabhängig ist, entspringen passive Synthesen der Zeitachse des Lesens.

Nun aber wäre der Sprachgebrauch von passiven Synthesen wider­sinnig, bezeichnete er lediglich eine Kompositionsaktivität, die als automatisierter Vorgang unterhalb der Schwelle des Bewußtseins verliefe. Die schematische Darstellung der Sinnkonstitution hat je­doch erkennen lassen, in welchem Maße der Leser im Verlauf der Vorstellungsbildung zwei eng miteinander verbundene Aktivitäten vollzieht: 1. die Entfaltung der im Text vorgegebenen Aspekte zu Vorstellungs gegenständen, und 2. deren ständige Modifikation auf der Zeitachse der Lektüre.

In diesem Vorgang stellt der Leser seine synthetische Aktivität ei-

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ner fremden Realität (der des Textes) zur Verfügung und gerät da­durch in eine Zwischenlage, die ihn für die Dauer der Lektüre aus dem heraushebt, was er ist. Daraus folgt, daß der Leser durch den Pro­zeß der Sinnkonstitution selbst in einer bestimmten Weise konstitu­iert wird; durch das, was der Leser bewirkt, geschieht ihm auch im­mer etwas.

Faßbar ist diese Erfahrung noch am ehesten in dem Wunsch, nun die Bedeutung des Sinnes begreifen zu wollen. Die unentwegte, weil unvermeidliche Frage nach der Bedeutung zeigt an, daß in der Sinnkonstitution etwas mit uns geschehen ist, dessen Bedeutung wir uns klarzumachen versuchen. Sinn und Bedeutung also sind nicht dasselbe, wie es die eingangs kritisierte Interpretationsnorm, die an der klassischen Kunst orientiert blieb, nahegelegt hat. "Da­durch also, daß man einen Sinn auffaßt, hat man noch nicht mit Sicherheit eine Bedeutung.,,29 Denn die Bedeutung des Sinnes er­schließt sich immer nur durch die Beziehung des Sinnes auf eine bestimmte Referenz; sie übersetzt den Sinn in ein Bezugssystem, und sie legt ihn im Blick auf bekannte Gegebenheiten aus. Ricoeur formulierte daher einmal im Anschluß an überlegungen Freges und Husserls: " ... es sind darum zwei Stufen des Verstehens zu unter­scheiden: die Stufe des 'Sinns' ... und die Stufe der 'Bedeutung', die das Moment der übernahme des Sinns durch den Leser, d. h. das Wirksamwerden des Sinns in der Existenz, darstellt.,,3o Daraus folgt, daß die intersubjektive Struktur der Sinnkonstitution sehr viele Bedeutungen haben kann, je nach dem sozio-kulturellen Code bzw. je nach den individuellen Geltungen des Habitus, die nun die Bedeutung des Sinnes auszulegen beginnen. Gewiß spielen sub­jektive Dispositionen in der jeweiligen Realisierung der intersub­jektiven Struktur der Sinnkonstitution eine Rolle. Doch vor dem Hintergrund dieser Struktur bleiben die subjektiven Realisierungen der Intersubjektivität zugänglich. Eine Zuschreibung von Bedeu­tung hingegen und die damit erfolgende übernahme des Sinnes in die Existenz wird erst wieder der intersubjektiven Diskussion fähig,

" G. Frege, "über Sinn und Bedeutung", in Zeitschrift für Philoso­phie und philosophische Kritik 100 (1892), p. 28.

10 Ricoeur, p. 194.

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wenn die Codes und der Habitus aufgedeckt werden, die die Aus­legung des Sinnes gesteuert haben. Der eine Sachverhalt ist ein sol­cher der Wirkungs theorie der Texte, der andere ein solcher der Re­zeption, deren Theorie eher eine soziologische sein wird.

In jedem Falle aber läßt der Unterschied von Sinn und Bedeutung erkennen, daß die eingangs kritisierte, am klassischen Kunstideal gebildete Interpretationsnorm die Texterfahrung um eine entschei­dende Dimension verkürzt, wenn sie immer gleich ~~Lfu:­deutung fragte und damit eigentlich erst den Sinn meinte. Eine s~Jes-war-~ur- solallgeangemessen, als man in der Kunst die Wahrheit des Ganzen repräsentiert sah, weshalb man dann auch vom Leser nur eine Kontemplationshaltung erwartete. Wenn seither die Frage nach der Bedeutung der Texte so viel Ver­wirrung gestiftet hat, so vorwiegend deshalb, weil die durch Codes und Habitus gesteuerte Bedeutung immer mit dem Sinn gleichgesetzt worden ist. Daß man sich dann wechselseitig die gefundenen 'Be­deutungen' bestritt, war nur natürlich. Daher so!ll~~~Ilte_rschied von Sinn und Bedeutung_festgehalten werden. eide bezeichnen StUIeil des Verstehens, wie Rico~ur- meinte. si~~ist -diein der Äspekthaftigke~-Te,~t~s-implitierte_fuweisu~g;g-;~~heit,-die im Lesen konstitt;i-~rt-~~;de;-muß1Becieutun!d}g die übernahme des Sinnes durch den Leser in seine 'Exlste~~ --lind ]fedeU:t~~g\zusammen garantieren dann erst das Wirksamwe-ideifeiiieTEiThn:-rung, die darin besteht, daß ich in der Konstituierung einer frem­den Realität selbst in einer bestimmten Weise konstituiert werde.

4. Die Konstituierung des lesenden Subjekts

"Während Realitäten an sich sind, was sie sind, ohne Frage nach Subjekten, die sich auf sie beziehen, sind Kulturobjekte in bestimm­ter Weise subjektiv, aus subjektivem Tun' entspringend und an Subjekte als personale Subjekte sich andererseits adressierend, sich ihnen etwa darbietend als für sie nützlich, als für sie und für jeder­mann unter passenden Umständen brauchbare Werkzeuge, als für ihr ästhetisches Genießen bestimmt und dazu geeignet usw. Sie

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haben Objektivität, eine Objektivität für 'Subjekte' und zwischen Subjekten. Die Subjektbeziehung gehört zu ihrem eigenwesentlichen Inhalt selbst, mit dem sie jeweils gemeint und erfahren sind ... Und eben darum muß hier die objektive Forschung teils auf den Kultursinn selbst und seine Wirkgestalt gehen, teils aber und kor­relativ auf die mannigfaltige reale Persönlichkeit, die der Kultur­sinn mit voraussetzt, auf die er selbst beständig verweist."3! For­dert die Sinnkonstitution des Textes die Beteiligung des Lesers, der die ihm vorgegebene Struktur realisieren muß, um den Sinn zur Erscheinung zu bringen, so darf man nicht vergessen, daß der Leser immer diesseits des Textes steht. Auf diese Position muß der Text Einfluß nehmen, um den Leserblickpunkt in einer bestimmten Weise ins Spiel zu bringen. Denn die Sinnkonstitution ist keine einseitige Forderung des Textes an den Leser; vielmehr gewinnt sie ihren Sinn erst dadurch, daß in einem solchen Vorgang dem Leser selbst etwas widerfährt. Wenn daher Texte als "Kulturobjekte" des Subjekts bedürfen, so nicht um ihrer selbst willen, sondern um sich im Subjekt auswirken zu können. Die Aspekthaftigkeit des Textes impliziert folglich nicht nur einen Sinnhorizont, sondern ebenso einen Leserblickpunkt, der vom realen Leser bezogen wer­den muß, damit der entfaltete Sinnhorizont. auf das Subjekt zu­rückwIrken kann. Sinnkonstitution und Konstituierung des lesen­den Subjekts sind zwei in der Aspekthaftigkeit des Textes mitein­ander verspannte Operationen. Es versteht sich, daß der Leserblick­punkt nicht von der Erfahrungsgeschichte möglicher Leser bestimmt sein kann, wenngleich eine solche auch nicht gänzlich abgeblendet sein darf. Denn erst wenn der Leser aus seiner Erfahrungsgeschichte herausgehoben wird, kann etwas mit ihm geschehen. Folglich muß der Leserblickpunkt vom Text in einer bestimmten Weise mit ein­gerichtet werden, und das heißt, daß der Sinn nicht nur für den Text, sondern noch einmal durch diesen hindurch für die Perspek­tive seines Aufgefaßtwerdens konstitutiv ist, die sich in der Ein­richtung des Leserblickpunktes ausprägt. Im Prinzip kann die Ver­ortung eines solchen Blickpunkts nicht durch das Vorkalkulieren von

"Edmund Husserl, Phänomenologische Psychologie (Gesammelte Werke IX), Den Haag 1968, p. 118.

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Urteilsnormen, Weltanschauungen, Realitätsauffassungen und Wert­vorstellungen möglicher Leser erfolgen, deren geschichtliche Indivi­dualität kein Text in dieser Form je zu erfassen vermöchte. Deshalb sind immer dort, wo der Leserblickpunkt über ein solches Vorkal­kulieren gewonnen wird - wie es sich in der publikumsbezogenen Literatur vom mittelalterlichen Fastnachtsspiel bis zum sozialisti­schen Song zeigt - Verständnisschwierigkeiten für den Leser gege­ben, der den reproduzierten Code nicht mehr teilt. Wird der Leser­blickpunkt von den gegebenen Anschauungen eines bestimmten historischen Publikums her geprägt, dann kann er nur durch die historische Rekonstruktion der dieses Publikum beherrschenden Ansichten wieder lebendig werden - es sei denn, man verhält sich zu diesem Leserblickpunkt, doch dann konstituiert man weniger den für die Beeinflussung dieses Publikums gedachten Sinn, sondern eher die Strategie, durch die eine solche Absicht realisiert werden soll.

Wie stark die Justierung des Leserblickpunkts in der literarischen Praxis selbst als ein Problem empfunden worden ist, zeigt etwa der Roman des 18. Jahrhunderts, der als neue Gattung durch keinerlei Poetik legitimiert war und sich daher seine Geltung nicht zuletzt durch einen Dialog mit seinem Publikum sichern mußte. Seit dieser Zeit kennen wir die Leserfiktion des Textes. Durch sie wird dem Leser eine Position zugedacht, die in der Regel bestimmte zeitge­nössische Publikumsdispositionen reproduziert. Dabei zeigt diese Leserfiktion weniger den intendierten Leser an als vielmehr jene Disposition im vorausgesetzten Lesepublikum, auf die es einzu­wirken gilt. Denn wir dürfen nicht vergessen, daß die Leserfiktion in der erzählenden Prosa ja nur eine Darstellungsperspektive ver­körpert, die mit der Erzähler-, Figuren- und Handlungsperspektive verspannt ist. Daraus folgt, daß die in der Leserfiktion aufgerufe­nen Publikumsdispositionen in das Spiel der Interaktion einge­schachtelt werden, das zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes angelegt ist und in der Lektüre entfaltet wird. Wenn sich daher die Leserfiktion auf bestimmte historische Erwartungen und Gegebenheiten des intendierten Publikums bezieht, so geschieht das in der Regel mit der Absicht, auf die so markierten Dispositionen in der Verspannung mit den übrigen Darstellungsperspektiven einzu-

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wirken. In dieser Hinsicht zeigt die Leserfiktion lediglich an, welches die bevorzugten Publikumsdispositionen waren, über deren zuneh­mende Verfremdung im Text eine Kommunikationsmöglichkeit ge­schaffen werden soll. Durch die latente Problematisierung der in der Leserfiktion aufgerufenen Ansichten soll der jeweilige Leser in ein Verhältnis zu den ihn bestimmenden Ansichten gebracht werden; das mögliche Wiedererkennen dessen, was ihn orientiert, ist daher eher als das Gewärtigen einer Fatalität gedacht. Denn was ihm der Text eröffnen möchte, erstreckt sich jenseits des für ihn geltenden Horizonts; doch dafür muß der Leser in einem perspek­tivischen Punkt situiert werden, der in der Regel über negative Modalisierungen der ihn beherrschenden Ansichten eingerichtet wird. Das gilt bis hin zu Beckett, der seinen frühen Romanen noch rudimentäre Leserfiktionen einzeichnet. So heißt es in Murphy: "The above passage is carefully calculated to deprave the cultivated reader"32, und damit sind die Erwartungen des gebildeten Lesers aufgerufen, die nun 'verhunzt' werden müssen, um ihm den Blick für etwas zu eröffnen, das er bisher im Roman nicht für möglich hielt.

Die Leserfiktion ist gewiß nur eine, wenngleich wichtige Dar­stellungsstrategie, um den perspektivischen Ort des Lesers einzu­richten. Sie läßt in jedem Falle erkennen, daß dem Leser eine Rolle zugedacht ist, der er sich anverwandeln muß, soll der Sinn zur Be­dingung des Textes und nicht zu der des Leserhabitus konstituiert werden. Denn auf diesen gilt es in letzter Instanz einzuwirken, wes­halb ihn der Text nicht einfach nur reproduzieren kann.

Um die dem Leserblickpunkt unterliegende Struktur zu fassen, sind die von G. Poulet über das Lesen entwickelten Betrachtungen nachdenkenswert. Bücher, so meint er, kommen erst im Leser zu ihrer vollen Existenz. Zwar bestehen sie aus Gedanken, die ein anderer ersonnen hat, in der Lektüre jedoch wird der Leser das Subjekt dieser Gedanken. Damit schwindet die für alle Erkenntnis, aber auch für alle Wahrnehmung geltende Subjekt-Objekt-Spaltung, deren Aufhebung das Lesen, so darf man daraus folgern, als eine be-

32 Samuel Beckett, Murphy, New York o. J., p. 118.

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sondere Kategorie für den möglichen Zugang zu Fremderfahrung erscheinen läßt. In dieser eigentümlichen 'Verschmelzung' liegt dann wohl auch der zentrale Grund dafür, weshalb man die Be­ziehungen zur Welt der Texte so oft als Identifikation mißverstan­den hat. Poulet zieht aus der Einsicht, daß wir im Lesen die Gedan­ken eines anderen denken, den folgenden Schluß: "Whatever I think is apart of my mental world. And yet here I am thinking a thought which manifestly belongs to another mental world, which is being thought in me just as though I did not exist. Already the notion is inconceivable and seems even more so if I reflect that, since every thought must have a subject to think it, this thought which is alien to me and yet in me, must also have in me a sub;ect which is alien to me ... Whenever I read, I mentally pronounce an I, and yet the I which I pronounce is not myself.'i33

Für Poulet bildet diese Einsicht jedoch nur eine Zwischenüber­legung, denn das fremde Subjekt, das im Leser die ihm fremden Gedanken denkt, zeigt die potentielle Gegenwart des Autors an, dessen Darstellung~deshaih- vom Leser iIn Lektürevorgang 'inter­nalisiert' werden kann, weil der Leser sein Bewußtsein den Gedan­ken des Autors zur Verfügung stellt. "Such is the characteristic con­dition of every work which I summon back into existence by placing my consciousness at its disposal. I give it not only existence, but awareness of existence."34 Demnach würde das Bewußtsein den Kon­vergenzpunkt bilden, in dem Autor und Leser zur Deckung kämen, wodurch zugleich die zeitweilige Selbstentfremdung aufgehoben wäre, in die der Leser während der Lektüre gerät, wenn sein Be­wußtsein die Gedanken des Autors denkt. In diesem Vorgang ge­schieht für Poulet Kommunikation. Sie ist jedoch von zwei Bedin­gungen abhängig: die Lebensgeschichte des Autors muß im Werk genauso weggeblendetsein wie die indi~iduellen Dispositionen des Lesers im Akt der Lektüre. Denn erst dann können die Gedanken ,fes Autors im Leser ihr Subjekt finden, das etwas denkt, was es nicht ist. Daraus folgt, daß das Werk selbst als Bewußtsein gedacht

3J Georges Poulet, "Phenomenology of Reading", in New Literary History 1 (1969), p. 56.

J4 Ibid., p. 59.

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werden muß, weil erst dadurch ein zureichender Grund für die Be­ziehung zwischen Autor und Leser gegeben ist - eine Beziehung, die sich zunächst nur durch die Negation der individuellen Lebens­geschichte des Autors sowie der individuellen Disposition des Lesers bestimmt. Diese Folgerung wird von Poulet in der Tat auch gezogen, indem er das Werk als die Selbstpräsentation bzw. als die Materiali­sation des Bewußtseins versteht: "And so I ought not to hesitate to recognize that so long as it is animated by this vital inbreathing inspired by the act of reading, a work of literature becomes (at the expense of the reader whose own life it suspends) a sort of human being, that it is a mind conscious of itself and constituting itself in me as the subject of its own objects."35

An diesem Punkt allerdings beginnen nun die Schwierigkeiten. Denn wie ist ein solches hypostasiertes Bewußtsein zu denken, das im literarischen Werk zu sich selbst kommtl Das Hegelsche Schema liegt nahe. Doch das Bewußtsein als eine absolute Größe anzusehen, heißt, es zu verdinglichen. Denn Bewußtsein ist doch Bewußtsein von etwas, und das besagt, "daß es für das Bewußtsein kein Sein gibt außerhalb dieser strengen Verpflichtung, entdeckende unmittel­bare Erkenntnis von etwas zu sein."36 Wenn das Bewußtsein nur in einem solchen entdeckenden Prozeß seine Inhaltlichkeit gewinnt, ist es als reines Bewußtsein leer. Was also entdeckt dann das Werk als reines Bewußtsein 1 Nach Poulet könnte es nur sich selbst ent­decken, da es die individuellen Dispositionen des Lesers nicht ent­decken kann. Denn diese bleiben für Poulet abgeblendet. Als die Selbstpräsentation des Bewußtseins könnte der Leser das Werk lediglich kontemplieren; doch damit wäre nur das Ideal der klassi­schen Ästhetik mit modernem Gegenstand wiederbelebt: statt Schönheit nun Bewußtsein. - Es bleibt daher nur übrig, das so hypostasierte Bewußtsein nach dem Modell der Strukturhomologie zu denken, weil es die fortwährende übersetzung des Autors in das Werk und die Rückübersetzung des Werks in den Leser garantiert. Das aber wäre sehr mechanistisch gedacht und könnte eigentlich von

" Ibid. 36 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, übers. von K. A. Ott,

et al.l Hamburg 1962, p. 29.

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Poulet nicht gemeint sein; zumaldie Homologie weniger ein Er­klärungsprinzip ist, sondern eher eine Erklärungsnotwendigkeit an­zeigt.

Gibt man aber die substantialistische Auffassung des von Poulet postulierten Bewußtseins preis, so lassen sich bestimmte Gesichts­punkte der von ihm geführten Diskussion festhalten, die man aller­ding anders entfalten muß. Hebt das Lesen die für die Wahrneh­mung und für die Erkenntnis konstitutive Subjekt-Objekt-Spaltung auf, so erfolgt dadurch zugleich eine 'Besetzung' des Lesers durch die Gedanken des Autors, die ihrerseits zur Bedingung für eine neue '~den. Nun stehen sich Text und Leser nicht mehr WIe Objekt uncr-suD)ekt gegenüber; vielmehr ereignet sich diese 'fulliltlln~Les(:~ selbst. Denkt er die Gedanken eines anderen, dann springt er temporär aus seinen individuellen Dispositionen heraus, denn er macht--etwa; zu seine~:Besc:hjiftigung~d~sbisher nicht - wenigstens nicht in dieser Form - im Horizont seiner Er­fahrungsgeschichte lag. Dies hat zur Folge, daß im Lesen eine künst­liche Spaltung unserer Person geschieht, indem wir etwas, das wir nicht sind, zum Thema erheben. Die Annahme einer solchen kon­trapunktischen Struktur ergibt .sich daraus, daß unsere OrieiltJ.e: r~a nicnTvolTIj"(verschwinden, wenn wir die Gedanken eines anderen denken. So sehr diese Orientierungen nun auch zur Ver­gangenheit entrückt sein mögen, so bilden sie doch den Hintergrund für die uns nun beherrschenden Gedanken des Autors. Folglich ent­stehen im Lesen immer zwei Ebenen, deren Beziehung zueinander trotz wechselnder Spannungen niemals völlig abreißt. Denn wir ver­mögen die Gedanken eines anderen nur deshalb zu einem uns be­herrschenden Thema zu machen, weil diese dabei immer auf die virtuell vorhandenen Orientierungenunserei: Person be~ogen blei­~en. Es hat sichlediglicli-dre-Gewichtu-ngderEbe~en verschoben, wenn die Gedanken eines anderen und deren Aktualisierung durch uns ausschließlich im Vordergrund stehen.

Nun aber legt jeder Text, den wir lesen, einen anderen Schnitt innerhalb der kontrapunktischen Struktur unserer Person, und d. h. die von ihm organisierte Beziehung zwischen seinem Thema und unserem Erfahrungshorizont gewinnt eine jeweils unterschiedliche

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Ausprägung. Das einzelne Thema ruft nicht alle unsere Orientie­rungen und Dispositionen auf, sondern nur bestimmte Ausschnitte daraus, weshalb von Text zu Text der beanspruchte Umfang unserer Orientierungen jeweils anders konstituiert ist. Läßt sich das Thema des Textes erst durch seine Beziehung auf unseren virtuell geblie­benen Erfahrungshorizont begreifen, der in unterschiedlichen Kon­figurationen aufgerufen wird, dann können die Auffassungsakte der Fremderfahrung für den Haushalt der Person nicht gänzlich ohne Rückwirkungen bleiben.

Entrückt die im Lesen entstehende kontrapunktische Spaltung unserer Person die geltenden Orientierungen zum Hintergrund, so erfolgt in diesem Vorgang eine Abhebung des Subj ekts von sich selbst. Indem es die fremden Gedanken denkt, muß sich das Sub­jekt dem Text gegenwärtig machen und damit das, was es bestimmt, hinter sich lassen. Von welcher Art diese Gegenwart ist, hat Stan­ley Cavell einmal im Blick auf Shakespeares King Lear paradigma­tisch formuliert: "The perception or attitude demanded in following this drama is one which demands a continuous attention to what is happening at each here and now, as if everything of significance is happening at this moment, while each thing that happens turns a leaf of time. I think of it as an experience of continuous present­ness. Its demands are as rigorous as those of any spiritual exercise - to let the past go and to let the future take its time; so that we not allow the past to determine the meaning of what is now happen­ing (something else may have come of it) and that we not anti ci­pate what will come of what has come. Not that anything is possible (though it is) but that we do not know what is, andis not, next.,,37 Gegenwärtigkeit heißt Herausgehobensein aus der Zeit; die

37 Stanley Cavell, Must we Mean what we Say! New York 1969, p. 322; Dutrenne, p. 555, bemerkt zu einem ähnlichen Sachverhalt: "The spec­tatar also alienates hirnself in the aesthetic object, as if to sacrifice him­self for the sake of its advent and as if this were a duty which he must fulfill. Still, losing hirns elf in this way, the spectator finds hirnself. He must contribute something to the aesthetic object. This does not mean that he should add to the object a commentary consisting of images or representations which will eventually lead hirn away from aesthetic experience. Rather, he must be hirns elf fully by gathering hirnself to­gether as a whole, without farcing the silent plenitude of the wark to

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Vergangenheit ist ohne Einfluß, und die Zukunft bleibt unvor­denklich. Eine Gegenwart, die ihre temporalen Bestimmungen ab­gestreift hat, gewinnt für den, der in ihr ist, den Charakter des Er­eignisses. Man muß sich vergessen, um dem Geforderten gewach­sen zu sein. Daraus entspringt dann der Eindruck, daß man in der Lektüre eine Verwandlung durchlebt. Diese Erfahrung ist schon alt und vielfach bezeugt. Es sei daran erinnert, daß man in den frühen Tagen des Romans im 17. Jahrhundert dessen Lektüre als eine Form des Wahnsinns empfand, weil man im Lesen ein anderer wurde.38

Zwei Jahrhunderte später bezeichnete Henry James die gleiche im Lesen erfolgende Verwandlung als die wunderbare Erfahrung, zeit­weilig ein anderes Leben geführt zu haben.39 Die in der kontra­punktischen Spaltung erfolgende Abhebung des Subjekts von sich selbst bildet die analytische Voraussetzung dieses Eindrucks.

Die Abhebung indes bewirkt nicht nur, daß sich das Subjekt dem Text gegenwärtig macht, sie ruft auch eine Spannung hervor, die sich in der Affektion des Subjekts niederschlägt. "Die 'Affektion' " ist, wie Husserl formuliert, "Lebendigkeit 'als' Bedingung der Ein­heitl/40, und d. h., durch sie soll der Zusammenhang wiedergewon­nen werden, der im Subjekt durch Abhebung von seinem Habitus gerissen ist. Ein solcher Riß indes läßt sich nicht mehr durch die er­neute Reaktivierung des zeitweilig zur Vergangenheit verblaßten Habitus schließen. Affektion ruft daher nicht die Orientierungs­rahmen des Habitus auf; sie mobilisiert vielmehr die Spontaneität des Subjekts. Die Art mobilisierter Spontaneität indes hängt von der Beschaffenheit des Textes ab, dem wi:r; uns gegenwärtig gemacht

become explicit or extracting any representations from this treasure trove. Thus the spectator's alienation is simply the culmination of the process of attention by which he discovers that the world of the aesthe­tic object into which he is plunged is also his world. He is at horne in this world. He understands the affective quality revealed by the work because he is that quality, just as the artist is his work."

38 Vgl. dazu Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt 1969, pp. 378 H.

" Vgl. Henry James, Theory of Fiction, ed. James E. Miller, Jr., Lin­coln 1972, p. 93 .

•• Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis (Gesammelte Werke XI), Den Haag 1966, p. 388.

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haben. Er modalisiert die Spontaneität, die ja ihrerseits nicht gänz­lich konturlos ist. Denn es gibt "Spontaneitäten des Gemüts und Willens, spontanes Werten und spontanes praktisches Verhahen des Ich, wertend und wollend Sich-entscheiden, jedes in verschiede­nen spontanen Modalitäten.,,41 Solche unterschiedlich modalisierten Spontaneitäten sind Stellungnahmen des lesenden Subjekts, durch die es die noch ungekannte Erfahrung der Gegenwärtigkeit im Text mit dem eigenen Erfahrungshaushalt wieder zu verbinden trachtet. Da aber der Text über die jeweilige Besonderheit der freigesetzten Spontaneität des Subjekts verfügt, kommt eine bisher dem Bewußt­sein des Subjekts entzogene Sphäre ans Licht. Die psychoanalytische Kunsttheorie hat diesen Sachverhalt sehr deutlich in den Blick ge­rückt. Hanns Sachs meinte zu solchen von Kunstwerken im Leser hervorgekehrten, von der alltäglichen Bewußtseinshelle abgeschirm­ten Seiten: "By this process an inner world is laid open to hirn which is and always has been his own, but into which he cannot enter without the help and stimulation coming from this particular work of art.,,42 Die in der Abhebung des Subjekts von sich selbst bewirkte Mobilisierung der Spontaneität wird nicht nur vom Text modalisiert, sie wird auch zu den Bedingungen des Textes in eine Bewußtseinsrealität transformiert. Dadurch konstituiert der Text eine jeweilige Bestimmtheit des lesenden Subjekts. "Wir könnten sagen, das Ich als Ich entwickelt sich fortgesetzt durch seine ur­sprünglichen Entscheidungen und ist jeweils ein Pol. mannigfaltiger aktueller Entschiedenheiten, Pol eines habituellen Strahlensystems von aktualisierbaren Potenzen für positive und negative Stellung­nahmen."43 Darin zeichnet sich die Wechselwirkung von Sinnkon­stitution und Bewußtseinsrealität ab, die sich nicht als eindimen­sionaler Vorgang bloßer vom Habitus gesteuerter Projektionen voll­zieht, sondern als dialektische Bewegung, in deren Verlauf der Ha­bitus marginal wird, damit eine von ihm unkontrollierte Sponta-

.1 Ibid., p. 361. In diesem Zusammenhang betont Husserl auch die enge Verbindung von Spontaneität und Rezeptivität.

" Hanns Sachs, The Creative Unconscious. Studies in the Psycho­analysis of Art, Cambridge/Mass. 1942, p. 197.

4' Husserl, Analysen, p. 360.

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neität zu den Formulierungen des Textes ins Bewußtsein treten kann.

Damit verbindet sich eine von W. D. Harding beschriebene Ein­sicht in den Charakter des Lesens: "What is sometimes called wish­fulfilment in novels and plays can ... more plausibly be described as wish-formulation or the definition of desires. The cultural levels at. which it works may vary widely; the process is the same ... It seems nearer the truth ... to say that fictions contribute to defining the reader's or spectator's values, and perhaps stimulating his de­sires, rather than to suppose that they gratify desire . by some me­chanism of vicarious experience."44 Fremdes, das wir noch nicht er­fahren haben, im Akt der Lektüre zu denken, bedeutet daher nicht nur, daß wir es auffassen müssen; es bedeutet darüber hinaus, daß solche Auffassungsakte in dem Maße erfolgreich werden, in dem durch sie etwas in uns formuliert wird. Denn die Gedanken eines anderen lassen sich in unserem Bewußtsein nur formulieren, wenn die vom Text in uns mobilisierte Spontaneität ihrerseits Gestalt gewinnt. Da diese Formulierung geweckter Spontaneität nun zu den Bedingungen eines anderen geschieht, dessen Gedanken wir im Lesen für uns thematisch machen, formulieren wir unsere Spon­taneität nicht zu den für uns geltenden Orientierungen, denn diese hätten der so geweckten Spontaneität nicht zum Licht verholfen. Die im Lesen erfolgende Sinnkonstitution besagt daher Ificht nur, daß wir den in der Aspekthaftigkeit des. Textes implizierten Sinn­horizont zur Erscheinung bringen; sie besagt darüber hinaus, daß in einer solchen Formulierung des Unformulierten immer zugleich die Möglichkeit liegt, uns selbst zu formulieren und dadurch das zu entdecken, was unserer Bewußtheit bisher entzogen schien. In die­sem Sinne bietet Literatur die Chance, durch Formulierung von Unformuliertem uns selbst zu formulieren.

An diesem Punkt mündet die Phänomenologie des Lesens in die moderne Subjektivitäts thematik ein. Schon Husserl hatte das karte-

44 D. W. Harding, "psychological Processes in the Reading of Fiction", in Aesthetics in the Modern World, ed. HalOId Osborne, London 1968, pp. 313 f.; vgl. dazu auch Susanne K. Langer, Feeling and Form. A Theory 01 Art, New York 1953, p. 397.

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sianische cogito als die Selbstvergewisserung des Ich in der Be­wußtheit seines Denkens dahingehend modifiziert, daß er die Dis­krepanzen herausstellte, die sich zwischen den Gewißheitsgraden des cogito und den Ungewißheitsgraden des Bewußtseins aus­spannen.45 Seit der Psychoanalyse wissen wir, daß es einen großen Bereich im Subjekt gibt, der sich i;-ein~; Vielfalt von Symbolen artikuliert und dabei gänzlich dem Bewußtsein verschlossen ist. Solche Schranken im Subjekt machen dann die Implikation des Freudschen Merksatzes: "Wo Es war, soll Ich werden" plausibel. Denn sie besagen, wie es Ricoeur einmal umschrieben hat, daß Freud nun "an die Stelle von Bewußtsein das Bewußt-werden" setzt. "Was Ursprung war, wird zur Aufgabe oder zum Ziel."46

Nun ist das Lesen keine Therapie, die die vom Bewußtsein ab­gesprengten und eik~I11m~nii~rten Symbole in die Kommunika­tion wieder zurückzubringen hätte. Dennoch läßt es erkennen, wie wenig das Subjekt eine Selbstgegebenheit, und sei es auch nur eine solche der eigenen Bewußtheit, ist. Wenn aber die Gewißheit des Subjekts nicht mehr ausschließlich in seiner Bewußtheit gründet, ja noch nicht einmal in jener kartesianischen Minimalbedingung, daß es das ist, als was es sich im Spiegel seiner Bewußtheit wahrnimmt, dann gewinnt die Lektüre fiktionaler Literatur als Mobilisierung von Spontaneität eine nicht unwichtige Funktion im 'Bewußt-wer­den'. Denn diese Spontaneität des Subjekts erscheint vor dem Hin­tergrund vorhandener Bewußtheit, deren marginale Stellung im Lesen nur noch dazu dient, die zu anderen als den eigenen Bedin­gungen geweckte und formulierte Spontaneität ins Bewußtsein auf­zunehmen. Dieser Vorgang wird die vorhandene Bewußtheit selbst nicht unberührt lassen; denn das Aufnehmen erfolgt in dem Maße, in dem die Bewußtheit selbst eine andere Form anzunehmen be­ginnt.

" Vgl. dazu Edmund Husserl, Cartesianisme Meditationen (Gesam­melte Werke 11, Den Haag 21973, pp. 57 f. u. 61 ff .

.. Ricoeur, p. 142.

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IV INTERAKTION VON TEXT UND LESER

A Die Asymmetrie von Text und Leser

1. Bedingungen der Interaktion

Die bisher geführte Diskussion konzentrierte das Interesse vorwie­gend auf die Pole der Kommunikationssituation. Eine abschließende Betrachtung muß den Bedingungen gelten, denen eine solche Kom­munikation entspringt. Das Lesen als eine vom Text gelenkte Ak· tivität koppelt den Verarbeitungsprozeß des Textes als Wirkung auf den Leser zurück. Dieses wechselseitige Einwirken aufeinander soll als Interaktion bezeichnet werden. Sie zu beschreiben, stößt zu­nächst auf Schwierigkeiten, weil die Literaturwissenschaft in diesem Punkte sehr arm an Vorgaben ist und weil sich natürlich die Pole eines solchen Verhältnisses viel besser fassen lassen als das Ge­schehen, das sich zwischen ihnen-abspielt. Dennoch gibt es aus­machbare Bedingungen der Interaktion, die auch für die Text-Leser­Beziehung gelten, wenngleich hier ein besonderer Fall von Inter­aktion vorliegt. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der im Lesen wirksamen Interaktionsbedingungen lassen sich daher im Blick auf Interaktionsmodelle verdeutlichen, wie sie in der Sozialpsychologie und in der psychoanalytischen Kommunikationsforschung entwickelt worden sind. Sie gilt es kurz zu skizzieren.

Die Interaktionstheorie sozialpsychologischer Herkunft,. wie sie durch Edward E. J ones und Harold B. Gerard in ihrem Buch Found­ations of SociaI PsycllOlogy dargestellt worden ist, geht davon aus, wie die Kontingenzbeträge zu typisieren sind, die in jeder zwischen­menschlichen Interaktion stecken bzw. durch diese entstehen. Die dabei ermittelten vier Typen - Pseudokontingenz, asymmetrische Kontingenz, reaktive Kontingenz und wechselseitige Kontingenz -brauchen uns im einzelnen nicht sonderlich zu beschäftigen. Wich­tig ist nur, daß die in aller Interaktion herrschende Unvorherseh­barkeit zur Konstitutionsbedingung für ein typologisch differenzier­bares Interaktionsverhalten der beteiligten Partner zu werden ver­mag.

1. Pseudokontingenz herrscht, wenn die beiden Partner den 'Ver-

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haltensplan' (behavioral plan) des anderen so gut kennen, daß nicht nur die einzelne Entgegnung, sondern auch deren Folge so präzis vorhergesagt werden kann, daß daraus ein Rollenverhalten entsteht, welches der gut geprobten Szene eines Schauspiels gleicht. Diese Ritualisierung der Interaktion bringt die Kontingenz zum Ver­schwinden.

2. Asymmetrische Kontingenz herrscht, wenn der Partner A unter Verzieh t auf die Aktualisierung seines eigenen 'Verhaltensplans' dem des Partners B widerstandslos folgt. Er paßt sich an und wird durch die Verhaltensstrategie von B vereinnahmt.

3. Reaktive Kontingenz herrscht, wenn der jeweilige 'Verhaltens­plan' der Partner unentwegt überdeckt wird von einem momen­tanen Reagieren auf das soeben Gesagte bzw. soeben Erfahrene. Die Kontingenz wird in einem solchen augenblicksorientierten Re­aktionsschema dominant und durchkreuzt alle Ansätze der Partner, den eigenen 'Verhaltensplan' ins Spiel zu bringen.

4. In der wechselseitigen Kontingenz schließlich herrscht das Be­streben, die jeweilige Reaktion sowohl am eigenen 'Verhaltensplan' als auch an den momentan gezeigten Reaktionen des Partners zu orientieren. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: "The interaction might be a triumph of social creativity in which each is enriched by the other, or it might be a spiraling debacle of in­creasingly mutual hostility from which neither benefits. Whatever the content of the interaction's course, there is implied a mixture of dual resistance and mutual change that distinguishes mutual contingency from other classes of interaction."J

Ob mit den genannten Typen das Phänomen der sozialen Inter­aktion schon hinreichend schematisiert ist, kann außer acht blei­ben. Wichtig ist die methodische Folgerung, die sich aus den be­schriebenen Interaktionstypen ableiten läßt. Die entwickelte Typo­logie der Interaktionsverhältnisse ergibt sich aus der Art, durch die jeweils Kontillgenz abgebaut wird. Das aber heißt, Kontingenz ist der Konstitutionsgrund der Interaktion, der allerdings der Inter­aktion in keiner wie immer gearteten Weise vorausliegt und sich

1 Edward E. Jones and Harold B. Gerard, Foundations of Sodal Psy· chology, New York 1967, pp. 505-512 (Zitat 512).

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folglich nicht als vorgegebene Ursache für eine daraus folgende Wirkung fassen läßt. Vielmehr entsteht Kontingenz durch die In­teraktion selbst, da die 'Verhaltenspläne' in der wechselseitigen Reaktion zunächst nicht aufeinander abgestimmt sind, so daß die entstehenden Kontingenzbeträge nun ihrerseits taktische und stra­tegische Einstellungen hervorrufen, ja Interpretationsanstrengungen fordern. Die Interaktion unterwirft die 'Verhaltenspläne' der Part­ner wechselnden Situationstests, wodurch zwangsläufig Defizite ent­stehen, die insofern den Charakter von Kontingenz haben, als sie die Grenzen der Kontrollmöglichkeiten von 'Verhaltensplänen' sichtbar werden lassen. Diese Defizite aber sind im Prinzip produk­tiv. Sie können ebenso eine Umorientierung der Verhaltensstrategie wie eine Modifizierung der 'Verhaltenspläne' bewirken.

Wenn immer das geschieht, wird Kontingenz transformiert, und je nach der Transformationsleistung werden sich unterschiedliche Interaktionstypen herausbilden. Die Kontingenz zeigt so ihre pro­duktive Ambivalenz: sie entsteht aus der Interaktion und ist deren Antrieb zugleich. Je mehr sie abnimmt, desto deutlicher erstarrt die Interaktion zu einem ritualisierten Rollenverhalten; je mehr sie zunimmt, desto inkonsistenter wird die Reaktionsfolge, die so weit gehen kann, daß sie in der Zerstörung der Interaktionsstruktur kul­miniert.

Aus der psychoanalytischen Kommunikationsforschung, wie sie von R. D. Laing, H. Phillipson und A. R. Lee betrieben wird, läßt sich eine sehr ähnliche Konsequenz ableiten, die für die analytische Einstellung zur Interaktion von Text und Leser nicht unwesentlich ist. Laing formuliert das Problem der Interpersonal Perception in dem gleichnamigen Buch wie folgt: "My field of experience is, how­ever, filled not only by my direct view of myself (ego) and of the other (alter), but of what we shall call metaperspectives - my view of the other' s ... view of me. I may not actually be able to see my· self as others see me, but I am constantly supposing them to be seeing me in particular ways, and I am constantly acting in the light of the actual or supposed attitudes, opinions, needs, and so on the other has in respect of me."z Laing geht von der Beobachtung

2 R. D. Laing, H. Phillipson, A. R. Lee, Interpersonal Perception. A Theory and a Method of Research, New York 1966, p. 4.

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aus, daß im Akt zwischenmenschlicher Wahrnehmung die wechsel­seitigen Reaktionen nicht nur durch das bedingt sind, was der ein­zelne Partner vom anderen will, sondern noch einmal durch das Bild, das er sich vom Partner gemacht hat und das folglich die eige­nen Reaktionen in nicht unerheblichem Maße steuert . .solche Bilder indes sind nicht mehr als 'reine' Wahrnehmungen zu qualifizieren; sie sind Resultate von Interpretation. Diese Interpretationsnotwen­digkeit entspringt der Struktur zwischenmenschlicher Erfahrung. Wir haben Erfahrung voneinander, sofern wir unser jeweiliges Ver­halten kennen. Wir haben jedoch keine Erfahrung davon, wie wir uns wechselseitig erfahren bzw. von welcher Art die Erfahrung ist, durch die mich der andere erfährt. Daraus folgert Laing in einem anderen Buch The Politics 01 Experience: " ... your experience 01 me is invisible to me and my experience 01 you is invisible to you. I eannot experienee your experienee. YOu eannot experienee my experienee. We are both invisible men. All men are invisible to one another. Experienee is man's invisibility to man.,,3 Was' uns wech­selseitig nicht gegeben ist, bildet aber den Konstitutionsgrund zwi­schenmenschlicher Beziehungen, den Laing in diskursiver Rede folg­lich nur als "No thing,,4 bezeichnen kann. "That which is really 'between' eannot be named by any things that eome between. The between is itself no-thing.,,5

Nun aber gründet das Verhalten, das wir in zwischenmenschlicher Beziehung zeigen, in diesem no-thing, denn wir reagieren so, als ob wir wüßten, wie uns der Partner erfährt, indem wir uns unent­wegt Vorstellungen davon bilden und danach unser Handeln so ein­richten, als ob sie Realitäten wären. Das heißt, zwischenmensch­liche Beziehung vollzieht sich unter ständiger Bilanzierung dieser zentralen Erfahrungslücke. Aus diesem Ansatz haben Laing, Phillip­son und Lee eine diagnostische Methode entwickelt, die die Aus-

3 R. D. Laing, Tbe Politics of Experience (Penguin Booksl, Harmonds­worth 1968, p. 16.

• Ibid., p. 34. s Ibid.; in diesen Zusammenhang gehört auch die Bemerkung von

Umberto Eeo, Einfübrung in die Semiotik (UTB 105l, übers. von Jürgen Trabant, München 1972, p. 410, daß es "an der Wurzel jeder möglichen Kommunikation keinen Code gibt, sondern die Abwesenheit jeden Codes".

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gleichsprodukte daraufhin untersucht, wie groß jeweils der reine Wahrnehmungskoeffizient, der Koeffizient der projektierenden Triebphantasie und der der Interpretation ist.6 Dieser Sachverhalt kann uns hier im einzelnen nicht weiter interessieren; interessant ist vielleicht nur die experimentell erhärtete Beobachtung, daß die zwischenmenschliche Beziehung in dem Maße pathologische Züge anzunehmen beginnt, in dem die einzelnen Partner die Erfah­rungslücke mit den Projektionen der Triebphantasie mehr oder minder ausschließlich besetzen. Dennoch gilt es festzuhalten, daß es die Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen nicht geben würde, wenn der Ermöglichungsgrund dieser Beziehungen fixiert wäre. Ja, ihr Leben gewil1l1t die dyadische Interaktion überhaupt erst dadurch, daß die Unerfahrbarkeit der wechselseitigen Erfahrung voneinander den Handlungsantrieb konstituiert. Zugleich aber wird der hohe Interpretationsanteil sichtbar, der die Interaktion be­herrscht und reguliert. So wenig wir in der Lage sind, vorausset­zungslos wahrzunehmen, so wenig hat empfangene Wahrnehmung als reine Wahrnehmung einen Sinn. Folglich ist die dyadische Inter­aktion kein Naturereignis, sondern immer eine Interpretations­gestalt, durch die ein Bild vom anderen entsteht, in dem ich mich selbst mit abbilde.

Nun ist es aber keineswegs so, daß die Unerfahrbarkeit dessen, wie wir uns wechselseitig erfahren, den Charakter einer ontologisch fundierten Erfahrungsgrenze besäße. Denn diese Unerfahrbarkeit entsteht in der dyadischen Interaktion selbst, und wollte man sie je als einen Grenzwert verstehen, so doch nur in dem Sinne, daß die sich aus der Interaktion ergebende Begrenzung Anstoß zu ständigem überspielen wird. So produziert die dyadische Interaktion die Negativität der Erfahrung - wenn man einmal die Unerfahr­barkeit dessen, wie wir uns wechselseitig erfahren, so bezeichnen darf - die uns aber nun ihrerseits Anlaß dafür wird, die sich je­weils ergebende Erfahrungslücke durch Interpretation zu schlie­ßen, und die uns gleichzeitig in die Lage versetzt, unsere eigenen Interpretationsgestalten zu dementieren, wodurch wir der Erfahrung fähig bleiben.

• Vgl. Laing, Phillipson, Lee, pp. 18 f.

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Von den skizzierten Modellen scheint sich die Text-Leser-Bezie­hung erheblich zu unterscheiden. Ihr fehlt die face to face situation, der alle Formen sozialer Interaktion entspringen? Denn ein Text vermag sich niemals wie ein Partner der dyadischen Interaktion auf den je konkreten Leser einzustellen, der ihn gerade zur Hand nimmt. Können sich die Partner dyadischer Interaktion durch Rück­fragen versichern, inwieweit die erzeugte Kontingenz kontrolliert bzw. ob das der Unerfahrbarkeit wechselseitiger Erfahrung entsprin­gende Vorstellungsbild der Situation angemessen ist, so wird dem Leser niemals vom Text die ausdrückliche Gewißheit gegeben wer­den, daß seine Auffassungen zutreffend sind. - Darüber hinaus voll­zieht sich die Gesprächshandlung der Partner in dyadischer Inter­aktion unter bestimmten Zweckorientierungen. Sie ist folglich in einen Handlungszusammenhang eingebettet, der als Horizont die Interaktion umgreift und oftmals sogar als ein tertium comparatio­nis funktioniert. Wiederum fehlt dem Verhältnis von Text und Leser ein solcher gemeinsamer Bezugsrahmen. Im Gegenteil, die im Text erkennbare Zerstückelung verschiedener Codes vermag in die­ser Interalüion nicht mehr als Regulativ zu wirken, da es den Code, der die Verbindung zwischen Text und Leser regeln könnte, besten­falls erst aufzubauen gilt. Zielrichtung und Vorgaben also unter­scheiden die Interaktion zwischen Text und Leser von wichtigen Voraussetzungen dyadischer Interaktion.

Doch gerade dieser Mangel ist ein zentraler Antrieb für die Be­gründung eines Verhältnisses, und an diesem Punkt ergibt sich eine entscheidende Gemeinsamkeit mit der dyadischen Interaktion, die dazu berechtigt, die Text-Leser-Beziehung als eine solche der Interalüion zu begreifen. Denn die skizzierten Interaktionsverhält­nisse der sozialen Welt gewinnen ihren Anstoß aus der Kontingenz der Verhaltenspläne bzw. der Unerfahrbarkeit wechselseitiger Er­fahrung, nicht aber aus der gemeinsamen Situation noch aus der die Interaktionspole umspannenden Konvention. Diese funktionie­ren nur als Regulative einer die Interaletion begründenden Unkon­trollierbarkeit bzw. Unerfahrbarkeit. Dem entspricht die fundamen­tale Asymmetrie von Text und Leser, die sich in der mangelnden

7 Vgl. dazu auch E. Goffman, Interaction Ritual. Essays on Face-ta-Face Behavior, New York (Anchor Books) 1967.

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Gemeinsamkeit einer Situation und in der mangelnden Vorgegeben­heit eines gemeinsamen Bezugsrahmens anzeigt. Hier wie dort aber ist der Mangel ein Antrieb, und das heißt, die Unbestimmtheits­grade, die in der Asymmetrie von Text und Leser stecken, teilen mit der Kontingenz bzw. dem no-thing zwischenmenschlicher Inter­aktion die Funktion, Konstituens der Kommunikation zu sein. Die Unbestimmtheitsgrade der Asymmetrie, der Kontingenz und des no-thing sind daher nur verschiedene Formen einer konstitutiven Leere, durch die sich Interaktionsverhältnisse begründen. Diese Leere ist den genannten Verhältnissen jedoch nicht wie ein onto­logisches Fundament vorgegeben, sondern bildet und verändert sich durch das herrschende Ungleichgewicht in dyadischer Interaktion bzw. in der Asymmetrie von Text und Leser. Das Gleichgewicht läßt sich nur über die Aufhebung des Mangels einpendeln, weshalb die konstitutive Leere ständig durch Projektionen besetzt wird. Die Interaktion scheitert, wenn die wechselseitigen Projektionen der Partner keine Veränderung erfahren bzw. wenn die Projektionen des Lesers sich widerstandslos dem Text überlagern. Verfehlen heißt daher immer, die Leere mit den eigenen Projektionen vollständig zu besetzen. Da aber der Mangel projektive Vorstellungen mobilisiert, kann sich auch das Text-Leser-Verhältnis nur über deren Verände­rung einstellen. So provoziert der Text ständig eine Vorstellungs­vielfalt des Lesers, durch die sich die herrschende Asymmetrie in die Gemeinsamkeit einer Situation aufzuheben beginnt. Die Kom­plexhaftigkeit der Textstruktur erschwert indes die glatte Besetzung dieser Situation durch die Vorstellungen des Lesers. Erschwerung heißt, daß Vorstellungen preisgegeben werden müssen. In einer solchen vom Text bewirkten Korrektur mobilisierter Vorstellung bildet sich ein Bezugshorizont der Situation. Diese gewinnt in dem Maße Kontur, in dem der Leser selbst seine Projektionen zu korri­gieren vermag. Denn nur so kann er etwas erfahren, das bisher nicht in seinem Horizonrlag. Diese Erfahrung reicht dann von einer distanzierten Vergegenständlichung dessen, worin er befangen ist, bis zur Evidenz der Selbsterfahrung, die ihm das Verstricktsein in die pragmatischen Handlungszusammenhänge der Lebenswelt ge­rade nicht erlaubte. In diesem Vorgang hebt sich die Asymmetrie von Text und Leser auf. Die dyadische Interaktion hingegen hebt

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sich nur im Herstellen pragmatischer Handlungszusammenhänge auf. Deshalb ist sie in ihren Voraussetzungen auch bestimmter, angezeigt durch die Situationsgebundenheit sowie den gemeinsamen Bezugsrahmen der interagierenden Partner. Dagegen ist die Asym­metrie von Text und Leser von vornherein unbestimmter, doch in den angestiegenen Unbestimmtheitsbeträgen stecken gleichsam viel­fältigere kommunikative Möglichkeiten.

Um sie realisieren zu können, müssen Steuerungskomplexe im Text vorhanden sein, da die Kommunikation zwischen Text und Leser erst dann zu gelingen vermag, wenn sie kontrolliert bleibt. Steuerungskomplexe dieser Art können indes nicht von jener in­haltlichen Bestimmtheit sein, wie sie die face to face situation so­wie die Gemeinsamkeit eines sozialen Codes auszeichnet, die die dyadische Interaktion regulieren. Ihnen obliegt es folglich, die Inter­aktion zwischen Text und Leser in Gang zu bringen, einen Kom­munikationsprozeß entstehen zu lassen, an dessen Ende ein vom Leser konstituierter Sinn erscheint, der schwer referentialisierbar ist, aber gerade die Bedeutung vorhandener Sinnstrukturen zu bestreiten sowie gegebene Erfahrung zu verändern vermag. Solche Steuerungs­komplexe lassen sich jedoch nicht als eine positive, vom Kommuni­kationsprozeß unabhängige Größe fassen. Dafür ist eine Bemerkung charakteristisch, die Virginia Woolf in einer Betrachtung der Romane von Tane Austen gemacht hat. Eine Romanautorin beschreibt den Kommunikationsprozeß im Roman einer anderen Autorin wie folgt: "Tane Austen is thus amistress of much deeper emotion than ap­pears upon the surfaee. She stimulates us to supply what is not there. What she offers is, apparently, a trifle, yet is eomposed of something that expands in the reader's mind and endows with the most enduring form of life seenes which are outwardly trivial. Al­ways the stress is laid upon charaeter ... The turns and twists of the dialogue keep us on the tenterhooks of suspense. Our attention is half upon the present moment, half upon the future ... Here, indeed, in this unfinished and in the main inferior story, are all the elements of Tane Austen's greatness."8 Das Verschwiegene in

I> Virginia Woolf, The Common Reader, First Series, London '1957, p. 174. In diesem Zusammenhang sind auch Virginia Woolfs Bemerkun-

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scheinbar trivialen Szenen und die Leerstellen in den Gelenken des Dialogs stimulieren den Leser zu einer projektiven Besetzung des Ausgesparten. Sie ziehen den Leser in das Geschehen hinein und veranlassen ihn, sich das Nicht-Gesagte als das Gemeinte vorzu­stellen. Daraus entspringt ein dynamischer Vorgang, denn das Ge­sagte scheint erst dann wirklich zu sprechen, wenn es auf das ver­weist, was es verschweigt. Da aber das Verschwiegene die Impli­kation des Gesagten ist, gewinnt es dadurch seine Kontur. Gelingt es, das Verschwiegene in der Vorstellung zu verlebendigen, dann bringt es das Gesagte vor einen Hintergrund, der es nun - wie Vir­ginia Woolf meint - ungleich bedeutsamer erscheinen läßt, als es das im Gesagten Bezeichnete vermuten ließe. Dadurch erscheinen dann triviale Szenen als Ausdruck einer überraschenden Lebensmächtig­keit (enduring form of life). Diese ist im Text selbst sprachlich nicht manifestiert, sondern stellt sich als Produkt ein, das aus der Ver­schränkung von Text und Leser entsteht. Der Kommunikations­prozeß wird also nicht durch einen Code, sondern durch die Dia­lektik von Zeigen und Verschweigen in Gang gesetzt und reguliert. Das Verschwiegene bildet den Antrieb der Konstitutionsakte, zu-

gen über die Charakterkomposition ihrer eigenen Romane aufschluß­reich. Sie vermerkt in ihrem Tagebuch: "I'm thinking furiously about Reading and Writing. I have no time to describe my plans. I should say a good deal about The ROllIS and my discovery: how I dig out beautiful caves behind my characters: I think that gives exactly wh at I want; humanity, humour, depth. The idea is that the caves shall connect and each comes to daylight at the present moment." A Writer's Diary. Being Extracts from the Diary of Virginia WooIf, ed. Leonard Woolf, London 1953, p. 60. Die von den "beautiful caves" erzeugte Suggestiv­wirkung der Charaktere setzt sich in ihrem Werk fort durch das, was sie ausläßt. Dazu hat T. S. Eliot einmal bemerkt: "Her observation, which operates in a continuous way, implies a vast and sustained work of organisation. She does not illumine with sudden bright flashes but diffuses a soft and placid light. Instead of looking for the primitive, she looks rather for the civilized, the highly civilized, where neverthe­less something is found to be Ielt out. And this something is delibera­tely left out, by what could be called a moral effort of the will. And, being left out, this something is, in a sense, in a melancholy sense, present." "T. S. Eliot, 'places' Virginia Woolf for French Readers", in Virginia Waalf. The Critical Reritage, ed. Robin Majumdar and Allen McLaurin, London 1975, p. 192.

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gleich aber ist dieser Produktivitätsreiz durch das Gesagte kontrol­liert, das sich seinerseits wandelt, wenn das zur Erscheinung ge­bracht wird, worauf es verwiesen hat.

Die von Virginia Woolf formulierte Beobachtung hat ihr Funda­ment im spezifischen Charakter der Sprache, den Merleau-Ponty einmal wie folgt beschrieben hat: "Das Fehlen eines Zeichens kann selbst ein Zeichen sein, und das Ausdrücken besteht nicht darin, daß jedem Sinnelement ein Element der Sprache angepaßt wird, sondern in einem Einwirken der Sprache auf die Sprache, das sich plötzlich in Richtung auf ihren Sinn hin verlagert. Sprechen heißt nicht, jedem Gedanken ein Wort unterschieben: wenn ~ir es täten, würde niemals etwas gesagt werden, und wir hätten nicht das Ge­fühl, in der Sprache zu leben, wir würden im Schweigen verharren, weil das Zeichen sofort vor einem Sinn verlöschen würde ... Wenn die Sprache darauf verzichtet, die Sache selbst auszusprechen, bringt sie dies unumstößlich zum Ausdruck ... Die Sprache bedeutet, wenn sie, anstatt den Gedanken zu kopieren, sich durch diesen auf­lösen und wieder herstellen läßt."9

Ist der Text ein System solcher Kombinationen, dann muß er auch eine Systemstelle für denjenigen haben, der die Kombination realisieren soll. Diese ist durch die Leerstellen gegeben, die als be­stimmte Aussparungen Enklaven im Text markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten. Denn es kennzeichnet die Leerstellen eines Systems, daß sie nicht durch das System selbst, sondern nur durch ein anderes System besetzt werden können. Ge­schieht dies, dann kommt im vorliegenden Falle die Konstitutions­aktivität in Gang, wodurch sich diese Enklaven als ein zentrales Umschaltelement der Interaktion von Text und, Leser erweisen. Leerstellen regulieren daher die Vorstellungstätigkeit des Lesers, die nun zu Bedingungen des Textes in Anspruch genommen wird. Eine weitere Systemstelle im Text für diese Interaktion sind die verschie­denen Negationspotentiale, durch die bestimmte Durchstreichungen im Text erfolgen. Leerstellen und Negationspotentiale steuern den sich entfaltenden Kommunikationsvorgang auf unterschiedliche

, M. Merleau-Ponty, Das Auge u~d der Geist. Philosophische Essays, übers. von Hans Werner Arndt, Reinbek 1967, pp. 73 f.

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Weise, wirken aber gerade deshalb im Endeffekt als kontrollierende Instanzen wieder zusammen. Die Leerstellen sparen die Beziehun­gen zwischen den Darstellungsperspektiven des Textes aus und zie­hen dadurch den Leser zur Koordination der Perspektiven in den Text hinein: sie bewirken die kontrollierte Betätigung des Lesers im Text. Die Negationspotentiale rufen Bekanntes oder Bestimmtes auf, um es durchzustreichen; als Durchgestrichenes jedoch bleibt es im Blick und verursacht angesichts seiner gelöschten Geltung Modi­fizierungen in der Einstellung: die Negationspotentiale bewirken damit die Situierung des Lesers zum Text. Durch die Leerstellen so­wie die Negationen des Textes gewinnt die der Asymmetrie von Text und Leser entspringende Konstitutionsaktivität eine bestimmte Struktur, die den Interaktionsprozeß aussteuert.

2. Ingardens Konzept der Unbestimmtheitsstellen

Der Darlegung dieses Sachverhalts muß eine kurze Betrachtung des verwandten Konzepts vorgeschaltet werden, das Ingarden unter dem Begriff der Unbestimmtheitsstellen des Textes entwickelt hat. In dem Versuch, die Gegebenheitsweise des Kunstwerks zu beschrei­ben, greift Ingarden auf den phänomenologischen Orientierungs­rahmen der Gegenstandsbestimmung zurück. Danach gibt es reale Gegenstände, die allseitig bestimmt, und ideale Gegenstände, die seinsautonom sind. Reale Gegenstände gilt es zu erfassen, ideale zu konstituieren. In beiden Fällen handelt es sich um Akte mit mög­licher Finalität: sie enden im vollkommenen Erfaßtsein des realen und im vollkommenen Konstituiertsein des idealen Gegenstandes. Das Kunstwerk unterscheidet sich von den genannten Gegebenheits­weisen der Gegenstände dadurch, daß es seinem Charakter nach ein intentionaler Gegenstand ist. Dieser besitzt weder die allseitige Bestimmtheit des realen noch die Seinsautonomie des idealen Ge­genstandes, denn er ist ein solcher, der entworfen wird. Intentiona­fen Gegenständen fehlt es insofern an vollkommener Bestimmtheit, als diese von den Sätzen des Textes erst angezielt wird, woraus sich dann ein schematisches Gebilde ergibt, das Ingarden als die darge­stellte Gegenständlichkeit des Kunstwerks bezeichnet. liDer darge-

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stellte, seinem Gehalte nach 'reale' Gegenstand ist kein im echten Sinne allseitig vollkommen eindeutig bestimmtes Individuum, das eine ursprüngliche Einheit bildet, sondern nur ein s ehe m a ti -sc he s Gebilde mit verschiedenartigen Unbestimmtheitsstellen und mit einer endlichen Anzahl von den ihm positiv zugewiesenen Be­stimmtheiten, obwohl er formaliter als ein vollbestimmtes Indivi­duum entworfen wird und ein solches Individuum vorzutäuschen berufen ist. Dieses schematische Wesen der dargestellten Gegen­stände läßt sich in keinem endlichen literarischen Werke beseiti­gen, obwohl im Fortgange des Werkes immer neue Unbestimmt­heitsstellen durch Ergänzung neuer, positiv entworfener Eigenschaf­ten ausgefüllt und damit beseitigt werden können." IO

So dienen die Unbestimmtheitsstellen Ingarden zunächst dazu, den intentionalen Gegenstand des Kunstwerks von anderen Gegen­standsbestimmungen abzuheben. Durch diese Funktion indes be­kommt der Begriff der Unbestimmtheitsstellen eine Ambivalenz, die in dem zitierten Passus bereits durchzuscheinen beginnt, wenn Ingarden davon spricht, daß der niemals voll bestimmte intentionale Gegenstand dennoch so angelegt sein muß, daß seine volle Be­stimmtheit wenigstens als eine vorgetäuschte erscheint. Nun aber weist Ingarden den Unbestimmtheitsstellen neben der genannten Funktion der Gegenstandsdifferenzierung auch einen Anteil an der Konkretisation des Werkes zu. Dabei kommt jedoch die Ambivalenz dieses Begriffs voll zum Vorschein. Sie läßt sich in verschiedener Hinsicht verdeutlichen.

Wenn der intentionale Gegenstand eine den realen Gegenstän­den gleichzusetzende Bestimmtheit vorzutäuschen hat, diese Be­stimmtheit jedoch allenfalls erst im komplementären Akt der Kon­kretisation erreichen kann, dann müssen die Unbestimmtheitsstel­len sowie die Konkretisationen bestimmten Beschränkungen unter­worfen werden, damit die Täuschung der Bestimmtheit gelingt. Denn die Unbestimmtheitsstellen machen den intentionalen Ge­genstand des Werkes offen, um nicht zu sagen unabschließbar, so daß ihre nach Ingarden im Konkretisationsakt erfolgende Ausfül­lung prinzipiell ein Konkretisationsspektrum zulassen müßte. Doch

10 Roman Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Tübingen '1960, p. 266.

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Ingarden unterscheidet zwischen richtigen und falschen Konkreti­sationen des Werks.u Dieses Postulat entspringt der Notwendigkeit, dem intentionalen Gegenstand des Kunstwerks, wenn nicht in sei­ner Textgestalt, so doch spätestens in seiner Konkretisation die­jenige Finalität zu sichern, die den Auffassungsakten realer bzw. den Konstitutionsakten idealer Gegenstände immer schon zukommt. Nun ist es unbestritten, daß in der Konkretisation durch den kon­stituierten Sinn die Bestimmtheit des Werks entsteht. Nur fragt es sich, ob diese Bestimmtheit nicht eher eine individuelle des Lesers und weniger eine solche ist, die der Referenz von richtig oder falsch unterliegt. Denn Ingarden kann nicht gemeint haben, daß die Be­stimmtheit des Werks nur über die Vortäuschung einer Referenz zu gewinnen sei. Für ihn verkörpert die polyphone Harmonie, zu der die Schichten des Kunstwerks zusammenklingen, eine unum­stößliche Realität, die allein deshalb nicht als eine vorgetäuschte begriffen werden kann, weil in ihr der ästhetische Wert sowie des­sen Verwirklichung in der richtigen Konkretisation ihren Ursprung haben. Deshalb vollzieht sich für ihn der Aufbau des Kunstwerks als eines schematischen Gebildes in einer Folge von Bestimmungs­akten, die sich auf die leer gebliebenen Seiten der jeweils entrollten Ansicht beziehen. "Aber in je der Ansicht eines Dinges sind er­füllte und unerfüllte Qualitäten vorhanden, und es ist prinzipiell unmöglich, die unerfüllten Qualitäten übe r haupt zum Verschwin­den zu bringen."12 Daraus folgt, daß die angesichts der Mannig­faltigkeit der Ansichten jeweils erfolgende Bestimmung gerade durch diesen Akt den Betrag der Unbestimmtheit proportional an­steigen läßt. Dafür liefert die moderne Literatur die klassischen Bei­spiele. Te mehr ein Text seinen Darstellungsraster verfeinert, und das heißt, je mannigfaltiger die schematisierten Ansichten sind, die den Gegenstand des Textes entwerfen, desto unverkennbarer wächst dessen Unbestimmtheit. Hält man jedoch am polyphonen Charak­ter fest, zu dem sich die Schichten des Kuristwerkes zusammen­fügen müssen, dann gibt es Toleranzen für Unbestimmtheits be-

11 Vgl. dazu u. a. Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarisdum Kunstwerks, Tübingen 1968, pp. 142, 156, 169 H., 178.

12 Ingarden, Kunstwerk, p. 277.

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träge, deren kritische Erhöhung zwangsläufig den polyphonen Cha­rakter des Werkes sprengen muß - ja, ihn überhaupt gar nicht erst entstehen läßt. Ingarden argumentiert folglich auch ganz konse­quent, wenn er meint, daß Unbestimmtheit für die "Konstituie­rung gewisser ästhetisch relevanter Qualitäten"!3 im Konkretisa­tionsakt eine durchaus negative Wirkung zu entfalten vermag, in­dem ihre Ausfüllung "entweder die Konstituierung solcher Quali­täten verhindert oder zur Konstituierung einer solchen Qualität führt, die mit den übrigen ästhetisch valenten Qualitäten einen Mißklang bildet."14

Da einer solchen Konsequenz die moderne Literatur weithin zum Opfer fällt, - denn hier herrscht "Mißklang" als zentrale Kommu­nikationsbedingung - wird deutlich, welche Funktion Ingarden den Unbestimmtheitsstellen zumißt. Sie dienen einmal dazu, den in­tentionalen Gegenstand von anderen Gegenstandsbestimmungen abzuheben, müssen jedoch zum anderen in ihren Auswirkungen durch ein Postulat - das des polyphonen Charakters des Kunst­werks - eingeschränkt werden, weil dadurch dem intentionalen Ge­genstand erst jene Abgeschlossenheit zukommt,. durch die er sich als ein Gegenstand qualifiziert. Fast hat es den Anschein, als ob die­ser Systemzwang den Gedanken von der Konkretisation des Werkes notwendig gemacht hätte, weil allein durch die Konkretisation der prinzipiell unfertige Gegenstand des literarischen Werks die notwen­dige Erfüllung finden kann. Ein solcher Verdacht stützt sich zu­nächst auf die von Ingarden postulierte 'richtige' Konkretisation. Diese impliziert eine Norm, die im Konkretisationsakt entweder erfüllt oder verfehlt wird. Orientierungen einer solchen Norm bil­den für Ingarden der ästhetische Wert und die metaphysischen Qualitäten des Werks. Von dem Wert sagt Ingarden, daß er schwer zu beschreiben und daher allererst noch zu erforschen seils; von den metaphysischen Qualitäten meint er, daß sich der Leser in sie ein-

13 Ingarden, Vom Erkennen, p. 300. 14 Ibid. U Vgl. dazu Roman Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübin­

gen 1969, pp. 21-27 passim.

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fühlen mußl6, da sie sich in Sprache nicht zeigen lassen. Also wären beide zentrale Leerstellen, die der Leser durch seine Vorstellungen besetzt, um den Sinn des Werkes zu konstituieren. Eine solche Kon­sequenz indes dürfte kaum auf der Linie der von Ingarden ent­wickelten Argumentation liegen. Wenn sie sich dennoch aufdrängt, so vorwiegend deshalb, weil ästhetischer Wert und metaphysische Qualitäten als Bedingung und Zielpunkt derjenigen Norm, die die richtige Konkretisation kontrolliert, in so hohem Maße unbestimmt bleiben. Der Verzicht auf ihr notwendiges Bestimmtsein ließe sich nur rechtfertigen, wenn sie ihr Fundament in der Konkretisation selbst hätten, durch die sie zur Erscheinung kommen; doch das hieße, ästhetischen Wert und metaphysische Qualitäten einem blo­ßen Aktualisierungsvorgang zu überantworten, während sie doch für Ingarden ein Realitätsfundament besitzen, das sich nicht auf die Konkretisation einschränken läßt. Darüber hinaus müßte dann auch das Postulat der richtigen Konkretisation preisgegeben werden, denn dieses läßt sich nur halten, solange ästhetischer Wert und me­taphysische Qualitäten transzendental zum Konkretisationsakt blei­ben.

Dieser Sachverhalt treibt nun die Ambivalenz des Konkretisa­tionsbegriffs heraus, der - um es thesenhaft zu formulieren - wie ein Kommunikationsbegriff gebraucht wird, ohne ein solcher zu sein. Denn er bezeichnet nicht die Interaktion zwischen Text und Leser, sondern die Aktualisierung der vom Text parat gehaltenen Ansichten im Lektürevorgang, und das heißt, statt eines reziproken Verhältnisse meint er ein unilineares Gefälle vom Text zum Le­ser. Aus dieser Sicht ist es dann auch konsequent, den ästhetischen Wert und metaphysische Qualitäten zu postulieren, da diese die notwendige Bezugsinstanz verkörpern, über die sich die Verbindung zwischen dem schematischen Gebilde des Textes und dessen Kon­kretisation durch den Leser als ein geregelter Vorgang vollzieht. Ästhetischer Wert und metaphysische Qualitäten treten bei Ingarden an die Stelle der Asymmetrie zwischen Text und Leser, um die Funktion eines Codes auszuüben, der die richtigen Konkretisatio­nen gewährleistet. Doch genau an diesem Punkt beginnt der Kon-

16 Vgl. dazu u. a. Ingarden, Vom Erkennen, pp. 275 f.

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kretisationsbegriff - um es mit einem Ausdruck Ingardens zu sa­gen - zu opalisieren. Denn die beiden transzendentalen Kontroll­und Organisationsinstanzen bleiben angesichts ihrer Funktion zu unbestimmt, so daß sich die Frage aufdrängt, ob Ingarden am Ende nicht doch den für alle Kommunikation notwendigen Unbestimmt­heitsbetrag lediglich aus der GelenksteIle zwischen Text und Leser heraus- und in das postulierte, referentielle Schema eines tertium comparationis, das die Beziehung zweier unterschiedlicher Positio­nen reguliert, hineinverlagert hat. Denn nur so bleibt der hybride Charakter des Konkretisationsbegriffs plausibel, der zur Beschrei­bung eines kommunikativen Verhältnisses eingesetzt wird, ohne es seiner Natur nach bezeichnen zu können. Dieser Sachverhalt dürfte noch zwingender hervortreten, wenn man den Blick von der bisher diskutierten Herkunft der Unbestimmtheitsstellen nun auf deren Funktion lenkt. Daß sie für die Konkretisation eine Rolle spielen, hat Ingarden an mehreren Stellen seiner beiden Bücher immer wie­der betont. Sie dienen ihm in erster Linie dazu, Text und Konkre­tisation voneinander z.u sondern. "Nun, das Prinzip der Unterschei­dung des literarischen Kunstwerks selbst von seinen Konkretisatio­nen liegt in der Behauptung, daß das Werk selbst Unbestimmtheits­stellen sowie verschiedene potentielle Elemente (wie z. B. die An­sichten, die ästhetisch relevanten Qualitäten) enthält, während sie in einer Konkretisation zum Teil beseitigt, bzw. aktualisiert wer­den.,,17 Die hier vorgenommene Parallelisierung von Unbestimmt­heitsstellen mit potentiellen Elementen ist deshalb aufschlußreich, weil sie angesichts ihrer gemeinsamen Funktion, das Werk von sei­ner Konkretisation abzuheben, ganz offensichtlich unterschiedliche Rollen für den Konkretisationsvorgang spielen. Unbestimmtheits­stellen gilt es zu beseitigen, potentielle Elemente zu aktualisieren. Die beiden Operationen sind kaum miteinander synchronisiert. Wenn daher Unbestimmtheitsstellen ausgefüllt oder ergänzt wer­den, heißt dies für Ingarden nicht, daß sie sich dadurch in Antriebe für die Aktualisierung der potentiellen Elemente wandeln würden. Denn die Aktualisierung dieser Elemente besorgt die Ursprungs­emotionj "sie ist der eigentliche Anfang des spezifischen Vorgangs

17 Ibid., p. 250.

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des ästhetischen Erlebnisses." 18 Durch sie entsteht jene Turbulenz im Leser, die das Auslösen der Konstitutionsaktivität verursacht und die ihrerseits im Hervorbringen des ästhetischen Gegenstandes ihre Beruhigung findet. "Die Ursprungsemotion ist nämlich voll innerer Dynamik, des Unbefriedigtseins oder eines gewissen Hungers, der dort und nur dort auftritt, wo wir durch eine Qualität bereits er­regt worden sind, es uns aber noch nicht gelungen ist, sie in un­mittelbar anschaulichem Erleben so zu erschauen, daß wir uns an ihr berauschen könnten. In diesem Zustand des Unbefriedigtseins (des 'Hungers') kann man - wenn man will - ein Moment des Unbehagens, der Unannehmlichkeit sehen, aber nicht in dieser Unannehmlichkeit, sondern in der inneren Unruhe, in dem Un­befriedigtsein besteht das Charakteristische der Ursprungsemotion als erster Phase des ästhetischen Erlebnisses. Sie ist eben deswegen eine Ursprungsemotion, weil sich aus den in ihr vorhandenen Mo­menten eines spezifischen Begehrens sowohl der weitere Verlauf des ästhetischen Erlebnisses entwickelt als auch die Bildung seines intentionalen Korrelats, des ästhetischen Gegenstandes."19

So motivieren die Kategorien der Einfühlungsästhetik bzw. der 'emotive theory' für Ingarden den Zusammenhang zwischen Text und Leser, dessen Entwicklung mit dem Hervorbringen des ästheti­schen Gegenstandes als eines stimmigen Gebildes zusammenfällt. Für diesen Vorgang besitzen die Unbestimmtheitsstellen einen unter­geordneten Rang. Denn nicht sie, sondern die Ursprungs emotion bringt die Konkretisation in Gang. Unbestimmtheitsstellen hin­gegen gilt es nur auszufüllen oder zu ergänzen. Doch selbst dieser bescheidenen Aktivität, die sie im Leser auszulösen vermögen, sind enge Grenzen gezogen. Denn die "Berücksichtigung der Möglichkeit der Konstituierung ästhetisch valenter Qualität führt zur Notwen­digkeit einer weiteren Einengung der Variabilitätsgrenzen der künst­lerisch zugelassenen Ausfüllungen der einzelnen Unbestimmtheits­stellen.,,20 Folglich meint Ingarden, daß nicht alle Unbestimmtheits­stellen unbedingt ausgefüllt werden müssen, ja, daß dort, wo ein

I! Ibid., p. 195. " Ibid., p. 198. 20 Ibid., p. 301.

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Ausfüllungsvorbehalt besteht, sich der Leser plötzlich als Banause ertappt sieht, wenn er angesichts solcher Einschränkungen nicht an­gemessen reagiert. "Der weniger kultivierte Leser, der künstlerische Dilettant, von dem Moritz Gei ger spricht, den nur die Schicksale der dargestellten Menschen interessieren, achtet das Verbot zur Be­seitigung solcher Unbestimmtheitsstellen nicht und macht durch geschwätziges Ergänzen dessen, was nicht ergänzt zu werden braucht, aus gut gestalteten Kunstwerken billige, ästhetisch irritierende Klatschliteratur.,,21 Immerhin ist damit eingeräumt, daß dem Aus­füllen von Unbestimmtheitsstellen für die Konstituierung des Ge­genstandes eine so weitreichende Wirkung zukommt, daß durch sie hohe Kunst im Konkretisationsvorgang zu Kitsch transformiert wer­den kann. Daraus folgt, daß Unbestimmtheitsstellen wenigstens po­tentiell einen nicht unerheblichen Anteil an der Gegenstandskon­stituierung haben können - nur darf ihnen dieser dann nicht in vollem Ausmaß zugestanden werden, wenn man, wie Ingarden, an der Ursprungsemotion als dem tertium comparationis von Text und Leser festhält, das den Konkretisationsvorgang allererst auslöst. Deshalb bleiben die Unbestimmtheitsstellen für Ingarden bei aller Suggestion, die von ihnen ausstrahlt und die er auch für die Kon­kretisation in Anschlag bringt, doch problematisch, weil man durch sie die Harmonisierung der Schichten unterbrechen und damit den ästhetischen Wert des Kunstwerks letztlich alterieren kann.

Wenn aber nun Unbestimmtheitsstellen manchmal ausgefüllt wer­den, manchmal offen bleiben, ja manchmal auch übergangen wer­den sollen, so stellt sich die Frage nach den Kriterien, die diesen Vorgang wenigstens in etwa regeln. Hierauf gibt Ingarden keine explizite Antwort; sie ist jedoch aus den Positionen seiner Theorie zu erschließen. Der polyphone Zusammenklang der Schichten des Kunstwerks vollendet sich in der Stimmigkeit, und diese darf letzt­lich nicht aufgehoben werden, soll es zum ästhetischen Erlebnis kommen. Damit verträgt sich der von Ingarden im Blick auf die Unbestimmtheitsstellen verwendete Sprachgebrauch. Es gilt, diese zu beseitigen, auszufüllen bzw. zu ergänzen. Sie sollen entweder verschwinden oder komplettiert werden, damit jener Zusammen-

21 Ibid., p. 304.

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klang der Schichten entsteht, durch den die ästhetisch valenten Qualitäten hervortreten können. Diesem Ziel dient der Abbau bzw. die Komplettierung vorhandener Unbestimmtheitsstellen im Text. Will man in diesem Vorgang mehr sehen als nur den Versuch, auch dem intentionalen Gegenstand des Kunstwerks die notwendige Fi­nalität zu sichern, und das heißt, will man in den Unbestimmt­heitsstellen trotz des untergeordneten Ranges, der ihnen durch die Ursprungs emotion als dem eigentlichen Antrieb der Konkretisation zugewiesen wird, dennoch Kommunikationsbedingungen erblicken, so ließen sich diese als solche der Illusionskunst qualifizieren.

Diese Folgerung verträgt sich durchaus mit der von Ingarden ge­gebenen Beschreibung des intentionalen Gegenstandes. Denn dort hieß es, daß dieser, obwohl prinzipiell unfertig, dennoch eine indi­viduelle Bestimmtheit des Kunstwerks vorzutäuschen habe. Der Ver­wirklichung dieser Täuschungsabsicht dienen dann sowohl die Be­seitigung wie auch die Komplettierung der Unbestimmtheitsstellen, denn sie sind es letzten Endes, die das Unabgeschlossensein des in­tentionalen Gegenstandes anzeigen und die folglich in der Konkre­tisation beseitigt werden müssen, damit sich die Bestimmtheit des ästhetischen Gegenstandes herstellen läßt. Wenn es sich so verhält, dann besitzen Unbestimmtheitsstellen als kommunikative Bedin­gung für den Konkretisationsvorgang eine begrenzte historische Be­deutung: Denn Unbestimmtheitsstellen zum Verschwinden bringen heißt, die Illusion einer Geschlossenheit zu erzeugen; diese aber bildet das Prinzip der Illusionskunst.

Ingarden hat dann auch in späteren Zusätzen zu seinem Buch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks gelegentlich bemerkt, wie problematisch die moderne Literatur mit ihren "oft auftreten­den, gewissermaßen programmatischen UnverständlichkeitenJ/22 er­scheint, zu denen er keinen rechten Zugang mehr zu finden vermag. Nun kommen solche "programmatischen UnverständlichkeitenJ/ in moderner Literatur vorwiegend dadurch zustande, daß Information oftmals sehr gezielt entzogen wird; folglich breiten sich die Unbe­stimmtheitsstellen in einem Maße aus, das ihre einfache Beseitigung oder ihre sichere Komplettierung unmöglich macht. Hier gerät die

" Ibid., p. 278 Fußnote (Zusatz aus dem Jahre 1967).

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Funktion außer Kurs, die Ingarden ihnen zugeschrieben hat. Da­durch beginnt der Begriff der Unbestimmtheitsstelle einen ähnlich hybriden Charakter anzunehmen, wie er schon den Konkretisations­begriff kennzeichnete. Solange die Unbestimmtheitsstellen als Cha­rakteristik des intentionalen Gegenstandes dienen, sind sie syste­matisch gemeint; doch da sie angesichts der Unfertigkeit des lite­rarischen Gegenstandes auch als ein Rezeptionsbegriff verstanden sind, schränkt sich in diesem Falle ihre Geltung auf eine historisch bestimmte Form der Literatur, die der Illusionskunst, ein. Als Kenn­zeichnung des intentionalen Gegenstandes funktionieren die Un­bestimmtheitsstellen auch für die moderne Literatur. Als Rezep­tionsbegriff indes vermögen sie allenfalls noch den ruinierten ästhe­tischen Wert anzuzeigen, wenn sie nicht am Ende sogar selbst des­sen Entstellung bewirken. Wie dem im einzelnen auch sei, den Un­bestimmtheitsstellen sind auf der Gegenstandsseite und auf der Re­zeptionsseite des Werks sehr unterschiedliche Parameter zugemessen, durch die sich die Reichweite ihrer jeweiligen Bedeutung bestimmt.

Die herabgesetzte Bedeutung der Unbestimmtheitsstellen für die Rezeption wird vollends deutlich, wenn man danach fragt, wie sich Ingarden das Ausfüllen der Unbestimmtheitsstellen denkt. "Wenn z. B. in einer Erzählung über die Schicksale eines sehr alten Herrn gesprochen, aber zugleich nicht gesagt wird, welcher Farbe seine Haare sind, so kann ihm in der Konkretisation prinzipiell jede be­liebige Haarfarbe zugeschrieben werden, aber wahrscheinlicher ist es, daß er eben grauhaarig ist. Denn hätte er tiefschwarze Haare -trotz seines hohen Alters - so wäre es eben als etwas Bemerkens­wertes, für den betreffenden alten, aber doch wenig gealterten Mann Wichtiges durch den Text festgelegt. So ist es, wenn dies aus ir­gendwelchen künstlerischen Gründen ratsam ist, wahrscheinlicher und empfehlenswerter, diesen Mann mit grauen Haaren zu kon­kretisieren, als ihm tiefschwarze Haare zuzuschreiben. Und eine der­artige Weise der Konkretisierung dieser Einzelheit in der Konkreti­sation läßt sie dem Werk näher stehen als andere Konkretisatio­nen, in welchen diese Angelegenheit anders gelöst würde."23 Ingar­den selbst hat dieses Beispiel als banal bezeichnet; dennoch lassen

23 Ibid., p. 409.

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sich in seinen beiden Büchern immer nur banale Beispü~le finden, wenn man nach konkreter Veranschaulichung dafür sucht, was man sich unter dem Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen eigentlich vorzustellen hat. Doch nicht dieser an sich signifikante Tatbestand ist hier von Interesse, sondern eher die recht mechanisch gedachte Ergänzung der Unbestimmtheitsstellen. Denn es fragt sich, ob die nicht genannte Haarfarbe des alten Herrn - in einem anderen Bei­spiel sind es die nicht genannten blauen Augen des Konsuls Bud­denbrook24 - sich in der Konkretisation dann auch wirklich einstellt, damit das Bild des alten Mannes jenen Grad der Bestimmtheit er­reicht, der eigentlich nur der optischen Wahrnehmung zukommt. Das aber hieße: die Konkretisation muß den Gegenstand so hervor­bringen, daß er zumindest die Illusion einer Wahrnehmung erzeugt. Die Wahrnehmungsillusion ist indes nur ein ausgezeichneter Fall der Vorstellungsbildung und keinesfalls mit ihr identisch. Das Bild des alten Herrn kann in der Vorstellung genauso konkret sein, ohne daß ich ihm die' grauen Haare hinzufügen müßte. Denn in der Re­gel ist die Darstellung von Tatbeständen in fiktionalen Texten nur im Blick auf ihre Funktion interessant, also würde das Altsein des Mannes seine Relevanz durch eine Beziehung auf etwas anderes ge­winnen. Das Alter sich als bloßes Alter vorstellen zu sollen, wäre angesichts einer solchen Funktionslosigkeit ohnehin schwierig. Be­sitzt aber das Altsein des Mannes eine bestimmte Funktion, dann besetzt meine Vorstellung -im Leseakt diese Beziehung, imaginiert sich dabei aber wohl kaum die Haarfarbe. Hier wird entweder die von Ingarden gewählte Banalität der Beispiele für den verfolgten Zweck problematisch, oder aber Ingarden meint mit dem Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen wirklich immer nur das Erzeugen einer Wahrnehmungsillusion im Vorstellungsbewußtsein. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, vollzieht sich ein solcher Vorgang doch zu anderen als den von Ingarden angegebenen Bedingungen, die ledig­lich auf eine illusionäre Komplettierung des intentionalen Gegen­standes abzielen. Ob eine solche 'Ergänzungsnotwendigkeit' die Ein­bildungskraft des Lesers überhaupt ins Spiel bringen würde, bleibt deshalb fraglich, weil eine bloße Vervollständigung des Ausgespar­ten dafür einen viel zu schwachen Antrieb darstellt. Zu diesem

2. Vgl. ibid., p. 49.

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Sachverhalt gibt es eine aufschlußreiche Äußerung von Arnheim: flInstead of presenting a static world with a constant inventory, the artist shows life as a process of appearing and disappearing. The whole is only partly present, and so are most objects. One part of a figure may be visible while the rest is hidden in darkness. In the film The Third Man the mysterious protagonist stands unseen in a doorway. Only the tips of his shoes reflect astreet light, and a cat discovers the invisible stranger and sniffs at what the audience cannot see. The frightening existence of things that are beyond the reach of our senses and that yet exercise their power upon us is represented by means of darkness. It is often asserted that when ob­jects are partly hidden, 'imagination completes' them. Such a state­ment seems easily acceptable until we try to understand concretely what is meant by it and we compare it with what happens in ex­perience. No one is likely to assert that imagination makes hirn actually see the whole thing. This is not truej if it were, it would destroy the effect the artist tried to achieve.//25

Wenn daher die Unbestimmtheitsstellen etwas aussparen, so geht von ihnen bestenfalls ein Suggestionsreiz, kaum aber die Aufforde­rung aus, nun aus unserem Wissensvorrat die notwendigen Ergän­zungen bereitzustellen. So wie Ingarden die Unbestimmtheitsstellen beschreibt, funktionieren sie nur in der Reklame, vor allem dort, wo Text und Ton zusammenwirken, wobei im Text die entscheidende Bezeichnung für das Produkt ausgelassen, wenngleich durch Pünkt­chen markiert ist, damit sie der Adressat beim Hören der Melodie mühelos einsetzen kann.26 Die Bemerkung von Arnheim indes läßt

2S Rudolf Arnheim, Art and Visual Perception, Berkeley and Los Ange­les 1966, p. 318.

26 Charakteristisch ist dafür eine Bierreklame, die in den 60ziger Jah­ren in den USA über weite Bereiche der Ostküste verbreitet war. Ein im Stile der Tudor-Epoche verkleidetes Mädchen warb mit dem folgenden Zweizeiler für das Bier: , Come along with me

Have a Genessee. Diese Verse wurden im Fernsehen gesungenj auf den zahllosen Plakaten aber war nur das Mädchen wiederzuerkennen zusammen mit der Musik­notierung. Der Text hingegen lautete:

Come along with me

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erkennen, daß die abgedeckte Seite eines wahrgenommenen Gegen­stands nicht einfach durch unser Wissen vervollständigt wird - im Sinne der hinzugedachten grauen Haare des alten Herrn - sondern als ein unbestimmter Hintergrund bestehen bleibt, der das Wahrge­nommene in jedem Fall in eine Spannung, wenn nicht sogar in ein bestimmtes Zeichen transformiert. Dieses Interaktionsspiel fällt in dem statischen Komplettierungsvorgang aus, nach dem sich für In­garden das Ausfüllen der Unbestimmtheitsstellen regelt. Zwar er­zeugen sie auch für ihn eine gewisse Suggestion, doch diese bleibt eigentümlich funktionslos; denn für die Aktualisierung der poten­tiellen Elemente des Werks sorgt die Ursprungsemotion. Deshalb ist es im Sinne von Ingardens Argumentation auch konsequent, daß viele Unbestimmtheitsstellen überhaupt nicht ausgefüllt werden müssen und daß ihr überhandnehmen den ästhetischen Wert zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu zerstören beginnt. Daß Unbe­stimmtheitsstellen die Bedingung dafür sein können, schematisierte Ansichten in ein Interaktionsverhältnis zu bringen, muß für In­garden schon deshalb ausscheiden, weil interagierende Ansichten eine Konkretisationsmannigfaltigkeit eröffnen könnten, die sich nicht mehr an die Norm des polyphonen Zusammenklanges der Schichten und folglich nicht mehr an solche der klassischen Ästhe­tik zurückbinden ließe.

So problematisch Ingarden der Gedanke erschien, die Konkreti­sation könne das Werk in eine nicht mehr zulässige Gestaltvielfalt auflösen, so wenig hat er das Problem bedacht, daß die Rezeption von Werken schlichtweg verschüttet wäre, wollte sich ihre Konkreti­sation nur an den Normen der klassischen Harmonieästhetik orien­tieren. Es bleibt das große Verdienst Ingardens, daß er mit dem Ge­danken der Konkretisation das Kunstwerk aus dem einseitigen Be­stimmungszwang, nur Darstellung zu sein, herausgebrochen hat. Mit dem Konkretisationsbegriff hat er dem Werk die notwendige Rezeptionsstruktur hinzugewonnen, ohne diesen Begriff allerdings als einen solchen der Kommunikation zu denken. Folglich ist Kon­kretisation nur die Aktualisierung der potentiellen Elemente des Werks und keine Interaktion von Text und Leser; daher sind Unbe­stimmtheitsstellen nur Suggestionsreize einer letztlich undynamisch· gedachten Komplettierung und wohl kaum Bedingung für die vom

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Leser zu schaltende Wechselbeziehung zwischen den schematisierten Ansichten bzw. den Darstellungsperspektiven des Textes. Wie we­nig die Unbestimmtheitsstellen, aber auch die Konkretisation von Ingarden als Kommunikationsbegriffe gedacht worden sind, läßt sich nicht zuletzt daran ablesen, daß der in der Konkretisation zu aktu­alisierende ästhetische Wert eine zentrale Leerstelle im Ingarden­schen System bleibt. Zwar meint Ingarden, daß der ästhetische Wert noch der intensiven Erforschung bedürfte27 ; es fragt sich nur, in welche Richtung er einen solchen Versuch vorangetrieben sehen wollte. Es ist unwahrscheinlich, daß er sich den ästhetischen Wert als ein leeres Prinzip gedacht hätte, durch das außertextuelle Reali­täten so organisiert würden, daß der Leser eine Welt konstituieren könnte, die von der Gegebenheit der bekannten Welt nicht mehr ausschließlich zu bestimmen wäre.28 Denn eine solche kommuni­kative Leistung des ästhetischen Wertes hätte für Ingarden bedeutet, die klassischen Normen der Harmonieästhetik als Referenz der rich­tigen Konkretisation preisgeben zu müssen.

B Antriebe der Konstitutionsaktivität

1. Vorüberlegung

Ingarden hatte das literarische Werk als ein schematisches Gebilde beschrieben, das seinen Gegenstand entwirft. Dieser intentionale Gegenstand unterscheidet sich durch mangelnde Bestimmtheit so­wohl von realen als auch von idealen Gegenständen. In solcher Zu­ordnung unterliegt der literarische Text einer Referenz, die ihn nach

27 Vgl dazu Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, pp. 27 u. 151 passim, sowie ders., Erkennen, p. 423.

2B Vgl. dazu etwa Jan Mukarovsky, Kapitel aus der Asthetik (edition suhrkamp), Frankfurt 1970, pp. 108 f. u. 89 I.; ferner p. 81 (der ästhe­tische Wert als Prozeß); p. 103 (das Kunstwerk als Ansammlung außer­ästhetischer Werte); vgl. ferner Robert Kalivoda, Der Marxismus und die moderne geistige WirkliChkeit (edition suhrkamp), Frankfurt 1970, p. 29.

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Vorhandensein bzw. Fehlen von Merkmalen klassifiziert. Zuord­nungen dieser Art besagen, daß der literarische Text von der Be­kanntheit gegebener Positionen her gefaßt, wenn nicht sogar defi­niert werden soll. Wie aber wäre dann ein Text zu verstehen, der im Durchbrechen seiner Referentialisierbarkeit erst seinen Sinn zu gewinnen vermag?

Wenn Arnold Bennett meint: "You can't put the whole of a cha­racter into a book"l, so hat er dabei an die Diskrepanz gedacht, die zwischen einem Menschenleben und der zwangsläufig begrenzten Form seiner möglichen Darstellung besteht. Daraus ließen sich zwei sehr unterschiedliche Folgerungen ableiten. Mit Ingarden müßte man sagen, daß nun die schematisierten Ansichten, die den Charak­ter entfalten, die jeweils unerfüllte Qualität der einen Ansicht durch die folgende soweit auffüllen, daß die Illusion einer vollständigen Darstellung entsteht. Man kann aber die Aufmerksamkeit auch auf die Selektions entscheidungen richten, die gefallen sein müssen, da­mit der Charakter so erscheint, wie er sich bietet. In diesem Falle steht nicht seine vorgetäuschte Wirklichkeit, sondern das Bezugsfeld im Blick, aus dem die Elemente des Charakters gewählt worden sind. Solche Selektionsentscheidungen haben jedoch für den Betrach­ter keineswegs jene Bestimmtheit, wie sie sich in den formulierten Ansichten des Charakters zeigt, wenngleich die formulierten An­sichten ihre Bedeutsamkeit erst durch ihren verdeckt gebliebenen Ursprung empfangen. Dieser läßt sich schwer referentialisieren. In jedem Falle aber fällt die Wirklichkeit - was immer man auch dar­unter verstehen mag- als Referenz aus. Selbst wenn der Charakter so konzipiert ist, daß er seine Wirklichkeit vorzutäuschelJ vermag, so ist diese nicht Selbstzweck, sondern Zeichen. Vorgetäuschte Wirk­lichkeit als Zeichen zu verwenden, kann sich nicht darin erschöp­fen, bekannte Wirklichkeit bloß bezeichnen zu wollen. Stanley Cavell hat einmal im Blick auf den Film, das sicherlich am. stärksten realitätsgesättigte Medium, bemerkt: " ... if a person were shown a film of an ordinary whole day in his life, he would go mad."2

1 Zitiert nach Miriam Allatt, Novelists on the Novel (Calumbia Pa­perback), New York 1966, p. 290.

2 Stanley Cavell, Must we Mean what we Sayl New Yark 1969, p. 119, schreibt diese Äußerung Rene Cl air zu.

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Effekte dieser Art erzielen dann auch Filme wie die von Anto­nioni und Godard, weil gerade die steigende Äquivalenz zwischen gewöhnlicher Alltäglichkeit und ihrer Darstellung die GreJ;lzen der Belastbarkeit im Zuschauer hervortreibt. Daß der Film in bestimm­ten Fällen eine solche Ähnlichkeit nutzt, um aus dem Zwangscha­rakter der Wiederholung seine Wirkung zu gewinnen, zeigt an, daß selbst hier die alltägliche Wirklichkeit nicht als Referenz der Dar­stellung funktioniert.

Ähnlich verhält es sich mit den Entscheidungen, die den fiktio­nalen Text organisieren. Hier gilt die Bemerkung Adornos: IIKunst ist tatsächlich die Welt noch einmal, dieser so gleich wie ungleich."3

Der fiktionale Text gleicht der Welt insofern, als er eine Konkur­renzwelt entwirft. Diese allerdings unterscheidet sich von existie­renden Weltvorstellungen dadurch, daß sie aus herrschenden Reali­tätsbegriffen nicht ableitbar ist. Mißt man Fiktion und Wirklichkeit am Charakter ihrer Gegenstandsqualität, so kann man nur den Ausfall gegenständlicher Merkmale in der Fiktion konstatieren. Sie erweist sich dabei als defizienter Modus, ja, gilt als Lüge, weil sie die Kriterien der Wirklichkeit nicht besitzt, obgleich sie diese zu simulieren scheint. Wäre Fiktion nur über Gegenstandsmerkmale zu klassifizieren, die für eine Bestimmung von Wirklichkeit gelten, dann wäre es unmöglich, durch Fiktion Wirklichkeit mitteilbar zu machen. Nicht durch den für sie ruinösen Vergleich mit Wirklich­keit, sondern erst in der Vermittlung einer durch sie organisierten Wirklichkeit gewinnt sie ihre Funktion. Deshalb lügt die Fiktion, wenn man sie aus der Sicht solcher Gegebenheitsweisen bestimmt; sie gibt jedoch Aufschluß über die von ihr fingierte Realität, wenn man sie aus der Sicht ihrer Funktion: Kommunikation zu sein, be­stimmt. Als Kommunikationsstruktur kann sie weder mit der Reali­tät, auf die sie sich bezieht, noch mit dem Dispositionsrepertoire ihrer möglichen Empfänger identisch sein. Denn sie virtualisiert die herrschende Interpretationsgestalt der Wirklichkeit, aus der sie das Repertoire schöpft, genauso wie das Normen- und Wertrepertoire ihrer möglichen Empfänger. Die Nicht-Identität von Fiktion und

J Theodor W. Adorno, Asthetische Theorie (Gesammelte Schriften 7J, Frankfurt 1970, p. 499.

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Welt sowie von Fiktion und Empfänger ist die konstitutive Bedin­gung ihres kommunikativen Charakters. Die mangelnde Deckung manifestiert sich in Unbestimmtheitsgraden, die zunächst weniger solche des Textes als vielmehr solche der im Lesen hergestellten Be­ziehung von Text und Leser sind. Unbestimmtheitsgrade dieser Art funktionieren als Kommunikationsantriebe und bedingen die 'For­mulierung' des Textes durch den Leset. Denn die Formulierung ist die essentielle Komponente eines Systems, von dem man nur eine unvollkommene Kenntnis hat. Diese Unvollkommenheit ergibt sich daraus, daß die umcodierte Geltung des Textrepertoires wohl ge­wärtigt, der Grund, dem sie entsprungen ist, zugleich aber ver­schwiegen wird. Ist das Nicht-Gesagte konstitutiv für das, was der Text sagt, so bewirkt seine 'Formulierung' durch den Leser eine Reaktion auf die manifesten Positionen des Textes, die in der Regel fingierte Realitäten darstellen. Transformiert sich die 'Formulierung' des Ungesagten zur Reaktion des Lesers auf die dargestellte Welt, dann heißt dies zugleich, daß die Fiktion immer jene Welt trans­zendierbar macht, auf die sie sich bezieht. "Aufgabe der Kunst ist es weniger, die Welt zu erkennen, als Komplemente von ihr hervor­zubringen, autonome Formen, die zu den schon existierenden hin­zukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offen­baren."4 Autonome Formen soll heißen, daß hier Positionen ent­stehen, die aus dem, was sie vermitteln, nicht ableitbar sind. "In diesem Sinne also wäre die Literatur (doch das gilt sicher für jede künstlerische Botschaft) das bestimmte Bezeichnen eines unbestimm­ten Gegenstimds."s

Entsteht Unbestimmtheit aus der Bestimmung fiktionaler Texte, KommumkatioI).zJLsel},f;:dannwirddJes~-UnJ~.~Jimm:tht!H·=::- s.QW~tC:

S}e iIJLI~xt~iol1;alisie-rba-rl ist·-nicht ohne Stnaktur sein können;· zumal··-sie ihre Funktion durch die dialektische Zuordnung'-aufdie im Text formulierten Bestimmtheiten erhält. Zentrale Strukturen von Unbestimmtheit im Text sind seine Leerstellen wie auch seine Negationen. Sie gilt es als Kommunikationsbedingungen zu begrei-

• Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, übers. von G. Memmert, Franldurt 1973, p. 46.

, Ibid., p. 31.

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fen, da sie die Interaktion zwischen Text und Leser in Gang brin­gen und bis zu einem gewissen Grade regulieren.

2. Die Leerstelle als ausgesparte Anscllließbarkeit

Ergeben sich Leerstellen aus den Unbestimmtheitsbeträgen des Tex­tes, so sollte man sie wohl Unbestimmtheitsstellen nennen, wie es Ingarden getan hatte. Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der sche­matisierten Ansichten als vielmehr die Besetzbarkeit einer bestimm­ten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettü:rungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinations­notwendigkeit an. Denn erst wenn die Schemata des Textes auf­einander bezogen werden, beginnt sich der imaginäre Gegenstand zu bilden, und diese vom Leser geforderte Operation besitzt in den Leerstellen ein zentrales Auslösemoment. Durch sie ist die im Text ausgesparte Anschließbarkeit seiner Segmente signalisiert. Folglich

-verkörpern sie die 'Gelenke des Textes', denn sie funktionieren als die 'gedachten Scharniere' der Darstellungsperspektiven und erwei­sen sich damit als Bedingungen der jeweiligen Anschließbar1zeit der Textsegmente aneinander. Indem die Leerstellen eine ausgesparte Beziehung anzeigen, geben sie die Beziehbarkeit der bezeichneten Positionen für die Vorstellungs akte des Lesers frei; sie 'verschwin­den', wenn eine solche Beziehung vorgestellt wird.

Die Anschließbarkeit bildet eine fundamentale Kategorie der Text­bildung überhaupt; sie muß immer dort in hohem Maße beachtet werden, wo der Text seinen Sachverhalt argumentativ entfaltet bzw. dort, wo er als Sachtext eine bestimmte Information über einen ge­gebenen Gegenstand vermitteln möchte. Aus der Beachtung dieser Kategorie ergibt sich die folgende von S. J. Schmidt skizzierte Not­wendigkeit der Sprachverwendung in Sachtexten: "Der Prozeß der Bedeutungskonstitution läßt sich demgemäß darstellen als von der Redeabsicht geleitete fortschreitende Selektion aus den Wirk- und Funktionsmöglichkeiten der in ihrer Relevanz von den Sprechern gekannten Voraussetzungselemente, als Individualisierung der im System der langue normativ oder fakultativ vorgegebenen klassen­haft bestimmten und formal gekennzeichneten Funktionen in Rich-

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tung auf kommunikativ relevante Intentions- und Situationsad­äquanz ... sprachlicher Handlungsweisen."6 So wird die Individuali­sierung der Redeabsicht in hohem Maße durch die Grade der be­achteten Anschließbarkeit garantiert. Leerstellen indes unterbrechen diese Anschließbarkeit und signalisieren damit zweierlei: die ausge­fallene Beziehung sowie die Erwartungen des habituellen Sprach­gebrauchs, in dem Anschließbarkeit pragmatisch geregelt ist. Daraus ergeben sich verschiedene Funktionen, die Leerstellen in fiktionalen Texten zu erfüllen vermögen. Als Unterbrechung der Anschließ­bar!zeit werden sie zum Kriterium dafür, die fiktionale Spracnver­wendung von der alltäglichen abzuheben: Was in alltäglicher Sprach­verwendung immer schon gegeben ist, muß in fiktionaler erst ge­leistet werden. Bildet die Beachtung der Anschließbarkeit eine zen­trale Voraussetzung der Textkohärenz, so wird diese in pragmati­scher Sprachverwendung durch eine Reihe von Zusatzbedingungen geregelt, die in fiktionaler Sprachverwendung nicht gegeben sind. Da­zu gehören der "nicht-verbale Handlungsrahmen ... als Matrix für die Äußerungen" ; der Bezug der Kommunikationspartner "auf das vom Sprecher angenommene gemeinsame Bezugssystem von Erfah­rungen", ferner der Bezug "auf den gemeinsamen Wahrnehmungs­raum", d. h. die Kommunikationssituation, sowie auf "den Asso­ziationsspielraum des Sprechers.,,7 Alle diese Voraussetzungen gilt es' in fiktionaler Sprachverwendung bestenfalls herzustellen, wie dies in der Diskussion über das kommunikative Textmodell dargelegt worden ist. Der Ausfall solcher Regelbedingungen kommt nicht zu­letzt in den gestiegenen Leerstellenbeträgen fiktionaler Texte zum Vorschein. Doch diese markieren weniger ein Manko, sondern zei­gen vielmehr die Kombinationsnotwendigkeit der Textschemata an, aus der sich erst jener Einbettungszusammenhang bilden läßt, der dem Text Kohärenz und der Kohärenz Sinn gibt.

Ist der im Sinne von Schmidt charakterisierte Sprachgebrauch prag-

6 S. J. Schmidt, Bedeutung und Begriff. Zur Fundierung einer sprach­philosophischen Semantik, Braunschweig 1969, p. 139.

1 Das sind die von W. Kummer benannten Faktoren eines pragma­linguistischen Ansatzes zur Erklärung der Textkohärenz, von dem S. J. Schmidt, Texttheorie (UTB 202), München 1973, p. 158, einen kurzen Abriß gibt.

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matischer Kommunikation darauf angelegt, durch zunehmende Indi­vidualisierung des Redevorgangs die Möglichkeitsvielfalt des Ge­meinten fortlaufend einzugrenzen und am Ende ganz auszublenden, so läuft die von Leerstellen unterbrochene Anschließbarkeit in fik­tionalen Texten in eine entgegengesetzte Richtung. Sie eröffnen eine Möglichkeitsvielfalt, wodurch die Anschließbarkeit der Schemata zu einer Selektions entscheidung des Lesers wird. Man braucht dabei nur an das Repertoire eines Textes zu denken, um sich diesen Vorgang zu veranschaulichen. Die entpragmatisierten Normen wie auch die literarischen Anspielungen haben die vertraute Form ihres Ange­schlossenseins verlorenj ihre Entpragmatisierung ist als Leerstelle im Text angezeigt, die ihrerseits bestenfalls Möglichkeiten der An­schließbarkeit nahelegt. Zugleich wird in solchen von Leerstellen angezeigten Unterbrechungen an den selektierten Repertoire-Ele­menten etwas freigesetzt, das zwangsläufig verdeckt blieb, solange sie in die vertrauten Zusammenhänge eingebettet waren. Ein sol­ches Freisetzen abgeschirmter Aspekte beginnt dann die Kombina­tionsmöglichkeiten des Lesers zu orientieren. Leerstellen indes stek­ken nicht nur im Repertoire, sondern ebenso in den Strategien. Der Text als perspektivisches Gebilde erfordert eine ständige Beziehung seiner Darstellungsperspektiven aufeinander. Da aber diese Per­spektiven sich im Textgewebe durchschichten, gilt es, die Beziehung zwischen den verschiedenen Segmenten einer jeweiligen Perspektive sowie zwischen den Segmenten verschiedener Perspektiven im Lese­vorgang unentwegt herzustellen. Oftmals stoßen diese Segmente unvermittelt aneinander. Dabei braucht man noch nicht einmal an Joyce und die moderne Literatur zu denken, wo die segmentierende Erzählweise die Leerstellenbeträge so ansteigen läßt, daß die aus­gesparten Anschlüsse in eine ständige Irritation der Vorstellungs­tätigkeit des Lesers umschlagen. Es genügt schon, sich des Fielding­beispiels zu erinnern, das in der Konfrontierung von Allworthy und Captain Blifil die Segmente zweier Figurenperspektiven unvermittelt zueinander stellt und so die ausgesparte Anschließbarkeit der Vor­stellung des Lesers überantwortet.8 Allein die Tatsache, daß die

• Vgl. zur näheren Ausführung dieses Beispiels Kapitel II, A, 3, pp. 107 f. und Kapitel IV, B, 3, pp. 308 H.

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Darstellungsperspektiven des Textes dem Leserblickpunkt immer nur in Segmenten gegeben sind, zeigt an, daß die Textkohärenz erst in der Vorstellungstätigkeit des Lesers einzulösen ist.

Wenn die Leerstellen fiktionaler Texte diese gegen den Hinter­grund pragmatischer Sprachverwendung richten, tragen sie gerade durch die vorenthaltene Beziehung zur Entautomatisierung der ha­bituellen Erwartungen des Lesers bei, denn dieser muß einen for­mulierten Text noch einmal für sich formulieren, um ihn aufneh­men zu können. Diese Forderung taucht in der pragmatischen Sprachverwendung dyadischer Interaktion deshalb nicht auf, weil offengebliebene Anschließbarkeit in den Redeteilen der Partner durch Rückfragen geschlossen werden kann, nicht aber vom Emp­fänger unbedingt vorgestellt werden muß. Auch der Sachtext erhebt diese Forderung kaum, da er die Anschließbarkeit schon deshalb in hohem Maße regelt, weil er den Empfänger zur Aufnahme einer bestimmten Intention hinsichtlich eines ihm vorgegebenen Sachverhalts veranlassen möchte. Die über die Leerstellen fik­tionaler Texte erfolgende Entautomatisierung führt in eine andere Richtung. Indem sie eine zentrale Erwartung pragmatischer Sprachverwendung nicht einlöst, bildet sie eine wesentliche Voraussetzung dafür, die von den Leerstellen unterbrochene An­schließbarkeit der Textsegmente in jene Äquivalenz zu bringen, die es erlaubt, das 'Archisem'9 zu entdecken, das den unverbundenen Segmenten unterliegt und das diese zu einer neuen Sinneinheit zu­sammenschließt, sobald es 'gefunden' ist.

Die Kategorie der Anschließbarkeit ist nicht nur auf die Textbil­dung beschränkt, sie besitzt auch eine psychologische Relevanz, die, sich in dem wahrnehmungspsychologischen Begriff der good con­tinuation fassen läßt.!O Dieser meint die konsistente V~rbindung von Wahrnehmungsdaten zu einer Wahrnehmungsgestalt sowie das Anschließen von Wahrnehmungsgestalten aneinander. In der

9 Zu diesem Terminus und seiner Relevanz für die Semantik literari­scher Texte vgl. Tu. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (UTB 103), übers. von R.-D. Keil, München 1972, pp. 216 f.

10 Zur näheren Charakteristik dieses Konzepts vgl. AIOn Gurwitsch, The Field of Consciousness, Pittsburgh 21964, pp. 150 H.

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phänomenologischen Psychologie hat dieser Begriff eine universale Bedeutung gewonnen. Wenn Leerstellen die Anschließbarkeit von Textsegmenten unterbrechen, so kommt dieser Vorgang in der Ein­bildungskraft .des Lesers erst zu seiner vollen Entfaltung. Die Dis­kussion der Vorstellungsbildung hatte gezeigt, daß die Schemata des Textes sowohl ein bestimmtes Wissen im Leser aufrufen als auch selbst bestimmte Informationen bereitstellen, durch die hindurch der intendierte - aber nicht gegebene - Sachverhalt vorgestellt wer­den soll.

Nun kennzeichnet es fiktionale Texte, daß ihre Verfahren die Normen des Repertoires sowie die Segmente der Darstellungsper­spektiven in der Regel nicht als eine erwartbare Folge organisieren. Ja, es ließe sich behaupten, daß die der Vorstellungsbildung dienen­den Schemata des Textes weit seltener dem Prinzip der good con­dnuation gehorchen, als dies für alltägliche Wahrnehmungs akte unabdingbar ist. Das für die Wahrnehmung geltende Ökonomie­prinzip - aus dem sich der Wahrnehmungsgegenstand aufbaut -wird in der Anlage fiktionaler Texte eher durchbrochen als befolgt. Dafür sorgt die relativ hohe Strukturiertheit des Textes, die sich auf die gegebenen Dispositionen möglicher Empfänger insoweit be­zieht, als sie diesen häufig zuwiderläuftY Unterbrechen die Leer­stellen die Anschließbarkeit der Schemata, und das heißt, lassen sie die selektierten Normen des Repertoires sowie die Segmente der Darstellungsperspektiven unvermittelt aneinander stoßen, dann heben sie die Erwartung der good continuation auf. Daraus ent­springt eine Steigerung der Vorstellungs tätigkeit, denn es gilt nun, die scheinbar ungeregelten Anschlüsse der Schemata über eine vor­gestellte Verbindung zu einer integrierten Gestalt aufzuheben. So bewirkt in der Regel die von Leerstellen unterbrochene good con­tinuation eine verstärkte Kompositionsaktivität des Lesers, der nun die kontrafaktisch, oppositiv, kontrastiv, teleskopierend oder seg­mentierend angelegten Schemata - oftmals gegen eine entstehende Erwartung - kombinieren muß. Je nach dem Umfang der Leer­stellenbeträge wird es zu einem entsprechenden Andrang der Vor-

11 Vgl. dazu die in Kapitel III, A, 3, pp. 193 H. u. 210 H. beschriebenen Vorgänge der Konsistenzbildung.

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stellungen kommen. Der Grund dafür liegt in jener von Sartre be­schriebenen Struktur beschlossen, daß man Vorstellungen nicht zu einer Sequenz synthetisieren kann, sondern daß man gebildete Vor­stellungen verlassen bzw. aus ihnen heraustreten muß, wenn man von den Umständen gezwungen wird, eine neue Vorstellung zu er­zeugenY Denn wir reagieren auf eine Vorstellung, indem wir eine neue bilden.

In diesem Vorgang kommt die ästhetische Relevanz der Leerstelle zum Vorschein. Halten wir zunächst fest: Als Unterbrechung der good continuation hat sie einen entscheidenden Anteil an der Vor­stellungs bildung. Diese gewinnt ihre Intensität dadurch, daß ge­bildete Vorstellungen wieder preisgegeben werden müssen. Folglich bewirkt es die Leerstelle, daß Vorstellungen ersten und zweiten Grades entstehen. Vorstellungen zweiten Grades sind solche, mit denen wir auf gebildete Vorstellungen reagieren. Das läßt sich im Blick auf das schon mehrfach angezogene Beispiel aus Fieldings Tom Tones veranschaulichen. Als Allworthy Captain Blifil aufsitzt, ergibt sich aus dem Aneinanderstoßen von Segmenten zweier Figurenper­spektiven die Vorstellung, daß dem vollkommenen Menschen offen­bar die Urteilsfähigkeit fehlt, indem er dem Anschein vertraut. Ist diese Vorstellung gebildet, so muß sie bald danach preisgegeben werden, als der Held das ihm von Allworthy geschenkte Pferd ver­kauft. Die beiden Pädagogen sind entsetzt über die offensichtliche Niedrigkeit solchen Handeins. Allworthy hingegen verzeiht dem Helden, weil er das gute Motiv dieser Handlung gegen allen An­schein gewärtigt. Damit muß die Vorstellung aufgegeben werden, daß dem vollkommenen Menschen die Urteilsfähigkeit fehle, denn diese fehlt Allworthy nicht schlechthin; was ihm abgeht, ist die für das Urteil notwendige Abstraktion vom eigenen Verhalten. Der gute Mensch erkennt das Gutsein des anderen Menschen trotz des falschen Anscheins; er glaubt jedoch dem falschen Anschein, wenn dieser Güte p'r~tendiert. Damit ist eine neue Vorstellung entstan­den, die zugleich das Thema des Romans aufblendet: der Leser soll

12 Vgl. J. P. Sartre, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, übers. von H. Schöneberg, Reinbek 1971, pp. 220 f.

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einen sense of discernment13 erwerben, und dazu gehört offenbar die Abstraktion vom eigenen Verhalten, um die für die Einsicht notwendige Distanz von seinen eigenen Orientierungen zu gewin­nen. Vorstellungen zweiten Grades ergeben sich immer dann, wenn die von der Vorstellung ersten Grades geweckte Erwartung nicht ein­gelöst wird. Indem Leerstellen die good continuation unterbrechen, werden sie zur Bedingung für die Kollision von Vorstellungen in der Lektüre. Leerstellen vermögen daher im Prinzip durch die von ihnen ausgelöste Kollision der Vorstellungen die Vorstellungsbildung selbst zu erschweren. Dadurch werden sie ästhetisch relevant. Diese Tatsache läßt sich in zweierlei Hinsicht detaillieren: zunächst kri­tisch gegen das von den russischen Formalisten herausgestellte Kri­terium der Kunst als Wahrnehmungserschwerung; sodann funktio­nal durch die aus der Vorstellungserschwerung resultierenden Folgen.

Bekanntlich hatten die russischen Formalisten von der Kunst als einem Prozeß der Wahrnehmungs erschwerung gesprochen. Sie glaubten, daß die Kunst die Objektwahrnehmung kompliziere, wor­aus sich dann zwangsläufig eine längere Beschäftigungsdauer mit dem Objekt ergeben müßte. Sklovskij formulierte daher: "Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der 'Verfremdung' der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden. JJ14 Da aber eine solche Dauer einmal an ihr Ende kommen muß, fiele die von der Kunst geleistete Wahrnehmungsverzögerung doch an einem abseh­baren Punkt mit ihrer Konsumierbarkeit zusammen. Im Blick auf die vorangegangene Diskussion brauchen wir hier den Wahrneh-

13 Vgl. dazu John Preston, The Greated Seif. The Reader's Role in Eighteenth-Gentury Fiction, London 1970, p. 114; ferner die Darstellung dieses Sachverhalts, die ich in meinem Buch Der implizite Leser. Kom­munikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 1631, München 1972, pp. 81-93, gegeben habe.

14 Viktor Sklovskij, "Kunst als Verfahren", in Texte der russischen Formalisten T, ed. J. Striedter, München 1969, p. 15.

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mungsbegriff nicht weiter zu erörtern. Wir hatten ihn aufgegeben, weil dem fiktionalen Text keine Objekte vorgegeben sind, deren Umsetzung er für die Wahrnehmung des Lesers zu leisten hätte. Selbst wenn der von Sklovskij verwendete Wahrnehmungsbegriff von ihm nicht so rigide verstanden worden ist, so impliziert er doch bestimmte Objektauffassungen, die sich deutlich von jenen Gegen­ständen unterscheiden, die in der Vorstellung konstituiert werden. Von diesen gilt zwar auch, daß sie im jeweiligen Konstitutionsvor­gang als individuell bestimmte hervorgebracht werden; doch das Zeitmoment der Sinnkonstitution erlaubt die WiederholbarIzeit in­novativer 'Gegenstandsindividualitäten' und garantiert damit eine Beschäftigungsdauer, die die von Sklovskij geltend gemachte Wahr­nehmungsverzögerung nicht zu erreichen vermag. Folglich kann es nicht darum gehen, daß die Kunst die Objektwahrnehmung kompli­ziert, sondern darum, daß sie die in der Vorstellung des Lesers er­folgende Sinnkonstitution durch Komplexionsgrade erschwert. Erst dann wird die Beschäftigungsdauer als ein Charakteristikum von Kunst sinnvoll, zumal die Erschwerung der Vorstellungsbildung sich nicht allein im jeweils ablaufenden Vorgang der Sinnkonstitu­tion, sondern noch einmal in der als Innovation wiederholbaren Fächerung der Sinngestalten auswirkt.

Im Gegensatz zur Wahrnehmungserschwerung erweist sich die Vorstellungserschwerung vornehmlich aus zwei Gründen als das tauglichere Kriterium für die Beurteilung des ästhetischen Potentials fiktionaler Texte. 1. Die Wahrnehmungsverzögerung kommt ein­mal an ihr definitives Ende. Die Vorstellungserschwerung hingegen erlaubt die Variabilität definitiver Sinngestalten des identischen Textes. 2. Die Wahrnehmungserschwerung entautomatisiert unsere Wahrnehmung, ohne die erneute Automatisierung solcher Ent­automatisierungsvorgänge verhindern zu können. Die Vorstellungs­erschwerung bewirkt, daß wir gebildete Vorstellungen wieder preis­geben müssen und damit in eine Gegenstellung zu unseren eigenen Produkten geraten, um dann Vorstellungen zu bilden, an die uns unsere habituelle Determiniertheit gar nicht denken ließ. Daraus folgt: Die Wahrnehmungserschwerung bricht unsere habituellen Dispositionen gleichsam nur einmal auf; die Vorstellungserschwe­rung hingegen kann sich unserer Habitualitäten unentwegt bedie-

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nen, weil wir durch die Kollision der Vorstellungen eine ständige Ablösung von unseren eigenen Produkten erfahren.

Damit kommt der zentrale Gesichtspunkt der Vorstellungser­schwerung in den Blick. Die Vorstellung ersten Grades schafft sich ihr Vorstellungsobjekt, wie wir gesehen haben, sowohl über als auch durch das in den Schemata des Textes angebotene bzw. im Leser aufgerufene Wissen. 'Uber' soll heißen, daß nur ein bestimm­tes Wissen angeboten bzw. aufgerufen wird, wodurch anderes zwangsläufig ausgeklammert bleibti 'durch' soll heißen, daß dieses bestimmte Wissen als ein Analogon für das zu bildende Vors tel­lungsobjekt funktioniert. Wir hatten diesen Sachverhalt im Zusam­menhang mit der Vorstellungsbildung erörtert. Nun aber ist die Vor­stellung trotz dieser Bindung an bestimmte Vorgaben im Blick auf die Ausstattung des Vorstellungsobjekts in hohem Maße frei. Diese Freiheit führt notwendigerweise zu jener von Sartre angemerkten Degradierung des Wissens in der Vorstellungsbildung.15 Das Wissen erleidet oft erhebliche Modifikationen, damit es dem entstehenden Vorstellungsobjekt konform gemacht werden kann. Wir kennen solche Vorgänge aus unserem lebensweltlichen Verhalten, in dem wir etwa das Wissen, das unserer Vorstellung dient, erheblich stili­sieren, wenn wir uns ein 'Bild' von Personen und ihren Verhält­nissen sowie ihren Beziehungen zu uns machen. Im fiktionalen Text hingegen bewirkt die aus der Unterbrechung der good conti­nuation entspringende Kollision der Vorstellungen, daß wir uns angebotenes oder aufgerufenes Wissen nicht ungestört zurecht­machen können. Die Kollision verhindert die Degradierung des Wissens, indem sie einen solchen Vorgang gar nicht an sein Ende kommen läßt, sondern den Leser nötigt, aus der Vorstellung heraus­zutreten, um eine neue zu bilden. Dadurch aber beginnt der Leser im Prinzip auf seine eigenen Vorstellungen zu reagieren. Er selbst bringt eine eigentümliche, vom Text gelenkte Interaktion seiner Vorstellungen in Gang. "Ein irreales Objekt kann keine Kraft ha­ben, da es nicht handelt. Sondern eine mehr oder weniger lebendige Vorstellung hervorrufen heißt, mehr oder weniger lebhaft auf den

IS Vgl. Sartre, pp. 86, 118, 135 u. 179.

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hervorrufenden Akt reagieren und gleichzeitig dem vorgestellten Ob­jekt die Fähigkeit zuweisen, diese Reaktionen entstehen zu lassen.//16

Dessen eingedenk läßt sich nun das der Vorstellungs erschwerung entspringende ästhetische Potential fassen. Die Erschwerung der Vorstellung läuft nicht nur der Degradierung angebotenen bzw. auf­gerufenen Wissens entgegen. Sie bewirkt vor allem über die wech­selnden Umorientierungen, die sich aus der Reaktion auf Vorstel­lungen durch solche zweiten Grades ergeben, sich im Blick auf das Wissen gerade das vorzustellen, was durch es verdeckt war, bzw. im Wissen etwas zu entdecken, das wir gar nicht sehen konnten, so­lange die gewohnte Perspektive herrschte, durch die wir über das Gewußte verfügten. So läuft die Vorstellungserschwerung darauf hinaus, den Leser von habituellen Dispositionen abzulösen, damit er sich das vorzustellen vermag, was durch die Entschiedenheit sei­ner habituellen Orientierungen vielleicht unvorstellbar schien.

So sind wir zwar während der Lektüre durch unsere Vorstellun­gen im Text befangen, zugleich aber bringt die Kollision unserer Vorstellungen eine latente Bewußtheit hervor, die unsere Vorstel­lungen begleitet, wodurch wir potentiell in ein Verhältnis zu ihnen gesetzt sind. Wir können das, was wir erzeugen, dann im Prinzip auch beobachten. Daraus ergibt sich die Möglichkeit, unsere von den Bedingungen des Textes gesteuerte Vorstellungssequenz in eine ge­wisse Distanz zu bringen, die ihre Auffassung erlaubt. Denn wir fassen einen fiktionalen Text dadurch auf, daß wir verstehen, was die von ihm in uns ausgelösten Vorstellungen eigentlich besagen. Haben die Leerstellen durch die Unterbrechung der good continua­tion einen wichtigen Anteil an der von ihnen ausgelösten Kollision der Vorstellungen, so besagt dies, daß die Lebhaftigkeit unserer Vor­stellung proportional zu den Leerstellenbeträgen ansteigt. Sicherlich haben wir auch dort Vorstellungen, wo die explizit geregelte An­schließbarkeit der Textschemata und die damit verbürgte good con­tinuation uns nicht ständig aus den erzeugten Vorstellungen her­austreibenj doch wir geraten weniger in eine latente Beobachtung zu ihnen als dort, wo die Kollisionssequenz häufig neue Vorstellungen hervorruft. Deshalb bleibt in dem einen Falle der Eindruck der

16 Ibid., p. 225.

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Kargheit, in dem anderen der einer wachsenden Lebhaftigkeit zu­rück.

Bedingen die ausgesparten Anschlüsse und die daraus resultie­rende Unterbrechung der good continuation eine Steigerung der Vorstellungs tätigkeit, so erweist sich die Leerstelle im Text als eine elementare Kommunikationsbedingung. Diese kann von fiktionalen Texten in unterschiedlicher Weise genutzt werden, was sich durch die folgenden Beispiele, in denen bewußt Extremwerte gewählt wur­den, gut veranschaulichen läßt. Gedacht ist an den Thesenroman, den Fortsetzungsroman und jenen Romantyp, wie er durch Ivy Compton-Burnett repräsentiert ist. Alle drei Beispiele beachten auf je unterschiedliche Weise die bisher beschriebene Kommunikations­struktur der Leerstelle und lassen durch die Art ihrer Nutzung ihre kommunikative Absicht erkennen. Im Thesenroman als Paradigma didaktischer und propagandistischer Literatur - etwa Kardinal New­mans Loss and Gain - ist die Anschließbarkeit der Textschemata in hohem Maße geregelt. Dadurch verringert sich der Leerstellenbetrag und folglich auch die von solchen Beträgen ausgelöste Vorstellungs­tätigkeit des Lesers. Denn der Sachverhalt, den ein solcher Roman zu vermitteln trachtet, ist dieser Vermittlung weitgehend vorgegeben und muß daher als imaginäres Objekt kaum noch konstituiert wer­den. Im Falle des Romans von Newman bot er sich in der Notwen­digkeit der Konversion zum katholischen Glauben angesichts pro­blematisch gewordener Lebensverhältnisse der modernen Welt. Be­sitzt der Sachverhalt im Thesenroman den Charakter einer vorge­gebenen Gegenständlichkeit, so kommt es nur noch darauf an, die­sen verläßlich zu transportieren. Folglich sind in einem solchen Romantyp Form und Inhalt oft scharf voneinander zu trennen. Angesichts der Vorentschiedenheit des Inhalts muß die Form der Strategien darauf abgestimmt sein, die Erwartungen und Habituali­täten des angesprochenen Publikums möglichst bruchlos, und das heißt ohne Störung und Uberraschung, an den Inhalt anschließbar zu machen. Für die Textbildung bedeutet das eine Beachtung der Anschließbarkeit der Textschemata, um die good continuation zu gewährleisten, die sich glatt in den Erfahrungshorizont des inten­dierten Lesers fortsetzen muß. Verfahren, die in solcher Absicht konzipiert sind, bieten dann für eine Geschichte der Wahrnehmung,

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der Gefühle sowie der gruppenspezifischen Repertoires und Disposi­tionen der jeweils angesprochenen Leserschaft aufschlußreiche An­haltspunkte. Von Newman bis hin zu den Romanen des sozialisti­schen Realismus lassen sich die Etappen dieser Geschichte relativ deutIlch nachzeichnen.

Trennt der Thesenroman seinen Sachverhalt von der Konstitu­tionsaktivität des Lesers weitgehend ab, so geben allenfalls seine Verfahren einen minimalen Spielraum für die Beteiligung des Le­sers frei. Doch dieser bezieht sich nicht auf eine bestimmte Artiku­lation des Sinnes, sondern auf das Verhältnis zu ihm. Die Verfahren müssen folglich den Leser nur in die richtige Position manövrieren, damit er die ihm zugedachte Einstellung zum vorgegebenen Sach­verhalt auch bezieht. Auf diese Beteiligung kann weder der Thesen­roman noch die ihm verwandte Literatur verzichten; denn erst durch sie vermag die Vorgegebenheit des Sachverhalts für den Leser zur Realität zu werden. Doch der Beteiligungsspielraum muß kon­trolliert bleiben und daher minimalisiert werden. Diese Kontrolle ist noch nicht dadurch zu erreichen, daß im Text das Normen- und Wertrepertoire des intendierten Publikums weitgehend antizipiert wird, so gewiß auch der Thesenroman sich seinem Publikum an­paßt, um dieses seiner Absicht anpassen zu können. Vielmehr muß die aus der Beteiligung entspringende Vorstellungstätigkeit kon­trolliert werden, und das geschieht durch die Einengung ausgespar­ter und daher vorzustellender Beziehung auf eine bloße Ja/Nein­Entscheidung. So ist die Darstellungsperspektive des Helden im Thesenroman in der Regel so angelegt, daß ihre vom Leser zu lei­stende Verknüpfung mit den anderen Darstellungsperspektiven nur auf das alternative Verhältnis von Zustimmung und Ablehnung hinauslaufen kann. Wenn Leerstellen als ausgesparte Anschlüsse der Segmente von Darstellungsperspektiven nur diese alternativen Vor­s~ellungen zulassen, dann schränkt sich die Beteiligung des Lesers auf das Verhäl!J;lis zu einem vorgegebenen Sachverhalt ein. Deshalb sind im Thesenroman die Darstellungsperspektiven weitgehend aus­einandergezogen, und das heißt, der wandernde Blickpunkt springt seltener um. Wir sind beim Lesen vorwiegend in der Perspektive des Helden, in der das antizipierte Repertoire des angesprochenen Publikums für die Anschlüsse sorgt. Andere Darstellungsperspek-

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Wenn Leerstellen als Unterbrechung der Anschließbarkeit sich zur Vorstellungs tätigkeit des Lesers transformieren, so muß sie der Thesenroman zwangsläufig einschränken. Die gleiche Struktur läßt sich jedoch auch kommerziell nutzen: das charakteristische Beispiel dafür ist der Fortsetzungsroman. Wenn heute Fortsetzungsromane in Zeitungen erscheinen, so spielt für diese Art der Veröffentlichung der Werbeeffekt eine nicht unerhebliche Rolle: der Roman soll ein­geführt werden, um ihm ein Publikum zu gewinnen. Im 19. Jahr­hundert stand diese Absicht ganz im Vordergrund des Interesses. Die großen realistischen Erzähler warben durch diese Publikations­form um Leser für ihre Romane. Charles Dickens gar schrieb viele seiner Romane nur von Woche zu Woche, und zwischendurch ver­suchte er, soviel wie möglich darüber zu erfahren, wie sich seine Leser den Fortgang der Handlung vorstellten. Dabei machte schon das Lesepublikum des 19. Jahrhunderts eine für den vorliegenden Zusammenhang aufschlußreiche Erfahrung: es hielt den in Fort­setzungen gelesenen Roman oftmals für besser als den identischen Text in BuchformY Diese Erfahrung ist wiederholbar, wenn man

17 Für Einzelheiten und relevante Belegstellen vgl. meine Schrift Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz '1974, pp. 16 ff. u. 37 f.

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das Experiment mit der heute in Zeitungen erscheinenden Roman­auswahl durchsteht. Diese liegt vielfach an der Grenze zur Trivial­literatur, denn es gilt, ein größeres Publikum anzusprechen, dessen Normen- und Wertrepertoire folglich stärker berücksichtigt werden muß, soll der kommerzielle Erfolg nicht ausbleiben. Liest man sol­che Romane abschnittsweise, so mag das hingehenj liest man sie als Buch, dann steht man sie selten durch. Die Bedingung solcher Unterschiede gründet in der Schnittechnik des Fortsetzungsromans. Er unterbricht im allgemeinen dort, wo sich eine Spannung gebildet hat, die nach einer Lösung drängt, oder wo man gerne etwas über den Ausgang des soeben Gelesenen erfahren möchte. Das Kappen bzw. das Verschleppen der Spannung bildet eine Elementarbedin­gung für den Schnitt. Ein solcher Suspens-Effekt aber bewirkt, daß wir uns die im Augenblick nicht verfügbare Information über den Fortgang des Geschehens vorzustellen versuchen. Wie wird es wei­tergehen? Indem wir diese und ähnliche Fragen stellen, erhöhen wir unsere Beteiligung am Vollzug des Geschehens. Dickens hat von die­sem Sachverhalt gewußtj seine Leser wurden ihm zu 'Mitautoren'.

Nun ließe sich ein ganzer Katalog solcher Schnittechniken ent­wickeln, die zum Teil ungleich raffinierter sind als der recht schlichte, wenngleich sehr wirkungsvolle Suspens-Effekt. Eine an­dere, häufig praktizierte Form, den Leser zu einer intensiveren Vor­stellungs tätigkeit zu veranlassen, besteht darin, mit einzelnen Schnitten unvermittelt neue Personen einzuführen, ja, ganz andere Handlungsstränge beginnen zu lassen, so daß sich die Frage nach den Beziehungen zwischen der bisher vertrauten Geschichte und den neuen, unvorhersehbaren Situationen aufdrängt. Daraus ergibt sich dann ein ganzes Geflecht möglicher Verbindungen, deren Reiz darin besteht, daß nun der Leser die unausformulierten Anschlüsse selbst herzustellen beginnt. Angesichts des temporären Informations­entzugs wird sich die Suggestivwirkung selbst von Details steigern, die wiederum die Vorstellung von möglichen Lösungen mobilisie­ren. Solche Leerstellen bewirken dann, daß der Leser die Lebendig­keit der erzählten Geschichte nahezu selbst produziertj er beginnt, mit den Figuren zu leben und steht mit ihnen die Ereignisse durch, von denen sie betroffen sind. Denn das mangelnde Wissen über den Fortgang erscheint dem Leser wie die noch ungewisse Zukunft

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der Figuren, und dieser 'gemeinsame' Leerhorizont führt dazu, daß er mit den Figuren zusammengeschlossen wird. Damit drängt der Fortsetzungsroman dem Leser eine bestimmte Form der Lektüre auf; die Unterbrechungen seiner Anschlüsse sind kalkulierter als jene, die beim Lesen eines Buches oftmals aus ganz äußerlichen Gründen verursacht werden. Im Fortsetzungsroman entspringen sie einer strategischen Absicht. Der Leser wird gezwungen, durch die ihm verordneten Pausen sich immer etwas mehr vorzustellen, als dies bei fortlaufender Lektüre des identischen Textes der Fall wäre. Wenn daher ein Text als Fortsetzungsroman einen anderen Ein­druck hinterläßt als in Buchform, so nicht zuletzt deshalb, weil er einen zusätzlichen Betrag an Leerstellen einführt bzw. durch die Pause bis zur nächsten Fortsetzung eine Leerstelle des Textes eigens akzentuiert. Sein Qualitätsniveau ist keineswegs höher. Er bringt nur eine andere Form der Aktualisierung zustande, die durch den vermehrten Leerstellenbetrag die Vorstellungsintensität des Lesers steigert.

S. Kracauer berichtet eine ganz ähnliche Beobachtung aus der Kinoerfahrung. Der Werbevorspann für den nächsten Film bewirkt durch seine Schnitte und seine Montagen eine Belebung der Phan­tasie seiner Zuschauer, die diesen Film dann sehen möchten, der in der Regel jedoch die erzeugte Erwartung nicht voll einzulösen ver­mag. So rekurrieren der Werbevorspann des Films und der Fort­setzungsroman auf eine Rezeptionsstruktur der Einbildungskraft, die über die Leerstellen als Form unterbrochener Anschließbarkeit so belebt werden kann, daß sich der damit erzielte Effekt kommerziell nutzen läßt.

Das dritte Beispiel ist von ganz anderer Art; es bietet sich uns paradigmatisch in den Romanen von Ivy Compton-Burnett. Hier werden die Leerstellen weder beschränkt, wie im Thesenroman, noch kommerziell aufbereitet, wie im Fortsetzungsroman; vielmehr werden sie selbst thematisch. Alle Romane Ivy Compton-Burnetts bestehen bekanntlich aus einer kaum unterbrochenen Dialogsitua­tion der Romanfiguren.18 Dieser Dialog indes überspielt alle unsere

" Zu den Voraussetzungen für den hier dargestellten Sachverhalt vgl. W. 1., Der implizite Leser, pp. 359-390.

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Dialogerwartungen, und zwar merkwürdigerweise dadurch, daß hier die Grundbedingungen dyadischer Interaktion eingelöst, aber viel­leicht gerade deshalb bloßgelegt sind. Die miteinander redenden Figuren entstammen alle dem gleichen Milieu, und das heißt, ihrer Kommunikation liegt der gleiche Code zugrunde. Darüber hinaus erfüllt der Dialog eine weitere Bedingung der Sprachhandlung: die Figuren fragen wechselseitig zurück, um sich zu versichern, was mit dem Gesagten gemeint ist. Vollkommener könnten die Vorausset­zungen kaum erfüllt sein, um im Sinne bekannter Kommunika­tionstheorien das Gelingen der Sprachhandlung zu gewährleisten. Dennoch mißlingt sie unentwegt, ja, sie produziert Katastrophen. Die Sprachhandlung des Dialogs dient nicht der Verständigung über Sachverhalte und Ziele, sondern dem ständigen Aufdecken der Im­plikationen, die die jeweilige Äußerung motiviert. Statt einer prag­matisch orientierten Sprachhandlung bringt sich im Dialog die Un­wägbarkeit zum Ausdruck, der die Sprachhandlungen entspringen. Da jede Äußerung in komplexe Voraussetzungen eingebettet ist, zielt der Dialog auf das Herauskehren dieser Implikationsvielfalt ab. Was in der Äußerung des Partners leer geblieben ist, versucht die Entgegnung zu besetzen, um ihrerseits Leerstellen zu hinterlassen, die dann der Partner wieder besetzt, woraus sich die Endlosigkeit des Dialogs ergibt.

Folglich ist der Dialog, wie es Hilary Corke einmal formulierte, "not a transcript of what he or she would have said in 'real life' but rather of what would have been said plus what would have been implied but not spoken plus wh at would have been under­stood though not implied.'!l9 Ist die Äußerung nur die Abschattung einer impliziten und daher leer gebliebenen Motivation, die oftmals der Figur selbst noch verborgen scheint, so erweist es sich nur als folgerichtig, wenn die Partner ständig hinter die jeweilige Äußerung des anderen zurückgreifen. In dem Bestreben, die virtuell gebliebene Motivation hervorzukehren, unterstellen sie der jeweiligen Äuße­rung bestimmte Voraussetzungen, durch die sie nicht nur eine Leer­stelle besetzen, sondern auch eine neue entstehen lassen, da sich in

19 Hilary Corke, "New Novels", in The Listener LVIII, NI. 1483 11957), p.322.

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der Antwort immer ein verdecktes Motiv der Entgegnung anzeigt. Die Leerstellen der einzelnen Äußerungen unterbrechen die Dialog­erwartung insofern, als nicht die Äußerungen, sondern das in ihr Ausgesparte den Bezugspunkt bildet. So wächst im Dialog die Un­vorhersagbarkeit des Gesagten, was sich in der steigenden Unge­heuerlichkeit der Vorstellungen niederschlägt, die die Figuren von­einander haben.

Indem dieser Vorgang thematisch wird, tragen die Figuren selbst einen Sachverhalt aus, der sich sonst als Konstitutionsaktivität des Lesers vollzieht. Folglich fühlt sich der Leser solcher Romane von ihnen bis zu einem gewissen Grade ausgesperrt. In einem oberfläch­lichen Sinne gliche seine Position jener, in die ihn der Thesen­roman manövriert. Während dort aber alles vorentschieden ist, hebt hier der Roman alle Entschiedenheit - selbst jene, die eine Äuße­rung der Figur zu enthalten scheint - mit aller Entschiedenheit auf. Langweilt der Thesenroman, weil er dem Leser nur noch den Spiel­raum gewährt, der nötig ist, um ihm die Illusion zu geben, er habe dem vom Text geregelten Sachverhalt aus eigener Einsicht die ohne­hin erwartete Zustimmung gegeben, so hinterläßt der Roman von Ivy Compton-Burnett eine reich facettierte Leerstelle hinsichtlich dessen, was die Menschen nun wirklich sind. Eine so dimensionierte Leerstelle spart dann nicht nur die Anschließbarkeit im Text, son­dern die Anschließbarkeit des Textes an die Erfahrungsgeschichte des Lesers aus. Wenn uns dann das Verhalten der Dialogpartner als zu­nehmend unwahrscheinlich, brutal, ja 'unvorstellbar' erscheint, dann werden unsere Implikate hervorgetrieben, die der Wahrschein­lichkeit, der Brutalität und der Vorstellbarkeit unterliegen. Durch sie besetzen wir diese Leerstelle. Ein solcher Akt beinhaltet im Prinzip zwei Konsequenzen: entweder halten wir an den Implikaten unserer Vorstellungen fest - dann fallen wir hinter das Bewußtsein der Figuren zurück, die im Aufdecken von Verdeckungen erst den Zu­gang zueinander gewahren; oder aber, wir geben die uns motivie­renden Implikate der eigenen Betrachtung frei - dann konstituieren wir den Sinn des Romans, wie immer auch die Inhalte der unsere Vorstellungen motivierenden Implikate aussehen mögen. In diesem Punkt kontrolliert dann der Text die ihrem Inhalt nach unkontrol­lierbaren Vorstellungen der verschiedensten Leser. Sich in ein Ver-

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hältnis zu den Implikaten der eigenen Vorstellungen zu setzen, gibt dem Leser dann die zeitweilig verlorene, aber ständig erwartete transzendentale Position zum Romangeschehen zurück, die ihn in jene für das Begreifen notwendige Distanz rückt. Allerdings fällt in moderner Literatur die Restituierung der elementaren Lesererwar­tung mit der Vergegenständlichung der für den Leser geltenden Orientierungen zusammen.

Thesenroman, Fortsetzungsroman und jener von Ivy Compton­Burnett repräsentierte Typ ließen sich als die politische, kommer­zielle und ästhetische Nutzung der Leerstellen fiktionaler Texte be­zeichnen. Der Thesenroman baut sie ab, weil er indoktrinieren möchte; der Fortsetzungsroman führt durch seine Publikationsform zusätzliche Leerstellen ein, weil er den so entstehenden Suggestions­spielraum für die Werbung nutzen möchte; der Roman von Ivy Compton-Burnett schließlich verabsolutiert die Leerstellen, weil er dem Leser die ihn charakterisierenden Projektionen entdecken möchte. Diese drei Typen markieren Extremwerte auf der Skala möglicher Nutzung. Der entscheidende Aspekt dieses Sachverhalts indes kommt nicht so sehr in der unterschiedlichen Nutzung, son­dern in der ihr unterliegenden Struktur zum Vorschein. Als Unter­brechung der Textkohärenz transformieren sich Leerstellen zur Vor­stellungstätigkeit des Lesers. Sie gewinnen dadurch den Charakter einer sich selbst regelnden Struktur, indem die von ihnen verur­sachten Aussparungen als Antriebe für das Vorstellungsbewußtsein des Lesers wirksam werden: es gilt, das Vorenthaltene durch Vor­stellungen zu besetzen. Formal gesprochen funktioniert diese Struk­tur als eine Gleichgewichtsregelung. Die drei Beispiele zeigten, daß sehr unterschiedliche 'Pegel' für die Einregulierung solcher Gleich­gewichte möglich sind; die Struktur selbst bleibt dabei weitgehend konstant. Sie kann daher als eine elementare Matrix für die Inter­aktion von Text und Leser gelten.

3. Die funktionale Struktur der Leerstelle

Diese allgemeine Funktion der Leerstelle läßt sich im Blick auf die von ihr bewirkte Leistung im Interaktionsprozeß differenzieren.

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Leerstellen sind als ausgesparte Anschließbarkeit der Textsegmente zugleich die Bedingungen ihrer Beziehbarkeit. Als solche indes dür­fen sie keinen bestimmten Inhalt haben; denn sie vermögen die ge­forderte Verbindbarkeit der Textsegmente nur anzuzeigen, nicht aber selbst vorzunehmen. Als sie selbst lassen sie sich daher auch nicht beschreiben, denn als 'Pausen des Textes' sind sie nichts; doch diesem 'nichts' entspringt ein wichtiger Antrieb der Konstitutions­aktivität des Lesers. Immer dort, wo Textsegmente unvermittelt an­einander stoßen, sitzen Leerstellen, die die erwartbare Geordnetheit des Textes unterbrechen. "Die Einteilung des Textes", so meint Lotman, "in strukturell gleichwertige Segmente bringt eine be­stimmte Geordnetheit in den Text. Es scheint jedoch von ganz ent­scheidender Bedeutung zu sein, daß diese Geordnetheit nicht restlos durchgeführt wird. Dadurch wird verhindert, daß sie sich automati­siert und in struktureller Beziehung redundant wird. Die Geordnet­heit des Textes tritt stets als organisierende Tendenz auf, die das heterogene Material zu Äquivalenzreihen aufbaut, gleichzeitig aber seine Heterogenität nicht beseitigt."20 Ja, diese kann prinzipiell vom Text überhaupt nicht zum Verschwinden gebracht werden, da die Textsegmente und die aus ihnen zu bildenden Äquivalenzreihen weder in vorgegebenen Gegenständen fundiert sind noch solche be­zeichnen, so daß erst über ihre Beziehung untereinander ein Aufbau der gegenständlichen Welt des Textes möglich wird.

An diesem Punkt stellt sich das eigentliche Problem: wie kann die aus der Heterogenität der Textsegmente zu formende Äquivalenz­reihe so weit kontrolliert werden, daß ihre Bildung subjektiver Will­kür zumindest strukturell entzogen bleibt? Zunächst wird man da­von ausgehen müssen, daß die Segmente eines fiktionalen Textes ihre jeweilige Bestimmung nicht in sich selber tragen, sondern diese erst in Beziehung zu anderen Segmenten gewinnen. Das scheint ein allgemeines Charakteristikum für alle künstlerischen Medien zu sein. So meint Balazs im Blick auf die Bildsequenz im Film, hier "genügt auch die bedeutungsvollste Einstellung nicht, um dem Bild seine ganze Bedeutung zu geben. Diese wird letzten Endes von der Position des Bildes zwischen den anderen Bildern entschieden ...

20 Lotman, p. 201.

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Das Bild bekommt in jedem Fall und unvermeidlich seine Bedeu­tung durch seine Stellung in der Assoziationsreihe ... die Bilder sind ... gleichsam mit einer Bedeutungstendenz geladen, die sich im Augenblick ihrer Berührung mit dem anderen Bild auslöst."21 Das gleiche gilt für die Segmente des fiktionalen Textes.22 Hier wie dort eröffnet die Leerstelle zwischen den Segmenten bzw. der Schnitt zwischen den Bildern ein Netz von Beziehbarkeiten, durch das sich die Segmente bzw. die Bilder wechselseitig bestimmen. Was eine solche Bestimmung regelt, darf selbst nicht bestimmt sein, denn die Segmente gewinnen ihre Bestimmung durch ihre Bezie­hung aufeinander, und nicht durch ihre Teilhabe an einem be­stimmten tertium comparationis. Eröffnen die Leerstellen ein sol­ches Beziehungsnetz, so muß dieses allerdings eine Struktur haben, soll die wechselseitige Bestimmung der Textsegmente nicht durch

21 Beta BaIazs, Der Geist des Films, übers. von W. Knapp, Halle 1930, p.46.

22 Dieser Sachverhalt gründet in der ganz allgemeinen Beziehung zwi-· schen Wort und Bedeutung, die Gurwitsch, pp. 262 f., einmal in der Auseinandersetzung mit der Bedeutungstheorie von Stout - die in der heutigen Leseforschung immer noch eine Rolle spielt - wie folgt be­schrieben hat: "Carriers of meaning are, for example, the words on a printed page, in that the perception of the words gives rise to specific acts through which the expressed thought is grasped. If words are per­ceived as meaningful symbols, not merely as black traits on a white ground, it is only because the perception of the words arouses and sup­ports specific acts of meaning-apprehension. However, the perceived words belong in no way to the meaning apprehended through those acts which, in turn, are founded upon the perception of the very words. When we ·are reading areport of actual events, or a theoretical dis­course, the words, whether taken as to their mere physical existence or as symbols, that is, insofar as they support acts of meaning-apprehen­sion, play no role within the context of the apprehended meaning. Such a role is not played by the acts of meaning-apprehension either. Meaning is here understood in the objective sense as different from the apprehension of meaning . . . At any event, no component of a mean­ing-unity can play the role of a carrier of meaning either with respect to itself or the meaning-unity of which it is part, since the meaning­unity as a whole as weIl as its components are apprehended through specific acts founded upon, and supported by the perception of the carrier of meaning. For the same reason, no carrier of meaning can, conversely, form part of the meaning it carries."

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die Beliebigkeit individueller Einregulierung wiederum unbestimmt werden.

Um diese Struktur zu verdeutlichen, muß noch einmal daran er­innert werden, in welch unterschiedlicher Form die Textsegmente dem Leserblickpunkt gegeben sind. Ihre elementarste Form zeigen sie auf der Ebene der erzählten Geschichte. Da brechen Handlungs­stränge ab und werden durch unvorhersehbare Ereignisse fortge­führt. Da gruppiert sich ein Erzählabschnitt um eine Person, um dann mit der abrupten Einführung neuer Personen fortgesetzt zu werden. Oft sind solche unvermittelten Zusammenstöße von Seg­menten der erzählten Geschichte durch Kapitel markiert und damit deutlich voneinander abgesetzt - doch nicht, um zu trennen, son­dern um das Auffinden der ausgesparten Beziehung anzuzeigen.

Ferner erscheinen dem Leserblickpunkt immer nur Segmente der verschiedenen Darstellungsperspektiven, deren Beziehungen zuein­ander sprachlich nicht manifestiert sind. Der so entstehende Leer­stellenbetrag erhöht sich noch einmal dadurch, daß in der Regel die zentralen Darstellungsperspektiven ihrerseits wiederum perspekti­viert sind. Die Erzählerperspektive spaltet sich oft in das Widerspiel von Autor (implied author) und Erzählerfigur (author as narrator); die Figurenperspektive in die Polarität von Held und Nebenfiguren; die Perspektive der Leserfiktion in explizite Positionszuschreibung und implizite Verhaltensnotwendigkeit zu solchen Zuschreibungen. Im Lektürevorgang rücken daher immer nur Profilschnitte der ein­zelnen Perspektiven sowie solche ihrer Perspektivierung in den je­weiligen Blickpunkt, der folglich immer hin- und herspringen muß, um das zeitliche Nacheinander ihrer heterogenen Folge in eine Äquivalenzreihe aufzuheben. Als System der Perspektivität besagen die genannten Perspektiven, daß sie jeweils unterschiedliche Hin­sichten auf eine von ihnen intendierte Gegenständlichkeit anzeigen, woraus folgt, daß keine von ihnen den ästhetischen Gegenstand des Textes total repräsentieren kann. Vielmehr kommt es erst über ihre Beziehungen untereinander zum Aufbau dieser Gegenständlichkeit.

Für diesen Aufbau besitzt die Leerstelle im Text eine wichtige Funktion, die zunächst in einer schematischen Verdeutlichung be­schrieben und danach durch ein Textbeispiel veranschaulicht werden soll. Hatten wir bisher ihre elementare Funktion in der ausgesparten

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Beziehung der Textsegmente gesehen, so gilt es nun, die durch sie initiierte Beziehbarkeit zu fassen, um zeigen zu können, in welchem Maße sie nicht als bloße Unterbrechung, sondern als eine Kommu­nikationsstruktur funktioniert. Denn die Leerstelle organisiert den Perspektivenwechsel des Leserblickpunkts in einer bestimmten Weise. Im zeitlichen Fluß des Lesens nehmen wir die einzelnen Segmente, die in einer jeweils verschiedenen Perspektive situiert sind, immer voreinander wahr. Das heißt, die einzelnen Segmente der Erzählerperspektive, der Figurenperspektive oder der Leserfik­tion werden durch diese Staffelung im Lektürevorgang zu wechsel­seitigen Projektionsflächen. Damit wird der erste Aspekt der von der Leerstelle ausgeübten Funktion deutlich. Indem sie die notwen­dige Beziehbarkeit zweier Segmente anzeigt, konstituiert sich der Leserblickpunkt als ein Feld, wodurch sich die Segmente wechsel­seitig bestimmen. Ein Feld entsteht immer dort, wo mindestens zwei Positionen aufeinander bezogen werden müssen, wie es in je­dem artikulierten Leseaugenblick geschieht, in dem ein Perspektiven­wechsel zwischen unterschiedlich situierten Segmenten erfolgt. Das Feld ist die minimale organisatorische Einheit aller Erfassungsvor­gänge. Insofern nimmt der Text hier wie anderwärts allgemeine Dispositionen der Erfassungsstruktur des Bewußtseins in Anspruch. Gurwitsch hat im Anschluß an eine Modifizierung der Gestalt­theorie deutlich gemacht, in welchem Maße das Bewußtsein über die Organisation der Außenweltdaten zu Feldern die Vorbedingung für alle Erfassung schafft.23

Die erste strukturbildende Eigenschaft der Leerstelle zeigt sich darin, daß sie ein Feld als wechselseitige Projektionen gegebener Segmente von Textperspektiven angesichts ausgesparter Beziehun­gen zu organisieren vermag. Daraus ergibt sich die Feldstruktur des Leserblickpunkts. Da es sich bei den im Feld vorhandenen Profil­schnitten der genannten Textperspektiven um strukturell gleich­wertige Segmente handelt, treibt ihre Zuordnung aufeinander be­stimmte Affinitäten und Unterschiede hervor. Folglich entsteht eine Spannung, die zur Aufhebung drängt. Hier gilt, was Arnheim ein-

2l Vgl. dazu ibid., pp. 309-375; ferner Alfred Schütz/Thomas Luck­mann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied u. Darmstadt 1975, pp. 196 f.

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mal als generelle Beobachtung formulierte: "It is one of the fune­tions of the third dimension to eome to the reseue when things get uneomfortable in the seeond.,,24 Die Spannung vermag sich zu ent­laden, wenn den Segmenten des Blickfelds ein gemeinsamer Rah­men geschaffen wird, der das Beziehungsverhältnis der Affinitäten und Unterschiede gewärtigen läßt. Dieser Rahmen indes erweist sich als Leerstelle, die nur durch die Vorstellung des Lesers besetz­bar ist. Damit hat die Leerstelle im Feld des Leserblickpunkts gleich­sam ihren Ort gewechselt. Zeigte sich ihre elementare Funktion zu­nächst darin, daß sie durch ausgesparte Anschließbarkeit die Text­segmente zu wechselseitigen Projektionsflächen organisierte, so ist sie nun als Rahmen der miteinander verspannten Segmente die Be­dingung dafür, daß der Leser ein Beziehungsverhältnis produzieren kann. Daraus läßt sich schon hier die Vermutung ableiten, daß der 'Ortswechse1' der Leerstelle innerhalb des Feldes eine zentrale Vor­aussetzung für die im Leserblickpunkt ablaufenden Operationen bildet.

Produziert der Leser das Beziehungsverhältnis der jeweils mitein­ander verspannten Segmente, so kann diese Aktivität nicht völlig ungeregelt sein. Werden zwei Textsegmente aufeinander bezogen, so stehen diese nicht gleichzeitig im Blickpunkt des Lesers. Das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, daß im stromzeitlichen fluß des Lesens die einzelnen, in unterschiedlichen Perspektiven situierten Textsegmente nacheinander erscheinen. Folglich wird der Blickpunkt des Lesers zwischen den jeweils gruppierten Segmenten hin- und her­pendeln. Was er in den Blick nimmt, wird für ihn thematisch. Wenn eine Position zum Thema wird, so kann die andere nicht ebenfalls thematisch sein. Das aber heißt nicht, daß sie verschwin­det; sie verliert nur ihre thematische Relevanz und bildet im Blick auf die zum Thema erhobene Position eine Leerstelle.25 Sie rückt in die marginale Stellung des Blickfeldes und gewinnt dadurch den

" Rudolf Arnheim, Toward a Psychology of Art, Berkeley and Los Angeles 1967, p. 239.

25 Zum Problem des Wechsels der Relevanzen wie auch zu dem der fallengelassenen thematischen Relevanz~vgl. Alfred Schütz, Das Problem der Relevanz, übers. von A. v. Baeyer, Frankfurt 1970, pp. 104 ff. u. 145 ff.

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Charakter des Horizonts. Denn das zum Thema erhobene Segment wird ja nicht isoliert gewärtigt, sondern erscheint in der Konditio­nierung jenes Segments, das im Blickfeld marginal und folglich für das thematische Segment zum Horizont seines Wahrgenommen­werdens geworden ist. So bietet die Leerstelle der fallengelassenen thematischen Relevanz eine wichtige Steuerungsfunktion für den Erfassungsakt. Denn die in jedem Lektüreaugenblick erfolgende Zu­wendung zu einem thematisch gewordenen Segment geschieht unter gleichzeitiger Besetzung eines Horizonts, der durch die leergeblie­bene thematische Relevanz des anderen Segments gesetzt ist. Da­durch wird den Operationen des Leserblickpunkts die Beliebigkeit genommen; die Erfassung eines Themas ist durch die notwendige Besetzung eines vorgegebenen Horizonts gesteuert. Im stromzeit­lichen Fluß des Lesens wird der Leserblickpunkt zwischen den Per­spektiven wechseln, wodurch zwangsläufig das soeben thematisch gewesene Segment in die Horizontstellung rückt und so die Zuwen­dung zu dem nun thematisch gewordenen Segment konditioniert. Daraus ergibt sich dann eine für den Kommunikationsvorgang wich­tige Konsequenz. Durch die Struktur von Thema und Horizont er­scheinen die Segmente nicht nur in wechselseitiger Bezogenheit vor­einander; diese Struktur bildet auch die Voraussetzung dafür, daß sie transformiert werden. Erst die Transformation der Segmente läßt den ästhetischen Gegenstand entstehen, und das folgt allein schon daraus, daß weder die einzelne Darstellungsperspektive, ge­schweige denn ihre jeweiligen Segmente diesen Gegenstand je für sich repräsentieren können.

Es empfiehlt sich, diesen Sachverhalt in der konkreten Dimension eines Beispiels weiterzuführen, damit die Art der Transformation deutlich werden kann, die durch die Leerstelle der fallengelassenen thematischen Relevanz im Blickfeld des Lesers bewirkt wird. Als Beispiel wählen wir wieder Fieldings Tom Tones, nicht zuletzt, weil die dem Roman nachgesagte Komplexhaftigkeit auf der maximalen Nutzung jener Thema- und Horizont-Struktur beruht, durch die nichts Geringeres als ein Bild der menschlichen Natur vermittelt werden soll. Da es hier lediglich um eine Veranschaulichung der die­ser Struktur entspringenden Transformation geht, beschränken wir die Diskussion auf zwei Perspektivträger des Romans: den des Hel-

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den und den der Nebenfiguren, die als Perspektivierung der Figuren­perspektive i~ jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen situiert sind. Wir lassen folglich die übrigen Darstellungsperspektiven dabei außer acht. Die umfassende Zielsetzung des Romans, ein Bild der menschlichen Natur zu entwerfen, bringt sich im Repertoire zur Geltung, das die zentralen Normen der herrschenden zeitgenössi­schen Erklärungssysteme in den Text hineinzieht und diese als die Leitorientierung der wichtigsten Figuren vorführt. In der Regel sind diese Prinzipien als mehr oder minder explizite Oppositionen ange­ordnet; das gilt für Allworthy (benevolence) im Verhältnis zu Squire Western (ruling passion) ebenso wie für die zwei Pädagogen (Square: the eternal fitness 01 tbings; Thwackum: tbe buman mind as a sink 01 iniquity) untereinander und für beide zusammen wie­derum in ihrem Verhältnis zu Allworthy. Aber auch andere Be­reiche des Romans sind kontrastiv abgebildet; so etwa die Liebe in der Reihe Sophia (als Idealität natürlicher Neigung), Molly Seagrim (als Verführbarkeit) und Lady Bellaston (als Verwerflichkeit). Nach diesem Muster ließen sich noch andere Kontrastrelationen angeben, die ihrerseits jedoch nur dazu dienen, Oppositionsglieder zur Po­sition des Helden zu bilden, damit das Verhältnis in eine Spannung verwandelt werden kann. Diese wird noch einmal über das Ver­hältnis Tom-Blifil kontrastiv interpretiert: Blifil befolgt die Normen seiner Erzieher und wird korrumpiert; Tom hingegen verletzt sie und gewinnt an Menschlichkeit.

Soweit die Sachlage des Textes: der Held wird in den einzelnen Situationen mit den Normen latitudinaristischer Moral, orthodoxer Theologie, deistischer Philosophie, aufklärerischer Anthropologie so­wie denjenigen aristokratischer Gesellschaft zusammengeschlossen. Opposition, Kontrast und Diskrepanz markieren innerhalb der Figu­renperspektive die ausgesparten Beziehungen, wodurch der Held und die repräsentierten Normen in ein wechselseitiges Projektions­verhältnis geraten und die einzelnen Situationen des Romans sich für den Leserblickpunkt als Feld konstituieren. Das Verhalten des Helden läßt sich nicht unter die Normen verrechnen, während diese in der Situationsfolge des Romans zu einem verdinglichten Aspekt der menschlichen Natur schrumpfen. Doch das ist bereits eine Be­obachtung des Lesers; denn im Text werden solche Synthesen nur

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in den allerseltensten Fällen gegeben, wenngleich sie durch die Struktur von Thema und Horizont vorgezeichnet sind. Die fort­während entstehenden Diskrepanzen zwischen dem Helden und den Figuren seiner Umwelt erzeugen eine Spannung, die auf Ausgleich drängt. Sie zeigt an, daß die kontrastierenden Positionen als solche nicht gleichzeitig im Blick des Lesers bleiben können; vielmehr springt der Leserblickpunkt zwischen den Positionen mehr oder minder ständig um. Daraus folgt, daß immer nur eine Position thematisch gemacht werden kann. Folglich verliert die andere Po· sition ihre thematische Relevanz, doch sie konditioniert durch ihre HorizontsteIlung die Zuwendung zum jeweiligen Thema.

Verstößt der Held gegen die repräsentierten Normen - was bei­nahe unentwegt geschieht - dann ergeben sich alternative Beurtei­lungen für die daraus resultierende Situation. Entweder erscheint die Norm als drastische Reduktion der menschlichen Natur - dann konditioniert der Held die Zuwendung zum Thema - oder die Ver­letzung läßt erkennen, was der menschlichen Natur zu ihrer vollen Entfaltung noch fehlt - dann konditioniert die Norm den Leser­blickpunkt. Aus dieser Struktur ergibt sich dann die Transformation der im Text repräsentierten Positionen. Für diejenigen Figuren, die eine Norm verkörpern - das gilt vornehmlich für Allworthy, Squire Western, Square und Thwackum - zieht sich die Bestimmung der menschlichen Natur auf ein Prinzip zusammen, durch das zwangs­läufig die anderen Möglichkeiten, die sich mit diesem Prinzip nicht harmonisieren lassen, als negativ gesetzt werden. Das trifft selbst auf Allworthy zu, dessen allegorischer Name eine moralische Red­lichkeit anzeigt, die in ihrer Vereinsei tigung allerdings seine Ein­sicht, ja oftmals sogar sein Urteil erheblich trübt.26 Wenn aber nun die von der Reduktion als negativ gesetzten Möglichkeiten der menschlichen Natur auf das Prinzip selbst zurückschlagen und es proportional zu seiner Begrenztheit problematisieren, dann begin­nen sich die Normen zu verändern. Nicht was sie repräsentieren,

26 Vgl. dazu Henry Fielding, Tom Iones II, 6 (Everyman's LibraryJ. London 1962, pp. 57 ff.; ferner Michael Irwin, Henry Fielding, The Ten­tative Realist, Oxford 1967, p. 137, der daraus bestimmte Funktionen für die Leserlenkung ableitet.

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sondern was in dieser Repräsentation ausgeschlossen ist, rückt nun in den Blick, so daß sich durch die jeweilige Norm eine virtuelle Differenzierung der menschlichen Natur ergibt. In diesem Spektrum schattet sich der ästhetische Gegenstand ab, der die jeweilige Norm als eine restriktive Bestimmung der menschlichen Natur erkennen läßt. Damit hat sich die Funktion der einzelnen Normen selbst ver­ändert; sie stellen nicht mehr die sozialen Regulative der im 18. Jahrhundert herrschenden Erklärungssysteme vor, sondern verdeut­lichen das Ausmaß der Erfahrung, das durch sie verdrängt wird, weil sie durch ihren Prinzipiencharakter keine Modifizierungen dulden können. Transformationen dieser Art ergeben sich dort, wo die Nor­men thematisch werden und der Held als fallengelassene thema­tische Relevanz den Horizont des Leserblickpunkts bildet. Dort hin­gegen, wo der Held thematisch wird und folglich die in den Neben­figuren vorgestellten Normen den Blickpunkt konditionieren, er­scheint seine wohlmeinende Spontaneität als die Verderbtheit einer triebhaften Natur. Damit erfährt die Position des Helden auch eine Transformation, denn sie bleibt nicht der kritische Standpunkt für das Normenrepertoire; vielmehr läßt sie erkennen, daß selbst wohl­meinende Spontaneität zuschanden wird, wenn ihr durch mangelnde Umsicht (circumspectionl die notwendige Orientierung fehlt, bzw. daß die triebhafte Natur des Menschen durch Klugheit (prudencel kontrolliert werden muß27, soll aus ihr die Möglichkeit zur Selbst­erhaltung gewonnen werden.

Wenn das Verhältnis von Thema und Horizont Transformationen der beschriebenen Art bewirkt, so hängt dies eng mit dem Um­springen der Leerstelle im Feld zusammen. Ist die eine Position je­weils thematisch und die andere in Bezug auf diese Relevanz leer, so wird ein Rückkoppelungseffekt des erfaßten Themas auf die Leer­stelle nicht ausbleiben können. In diesem 'hermeneutischen Vor­gang' vollziehen sich die Transformationen der im Text repräsen­tierten Positionen. Da diese Struktur die unterschiedlich geforderte Aufmerksamkeit des Lesers steuert, vermittelt sie oft den Anschein, als ob der Leser durch den Umsprung seines Blickpunktes die Per-

27 Vgl. Fielding, Tom Tones u. a. III, 7, p. 92 u. XVIII, Chapter the Last, p. 427.

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spektiven seiner Betrachtung selbst reguliere. In diesem Eindruck manifestiert sich eine weitere strukturbildende Eigenschaft der Leer­stelle. Durch sie gewinnt der 'hermeneutische Vorgang', der ein er­faßtes Thema in die Auslegung des thematisch leergebliebenen Horizonts umschlagen läßt, den Charakter einer sich selbst re­gulierenden Struktur. Ihre Bedeutsamkeit für die Interaktion von Text und Leser besteht vornehmlich darin, daß sie den beschrie­benen Transformationsvorgang zumindest strukturell der subjekti­ven Willkür entzieht.

Wenn sich dann Schwankungsbreiten in der Auffassung ergeben, so gründen diese weniger in der beschriebenen Struktur, sondern eher in den unterschiedlichen Vorstellungsinhalten, die die Text­segmente in der Einbildungskraft des Lesers aufrufen. So zeigt etwa die Rezeptionsgeschichte Fieldings schon im 18. Jahrhundert, daß man sich von Thwackum, dem orthodoxen Theologen, je nach dem eigenen Verhältnis zur anglikanischen Orthodoxie recht unterschied­liche Vorstellungen bildete.28 Davon aber bleibt zunächst die Struk­tur von Thema und Horizont unberührt. Zerstört wird diese Struk­tur erst dort, wo sich der Leser gegen den von ihr vorgezeichneten Blickpunktwechsel sperrt. Das heißt, wo er nicht bereit ist, Thwack­um etwa aus der Position des Helden zu erfassen, weil für ihn die Normen aufklärerischer Orthodoxie ein Erklärungssystem verkör­pern, das alle Lebensbereiche abdeckt und folglich nicht befragt werden darf. Auch dafür gibt es Beispiele in der Rezeptionsgeschichte Fieldings. Wenn daher der Roman von manchen Lesern als gottes­lästerlich bezeichnet wurde, so ist .in diesem Urteil zumindest die potentielle Wirksamkeit der Struktur von Thema und Horizont an­gezeigt, wenngleich nicht eingelöst. Denn eine als unbestritten emp­fundene Norm thematisch zu machen, heißt doch im Blick auf die beschriebene Struktur, sie vor einen fremden Horizont zu bringen, um das ausleuchten zu können, was in ihr verdeckt geblieben ist. Der geäußerte Unmut ist nur ein Zeichen dafür, daß diese Struktur zumindest durch ihre Zumutung wirkt.

28 Für relevante Belegstellen vgl. F. T. Blanchard, Fielding the Nove­list. A Study in Historical Criticism, New Haven 1926 u. Heinz Ronte, Richardson und Fielding. Geschichte ihres Ruhmes (Kölner Anglistische Arbeiten 25), Leipzig 1935.

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Dieser Sachverhalt birgt eine durchaus zu verallgemeinernde Kon­sequenz. Je entschiedener der Leser auf eine ideologische Position verpflichtet ist, desto deutlicher sinkt seine Bereitschaft, sich auf (He zentrale Erfassungsstruktur von Thema und Horizont, welche die Interaktion von Text und Leser reguliert, einzulassen. Worauf er eingeschworen ist, darf nicht zum Thema der Betrachtung werden. Wenn dieser Sachverhalt ihn überhaupt zu irritieren vermag, so vor­wiegend deshalb, weil die beschriebene Struktur bestimmte, leer gebliebene Positionen zur Besetzbarkeit anbietet und dadurch den Blick für das jeweilige Thema vorgibt. Sieht sich der Leser zu einer solchen strukturbedingten Beteiligung am Textgeschehen 'verführt', die sich am Ende gegen die Werte richtet, an die er glaubt, so schlägt sich diese oft in der Verdammung von Buch und Autor nieder. Doch selbst in einer solchen Reaktion ist die Wirkung dieser Struktur le­bendig. Sie zeigt sich lediglich in ihrem defizienten Modus, der als solcher immer noch eine diagnostische Kraft besitzt. Ist die Inter­aktionsstruktur von Thema und Horizont im Prinzip der subjektiven Willkür entzogen, weil sie zumindest als Defizienz auch dann noch funktioniert, wenn man sich gegen ihre Wirksamkeit sperrt, so ent­steht die Vielfalt der Interpretationen primär nicht aus dieser Struktur, sondern aus den Vorstellungsinhalten derjenigen Positionen, die innerhalb dieser Struktur in die Wechselbeziehung von Thema und Horizont geraten.29

" Selbst inhaltlich gesprochen, dürfte sich ein gewisses Maß inter­subjektiver übereinkunft hinsichtlich dessen erzielen lassen, was hier durch die Interaktion transformiert wird. Bleibt die Interpretation durch das formale Schema von Thema und Horizont kontrolliert, dann ergibt sich aus der Folge der einzelnen im jeweiligen Feld umspringenden Blickpunkte als mögliche Einsicht, daß die normativen Prinzipien der in der Aufklärung herrschenden Sinnsysteme durch ihre Starrheit Erfah­rung verhindern, während der Held angesichts seiner spontanen Offen­heit sowie seiner triebhaften Natur in den verschiedensten Situationen orientierungslos zu werden droht. Daraus folgt, daß die Normen der herrschenden Sinnsysteme für die Selbsterhaltung deshalb so fatal sind, weil sie die situative Veränderbarkeit des Lebens verdrängen, da ihre Erklärungspotentiale diese nicht mehr abzudecken vermögen. Anderer­seits macht der Held die Risiken deutlich, die der Selbsterhaltung dro­hen, wenn sich die Spontaneität selbst wohlmeinender Absichten sowie

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Damit läßt sich die Funktion der Leerstelle als Bedingung für die Betätigung des Lesers im Text wie folgt zusammenfassen. Die Feld­struktur des Leserblickpunkts machte deutlich, daß die Leerstelle innerhalb dieser Struktur ihren Ort zu wechseln und dadurch ver­schiedene Operationen auszulösen vermag. Diese Verschiebung der Leerstelle im Feld erweist sich als eine zentrale Voraussetzung für die im Leserblickpunkt ablaufenden Transformationen. Sofern die Leerstelle ausgesparte Anschlüsse gegebener Textsegmente anzeigt, markiert sie die Notwendigkeit, eine Äquivalenz heterogener Seg­mente herzustellen. Die ausgesparte Beziehung wandelt die ent­sprechenden Segmente in wechselseitige Projektionsflächen fürein­ander um, wodurch sich der Leserblickpunkt als ein Feld konsti­tuiert, dessen Spannung sich zum Wechselverhältnis von Thema und Horizont entlädt. Dieses Verhältnis bewirkt und reguliert die Transformation der Segmente. Es entspringt einer latenten Un­gleichgewichtigkeit der Blickpunktsituierung, indem das eine Seg­ment zum Thema, das andere als fallengelassene thematische Rele­vanz zur Leerstelle wird, die als Horizont den Leserblickpunkt in der Zuwendung zum thematisch gewordenen Segment konditioniert. Daraus gewinnt der Leserblickpunkt seine eigentümlich stereosko­pische Qualität; er vermag auf das zu blicken, worin er ist. Was für ihn Thema ist, steht folglich immer vor einem Horizont, woraus sich Erfassungsbedingungen für die thematisch gewordene Position

die triebhafte Natur dem Erfahrungsstrom unreflektiert zuwenden. Selbsterhaltung also ist weder durch die Normen der Sinnsysteme noch durch spontane Bereitschaften situativer Reaktion zu sichern, sondern durch ein Verhalten, das der Selbstkontrolle inmitten wechselnder Er­fahrungen entspringt. Um ein solches Verhalten entwickeln zu können, bedarf es eines geschärften Unterscheidungsvermögens im Blick auf die Alternativen, die potentiell in jeder Situation stecken. Sichert das re­flektierende Abwägen in letzter Instanz die Selbsterhaltung, so bleibt der konkrete Inhalt dieser Aktivität ausgespart. Er schattet sich zum ästhetischen Gegenstand des Romans ab. Damit ist dann auch der Punkt bezeichnet, an dem sich das Interpretationsspektrum des· Textes auszufalten beginnt. Doch ehe man dessen unverkennbare Subjektivität beldagt, sollte man sich die strukturellen Bedingungen seines Zustan­dekommens vergegenwärtigen, nicht zuletzt deshalb, weil durch sie das subjektive Resultat intersubjektiv diskussionsfähig bleibt.

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ergeben. Die Horizontstellung des Segments, das seine thematische Relevanz im jeweils artikulierten Lektüreaugenblick verloren hat, wirkt insofern auf das Thema des Leserblickpunkts zurück, als sie diesen mit bestimmten selektiven Einstellungen versieht. Im zeit­lichen fluß der Lektüre kann es nicht ausbleiben, daß im erneuten Perspektivenwechsel ein Rückkoppelungseffekt entsteht, wodurch das erfaßte Thema das leer gebliebene auslegbar macht.

Im Blick auf die beschriebene Struktur gilt es folgendes festzuhal­ten : Sie muß als eine idealtypische verstanden werden, durch die sich die Beteiligung des Lesers im Text beschreiben läßt. Der Orts­wechsel der Leerstelle darf nicht dahin mißverstanden werden, als ob es sich in deren jeweils verschiedener 'Ausprägung' um ein Arse­nal unterschiedlicher Leerstellentypen handelte. Vielmehr markiert die Verschiebung der Leerstelle im Feld jeweils bestimmte Bestim­mungsbedürftigkeiten, wodurch die Leerstelle dem Leser die Bahn einer Erfassungsoperation vorzeichnet. Doch sie 'bewegt' sich im Feld des Leserblickpunkts nicht gleichsam von selbst, sondern ver­lagert sich proportional zur realisierten Konstitutionsaktivität des Lesers, die sie lenkt. Sie gewinnt so den Charakter einer sich selbst regulierenden Struktur, die allerdings immer nur in der Wechsel­wirkung von Text und Leser zu funktionieren beginnt. Markiert der Ortswechsel der Leerstelle im Blickfeld des Lesers die aufein­ander abgestimmten Teiloperationen der Struktur, so ist die Struk­tur der Leerstelle ein zentraler Konstitutionsmodus des Textes im Lesevorgang. Dadurch erweist sich die von der Leerstelle ausgelöste Aktivität zugleich als die Lenkung dieser Aktivität.

So ermöglicht die Leerstelle die Beteiligung des Lesers am Vollzug des Textgeschehens. Beteiligung heißt im Blick auf diese Struktur, daß der Leser weniger von den manifestierten Positionen des Textes auszugehen habe als vielmehr von den Aktionen, die man auf diese ausüben kann. Solche Operationen verlaufen insofern kontrolliert, als sie die Tätigkeit des Lesers auf Koordination, Perspektivum­sprung und wechselseitige Selbstauslegung bezogener Blickpunkte einschränken. Indem die Leerstelle diese Operationen freigibt, wird der fundamentale Zusammenhang zwischen Struktur und Subjekt deutlich, und zwar in dem Sinne, wie ihn Piaget einmal forniuliert hat: liMit einem Wort, das Subjekt existiert, weil das 'Sein' der

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Strukturen ganz allgemein ihre Strukturierung ist.,,3o Die Leerstelle macht die Struktur dynamisch, da sie bestimmte Offenheiten mar­kiert, die sich nur durch die vom Leser zu leistende Strukturierung schließen lassen. In diesem Vorgang gewinnt die Struktur ihre Funktion.

Besetzt der Leser durch seine Vorstellungen - deren materialer Inhalt aus den gegebenen Textpositionen stammt - die von der Leerstelle jeweils vorgezeichnete Bestimmungsbedürftigkeit der Er­fassungsstruktur, so kann es nicht ausbleiben, daß einmal gebildete Vorstellungen angesichts neuer Bestimmungsbedürftigkeiten wieder preisgegeben werden müssen. Dadurch kommt es zu einem Reak­tionsverhältnis der Vorstellungen untereinander. Denn wir reagie­ren auf eine Vorstellung, indem wir sie durch eine andere ersetzen, wobei die neue von dem konditioniert bleibt, was die alte nicht mehr zu leisten vermochte. Damit zeichnet sich die preisgegebene Vorstellung der nachfolgenden ein. Der Ortswechsel der Leerstelle im Feld läßt solche Vorstellungsketten entstehen, die den vorge­zeichneten Strukturierungsoperationen entspringen, in deren Voll­zug sich die Transformation gegebener Textpositionen in das Vor­stellungsbewußtsein des Lesers übersetzt.

4. Historische Differenzierung der Interaktionsstruktur

Die zentrale Bedeutung, die der Leerstelle für die Interaktion von Text und Leser zukommt, bezeugt sich auch in der Variation der von ihr organisierten Interaktionsmuster, in denen sich zugleich historische Differenzierungen zur Geltung bringen. Das fielding­beispiel zeigte noch eine relativ einfache Struktur, die allerdings für die Prosa des 18. Jahrhunderts weithin charakteristisch war: die Profilschnitte des Leserblickpunkts bestanden hauptsächlich aus Per­spektivierungen der Figurenperspektive. In diese war zugleich eine Hierarchie eingezeichnet, die ein Gefälle vom Helden zu den Ne­benfiguren besitzt. Damit war die Bewertung der Positionen durch den Text selbst bis zu einem gewissen Grade vorentschieden. Den-

30 Jean Piaget, Der Strukturalismus. übers. von 1. Häfliger, Olten 1973, p.134.

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noch ist nicht zu verkennen, daß sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im Roman neben dieser Darstellungsperspektive deutlich eine zweite: die der Leserfiktion, zu entwickeln beginnt, die noch einmal von einer solchen des gelegentlich intervenierenden Erzählers paralleli­siert wird. Doch auch hier herrscht noch ein Hierarchieverhältnis unter den Perspektiven, das sich von den Figuren über die Leser­fiktion bis hin zu den Interventionen des Erzählers als der bedeut­samsten Position aufbaut. Immerhin ergeben sich Komplizierungen für die im Blickfeld des Lesers zur Interaktion organisierten Seg­mente, wenn diese aus Profilschnitten der Figurenperspektive und solchen der Leserfiktion bestehen. Sternes Tristram Shandy ist da­für ein sehr charakteristisches Beispiel. Nun rücken nicht nur Held und Nebenfiguren, sondern zusätzlich bestimmte, dem Leser zuge­schriebene Positionen wie auch die Interventionen des Erzählers in die Thema- und Horizontal-Konstellation ein. Jetzt können Figuren­und Leserpositionen zu wechselseitigen Projektionsflächen werden, die die Struktur gewiß komplizieren, zugleich aber der Strukturie­rung auch eine bestimmte Intention vorgeben. Denn springt der Leserblickpunkt zwischen Figur und Leserfiktion hin und her, so geht es offensichtlich darum, auch die markierte Leserposition zu transformieren. Dient die Perspektive der Leserfiktion vorwiegend dazu, Einstellungen zum erzählten Geschehen zu umreißen, so heißt dies, daß nun die Transformationen auf die Veränderung der in dieser Positionszuschreibung manifestierten Inhalte abzielen. Dafür finden sich wiederum in Tristram Shandy zahlreiche Beispiele. Ähn­licheJ.? Transformationen ist aber auch die Erzählerperspektive aus­gesetzt. Sie zeigt in der Regel die Bewertungen des erzählten Ge­schehens an, die zwangsläufig eine Veränderung erfahren, wenn sie mlt Profilschnitten anderer Perspektiven im Leserblickpunkt zu einer Thema- und Horizont-Konstellation verspannt werden; Es ist daher aufschlußreich, daß es im 18. Jahrhundert kaum zu einer Perspektivierung der Erzählerperspektive kommt, so daß die von ihr gesetzten Bewertungen Fixpunkte des erzählten Geschehens verkörpern und eher als Anreiz für den Leser dienen, die ihm zu­geschriebene Position zu verlassen, um den Blickpunkt des Erzäh­lers einnehmen zu können. Geschieht dies, dann ist ihm gleichsam die Garantie richtiger Bewertung gegeben.

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Im 19. Jahrhundert wird nun die Erzählerperspektive ihrerseits perspektiviert, indem sich eine Erzählerfigur vom implied author abspaltet, unter die Figuren tritt und sich keineswegs mehr in über­einstimmung mit der herrschenden Erzählerperspektive weiß. Booth hat diese Erzählerfigur als unreliable narrator3! bezeichnet. Unzu­verlässig ist diese Erzählerfigur deshalb, weil sie nicht mehr die Be­wertungen der Erzählerperspektive repräsentiert, sondern Stand­punkte hervorkehrt, die andere, oft gegenteilige Bewertungen nahe­legen.

Daraus läßt sich eine generalisierbare Einsicht in den Vorgang der Perspektivierung zentraler Darstellungsperspektiven ableiten. Die Aufspaltung der Figurenperspektive ermöglicht die Konfrontierung der aus der Umwelt des Textes selektierten Normen und literari­schen Bezüge zum Zwecke ihrer Transformation. Die Aufspaltung der Leserfiktion läßt unterschiedliche Einstellungen deutlich werden, deren notwendige Veränderung eine vom persönlichen Habitus ab­gelöste Zuwendung zum Textgeschehen ermöglichen soll. Die Auf­spaltung der Erzählerperspektive besagt schließlich, daß gegebene und erwartbare Bewertungen nur die Voraussetzungen dafür bilden können, um in ihrer Verwandlung einen unvorherbedachten Be­wertungsrahmen für das Sinngeschehen entstehen zu lassen.

Daraus ergibt sich dann für das Blickfeld des Lesers, daß nicht nur die Figuren untereinander, sondern oftmals auch die markierten Ein s tell un gen und B ewe r tun gen mit den Profilschnit­ten der Figurenperspektive zu Positionen eines Feldes verspannt werden müssen. Im Blick auf die zum Thema erhobenen Einstel­lungen und Bewertungen bildet dann auch die Figur den Horizont, der die Zuwendungen zu den thematisch gewordenen habitualisier­ten Normen von Einstellung und Bewertung konditioniert. Nun läßt sich im 19. Jahrhundert eine oft weitgehende Einebnung jener für das 18. Jahrhundert innerhalb der Figurenperspektive noch gel­tenden Hierarchie von Held und Nebenfiguren beobachten - signa­lisiert in programmatischen Äußerungen wie A NOVEL WITHOUT A HERO. Ja, dieser Trend erfaßt auch die Zuordnung der anderen

3J Zu diesen Begriffen vgl. Wayne C. Booth, TlIe Rhetoric of Fiction, Chicago '1963, pp. 211 H. u. 339 H.

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Darstellungsperspektiven, so daß Figuren- und Erzählerperspektive sowie die der Leserfiktion gelegentlich schon zur' Gleichrangigkeit nivelliert sind.32 Der Leserblickpunkt verliert dadurch seine focus­artige Orientierung, die im Roman des 18. Jahrhunderts durch die hierarchische Anordnung der Darstellungsperspektiven noch ge­geben war. Dem Abbau gesetzter Orientierungen im Text entspricht daher eine höhere Inanspruchnahme der Strukturierungsaktivität des Lesers. Das Interaktioll'smuster des Leserblickpunkts ist ange­sichts gesteigerter Kombinierbarkeit offener geworden.

Besteht die zentrale Funktion der Leerstelle im Blickfeld des Le­sers darin, daß sie Transformationen durch wechselseitige Auslegung der miteinander verspannten Textsegmente ermöglicht, so sind im Roman des 19. Jahrhunderts Einstellungen (Leserfiktion) sowie Be­wertungen (Erzählerperspektive) in dieses Spiel mit einbezogen. Sie unterliegen dann den gleichen Operationen. Die Figurenperspektive hört auf, nur den paradigmatischen Fall der Transformation des selektierten Normenrepertoires vorzuführen, für dessen Erfassung im Roman des 18. Jahrhunderts bestenfalls Einstellungsregulierun­gen über die Leserfiktion erfolgten. Werden die Bewertungen der Erzählerperspektive in die wechselseitige Transformation der Dar­stellungsperspektiven einbezogen, dann schwindet zunächst eine bestimmte, vom Autor gesetzte Orientierung. Das erzählte Ge­schehen ist dann nicht mehr ohne weiteres auf einen vorgegebenen Rahmen beziehbar, vielmehr muß dieser in den Erfassungsakten selbst mit erstellt werden. Daraus folgt für die Anlage der Text­perspektiven, daß sich ihre Segmente häufiger durchschichten. Denn nun entwickelt sich der Sinnhorizont des Textes weniger aus dem, was die einzelnen Textperspektiven repräsentieren, sondern eher aus der massiven Transformation dessen, was sie vorstellbar ma­chen. Wenn im 19. Jahrhundert das Interaktionsmuster die ange­deutete Komplizierung erfährt, so vorwiegend deshalb, weil die Fiktion in dieser Epoche auch eine andere Funktion zu erfüllen hatte. Die gestiegene Kombinierbarkeit der Textsegmente zeigt sich im Anwachsen der Leerstellenbeträge. Kommt es nun zu einer Transformation nahezu aller im Text manifestierten Positionen, so

" Vgl. dazu Einzelheiten in W. 1., Der implizite Leser, pp. 168-193.

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führt dies dazu, daß der Leser den virtuellen Bedingungshorizont dessen entdecken muß, womit er sich vertraut wähnt.

Mit dieser Zielrichtung versucht der Roman, eine gesteigerte Reaktionsbereitschaft seiner Leser zu mobilisieren. Die Vielfalt der Blickpunktkonstellationen löst den Leser ständig von Vertraut­heiten ab, ohne seinen Blickpunkt in einer bestimmten Textposition zur Ruhe kommen zu lassen. Folglich stellt sich die virtuelle Kon­vergenz des vielgestaltigen Blickpunktwechsels erst dort ein, wo sich die manifestierten Positionen in ihre Bedingtheit aufzuheben begin­nen. Der Leser muß sich dann aber seinen eigenen Entdeckungen gewachsen zeigen, denn nur so vermag er, jene gesteigerte Reak­tionsbereitschaft zu entwickeln, die ihm eine komplexer gewordene Welt abverlangt. An diesem Punkt ließen sich auch Kriterien für den Kunstcharakter des Romans im 19. Jahrhundert formulieren. Stimuliert der fiktionale Text das Reaktionsspektrum seiner Leser durch die von ihnen zu leistende Transformation ihrer Vertrautheit, so wird sich daran seine ästhetische Wirkung bemessen lassen. Diese sinkt in jedem Falle dort, wo dem Leser - wie im Thesenroman -Programme angeboten werden, die eine offene Welt für ihn und ohne sein Zutun zu schließen beabsichtigen. Danach bestünde der Kunstcharakter des Romans im 19. Jahrhundert darin, die Reak­tionsbereitschaft seiner Leser soweit zu sensibilisieren, daß sie im Entdecken von Bedingtheiten dem wachsenden Situations druck ihrer Welt begegnen können. Da die Reaktion ein Akt ist, läßt sie sich nicht darstellen, sondern nur auslösen. Dadurch aber vermag der Leser die Antwort zu realisieren, die der Roman auf das von ihm visierte Problem zu geben versucht. Hier liegt auch ein Grund dafür, weshalb der nicht-zeitgenössische Leser einen fiktionalen Text der historischen Vergangenheit zu strukturieren und folglich aufzufas­sen vermag. Er muß die gleichen, durch die Leerstellen vorgezeich­neten Umbesetzungen im Feld des Leserblickpunkts mit vollziehen und kann so die historische Situation wiedergewinnen, auf die sich der Text bezog bzw. auf die er antwortete.

Das Interaktionsmuster von Text und Leser zeigt im modernen Roman eine weitere Variation. Zunächst läßt sich ein erneutes An­steigen der Leerstellenbeträge beobachten. Da Leerstellen jedoch Anweisungen für eine Bestimmungsbedürftigkeit sind, kann ihre

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Zunahme nicht eine bloße Vermehrung ihrer Menge sein; sie müs­sen 'Gelenke' von Strukturen bleiben. Daher entspringt ihr An­wachsen in modernen Texten auch einer gesteigerten Präzision der Darstellung, die sich seit Conrads Lord Tim (1900) bis hin zu Joyce feststellen läßt. Leerstellen, die sich aus der überbestimmung des Darstellungsrasters ergeben, verändern die in der Tradition beob­achtbare Interaktion von Text und Leser. Zunächst hat es den An­schein, als ob die Kompliziertheit moderner Texte eine wachsende Desorientierung des Lesers zur Folge hätte. Daß moderne Texte eine solche Wirkung hervorrufen, ist unbestreitbar, nur fragt es sich, worin sie gründet.

Joyce beispielsweise hat in Ulysses die Ankündigung des Portrait eingelöst, daß der Autor nun wie ein deus absconditus hinter sein Werk zu verschwinden gedenke, um sich dann, in gespielter Lange­weile, die Fing\!rnägel zu schneiden.33 Was hier ein Autor mit ex­pliziter Ironie sagt, hat die Literaturkritik vielfach als den Verlust, ja sogar als den Tod des Erzählers beklagt. Schaut man sich die Er­zählperspektive des Ulysses daraufhin an, so ist es in derTat schwer, einen Erzähler, geschweige denn eine im Geschehen agierende Er­zählerfigur auszumachen. Statt dessen stoßen wir auf eine An­sammlung von Erzählverfahren, die der Roman in seiner bisherigen Geschichte ausgebildet hat. Diese Verfahren indes zeigen eine merk­würdige Anordnung. Sie überschneiden sich fortwährend und ver­hindern durch ihre Segmentierung das Auffinden des perspektivi­schen Punktes, in dem sie konvergieren könnten bzw. von dem her sie gesteuert würden. Da sich ein solcher Punkt nicht entdecken läßt, dürfte es sich hier weniger um den Verlust des Erzählers als vielmehr um den einer für unabdingbar gehaltenen Erwartung han­deln. Denn in Ulysses steckt nach wie vor die Perspektive des im­plied author; an sie ist die Existenz des Romans gebunden. Wenn aber die Verweigerung einer Erwartung in den Eindruck mündet, daß der Erzähler verschwunden sei, so kehrt sich der elementare Inhalt dieser an die Erzählerperspektive gebundenen Erwartung heraus: sie besagt, daß die Erzählerperspektive uns orientieren muß,

33 James Joyce, A Portrait of the Artist as a Young Man, London 1966, p.219.

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weshalb ein Verlust dieser Orientierung mit dem Verlust des Er­zählers gleichgesetzt wird.

Damit kommt die in der Erzählerperspektive des Ulysses ange­legte Strategie zum Vorschein. Zerstreuen sich durch die Segmentie­rung bekannter Erzählmuster die wechselnden Blickpunkte des Le­sers in dem Maße, daß sich kein focusartiges Zentrum herauszubil­den vermag, dann beginnt der Leser zu verspüren, daß hier die von der Erzählperspektive so selbstverständlich erwartete Orientierung ausgefallen ist. Sie stellt sich als Hintergrund ein, von dem sich das befremdliche Durchschichten der Erzählmuster abhebt. Doch dieser Hintergrund wird eher in der Vorstellung des Lesers aufgerufen, weil dieser sich latent desorientiert fühlt; zugleich aber erfährt der Leser, daß hier ein erwartbares Verfahren fiktionaler Texte nicht realisiert, sondern gelöscht ist. Die Nichtrealisierung eines solchen Verfahrens ist dessen negative Realisierung. Sie bildet eine Leer­stelle, die das Ausgefallensein zentraler Erwartungen markiert, an deren Erfüllung der Leser durch die Romantradition gewöhnt war.

Die Erörterung der aus diesem Leerstellentyp folgenden Konse­quenzen macht eine Zwischenbemerkung notwendig. Gelöschte Verfahren als Hintergrund zu gewärtigen, setzt eine Vertrautheit mit Texten voraus. Folglich spielen - wie Sartre zu Recht betont hat - die Texte immer auf der Ebene der Fähigkeiten ihrer Leser. Dieser allgemeine Sachverhalt läßt sich hier genauer fassen. Wenn ein fiktionaler Text Verfahren der literarischen Tradition nicht reali­siert, durch das von ihm praktizierte Verfahren jedoch die erwart­baren in 'Minusverfahren'34 wandelt, um sie als gelöschte im Vor­stellungsbewußtsein des Lesers aufzurufen, so wird derjenige Leser, dem die dadurch vorausgesetzte Vertrautheit abgeht, die kommuni­kative Absicht moderner Textverfahren verfehlen. Er fühlt sich des­orientiert und wird entsprechend reagieren, wobei allerdings dieser defiziente Eindruck anzeigt, daß der Leser vom Text bestimmte, und das heißt gesetzte Orientierungen erwartet. Moderne Texte wiederum schachteln gerade diese Erwartung in ihr kommunikatives

34 Zu diesem Terminus und seiner Funktion vgl. Lotman, u. a. pp. 144 ff., 207 u. 267.

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Spiel ein, um sie zu verändern. Folglich trifft auch der Vorwurf der Esoterik diese Texte nicht voll. Denn wenn die Alternative erfüllte Erwartung hieße, dann wäre Literatur in der Tat funktionslos. Doch gerade hier gilt der Satz Adornos: "Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles. JJ35

Es darf als ein Charakteristikum moderner Texte gelten, daß sie durch ihre jeweilige Anlage erwartbare Verfahren aufrufen, um sie in eine Leerstelle zu verwandeln. Dies geschieht in der Regel durch das Löschen ihrer in der Erzähltradition gefestigten Funktion. Ge­löscht wird in der Erzählperspektive die erwartbare Orientierung als möglicher Anhaltspunkt für die Bewertung; in der Figurenperspektive die erzählte Geschichte, die als Handlung der Verdeutlichung des­sen diente, was in den Figuren angelegt war; in der Perspektive der Leserfiktion schließlich jede markierte Positionszuschreibung, um in der Aufhebung repräsentierter Lesereinstellungen den Leser selbst aus dem Text hinauszudrängen. Die Modernität eines Textes ließe sich dann durch das Ausmaß bestimmen, durch das er die 'Minus­verfahren' realisiert. Die Texte Becketts verkörpern in dieser Hin­sicht einen Höhepunkt. Die Häufigkeit und Verbreitung dieses Leer­stellentyps dokumentiert sich am deutlichsten im nouveau roman. Von einem seiner konsequentesten Repräsentanten, Robert Pinget, schreibt Gerda Zeltner: "Etwas schematisch auf eine Formel ge­bracht, könnte man die Wandlung in Pingets Werk so bezeichnen: wenn zunächst mit der Märchenwelt das 'Es war einmal' als Aus­gangspunkt diente, so steht nun - in seinem eigentlichen Nouveau Roman - am Anfang ein radikales, einschneidendes 'Es ist nicht mehr'. Dort wo etwas verlorenging, hebt nun die Sprache an. Seit 'Ohne Antwort' stellt jede Erzählung auf eigene Weise das Nicht­vorhandensein als ihre Voraussetzung hin. JJ36

Nun zu den Konsequenzen, die sich aus diesem Leerstellentyp ergeben. Durch ihn sind ausgefallene Erzählverfahren markiert, die als 'Minusverfahren' einen Hintergrund im Vorstellungsbewußtsein

J5 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966, p. 389. 36 Gerda Zeltner, Im Augenblick der Gegenwart. Moderne Formen des

französisChen Romans (Fischer Taschenbuchl, Frankfurt 1974, p. 76.

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des Lesers aufrufen, von dem sich die praktizierten Verfahren des Textes abheben. Fühlt sich der Leser desorientiert, so deshalb, weil die erwartbare Orientierung der Erzählerperspektive nicht eingelöst ist; fühlt er sich vom Text ausgesperrt, so deshalb, weil sich der er­wartbare Repräsentanzwert der Figuren und das erwartbare Einstel­lungsangebot zum Text zu zerstreuen beginnen. So löschen die praktizierten Verfahren die erwartbaren und scheinen sich von dem durch sie aufgerufenen Hintergrund abzulösen, zu dem sie besten­falls eine negative Beziehung unterhalten. Darin bringt sich der eigentümliche Kommunikationsmodus solcher Verfahren zur Gel­tung. Könnte man auf den ersten Blick noch geneigt sein, in diesem Modus das nachrichtentechnische Kommunikationsmodell von Re­dundanz und Innovation wiederzuerkennen, so muß man beden­ken,daß die 'Redundanz' vertrauter Verfahren im Text selbst we­der gegeben ist noch der Einbettung einer Innovation dient. Erst die Vorstellung des Lesers vermag aufgrund der praktizierten Verfahren die ausgefallenen aufzurufen, von denen sich nun die Individualität angewandter Verfahren abzuheben beginnt. Dieser Individualität gibt der Leser durch das Löschen der erwartbaren Verfahren Kontur. Damit zeigen sich Veränderungen in der Kommunikationsmodalität moderner Texte an.

Die 'Minusverfahren' verwandeln den aufgerufenen Hintergrund erwartbarer Verfahren in eine Leerstelle, die zwangsläufig die Un­geordnetheit der Textsegmente im Leserblickpunkt ansteigen läßt. Das hat jeder Joyce-Leser unzählige Male erfahren. In Ulysses etwa herrscht in jedem Lektüreaugenblick einen hohe Dichte an Schnit­ten der Figuren- und. Erzählerperspektive, die sich unentwegt durch­schichten. Hier sind dann nicht mehr Figuren oder Figurengruppen miteinander zu einer Thema- und Horizont-Beziehung verspannt, sondern bereits Schnitte des Bewußtseins, der Reflexion, der prä­reflexiven Wahrnehmung sowie der Gesten einzelner Figuren. Da diese Schnitte unvermittelt aneinanderstoßen, erhöht sich der Leer­stellenbetrag im Feld des Leserblickpunkts. Das gilt noch einmal für die verschiedenen Erzählmodalitäten, durch welche die Facetten der Figurenperspektive gefaßt sind. Statt eines einheitlichen Modus spie­len ständig innerer Monolog, erlebte Rede, indirekte Rede, Ich­Bericht und auktoriale Perspektive sowie das einmontierte Material

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aus Zeitungen, Adreßbüchern und der Literatur von Homer über Shakespeare bis zur Gegenwart in einem kaleidoskopischen Wech­sel durcheinanderP

Das besagt zunächst, daß der Leser für jede Äquivalenzreihe der Textsegmente den Rahmen ihrer Bewertung sowie den für die eigene Einstellung mit entdecken muß. Mit einem Wort: die Leer­stellen als gelöschter Hintergrund erwartbarer Verfahren entbinden im Leser eine gesteigerte Produktivität, die sich darin ausdrückt, daß mit jeder realisierten Beziehung der Code ihrer möglichen Erfassung mit erzeugt werden muß. So entsteht mit jeder realisierten Bezie­hung ein mehrwertiger Zusammenhang im jeweiligen Feld; denn in jeder entdeckten Bedeutung schwingen andere, von ihr erst er­weckte Bedeutungen mit. Entstehen im Leserblickpunkt ständig mehrwertige Zusammenhänge als Folge der Realisation bestimmter Beziehungen, so rückt jede individuelle Realisation unweigerlich in den Horizont dieser Mehrwertigkeit. Das aber heißt, es wird im Fortgang der Lektüre ständig zu Richtungsänderungen der Aktuali­sierung kommen, da sich kaum eine bestimmte, anfänglich reali­sierte Beziehung durchhalten läßt. Das ist auch der Grund, weshalb man Ulysses bald als Chaos, bald als Zerstörung, bald als Nihilis­mus und bald als Witz qualifiziert hat.38 Solche Kennzeichnungen machen deutlich, daß man sich in der Lektüre des Ulysses ein wenig verloren fühlte und sich folglich durch den Rückgriff auf Bewer­tungsmaßstäbe zu retten glaubte, die der Roman durch seine 'Minus­verfahren' gerade gelöscht hatte. Da es hier nicht um die Legitimität richtigen oder falschen Lesens, sondern um die Verdeutlichung der Interaktion von Text und Leser geht, fragt es sich, worauf es hinaus­läuft, wenn der Roman durch seine 'Minusverfahren' den Leser ver­anlaßt, den Zugang zu seinen eigenen Erwartungen selbst abzu­sperren. Erzeugt jede realisierte Beziehung einen mehrwertigen Zu­sammenhang im jeweiligen Feld des Leserblickpunkts, dann wird dieser zwangsläufig auf die hergestellte Verbindung der Textpositio-

37 Die Voraussetzungen für die folgende Argumentation habe ich dar­gestellt in Der implizite Leser, pp. 276-358.

J8 Vgl. dazu u. a. die von Eco, Das offene Kunstwerk, pp. 343-389 wiedergegebenen Urteile; bes. die von R. P. Blackmur u. E. R. Curtius (p.363).

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nen zurückwirken. Mit anderen Worten: er wird zur Bedingung für die Transformation dieser Verbindung. Das aber heißt: das Lesen vollzieht sich nicht nur als Transformation markierter Textseg­mente, wie es dem bisher beschriebenen Interaktionsverhältnis von Text und Leser zu entnehmen war, sondern noch einmal als Trans­formation derjenigen Beziehungen, durch die der Leser die jeweilige Konstellation des Feldes strukturiert. Hier liegt dann auch der Grund für die Abqualifizierung des Ulysses als Chaos und Zerstö­rung, durch die angezeigt ist, daß sich der Leser gegen die ihm zu­gemutete Variation der von ihm selbst hergestellten Beziehungen sperrt. Denn diese Variation verlangt vom Leser im Prinzip eine ständige Richtungsänderung seiner Strukturierungsaktivität, und das heißt, einmal gefundene Orientierungen müssen wieder preis­gegeben werden, weil der mit jeder Wahl entstehende rnehrwertige Zusammenhang in den jeweiligen Lektüreaugenblicken andere Realisationsrichtungen nahelegt. Die Aktionen des Lesers gelten dann in verstärktem Maße einer Umstrukturierung erzeugter Be­ziehungen. Solche Transformationen haben seriellen Charakter. Sie zielen nicht mehr auf die Entdeckung eines virtuellen Konvergenz­punkts ab, in dem alle im Konstitutionsvorgang realisierten Bezie­hungen mehr oder minder deutlich zusammenliefen. Vielmehr wi­derstehen sie als serielle Folge jeder Integration in eine ihr unter­liegende oder besser unterschobene Struktur. Daraus aber resultiert nicht notwendigerweise ein Chaos, sondern eher eine neue Kom­munikationsmodalität. Sie besteht darin, daß die serielle Variation eine ständig sich verändernde Blickpunktfolge entstehen läßt, deren relative Diskontinuität gerade den Wechsel der Konstellationen im Lektürevorgang heraushebt und folglich die Erfassung des Toyce­schen Weltall tags nicht unter ein Schema zwingt, sondern ihn als Geschichte seriell transformierter Blickpunkte erfahrbar macht. Hier gilt es nicht mehr, wie noch im Roman des 19. Jahrhunderts, den versteckten Code zu entdecken, sondern die Bedingung der Erfahr­bar1,eit des Alltags als die Geschichte transformierter Blickpunkte selbst zu produzieren.

In dieser Kommunil,ationsmodalität kommt die Leerstelle als ge­löschter Hintergrund zu ihrer vollen Funktion. Sie negativiert die erwartbaren Verfahren für die Strukturierung des Textes und wird

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dadurch zur Matrix für eine im Leser freigesetzte Produktivität. Als Struktur jedoch gibt sie nicht jegliche Produktivität frei, sondern legt ihr bestimmte Beschränkungen auf. Denn Strukturierung kann jetzt nicht mehr heißen, daß der Leser die ausgefallenen Verfahren derart wiederherstellt, daß er dem Textgeschehen eine einheitliche Bewertung, seiner Einstellung zum Text eine durchgehaltene Po­sition und dem Spiel der Figuren eine sich in bestimmter Bedeutung erfüllende Geschichte interpoliert. Folglich wird der Text immer dann sinnlos oder abstrus, wenn der Leser diese Beschränkungen durchbricht und dem Text das restituiert, was die Minusverfahren ausgeklammert haben. Das Maß möglicher Willkür in der Struk­turierung des Textes entspringt nicht dadurch, daß der beschriebene Leerstellentyp den Leser zu größerer Produktivität entbindet, son­dern dadurch, daß diese Produktivität zu Bedingungen genutzt wird, deren Suspendierung die zentrale Funktion des beschriebenen Leer­stellentyps verkörpert. Ist der Leser bei gesteigerter Produktivität gleichzeitig gehalten, die ihm vertrauten Zugänge zum Text abzu­sperren, dann werden seine Entscheidungen für die jeweils gewähl­ten Beziehungen innerhalb des Feldes nur einen vorläufigen, weil experimentierenden Charakter haben können. Denn jede Entschei­dung ruft einen mehrwertigen Zusammenhang auf und setzt damit die realisierte Beziehung sowohl der Umorientierung als auch der Preisgabe der von ihr visierten Realisierungsrichtung aus. Da aber in diese Beziehung zwangsläufig etwas vom Normen- und Wertreper­toire des Lesers eingeht, kann die Variation dieser Beziehung oder gar ihre Transformation nicht ohne Rückwirkung auf den für den Leser geltenden Code bleiben. Das muß nicht heißen, daß der Leser in einem solchen Vorgang aufgeklärt oder umerzogen wer­den soll. Es heißt zunächst, daß die erneute Veränderung der Beziehung die jeweils hergestellte Konstellation zu einem Blick­punkt depotenziert, dessen serielle Verkettung mit anderen Blickpunkten mehreres zu bewirken vermag: l. Sie läßt eine Kommunikationsmodalität entstehen, durch die sich die Offen­heit der Welt - im Falle von Joyce die des Alltags; im Falle von Beckett die der Subjektivität und des Endes - als offene in das Vorstellungsbewußtsein des Lesers übersetzt. 2. Die Struktur dieser Kommunikationsmodalität realisiert sich in der Transformation des

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jeweils hergestellten Beziehungsnetzes, und das heißt, im überholen realisierter Verbindungen erfährt der Leser die Geschichtlichkeit der von ihm erzeugten Standpunkte im Leseakt selbst. 3. Diese Erfah­rung korrespondiert der Offenheit der Welt, so daß sich in der se­riellen Variation ständig bestimmte Auffassungen der Welt zu Mög­lichkeiten ihrer Erfahrbarkeit transformieren. Diese wird inhaltlich weitgehend leer sein, dennoch ist sie gerade deshalb nicht beliebig besetzbar, weil jede bestimmte Besetzung vor diesen offenen Hori­zont gerät und daher zwangsläufig die Bedingungen ihrer notwen­digen Begrenztheit gewärtigen muß.

So gewinnt die serielle Veränderung eine katalytische Funktion, und das heißt, sie regelt die Interaktion von Text und Leser weder durch die Vorgegebenheit noch durch die aufgegebene Entdeckung eines Codes, sondern durch die im Lesen selbst erzeugte Geschichte. Diese besagt zweierlei: Sie ist zunächst die Geschichte wechselnder Standpunkte, und sie ist als Geschichte Bedingung für das Erzeugen neuer Codes.

5. Negation

Der bisher besprochene Leerstellentyp zeichnete sich dadurch aus, daß er die Umschaltungen von Thema und Horizont bewirkt. Iv diesem Wechsel verwandeln sich die Segmente der Textperspektiven in Kipp-Phänomene, da sie bald aus dem einen, bald aus dem ande­ren Blickwinkel gewärtigt werden können und so ihre jeweils ver­deckten Seiten freigeben. Die Leerstellen funktionieren daher als Sinninstruktion, weil sie Beziehbarkeit und wechselseitige Aus­legung der Segmente durch das Umspringen des Blickpunkts regeln. Sie organisieren so die syntagmatische Achse der Lektüre. Doch da­mit ist noch nichts über die Inhalte ausgesagt, die durch den Per­spektivenwechsel in eine Thema- und Horizontverspannung ge­raten. Es fragt sich daher, inwieweit ein fiktionaler Text auch die Auffassung dieser Inhalte vorstrukturiert. Mit anderen Worten: gibt es auch Leerstellen auf der paradigmatischen Achse der Lektüre, und welche Funktion hätten sie in einem solchen Zusammenhang? Die Antwort läßt sich am besten durch das Repertoire des Textes verdeutlichen.

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Wir erinnern uns, das Repertoire hat im Prinzip zwei Funktio­nen: es zieht eine bestimmte außertextuelle Realität in den Text hinein und bietet damit Schemata an, die dem Leser ein bestimmtes Wissen vorgeben bzw. sedimentiertes Wissen aufzurufen vermögen. Folglich wird durch das gewählte Repertoire die Vorstellungstätigkeit des Lesers mit der Antwort zusammengeschlossen, die ein Text auf eine bestimmte historische oder gesellschaftliche Lage zu geben ver­sucht.

Die im zweiten Kapitel geführte Diskussion hat gezeigt, daß im Repertoire eines fiktionalen Textes zwar Bekanntes wiederkehrt, sich in dieser Wiederholung indes nicht gleichbleibt. Denn nun sind die gewählten Normen - die oft höchst unterschiedlichen Systemen entstammen - aus ihrem ursprünglichen Funktionszusammenhang herausgelöst und in einen anderen Kontext hineinversetzt. Solange sie im gesellschaftlichen Zusammenhang wirksam sind, werden sie kaum als solche wahrgenommen, da sie in der von ihnen bewirkten Regulierung aufgehen. Erst ihre Entpragmatisierung macht sie the­matisch. Davon bleibt die Leserposition nicht unberührt. Normen der eigenen sozialen Umwelt als sie selbst zu gewärtigen, eröffnet die Chance, ein Bewußtsein davon zu erwerben, worin man befangen ist. Eine solche Bewußtheit wird sich steigern, wenn die Geltung der gewählten Normen im Textrepertoire negiert ist. Denn nun bietet sich dem Leser das Bekannte als überschritten; es ist ihm zur 'Vergangenheit' entrückt, und er ist in ein Verhältnis der Posteriori­tät zu dem ihm Bekannten gesetzt. Die Negation erzeugt somit eine dynamische Leerstelle auf der paradigmatischen Achse der Lek­türe. Als gestrichene Geltung markiert sie eine Leerstelle in der selektierten Norm; als das verschwiegene Thema der Streichung markiert sie die Notwendigkeit, eine bestimmte Einstellung zu ent­wickeln, die es dem Leser erlaubt, das in der Negation Verschwie­gene zu entdecken. So verortet die Negation den Leser zwischen einem 'Ni~ht-Mehr' und einem 'Noch-Nicht'. Zugleich macht sie diesen Ort in einem gewissen Sinne konkret. Sie erhöht zunächst die Aufmerksamkeit des Lesers dadurch, daß sie die mit der Wieder­kehr des Bekannten aufgerufenen Erwartungen stoppt. Sie bewirkt damit eine Einstellungsdifferenzierung des Lesers, da nun be­stimmte Auffassungen der ihm bekannten Normen nicht mehr

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möglich sind. Denn aus dem Wissen, das der Text durch sein Re­pertoire anbietet bzw. durch die mitgeführten Schemata aufruft, soll etwas gewonnen werden, das dieses Wissen noch nicht enthält. Die Negation ist folglich eine Modalisierung dieses Wissens, und zwar in jener von Husserl einmal definierten Hinsicht: "Um welche Ar­ten von Gegenständlichkeiten es sich handelt, immer ist für die Negation wesentlich die überlagerung eines neuen Sinnes über einen bereits konstituierten in eins mit dessen Verdrängung; und korrelativ in noetischer Richtung die Bildung einer zweiten Auffas­sung, die nicht n e ben der ersten, verdrängten liegt, sondern über ihr, und mit ihr streitet."39

Deshalb erfolgen im Repertoire eines fiktionalen Textes auch keine Pauschalabweisungen der eingekapselten Normen, sondern gezielte Teilnegationen, die den als problematisch empfundenen Aspekt herausstellen, um so die Richtung für die Ummotivierung der Norm markieren zu können. Die Teilnegation zielt in der Re­gel in den neuralgischen Punkt der Norm, behält diese aber als Hintergrund bei, um im Gegenzug gegen sie den Sinn ihrer Um­motivierung stabilisieren zu können. Damit wird die Negation zu einem entscheidenden Antrieb für die Vors teIlungs akte des Lesers, der das verschwiegene und damit nicht gegebene Thema der Nega­tion als imaginäres Objekt zu bilden hat. Die von der Negation er· zeugten Leerstellen zeichnen die virtuellen Konturen dieses Objekts im Normenrepertoire des Textes sowie in der vom Leser zu bezie­henden Einstellung vor, und zwar in jenem von Sartre einmal ver­merkten Sinne: " ... das Objekt als Vorstellung ist ein definierter Mangel; es zeichnet sich in Hohlform ab.1J40 Die Besetzung dieser Hohlform durch die Vorstellungen des Lesers bewirken eine Situie­rung des Lesers zum Text. Ihn in eine solche vom Text vorgezeich­nete Position zu manövrieren ist deshalb notwendig, weil der Leser immer diesseits des Textes steht und daher nur vom Text an den ihm zugedachten Ort versetzt werden kann.

Doch nun zu einem ersten Beispiel, das diese Gesichtspunkte ver­anschaulichen und in einem bestimmten Punkt auch weitertreiben

39 Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg 1948, p. 97. '0 Sartre, p. 207.

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soll. Es entspricht der didaktischen Absicht des Romans im 18. Jahr­hundert, daß die selektierten Normen oftmals in Form von Kata­logen entrollt werden, um wechselnde Grade der Vertrautheit in einem unterschiedlich informierten Publikum aufrufen zu können. Das zeigt sich etwa in Fieldings Joseph Andrews, als gleich zu Be­ginn der eigentliche Held des Romans, Abraham Adams, eingeführt wird. Der entfaltete Tugendkatalog umfaßt nahezu alle Normen, die auch in der Aufklärung zum Ideal des vollkommenen Menschen zählten, und doch macht gerade ihr Besitz Adams absolut untauglich für das Handeln in der Welt. Denn diese Normen reduzieren ihn auf das Niveau, das der Orientierungsfähigkeit eines Neugeborenen entspricht, wie es Fielding am Ende seiner Aufzählung eigens her­ausstellt.41 Damit ist ein entscheidender Aspekt dieser Normen ne­giert, denn ihre Befolgung sichert nicht den Handlungserfolg, 'Son­dern verhindert ihn. Die Normen selbst pauschal zu verwerfen, würde allerdings die Orientierungslosigkeit vollkommen machen. Darüber hinaus kann sich ein didaktischer Roman, dessen Ziele Fielding in der Einleitung deutlich umrissen hat, die Plakatierung der Tugend als Torheit ohnehin nicht leisten. Folglich zeigt die Ne­gation keine radikale Alternative an, sondern eher eine andere Auf­fassung dieser Tugenden. Sie stellt die Normen selbst nicht in Frage, sie hebt nur die mit ihnen verbundene Erwartung auf, denn sie bewirkt, daß diese nicht mehr aus dem Blickwinkel ihrer christlich­platonischen Fundierung, sondern aus dem der Welt gesehen wer­den. Der Wechsel des Bezugshintergrunds beginnt die Normen zu problematisieren. Die Negation wird zum Signal erhöhter Aufmerk­samkeit, denn die erwartbare Leistung der Norm ist außer Kurs gesetzt. Das kann im Prinzip mehreres bedeuten. Nicht was die Normen sind, ist entscheidend, sondern wie sie funktionieren und wie sie als Handlungsorientierung eingesetzt werden müssen. Es kann aber auch bedeuten, daß nun die überlieferte Trias des Wah­ren, Guten und Schönen zerbrochen ist, da deren Zusammenklang das Weltverhalten nicht mehr zu ordnen vermag. Es kann ferner bedeuten, daß jede Orientierung an einem Normensystem deshalb

41 Henry Fielding, Toseph Andrews, I, 3 (Everyman's Libraryl, London 1948, p. 5.

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scheitern muß, weil das Handeln in einer komplexer gewordenen Welt nuanciertere Einstellungen auf den Wechsel situativer Erforder­nisse verlangt. Dieser Fächer braucht nicht weiter entfaltet zu wer­den, um erkennbar zu machen, in welchem Maße die gezielte Nega­tion eine Perspektivierung eindimensionaler Positionen erzeugt. Damit kommt es zu Verdichtungen im Text, und wie immer diese vom Leser auch 'ausgearbeitet' werden, so bleibt eines deutlich: daß die Normen durch ihre Teilnegation aus der christlich-platonischen Fundierung herausgenommen sind und eine neue Fundierung durch ihre Bewährung in der Welt gewinnen müssen, wenn sie tauglich bleiben sollen. Daher wird ihre Ummotivierung zum Vorstellungs­objekt des Lesers, das insofern in der Imagination' aufgebaut' wer­den muß, als es. im Text nur als definierter Mangel erscheint. "So­mit ist der negative Akt für die Vorstellung konstitutiv."42 Denn nur auf diese Weise kommt es zu einer bestimmten Verarbeitung des im Text angebotenen, aber unterschiedlich modalisierten Wis­sens, in deren Verlauf sich ein imaginäres Objekt bildet, das die gegebenen Textpositionen transzendiert und folglich eine Vorstel­lung des Unformulierten ist.

Dieser Vorgang läßt sich nun in dem angezogenen Beispiel ge­nauer verfolgen. Der durch die Teilnegation verursachte Umsprung der Zuordnung scheint die Geltung der Tugenden aufzuhebenj sie wirken so, als ob sie der Vergangenheit angehörten, da sie das Ver­halten in der Gegenwart nicht mehr zureichend zu orientieren ver­mögen. Da jedoch nicht den Tugenden überhaupt, sondern nur ihrer Geltung widersprochen ist, entsteht keine kontradil<torische Negation. Denn diese würde bedeuten, daß nun an die Stelle der Tugenden deren Gegenteil zu treten habe. Die Teilnegation hat keinen kontradiktorischen Charakter, und das heißt, statt einer Opposition soll die gestrichene Geltung durch ein anderes Bezugs­system der Tugenden ersetzt werden. Es kommt darauf an, nun das Verhältnis zwischen, Norm und Welt zu finden. Dadurch ver­wandeln sich Norm und Welt in Pole einer Interaktion, deren Aus­arbeitung sich dem Leser insofern aufdrängt, als die ihm vertrauten Positionen - die zeitgenössischen Normen und die Gegebenheit

" Sartre, pp. 284 f.

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~iner Welt - sich unablässig negieren. Die vom Helden des Ro­mans, Abraham Adams, repräsentierten Tugenden können folglich immer nur vor dem Hintergrund der Welt, und die Welt wiederum, die in den Verhaltensnormen der Nebenfiguren dargestellt ist, kann immer nur vor dem Hintergrund der Tugenden wahrgenommen werden. Indem sie sich wechselseitig negieren, erhebt sich die Frage, wie ihre Beziehung zu motivieren sei. Denn die Negation markiert in der jeweiligen Position eine Leerstelle. Sie zu besetzen heißt da­her, die einander negierenden Pole so zu verbinden, daß sich daraus ein Sinn ergibt. Dieser Sinn wird mit keinem der beiden Pole iden­tisch sein, sondern deren Transformation zu seinem Inhalt haben. Dies ist der Grundriß des Romans, wie er sich in der figurenper­spektive abzeichnet.

An diesem Punkt wird nun d~~Zu!)~InJll~~sl'~l der syntagmati­schen mit der paradigmatischen Achse der Lektür~'~~ievant. Wir' ~JIIlri<;!J.:ii Ms:j.ie~yntagmatische Achse verspannt die Segmente der Te)(ll'erspektive:Il jm_l,~serblickpunkt zu einer Thema- und Horl--z;ontb_ezjeh~~g. Dies geschieht'-ei~~ar dadurch, daß di~ 'ieers-tellen die ausgesparten Verbindungen zwischen den Segmenten markie­ren, zum andern dadurch, daß ein Segment seine thematische Rele­vanz verliert und folglich als Leerstelle zum Horizont für das Blick­feld des Lesers zu werden vermag, vor dem das andere Segment als Thema erscheint. Wir haben diesen Vorgang als syntagmatische Achse der Lektüre bezeichnet, weil hier die Leerstellen nur den Per­spektivenwechsel regulieren, ohne dadurch schon etwas über die Veränderungen zu sagen, die die Inhalte der Positionen in einem solchen Verhältnis zwangsläufig erleiden. Stehen nun aber die In­halte, die während der Lektüre ständig in dem Thema- und Hori­zontverhältnis erscheinen, selbst unter dem Vorzeichen bestimmter Negationen, so bringen sie in diese Beziehung zusätzliche Leerstellen ein. Diese wirken restriktiv im Blick auf die Kombinierbarkeit der Positionen und damit selektiv im Blick auf die von der Vorstellung zu erzeugende Sinngestalt.

Schaut der Leser aus der Sicht von Pars on Adams auf das Weltver­halten der übrigen Figuren, so gewärtigt er deren Eigensinn, Nieder­tracht und Verschlagenheit, während Adams seinerseits aus der Sicht der anderen Positionen einfältig, borniert und naiv wirkt.

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Worauf es im Leben der Menschen anzukommen scheint, ver­schwindet in der Ausschließlichkeit der jeweils dominierenden Per­spektive nahezu vollständig. Dieser Eindruck intensiviert sich für den Leser noch dadurch, daß in der Begegnung der Figuren keinerlei Bewußtsein davon herrscht, wie sehr die Weltklugheit sich oft recht schamlos und die Idealität bisweilen höchst unpraktisch ausnehmen. So trägt die im Blickfeld des Lesers entstehende Romanhandlung ausgesprochen negative Züge, die in einem didaktischen Roman allerdings nicht darauf hinauslaufen können, die Niedertracht der Welt lediglich zu bestätigen. Das geht allein schon daraus hervor, daß der hohe Eindeutigkeitsgrad der jeweils negativ besetzten Pole zwangsläufig das von ihnen Ausgesparte mitkonturiert. An diesem Punkt nun wird die Teilnegation, die der abstrakten Idealität des Helden genauso gilt wie dem opportunistischen Verhalten der Ne­benfiguren, relevant. Denn auf den ersten Blick hat es den An­schein, als ob die hervorzubringende Sinngestalt dem Leser kein Problem böte. Zeigt doch die polare Zuordnung der Hauptfigur auf die Welt allzu deutlich, was dem moralischen Verhalten von Adams und dem Weltverhalten der Menschen jeweils fehlt. Adams sollte lernen, sich besser auf die Welt einzustellen, und den Menschen in der Welt sollte aufgehen, daß die Moral kein Vorwand für die Ver­brämung des Lasters ist. Verhielte es sich so, dann müßten die je­weils negativ besetzten Aspekte innerhalb der polaren Zuordnung der Positionen lediglich ausgetauscht werden, damit die gewünschte Lösung erscheinen kann. Im Prinzip ist eine solche Vertauschung positiver und negativer Aspekte durchaus möglich; in der Trivial­literatur bildet sie das zentrale Strukturmuster. Anders jedoch bei Fielding. Selbst wenn sich der Eindruck eines möglichen Ausgleichs der negativ besetzten Aspekte einstellen sollte - was am Anfang des Romans durchaus naheliegt - so bildet die bloße Vertauschbar­keit dessen, worüber die jeweiligen Pole verfügen bzw. dessen, was ihnen fehlt, nur den Hintergrund für die Sinngestalt des Romans. Denn die Negation versperrt hier diesen einfachen Austausch und ist im Blick auf die Kombinierbarkeit der Positionen restriktiv. Hin­dern die unerschütterlichen Tugenden von Adams diesen daran, sich auf Situationen einzulassen, so ist die Position der Nebenfigu­ren derart unmißverständlich negiert, daß ein fortwährendes Ein-

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gehen auf alle sich bietenden Umstände nicht der gedachte Aus­gleich für das Verhalten des Helden sein kann. Denn alle jene Figuren, die sich den wechselnden Lagen anpassen, demaskieren sich in ihrer opportunistischen Weltverfallenheit. So vermittelt sich zwar über die Negation die Gegenläufigkeit der im Text markierten Positionen, jedoch nicht im Sinne wechselseitiger Ergänzung, -denn das hieße, Unerschütterlichkeit mit Wankelmut und Verschla­genheit mit Tugend zu versöhnen - sondern eher im Sinne einer Konvergenz, in der beide Pole überstiegen sind. Eine solche Konver­genz besteht darin, daß nun der Leser eine Einstellung bezieht, durch die er über das verfügt, was den in dieser Polarität gezeigten Figuren gleichermaßen fehlt, aber gleichermaßen nottun würde: die Einsicht in das, was sie sind. Im Erwerben von Einsicht löst sich die von Fielding herausgestellte Romanintention ein. Denn sie ermög­licht die Demaskierung der Verstelltheit menschlichen Handeins, deren Gelingen dann zum Hintergrund dafür wird, die im Leben notwendige Vermittlung von Verhaltensnorm und empirischer Si­tuation kontrollieren zu können. In dieser Einstellungsdifferenzie­rung kommt die didaktische Absicht des Romans zu ihrer Voll­endung.

Doch diese ist bereits eine Vorstellung des Lesers, durch die er jene von der Negation erzeugten Leerstellen besetzt. Damit kommt zugleich die charakteristische Doppelnatur der von der Negation erzeugten Leerstellen zum Vorschein, der die Interaktion von Text und Leser weitgehend entspringt. Zunächst sind die Leerstellen solche des Textes, sodann aber markieren sie jenes Abwesende, das sich nur durch die Vorstellung vergegenwärtigen läßt. Konturiert sind diese Leerstellen im Text insofern, als aus dem Besitz der Tugend nicht mehr die Selbstverständlichkeit situationsangemesse­nen Handelns folgt, aber auch insofern, als das geforderte, situa­tionsangemessene Handeln nicht mit einem opportunistischen An­passen gleichgesetzt werden darf. Damit blockieren die Leerstellen des Textes die Kombination von Tugend und Opportunismus und selektieren dadurch die Sinngestalt insoweit vor, als es nun die vir­tuelle Äquivalenz dieser eingeschränkten Opposition zu entdek­ken gilt. In diesem Falle markieren die Leerstellen das nicht Ge­gebene und bilden damit eine Hohlform der Sinngestalt, deren Aus-

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füllen nur durch die Vorstellung des Lesers erfolgen kann. Die Leer­stellen haben folglich eine textspezifische und eine vorstellungs­spezifische Relevanz, deren Unzertrennlichkeit die Bedingung dafür abgibt, daß sich das Interaktionsspiel zwischen Text und Leser zu entfalten vermag. Als Hohlform der Sinngestalt bewirken die Leerstellen jene eigentümliche Erfahrung fiktionaler Texte, daß das vom Text angebotene bzw. durch seine Schemata im Leser aufge­rufene Wissen einer gelenkten Innovation fähig wird. In diesem Leerstellentyp läßt sich dann auch die produktive Leistung· der Ne­gation fassen. Sie macht den alten Sinn, den sie negiert, noch ein­mal bewußt, indem sie ihn mit einem neuen überlagert, der zwar leer bleibt, aber gerade deshalb des alten und nun durchgestriche­nen Sinnes bedarf, weil dieser durch die Negation in ein Material der Auslegung und der Motivierbarkeit zurückverwandelt ist, aus dem nun die Bestimmung der von der Negation thematisch ge­machten Leerstellen gewonnen werden muß.

Die Negation erzeugt jedoch nicht nur Leerstellen im selektierten Normenrepertoire, sondern auch in der Leserposition, da die ge­strichene Geltung identifizierbarer Normen den Leser - wie wir eingangs dieser Diskussion gesehen haben - in ein Verhältnis der Posteriorität zu dem ihm Bekannten setzt. Jnsofern fixiert die Ne­gation im Text den Ort des Lesers zum Text. Durch die Posteriori­tät erhält dieser Ort eine gewisse Bestimmtheit, wenngleich diese inhaltlich zunächst leer bleibt. Sie zu füllen heißt, Einstellungen zu beziehen, um dadurch den Text zur Erfahrung des Lesers machen zu können. Obwohl diese Erfahrung subjektiv höchst verschieden aus­fallen kann, so wird sich der leer gebliebene Ort des Lesers immer mit einer Erfahrung füllen. Dieser Vorgang läßt sich in Fortführung des angezogenen Beispiels deutlich machen. Wächst dem Leser die Gewißheit zu, daß die Charaktere in Fieldings Roman angesichts ihrer Handlungskonsequenzen eigentlich Einsicht in ihr Verhalten erwerben sollten, so wird diese dem Leser gewordene Einsicht in einem entscheidenden Punkt ambivalent. Der Leser, so scheint es, vermag die Situationen, in die Adams gerät, ungleich besser ein­zuschätzen, als dies dem aus seiner überzeugung heraus handeln­den Pfarrer je gelingt. Folglich beginnt die überlegenheit des Lesers über die Figur zu wachsen. Doch das Erkennen des von Adams ge-

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zeigten unangemessenen Situationsverhaltens ist zweischneidig. Denn es manövriert den Leser in die Position des Weltklugen und rückt ihn in die Nähe der Charaktere, für die Adams deshalb eine lächerliche Figur ist, weil ihm jeglicher Sinn für pragmatische Op­portunität im Leben fehlt. So findet sich der Leser unversehens auf der Seite jener Figuren, deren Prätentionen es vornehmlich zu durchschauen gilt und die für ihn kaum die geeignete Perspektive zur Beurteilung von Adams abgeben dürften. Mit dem Blickpunkt der Weltklugen kann er sich nicht identifizieren, denn das hieße, diejenigen Einsichten wieder preiszugeben, die er aus der vornehm­lich durch Adams' Haltung bewirkten Demaskierung dieserWeltklu­gen gewonnen hat. Wenn ihm aber Adams selbst in einer Reihe von Situationen oftmals so wie den Weltklugen erscheint, deren Sicht ihn nicht leiten kann, dann hängt der Leser dazwischen; seine überlegen­heit wird ihm zum Problem. Hält er das von Adams gezeigte Verhalten vielfach für naiv, so drängt er diesen mit einer solchen Einschätzung in eine negative Position, und es fragt sich, ob er in der Lage ist, die von ihm bewirkte Negativierung des Helden aufzuheben. _~Elit _ zeichnet siclLiILdicLeßerposition eine Leerstelle ein, die relativ Cleutllche Markierungen besitzt. D~rm~~-läßtS'i~ nich.tverkennen, daß der Grund für die empfundene Inopportunität der Reaktionen in Adams' moralischer Unerschrockenheit liegt; auf diese aber stößt der Leser in all den Situationen, in denen ihm seine Einsicht die unangemessenen Handlungen der Hauptfigur offenkundig macht. Sollte die Moral Bedingung des Fehlverhaltens sein, oder entdeckt der Leser erst jetzt, wie wenig seine Einsicht moralisch orientiert ist, obgleich er doch zu wissen meint, daß die Opportunität nicht ihr Maßstab sein kann? Nun fehlt ihm die Orientierung, über die Adams ohne jeden Selbstzweifel verfügt. Der Leser fällt in solchen Augenblicken aus seiner überlegenheit heraus, wodurch die Sinn­konfiguration des Geschehens dramatische Züge gewinnt. Denn nun ereignet sich der moraiische Konflikt im Leser selbst, nicht zuletzt deshalb, weil die Figuren durch providentielle Zufälle von den Kon­sequenzen ihrer Handlungen entlastet sind. Die Lösung kann nur in der Konkretisierung der virtuell gebliebenen Moral liegen. Fühlt sich der Leser den Weltklugen überlegen, weil er sie durchschaut, so kann er im Blick auf Adams eigentlich nur sich selbst durchschauen,

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weil er in den entsprechenden Situationen nicht so wie Adams, son­dern anders reagiert hätte. Will er aber nicht sich, sondern Adams durchschauen, um seine überlegenheit zu wahren, so teilt er die Sicht derer, die er ständig demaskiert. Fielding hatte seinen Lesern bedeutet, daß er ihnen mit diesem Roman einen Spiegel vorzuhal­ten gedenke "that they may contemplate their deformity, and endeavour to reduce it, and thus by suffering private mortification may avoid public shame."43 Fehlt den Weltklugen die Moral und dem Moralisten die Reflexion auf ihr jeweiliges Verhalten, so zeigen die negativen Pole zugleich die virtuelle Idealität der Sinngestalt, die den Leser schon deshalb nötigt, sich an ihr zu messen, weil die­ser Ausgleich das Produkt seiner Einsicht ist, hinter das er selbst nicht zurückfallen darf.

Damit beginnt die Leserrolle selbst konkreter zu werden. Denn _~ht dle-Notw-el1,figkeit,-Standpuiilcte zu bezleneIi,chifch

die der zunächst leer gebliebene Ort des Lesers diesseits des Textes bis zu einem gewissen Grade gefüllt wird.' Die Negation von be-' stimmten Repertoire-Elementen hatte dem Leser angezeigt, daß es etwas zu formulieren gilt, das der Text zwar konturiert, jedoch ver­schweigt. Das graduelle Gelingen einer solchen Formulierung Z~llt folglich den [eser-ln den -Text hinein, aber auch von seinen habi­tuellen Dispositionen ab, so daß er sich mehr und mehr vor eine Alternative gestellt sieht, die ihn zu einer Standpunktwahl drängt. Er gerät zwischen seine Entdeckung und seiueri-Hiliüus.13eziehle-r-­die Position seiner Entdeckung, dann vermag ihm der Habitus Thema der Beobachtung zu werden; hält er am Habitus fest, dann verschenkt er, was er entdeckt hat. Wie immer die Wahl ausfallen mag, sie ist durch die Spannung bedingt, die in der Leserposition herrscht und daher zu einem Ausgleich drängt. Die mangelnde Harmonisierung von Entdeckung und Habitus vermag sich in der Regel nur im Hervortreiben einer dritten Dimension zu entspan­nen, die als die Sinngestalt des Textes wahrgenommen wird. Ha­bitus und Entdeckung sind in ihr insofern zum Ausgleich gebracht, als der Habitus eine Korrektur erfahren und die Entdeckung in die-ser Korrektur ihre Funktion gewonnen hat. Im Hervorbringen der

43 Fielding, Joseph Andrews, III, 1, p. 144.

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Sinngestalt beginnt der Leser seinen Habitus zu negieren, aber nicht, um ihn zu vernichten, sondern als einen zeitweilig suspen­dierten gegenwärtig zu halten im Blick auf eine Erfahrung, von der er nur sagen kann, daß sie ihm evident sei, denn er hat sie durch seine Entdeckung selbst hervorgebracht.

Negationen des beschriebenen Typs besitzen abgestufte Grade der Intensität. Diese sind insofern aufschlußreich, als ihre Verstär­kungen wichtige Anhaltspunkte für die Intention des Autors sowie für die vorausgesetzten Erwartungen des angesprochenen Publikums liefern. Negationen gewinnen daher einen Indexwert für die funk­tionsgeschichtliche Zuordnung der Texte. Denn verstärkte Negatio­nen markieren vorherrschende Dispositionen, auf die eingewirkt werden soll, aber auch den Grad der Reflexion, den es zur notwen­digen Positivierung der Negation auszulösen gilt.

In der modernen Literatur kommt dieser Sachverhalt voll zum Vorschein, wodurch sich zugleich die Verwendung der Negation zu verändern beginnt. Der am Fieldingbeispiel aufgewiesene Nega­tionstyp ist für die Literatur weithin charakteristisch. Er hat eine themenspezifische Relevanz, denn es gilt, das virtuelle Thema des negierenden Aktes zu erschließen. Doch schon das Fie1dingbeispiel hat gezeigt, daß der Leser gerade durch die Entdeckung des in der Negation angezeigten Themas eine sekundäre Negation produziert, wenn er gehalten ist, die Entdeckung auf seinen Habitus zurückzu­koppeln. Hier ließe sich ein Wertkriterium für Literatur gewinnen. Immer dort, wo die Negationen des Textes so motiviert werden können, daß ihre Erschließung den Habitus des Lesers nicht not­wendigerweise transzendiert, fällt die sekundäre Negation und da­mit die Rückwirkung des Entdeckten auf den Habitus weitgehend aus. Negationen des Textes motivieren zu müssen und in den ent­deckten Motivationen gleichzeitig bestätigt zu werden, ist die be­herrschende Strategie einer bestimmten Unterhaltungsliteratur.

Ju-riner Reihe l110Jiem~ 'I~xJ~111Jlg(!genJ~!h~ic:llAie andersar~~ Tendenz zum Produzieren sekundärer Negationen durch den Leser verstärkt beobac4t~n.Zuihrer Ve-rdeutÜcl:J.ung sei gleich auf ein Bei­spiel zurückgegriffen. In Faulkners Roman The Sound and the Fury bildet sich durch die Anordnung der Erzählperspektiven, in der die

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Monologe der drei Compson-Brüder gegeben werden, ein Erwar­tungsschema heraus, das der Leser allerdings von Geschichte zu Ge­schichte aufheben muß.44 Das Erwartungsschema entsteht zunächst dadurch, daß in den Monologen der Compson-Brüder jeweils be­stimmte Vermögen ausgefallen sind, deren wechselseitige Ergänzung an und für sich vorstellbar wäre. So bildet sich jeweils die Erwartung heraus, daß der diffusen Wahrnehmung des schwachsinnigen Benjy eben nur das apperzeptive Bewußtsein fehle, um den richtigen An­halt an der Welt zu gewinnen, daß der Bewußtheit Quentins das Handeln nottue, um nicht in eine schattenhafte Möglichkeitsvielfalt zu zerfasern, und daß Jason schließlich sein Handeln durch Beob­achtung und Einsicht steuern müsse, um Herr der Situation zu blei­ben. Was im Nacheinander der einzelnen Geschichten als die er­wartbare thematische Ergänzung erscheint, ist jedoch so dargestellt, daß der Leser die von der Thematik der Monologe erzeugte Erwar­tung selbst aufheben muß. Ist er von der diffusen Wahrnehmungs­vielfalt Benjys noch verwirrt, so erwartet er sich ein bestimmtes Maß an Ordnung von dem Vermögen, das hier ausgefallen ist. Nur das Bewußtsein vermag dem Wahrnehmungsstrom gegenüberzutre­ten und ihn in apperzeptive Einheiten zu gliedern. Doch gerade die thematische Einlösung einer solchen Erwartung führt in der Quen­tin-Sektion zu ihrer unweigerlichen Aufhebung. Das Bewußtsein ist hier auf die Spitze seiner Leistung getrieben, doch nur mit dem Er­folg, daß sich Quentin in allen seinen Manifestationen lediglich als Schatten seiner selbst begreifen kann, denn das gesteigerte Bewußt­sein zersetzt alle Bedeutungen, weshalb ihm der Grund ständig ent­schwindet, dem diese Bedeutungen entstiegen sind. Danach erwartet der Leser kaum mehr im Handeln die kompensierende Alternative. Doch gerade in dem Augenblick, in dem er diese nicht mehr er­wartet, tritt sie ein. Läßt sich am Ende der Quentin-Sektion besten­falls Unerwartbarkeit erwarten, weil der Leser seine nach der Benjy­Sektion gebildete Erwartung löschen mußte, so wird ihm nun die Erfüllung der erwarteten Unvorhersagbarkeit dadurch verweigert, daß sich eine ursprünglich naheliegende Alternative tatsächlich er-

.. Die Voraussetzungen für die folgende Argumentation habe ich dar­gestellt in Der implizite Leser, pp. 214-236.

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gibt. Diese aber bedeutet nicht, daß nun eine ursprüngliche, vom Text stimulierte Vermutung: im Handeln die erwartbare Lösung zu sehen, doch noch in ihr Recht gesetzt wird. Im Gegenteil. Sollte eine solche Vermutung durch die gestrichene Unerwartbarkeit im Jason­Monolog stimuliert werden, so läuft sie in der Banalität des Ge­schehens leer, wodurch diese in sich schon gebrochene Erwartung zusammenfällt. So veranlaßt die Thematik der drei Monologe durch ihre Abfolge den Leser dazu, jeweils unterschiedliche Erwartungen zu bilden und wieder zu löschen.

Die eigenen, vom Text erzeugten Eny~rtungen aufheben zu müs­s~edeutet, daß zwismen den Geschichteni~e~;teÜen~ntstehen. Denn in der dementierten Erwartung zerstreut sich der gesuchte Zu­sammenhang der Monologe. Diese Leerstellen sind von eigentüm­licher Natur, da sie im Prinzip ihre Besetzbarkeit durch die Vorstel­lung des Lesers verweigern. Jeder Versuch, sich angesichts der de­mentierten Erwartung einen sinnvollen Zusammenhang vorzustel­len, bringt dann eher das zur Geltung, was sich der Leser selbst un­ter sinnvollen Zusammenhängen überhaupt vorstellt. Dennoch ist nicht zu leugnen, daß Leerstellen zwangsläufig das Vorstellungs­vermögen provozieren, daß sie ein Nicht-Gegebenes markieren; welches nur durch Vorstellung vergegenwärtigt werden kann. Da­her ist es unvermeidlich, daß sich auch hier Vorstellungen bilden. Doch sie vermögen die hier entstandenen Leerstellen paradoxer­weise nur dadurch zu besetzen, daß sie sich in einem solchen Akt gleichzeitig aufheben. Geschieht dies, dann läßt sich der Sinn dieses Romans konstituieren: er besteht darin, daß im ständigen Aufheben der durch die Leerstellen provozierten Vorstellungen die Sinnlosig­keit des Lebens - die Faulkner mit dem Macbeth-Vers im Titel sei­nes Romans signalisiert - zu einer Erfahrung des Lesers zu werden vermag. Die Negation der eigenen Vorstellungen bildet die not­wendige Voraussetzung dafür, dieser Erfahrung den Realitätscharak­ter zu sichern.

Negationen, die im Text nicht markiert sind, sich aber im Lek­türe-Akt aus dem Zusammenwirken der Steuerungssignale des Tex­tes mit den vom Leser hervorgebrachten Sinngestalten ergeben, ha­ben wir sekundäre Negationen genannt. Der Grund für eine Diffe­renzierung der Negationstypen zeichnete sich schon in dem Fielding-

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beispiel ab und ist im Faulknerbeispiel voll erkennbar. Dort galt es, die in der Lektüre gewonnene Einsicht auf den eigenen Habitus zu­rückzukoppelnj hier gilt es, die eigenen Erwartungen zu löschen, woraus sich Leerstellen ergeben, die ihre Besetzbarkeit verweigern. Sekundäre Negationen besitzen daher im Unterschied zu primären eine andere Relevanz. Primäre Negationen markieren ein virtuell gebliebenes Thema, dem der negierende Akt entspringt. Deshalb beziehen sie sich vorwiegend auf das in den Text eingezogene, der außertextuellen Welt entnommene Repertoire. Ihre Relevanz ist daher themenspezifisch. Sekundäre Negationen markieren die not­wendige Rückkoppelung der im Lesen erzeugten Sinngestalten auf den Habitus des Lesers. Sie werden dadurch wirksam, daß sie die Sinnkonstitution des Textes gegen die Orientierungen des Habitus steuern, ja oftmals dessen Korrektur bedingen, soll die fremde Er­fahrung begriffen werden. Ihre Relevanz ist daher funktionsspezi­fisch.

Nun wird man diese beiden Negationstypen nicht strikt vonein­ander trennen können, da sie immer in Mischungsverhältnissen vorkommen. Die Notwendigkeit dieser Verbindung gründet in der kommunikativen Intention des fiktionalen Textes, der weder eine gegebene Welt noch ein gegebenes Dispositionsrepertoire seiner möglichen Leser abbildet. Folglich vermag der Text nur über die primären Negationen das virtuelle Thema zu konturieren, dessen Aktualisierung sich in dem Maße vollendet, indem es sich als Kor­rektur in den Habitus des Lesers einzeichnet und somit zur Erfah­rung wird. Primäre und sekundäre Negationen bilden das Kommu­nikationsreiäISIm~xt,~c~daui~dTeNegatiQn_des_Bt1~n.lJJ~I1 i~cine ]if?.hll±Jlg_deBLes.ers.zuübersetzenvermag.~ pie Relation ~prin;ä~;r und sekundärer Negationen stellt jedoch keine konstante Beziehung dar, sondern zeigt historisch beobachtbare Verschiebungen, die in moderner Literatur zu einem übergewicht sekundärer Nega-' tionen führen. Faulkners Roman verkörpert in dieser Hinsicht einen interessanten übergang. Die Sinnlosigkeit des Lebens als virtuelles Thema von The Sound and the Fury ist über die primären Nega­tionen der jeweils ausgefallenen Vermögen in den Monologen der Compson-Brüder markiert. Indes, die Aktualisierung dieses Themas verläuft anders als in dem etwa von Fielding repräsentierten Nega-

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tionstyp. Wäre Faulkners Roman nach diesem Typ entworfen, dann gälte es, die in der Negation der Vermögen angezeigte Sinnlosigkeit dadurch aufzuheben, daß Wahrnehmung, Bewußtsein und Handeln in ein Verhältnis zueinander zu bringen sind, das es erlaubt, dem Leben einen bestimmten Sinn abzugewinnen. Das besprochene Er­wartungsspiel indes hatte eines erkennen lassen: daß solche thema­tisch durchaus angedeuteten und daher erwartbaren Zusammen­hänge vom Leser selbst ständig dementiert werden müssen. Ind·em sich die jeweils gebildeten Erwartungen von Geschichte zu Ge­schichte unablässig entleeren und daher nur die Unaufhebbarkeit zerrissener Verbindung zurücklassen, übersetzt sich die Sinnlosigkeit in eine Erfahrung des Lesers. Dieser könnte eine solche Erfahrung niemals machen, wenn ihn die Abfolge der Monologe nicht unent­wegt veranlaßte, Erwartungen zu bilden und gleichzeitig zu löschen, woraus sich Leerstellen ergeben, die nun durch Vorstellungen nicht mehr sinnvoll zu besetzen sind. Darin kommt das übergewicht der sekundären Negation zum Vorschein. Sinnlosigkeit als Thema hat in dem Maße seine Selbständigkeit verloren, als es nicht mehr dar­auf ankommt, den Leser in die Lage zu versetzen, durch die Ent­deckung virtuell gebliebener Zusammenhänge die Sinnlosigkeit auf­heb bar zu machen, sondern darauf, daß er durch diese Unaufheb­barkeit erfährt, was Sinnlosigkeit ist. Eine solche Erfahrung vermag im Prinzip diejenigen Vorstellungen aus dem Habitus des Lesers hervorzuziehen, die für ihn den Sinn des Lebens bedeuten. Was immer auch in einem solchen Vorgang geschieht: in jedem Falle entsteht die Möglichkeit, daß der Leser die ihn orientierenden Sinn­vorstellungen zu beobachten, wenn nicht gar thematisch zu machen vermag. Darin gründet, bei aller Verschiedenheit individueller Vor­stellungsinhalte, der intersubjektive Charakter dieser der sekundären Negation unterliegenden Struktur.

Für die beschriebene Negationsstruktur ist eine Voraussetzung unabdingbar, die aller Analyse der Konstitutionsvorgänge im Lesen zugrundeliegt und deren Mißachtung oft zur Quelle an sich über­flüssiger Auseinandersetzung über die Sinnstruktur fiktionaler Texte wird. Riffaterre hat diese Voraussetzung einmal wie folgt beschrie­ben: "Man kann niemals genug die Bedeutung einer Lektüre be­tonen, die im Sinne des Textes verläuft, d. h., von Anfang bis Ende.

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Wenn man diese {Einbahnstraße{ nicht beachtet{ verkennt man ein wesentliches Element des literarischen Phänomens - daß das Buch abläuft (so wie im Altertum die Schriftrolle materiell abgerollt wurdel{ daß der Text Gegenstand einer progressiven Entdeckung ist{ einer dynamischen und sich dauernd verändernden Wahrneh­mung{ wobei der Leser nicht nur von überraschung zu überra­schung fortschreitet, sondern gleichzeitig mit seinem Vorgehen sieht, wie sein Verständnis des bereits Gelesenen sich verändert, da jedes neue Element den vorangehenden Elementen eine neue Di­mension verleiht{ indem es sie wiederholt{ ihnen widerspricht oder sie entwickelt. 1I45

In moderner Literatur zeichnet sich eine zunehmende Instrumen­talisierung primärer Negationen im Dienste sekundärer ab. Das heißt{ moderne Literatur erschwert in wachsendem Maße die Kon­stituierung des durch primäre Negationen angezeigten Themas, wo­durch es zu einer gesteigerten Mobilisierung der Vorstellungs tätig­keit kommt. Diese ist dem Leser dadurch bewußt, daß sich seine Vorstellungen kaum mehr einzulösen vermögen und sich gerade durch die Frustration selbst zum Gegenstand werden. Die Prosa Becketts bezeichnet in dieser Hinsicht einen vorläufigen Höhepunkt. Seine Romane besitzen eine bisher nicht gekannte Dichte primärer Negationen. Die Satzkonstruktion besteht aus deutlich gegenein­ander versetzten Verläufen. Auf eine Behauptung folgt oftmals die unv'ermittelte Zurücknahme des Gesagten. Die Spielarten solcher Satzverbindungen sind außerordentlich variabel{ sie reichen von der bloßen Einschränkung über die Einklammerung bis zur vollkomme­nen Negation des Gesagten. Wie immer daher die Entgegensetzun­gen im einzelnen auch beschaffen sein mögen, der beinahe unauf­hörliche Wechsel von Satzaussage und deren Negation kennzeichnet die sprachliche Textur der Beckettschen Romane. Daraus folgt zu­nächst eine massive Reduktion der Implikationsvielfalt der Sprache; sie meint{ was sie sagt, so daß die Negation immer dann eingesetzt wird{ wenn die Wärter mehr zu meinen beginnen. Damit kommt das virtuelle Thema in den Blick: Becketts Sprache gibt sich als reine

4S Michael Riffaterre, Strukturale Stilistik, übers. von W. Bolle, Mün­chen 1973, p. 250.

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Denotation, die im ständigen Tilgen von Implikationen beinahe penibel darauf bedacht ist, keine Konnotationen zustande kommen zu lassen. Beckett, so sagte Stanley Cavell einmal, "shares with posi­tivism its wish to escape connotation, rhetoric, the noncognitive, the irrationality and awkward memories of ordinary language, in favor of the directly verifiable, the isolated and perfected present."46 Nun aber schreibt Beckett Romane, die als fiktionale Texte ja keine em­pirisch gegebene Objektwelt denotieren, so daß sie eigentlich dem Duktus fiktionaler Sprachverwendung folgen müßten, der darin be­steht, die denotative Funktion der Sprache zum Aufbau von Kon­no taten zu benutzen, die wir dann gewöhnlich als Sinneinheiten begreifen. Statt dessen nimmt Beckett die Sprache ständig beim Wort, und da die Worte unaufhörlich dazu tendieren, mehr zu mei­nen, als sie sagen, muß das Gesagte immer wieder eingeklammert, ja durchgestrichen werden. Indem Beckett die Sprache durch die Negation gegen ihren Gebrauch kehrt, macht er deutlich, wie Sprache funktionIert. Ist aber die Sprachverwendung auf das stän­dige Verhindern der Konnotatbildung angelegt, ohne in der Be­zeichnung einer empirischen Objektwelt ihre alternative Funktion zu besitzen, dann wird die durch das gezielte Tilgen von Implika­tionen auf reines Sagen zurückgenommene Sprache im Bewußtsein des ~esers virulent.47 An diesem Punkt schlägt die primäre Negation in die sekundäre um. Denn der Leser erfährt durch eine solche Sprachverwendung das ständige Durchstreichen der von ihm selbst gebildeten Textbedeutungen, die angesichts ihres Negiertseins den projektiven Charakter solcher dem Text zugeschriebenen Bedeutun­gen erkennen lassen. Daraus entspringt jene Beunruhigung, die alle Beckettleser mehr oder minder deutlich verspürt haben; sie läßt auch ahnen, was Beckett gemeint haben mag, als er von jener Macht der Texte sprach, die sich in uns einkrallen sollen.48 Denn nun ist

•• Cavell, p. 120. 47 Zu Einzelheiten vgl. meinen Aufsatz, "Die Figur der Negativität in

Becketts Prosa", in Das Werk von Samuel Beckett. Berliner Colloquium (suhrkamp taschenbuch 225), ed. Hans Mayer und Uwe Johnson, Frank­furt 1975, pp. 54-68 .

• 8 Vgl. dazu Hugh Kenner, Samuel Beckett. A Critical Study. New York 1961, p. 165.

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der Leser mit seinen von den Negationen des Textes provozierten Vorstellungen so zusammengeschlossen, daß er diese im unentweg­ten Aufheben nur als Projektionen erfahren kann.

Darüber hinaus bringt die dem Leser zugemutete Selbstentwer­tung der von ihm gebildeten - oder vielleicht besser projektierten -Bedeutungen eine Erwartung zum Vorschein, die wir vom Sinn literarischer Texte hegen: Sinn muß in letzter Instanz die Beruhi­gung jener Störungen und Konflikte bringen, die der Text entfaltet hat. In der Forderung nach Ausgleich der Spannung als Sinninten­tion des literarischen Werkes waren sich die klassische und psycholo­gistische Ästhetik einig. Im Blick auf Beckett aber zeigt sich nun, daß Sinn als Entlastung durchlebter Störung nur eine historische, keinesfalls aber eine normative Erwartung verkörpert. Die Dichte der Negationen treibt hier die Geschichtlichkeit einer Sinnerwar­tung heraus, die gewärtigen läßt, in welchem Maße die Textbedeu­tung den Charakter einer Defensivstruktur besitzt, durch die Stö­rungen, Konflikte, ja, die Kontingenz der Welt selbst aufgehoben und als bewältigt dargeboten werden sollen. Sinn als Abwehr ist freilich auch eine Sinnerfahrung, wenngleich diese erst vor dem Hintergrund jener Defensivstruktur bewußt wird, die die Texte Becketts aufruft, um sie zu löschen.

Damit sind die primären Negationen des Textes nahezu voll­ständig dem Hervortreiben sekundärer Negationen dienstbar. ge­macht. Die primären Negationen geben der Sprache den Habitus purer Denotation. Da diese aber keine gegebene Objektwelt be­zeichnet, verlegt sich der Konnotataufbau ganz in das Vorstellungs­bewußtsein des Lesers, der die ständige Zurücknahme dessen, was das Gesagte meinen könnte, als die Aufhebung der von ihm vor­gestellten Bedeutung und somit ihre Depotenzierung zur Projektion erfährt. Dieses nur scheinbar negative Resultat birgt jedoch Mög­lichkeiten, die zwar vom Leser nicht unbedingt realisiert werden müssen, in der Struktur des hier vorliegenden Negationstyps jedoch angelegt sind. Die Verstärkung sekundärer Negationen, wie sie in den Texten Becketts erfolgt, z·eigt eine Strategie, deren Nähe zu psy­choanalytischen Verfahren nicht zu verkennen ist, ohne daß damit behauptet werden soll, Beckett habe solche Verfahren dargestellt. Im Gegenteil. Wäre dies der Fall, dann könnte sich überhaupt nicht die

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Wirkung einstellen, die seine Text·e erzeugen, und die sich nur über gewisse Einsichten der Psychoanalyse plausibel machen läßt. Durch Negation Vorstellungen wachzurufen und entwerten zu müssen, ist ein Modus, durch den dem Leser die 'Vorzugsgestalten' (Scheler) seiner Orientierungsinhalte bewußt werden können. Solange dies nicht geschieht und der Leser Beckettscher Texte den projektiven Charakter seiner Vorstellungen nicht gewärtigt, wird seine Lesart allegorisch: seine Vorstellungen setzen sich absolut, da sie sich ge­gen ihre Aufhebung durch Negation sperren müssen. In diesem Falle vermag die Aufhebung nicht reflexiv zu werden, um jene Di­stanzierung entstehen zu lassen, durch die der projektive Charakter der Vorstellung bewußt werden kann. Wenn aber die Negationen wirksam und folglich die Vorstellungen zu Projektionen depoten­ziert werden, dann beginnt ein Distanzierungsprozeß, der zweierlei Folgen haben kann: 1. die als Projektion gewärtigte Vorstellung ist nun Gegenstand für mich, und nicht mehr meine Orientierung. 2. Komme ich in ein Verhältnis zu meinen Projektionen, dann werde ich für Erfahrungen frei, die diese Projektionen abgesperrt haben, solange sie in Geltung waren. An diesem Punkt ergibt sich die größte Nähe Beckettscher Texte zur Psychoanalyse. Freud meint in seinem Aufsatz über die "Verneinung", daß sich "in der Analyse kein 'Nein' aus dem Unbewußten auffindet, und daß die Anerken­nung des Unbewußten von seiten des Ichs sich in einer negativen Formel ausdrückt ... Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedanken­inhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedin­gung, daß er sich ver ne i n e n läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Auf­hebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Ver­drängten. Man sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet.,,49

Wenn sich im Unbewußten keine Negationen finden, so kommt ihre intellelüuelle Funktion erst durch einen Akt zustande. Solche Akte initiieren die Texte Becketts durch ihre Negationen, die sich im Durchstreichen gebildeter Vorstellungen erfüllen. Damit kom-

" S. Freud, "Die Verneinung", in Gesammelte Werke XIV, Landan 1955, pp. 15 u. 12.

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men die dem Bewußtsein entzogenen Orientierungen des Lesers zum Vorschein; da er sie seIhst negieren muß, werden sie ihm gegenständlich. Daraus resultiert zweierlei: 1. Reduzieren sich ihm seine Vorstellungen durch den Negationsakt zu Projektionen, dann hat er sie im Prinzip schon überschritten. Was er daraus macht bzw. ob und wie er eine solche Situation annimmt, wird immer eine in­dividuelle Realisierung dieser Struktur bleiben und hört damit auf, eine Frage der Ästhetik zu sein. 2. Wenn die eigenen Vorstellungen zu Projektionen depotenziert werden können, dann wird deutlich, in welchem Maße die Vorstellung ein fiktives Element besitzt. Das ist auch ganz natürlich, denn Vorstellungen müssen Leerstellen besetzen bzw. ein von Negationen erzeugtes Vakuum ausfüllen. Selbst wenn dafür das vom Text angebotene bzw. von seinen Sche­mata aufgerufene Wissen zur Verfügung steht, so kann die letzte Lücke, die die Vorstellung schließen muß, eben doch nur durch ein fiktives Element überbrückt werden. Denn Nicht-Gegebenes aus seiner Abwesenheit zu holen und es dadurch zur Gegebenheit zu machen, ist die Leistung der Fiktion. Deshalb stellt sie auch ein ent­scheidendes Ingredienz der Vorstellung dar. Denn bei allem gege­benen Material, das in die Vorstellungsbildung eingeht, gewinnt ihr doch erst das fiktive Element den notwendigen Zusammenhang und Ilamit den Anschein der Realität. Deshalb stoßen wir immer dort auf das fiktive Element der Vorstellung, wo wir ihren projektiven Charakter gewärtigen. Das soll indes nicht heißen, daß wir nun das fiktive Element aus den Vorstellungen austreiben wollen, was struk­turell ohnehin unmöglich ist; es kann aber heißen, daß uns da­durch das fiktive Element unserer habituellen Vorstellungsbildung deutlich wird. In solcher Einsicht liegt die Chance, Verfestigungen zu transzendieren, und sei es auch nur, daß wir zu wissen begin­nen, in welchem Maße das Fiktionselement der Vorstellung, gerade weil es keine Realität ist, eine so nützliche Funktion erfüllt. Ein solches Wissen kann dann im Prinzip verhindern, daß wir uns selbst in Projektionen einsperren. Damit kommuniziert sich zu­gleich eine zentrale Sinnintention der Beckettschen Texte. Sie zielt darauf ab, durch Negation kenntlich zu machen, was Fiktion ist, und worin das Verführerische ihrer Leistung liegt.

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6. Negativität

Aus der·bisher geführten Diskussion über Leerstellen und Negatio­nen ergibt sich ein letzter Gesichtspunkt für die Verdeutlichung der kommunikativen Struktur fiktionaler Texte. Leerstellen und Nega­tionen markieren bestimmte Aussparungen bzw. virtuell gebliebene Themen auf der syntagmatischen und der paradigmatischen Achse des Textes. Sie erzeugen damit notwendige Möglichkeiten, um die fundamentale Asymmetrie zwischen Text und Leser auszubalancie­ren. Sie initiieren eine Interaktion, in deren Verlauf die Konturen des Leergelassenen von den Vorstellungen des Lesers besetzt wer­den, wodurch sich auch die Asymmetrie zwischen Text und Welt aufzuheben beginnt und der Leser eine ihm fremde Welt zu Be­dingungen erfahren kann, die nicht durch seinen Habitus determi­niert sind. Leerstellen und Negationen bewirken insofern eine eigentümliche Verdichtung in fiktionalen Texten, als sie durch Aussparung und Aufhebung nahezu alle Formulierungen des Tex­tes auf einen unformulierten Horizont beziehen. Daraus folgt, daß der formulierte Text durch Unformuliertes gedoppelt ist. Diese Doppelung bezeichnen wir als die Negativität fiktionaler Texte; der Kennzeichnung ihrer Funktion gelten die abschließenden über­legungen.

Von dieser Doppelung als Negativität zu sprechen ergibt sich zu­nächst daraus, daß sie im Gegensatz zu den Formulierungen des Textes nicht formuliert ist; ferner daraus, daß sie im Gegensatz zur Negation die Formulierungen des Textes nicht negiert bzw. darin nicht aufgeht. Vielmehr ist sie als das Nicht-Gesagte der Konsti­tutionsgrund des Gesagten, der sich über Leerstellen und Negatio­nen insoweit zum Vorschein bringt, als dadurch das Gesagte ständig modalisiert wird. Aus solcher Modalisierurig erfolgt dann eine Stei­gerung des Gemeinten, so daß durch Negativität die Formulierungen des Textes ihren entschf;idenden Zuwachs erfahren. Dieser läßt zu­mindest drei Aspekte erkennen, die in diskursiver Sprache noch be­schreibbar sind. Denn man darf nicht verkennen, daß die Negativi­tät fiktionaler Texte die Bedingung ihrer Wirkung ist, die sich folg­lich einem diskursiven Zugriff nur noch in bestimmten Aspekten, jedoch nicht mehr als solche erschließt.

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Der er s te Aspekt ist formaler Natur und ließe sich allS die Er­möglichung der Auffassung bezeichnen, die sich in den Konstitu­tionsakten während der Lektüre vollzieht. Die einzelnen Textposi­tionen gewinnen ihren Sinn erst dadurch, daß sie miteinander ver­bunden werden. Die Beziehung selbst ist diesen Positionen in der Regel nicht explizit eingezeichnet, sondern durch Aussparung von Verbindung und Teilnegationen bestimmter Qualitäten angezeigt. Folglich hat die Beziehung selbst keinen 'gegenständlichen' Charak­ter, der der Gegebenheit der Textpositionen vergleichbar wäre. Im Gegenteil. Die Beziehung ist insofern höher situiert, als sie gegen­über der Textposition von abstrakter Natur ist. So untenscheidet sich die Beziehung fundamental von dem Vorhandensein der Positionen, die sie in ein Verhältnis bringt. Diese Sachlage ist nur folgerichtig, denn hätte die Beziehung die gleiche Form der Gegebenheit, wie sie die Textpositionen besitzen, dann wäre sie selbst eine Position und verlöre damit ihre Funktion, Verbindungen zu ermöglichen. In den Leerstellen und den Negationen bringt sich dieser Aspekt der Negativität zur Geltung: sie ist das 'Nichts' zwischen den Positio­nen und leistet damit mehreres zugleich. Indem sie die Positionen beziehungsfähig macht, schafft sie die Möglichkeit ihrer Auffassung. In einem solchen Akt bleiben sich die Positionen nicht gleich. Sie kehren das hervor oder geben das preis, was in ihrer bloßen Ge­gebenheit verdeckt war. So bildet die Negativität im Blick. auf die Textpositionen eine Spur des Nicht-Gegebenen, das jedoch die An­lage der jeweils miteinander verbundenen Positionen entfaltet und dadurch kommunikabel macht.

In dieser Hinsicht funktioniert die Negativität wie ein Symbol, das ebenfalls im Hinblick auf die Dinge, die es zu Sinn einheiten organisiert, die Spur delS Nicht-Gegebenen verkörpert. Doch im Ge­gensatz zur Negativität ist das Symbol formuliert und hat dadurch den Charakter einer Subsumtionsinstanz, der sich die organisierte Dingvielfalt zwangsläufig einzugliedern hat. N egativität hingegen erlaubt gerade durch ihr Unformuliertsein das Eindringen der Vor­stellung in die Positionen selbst, die - im Gegensatz zur Symbol­verwendung - nicht auf ihren bloßen Repräsentanzwert einge­schränkt sind und folglich als Zusammenhang im Vorstellungsbe­wußtsein des Lesers aufgebaut werden können. Aus diesem Grunde

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setzt die kommunikative Wirkung des Symbols immer einen gewis­sen Grad des Eingeweihtseins voraus, wenn Kommunikation ge­lingen soll. Die Negativität ist dagegen voraussetzungsloser und be­legt folglich die Auffassungsakte weniger mit konventionell verein­barten Restriktionen. Das heißt jedoch nicht, daß sie damit alle möglichen Auffassungen freigibt, denn diese regulieren sich zumin­dest über die Inhalte der Positionen, sodann über die von den Leer­stellen geregelten Thema- und Horizont-Verspannungen und schließ­lich über die zu entdeckende Motivation primärer Negationen.

Damit verbindet sich der z w e i t e Aspekt der Negativität; er ist inhaltlicher Natur. Wenn die Negationen des Textes ein be­stimmtes, durch das Repertoire repräsentiertes Wissen durchstrei­chen, einklammern, neutralisieren oder in ein bloß potentielles Wissen zurückverwandeln, wenn darüber hinaus bestimmte, im Text deutlich gewordene Positionen sich ihrerseits zu negieren be: ginnen, wie es häufig in der Romanliteratur durch die konstant wiederkehrende Figur des Gegenspielers geschieht, dann wird nicht nur eine Erwartung aufgehoben, es wird auch zugleich das Rätsel einer Ursache angezeigt.

Die Negation zieht ihre Wirkung daraus, daß sie eine Verdek­kung am bekannten Wissen markiert und damit dessen Geltung in Frage stellt. Zerfällt die Organisationsform bekannten Wissens, dann verwandelt es sich zum Material für die Auslegung dessen, was sich durch die markierte Verdeckung in den Blick geschoben hat. Folglich erscheinen die selektierten Normen des Repertoires, aber auch die Figuren und deren Handlung in einem oft stark problematisierten Zustand. Man braucht nur an die Figurenkon­stellation im Roman zu denken, um zu gewärtigen, in welchem Maße ihr Zusammenspiel dem wechselseitigen Hervortreiben nega­tiver Züge dient, die oft ihre positiven Seiten zu verdunkeln be­ginnen. Ähnliches gilt für die Romanhandlung, in deren Verlauf selbst idealische Eigenschaften der Figuren Ursache mißglückter Situationen sind - vom Drama ganz zu schweigen. Die Literatur von Homer bis zur Gegenwart ist reich an Beispielen des Miß­glücktseins, des Scheiterns, der N egativierung menschlichen Stre­bens sowie der Deformation der Menschen, ihres Wollens, ihrer Verhältnisse, ihres Fühlens und Denkens. Deformation und Miß-

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glücktsein erweisen sich dann als Oberflächensignale, die auf eine verdeckte Ursache hindeuten. Daraus ergibt sich ein für die Fiktion charakteristischer Doppelaspekt: Die in Deformation und Miß­glücktsein gebotene Welt des Textes weckt zugleich die Aufmerk­samkeit für die virtuell gebliebene Verursachung solchen Defor­miertseins. Das gilt bis hin zur Trivialliteratur. Denn die Defor­mation ist kein Selbstwert, sondern hat Zeichencharakter; dieser wird in der Lektüre virulent. Wir hatten deutlich gemacht, daß der im Rezeptionsbewußtsein vorgestellte Sachverhalt des Textes seine Basis in den formulierten Ansichten besitzt. Diese bilden jedoch nur einen Aspekt des Textes, der insofern ständig dazu verleitet, diese Aspekthaftigkeit zu überschreiten, als nur so die virtuell ge­bliebene Verursachung dargestellter Deformationen konstituiert werden kann. Eine solche Struktur ist für Kunst überhaupt charak­teristisch. Merleau-Ponty hat sie einmal an Rodin entwickelt. Um einen Menschen in Bewegung darzustellen, war es für Rodin not­wendig, den Körper in eine Haltung zu bringen, die er zu keinem Zeitpunkt eingenommen hat. Ja, die einzelnen Glieder müssen als solche und im Verhältnis zueinander einen bestimmten Deforma­tionsgrad aufweisen, denn nur wenn "die Stellung eines jeden Glie­des ... nach der Logik des Körpers mit der der anderen unverein­bar ist", entsteht die Möglichkeit, Bewegung als "virtuellen Brenn­punkt zwischen Beinen, Rumpf, Armen und Kopf" darzustellen.50

Dieser virtuelle Brennpunkt vermag sich nur über die "kohä­rente Deformierung" des Sichtbaren51 anzuzeigen. Dies ist übrigens auch ein Effekt, mit dem die Verfremdung arbeitet, indem sie den Rezipienten veranlaßt, verdeckte Ursachen über die Einklammerung bekannten Wissens zu konstituieren. Folglich ist jeder Vorstellungs­akt insoweit gedoppelt, als die Auffassung deformierter Ansichten erst im Hervorbringen der virtuell gebliebenen Verursachung sol7 cher Deformationen ihren Abschluß findet.

Die Negativität ist damit bedingende Ursache und mögliche Auf­hebung der Deformationen zugleich. Sie verwandelt die deformier-

50 M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, übers. von H. W. Arndt, Reinbek 1967, p. 38.

51 Ibid., p. 84.

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ten Positionen des Textes in ein Antriebsmoment, durch das die Nicht-Gegebenheit der Verursachung für die Erscheinungsweise des imaginären Gegenstandes im Vorstellungsbewußtsein thematisch zu werden vermag. Negativität vermittelt daher zwischen Darstellung und Rezeption: Sie initiiert diejenigen Konstitutionsakte, die not­wendig sind, um über deformierte Ansichten die Virtualität des sprachlich nicht mehr manifestierten Bedingungshorizontes im Vor­stellungsbewußtsein aktuell werden zu lassen. Damit bildet sie die Infrastruktur des fiktionalen Textes. Wenn sich die manifesten Po­sitionen des Textes im Zustand abgestufter Deformationen bieten, die vom Elend der Menschen bis zum Mißglücktsein ihres Handeins reichen, so hat dieses Charakteristikum die Anhänger einer allzu wörtlich verstandenen Mimesislehre immer wieder dazu verleitet, in solchen Texten das Abbild einer depravierten Welt sehen zu müssen. Ist aber die manifeste Deformation nur das Anzeichen einer verborgenen Ursache, die es im Vorstellungsbewußtsein zu verge­genwärtigen gilt, dann gewinnt die Negativität ihre für die Litera­tur zentrale funktionsgeschichtliche Relevanz. Was durch sie defor­miert erscheint, gibt sich als das Problem - als die brennende Frage - des Textes zu erkennen, durch das er Aufschluß über seinen Realitätskontext gibt. Die Aktualisierung der virtuell gebliebenen Ursache wird dann zur Möglichkeit, die Antwort zu entdecken, die der Text im Blick auf seine manifesten Problematisierungen parat hält. So schließt sich in der Negativität die Frage des Textes mit sei­ner möglichen Antwort zusammenj sie ist die Bedingung dafür, daß der fiktionale Text für seinen Leser nach dem Prinzip der Frage­und Antwortlogik konstruierbar wird.

Durch diesen Vorgang gewinnt der Sinn fiktionaler Texte seinen eigentümlichen Charakter. Er verkörpert keineswegs die virtuelle Komplettierung der aktuellen, im Text dargestellten Problematisie­rungen. Vielmehr ist Sinn als Erschließen einer virtuell gebliebenen Ursache die Wende des Geschehens. Wende soll heißen, daß die Konstituierung des Ungesagten sich als dialektische Aufhebung des Gesagten manifestiert. Deshalb erscheint die dargestellte, in Sprache gefaßte Welt des Textes verfremdet, weil sich der Sinn nur dann auf eine Positionalität reduzieren läßt, wenn er sich dieser durch Ent­stellung einzeichnet. Da er selbst in Sprache nicht aufzugehen ver-

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mag, kann er durch Sprache nur insoweit ins Bewußtsein kommen, als er die dargestellte Welt als problematisiert erscheinen läßt. Des­halb fällt der konstituierte Sinn mit der Wende des dargestellten Geschehens zusammen. Darin bringt sich auch der Ereignischarakter des Textes zum Ausdruck. Der Text ist offen, nicht weil er über­haupt unabschließbar wäre, sondern weil sein notwendiger Ab­schluß in der Lektüre die dialektische Wende der dargestellten Pro­blematisierung beinhaltet. In dieser Hinsicht zeigt die Negativität selbst einen Doppelaspekt: Als Ursache der Deformation ist sie die Ermöglichung ihrer Aufhebung und damit das eigentliche Konsti­tuens der Kommunikation.

In dieser Funktion kommt der d r i t t e Aspekt der Negativität zur Geltung. Kommunikation wäre unnötig, wenn nicht durch sie etwas vermittelt würde, das Unbekanntheitsgrade besitzt. Deshalb bestimmt sich Fiktion als Kommunikation, da durch sie etwas in die Welt kommt, das nicht in ihr ist. Dieses muß sich anzeigen, um aufgefaßt werden zu können. Da aber die Unbekanntheitsgrade nicht zu den Bedingungen erscheinen können, die für die Gegeben­heit des Bekannten gelten, vermag sich das, was durch Fiktion in die Welt kommt, nur als Negativität zu manifestieren. Sie zeigt sich im Text durch die Entleerung des Realitätsgehalts der in das Re­pertoire eingezogenen außertextuellen Normen, und zwar in dem von Adorno einmal gemeinten Sinne: " ... alles, was die Kunst­werke an Form und Materialien, an Geist und Stoff in sich enthal­ten, ist aus der Realität in die Kunstwerke emigriert und in ihnen seiner Realität entäußert."s2 Im Blick auf den Textpol erscheint Negativität als der virtuelle Brennpunkt, dem die entwertete Gel­tung der sichtbar gemachten Realität entspringt. Als das Unformu­lierte ist sie die konstitutive Leere des Textes. Im Blick auf den Re­zeptionspol erscheint Negativität als das noch Unbegriffene. Doch dieses Unbegriffene hat in der Regel auch eine Struktur, wenngleich diese nur einen negativen Charakter besitzen kann. Denn das Un­begriffene konturiert sich nicht als binäre Opposition oder als Kon­trafaktur zu jener Welt des Textes, die durch dessen Ansichten auf­gerufen und vorgestellt werden kann. Wäre Negativität als binäres

52 Adorno, ÄsthetisChe Theorie, p. 158.

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Oppositionsglied angelegt, dann gründete ihre mögliche Funktion in der kontrafaktischen Ergänzung dessen, was sie eigentlich bestrei­tet. Verhielte es sich so, dann würde Negativität nur die andere Seinshälfte repräsentieren und hörte auf, Negativität zu sein; denn sie stünde dann im Dienst einer die Welt komplettierenden Idee, die eine utopische Vollendung vorspiegelte. Gewiß gibt es diesen Defizienzmodus der Negativität; sie hat in diesem Falle eine bloß strategische Funktion für eine auf Affirmation bedachte Literatur, die am Ende die Welt nicht nur als heilbar, sondern als geheilt dar­stellt. Negativität als sie selbst ist jedoch weder aus der Gegebenheit der Welt ableitbar, die sie bestreitet, noch als Repräsentanzfunktion einer substantialistischen Idee denkbar, von deren nahender An­kunft sie kündet.

Wenn sie als das Unformulierte ein noch Unbegriffenes mar­kiert, so schränkt sie sich selbst auf ein Verhältnis zu dem von ihr Bestrittenen ein und setzt dadurch den Leser in eine Beziehung zum Text. Den Grund der bestrittenen Welt dem Leser zur Formulierung anzubieten heißt, die Welt zu transzendieren, weil sie nur so ge­sehen werden kann. Damit kommt das zum Vorschein, was Fiktion als Kommunikation leistet. Was immer im einzelnen als Inhalt durch sie in die Welt kommt, das wirklich im Leben Nicht-Gege­bene, was folglich nur sie anzubieten vermag, besteht darin, daß sie uns das zu transzendieren erlaubt, woran wir so unverrückbar ge­bunden sind: unser Mittendrinsein im Leben. Negativität als Kon­stituens der Kommunikation ist daher eine Ermöglichungsstruktur. Sie verlangt eine Bestimmung, die immer nur durch das Subjekt er­folgen kann. Daraus resultiert zwar der subjektiv eingefärbte Cha­rakter des Sinnes fiktionaler Texte, aber auch die hohe Prägnanz gefällter Sinnentscheidungen. In dieser Prägnanz schwingen die Al­ternativen nach, gegen die sich der gewählte Sinn stabilisieren muß. Diese Alternativen ergeben sich sowohl aus. dem Text als auch aus dem Dispositionsrepertoire des Lesers. In dem einen Fall ist die Präg­nanz eine Formulierung gegen Optionen, in dem anderen gegen ver­fügbare Einsichten. Diese Prägnanz hat ästhetischen Charakter. Denn sie kommt nicht al~ein durch die Wahlmöglichkeiten zu­stande, von denen wir eine ergreifen und folglich andere ausschlie­ßen, sondern auch durch das Fehlen einer Referenz, an der sie sich

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nach richtig oder falsch bemessen könnte. Doch damit ist die ästhe­tische Prägnanz des Sinnes nicht notwendigerweise privatistisch. Zwar hat sie ihre Deckung nur im Subjekt, das sie hervorbringt; doch gerade weil hohe Prägnanz auch immer Geltung beansprucht, gilt es, sie intersubjektiv vermittelbar zu halten. Dabei zeigt sich dann, was durch die Sinnprägnanz notwendigerweise verschenkt worden ist und folglich nicht in die Sinngestalt eingehen konnte. Im Spiegel dieser von der Sinnkonstitution selbst erzeugten Negativität lassen sich dann wiederum die eigenen Entscheidungen beobachten.

So pendelt sich auch hier die Interaktion zwischen Text und Leser über die Negativität ein. Indem man Gegebenes zu sehen lernt, und sei es selbst die eigene Sinnprägnanz, verändert sich dieses. Eine solche Veränderung indes verläuft nicht ins Diffuse, sondern immer wieder in eine neue Sinnprägnanz. So mag sich zwar der Sinn fik­tionaler Texte nicht zu den Referenzbedingungen regulativer, und das heißt subjekt-unabhängiger Regeln konstituieren lassen. Dafür aber erlauben seine konstitutiven Bedingungen einen aleatorischen Aufbau der Sinngestalt. In der Aleatorik sind die Kombinationsmög­lichkeiten gegebener Positionen nicht festgelegt; sie belegt nur gewisse Wahlmöglichkeiten mit einem Verbot. Solche Verbote indes sind dem fiktionalen Text selten explizit eingezeichnet, weshalb sich die Einschränkungen der Wahlmöglichkeiten häufig nur über die Kom­petenz des Lesers gewinnen lassen; er liefert den 'Code' der aleato­rischen Rege1.53 Zugleich aber ist es die negative Bestimmtheit dieser Regel, die zur Bedingung für das Spektrum mannigfacher Sinnge­stalten des gleichen Textes wird. Wenn es daher den einen Sinn fiktionaler Texte nicht gibt, so ist dieser Mangel die produktive Matrix dafür, daß er in den verschiedensten Kontexten immer wie­der Sinn zu geben vermag.

53 In einem anderen Diskussionszusammenhang stellt Lotman, p. 108, fest: "Von dieser Betrachtungsweise her sollte man die Geschichte der Rezeption von Texten im Leserbewußtsein mit erheblich größerer Auf­merksamkeit verfolgen. Immer wieder neue Kodes des Leserbewußtseins bringen im Text auch neue semantische Schichten zum Vorschein."

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NAMENSREGISTER *

Abrams, M. H. 64 f. Adorno, Th. W. 81, 282, 322, 353 Albers, J. 232 Allott, M. 281. Ammons, A. R. 69 f. Anderegg, J. 87 Antonioni, M. 282 Arnheim, R. 151, 161, 278, 305 f. Austen, J. 264 Austin, J. 1. 90 H., 102 f., lOS, 114,

149

Balazs, B. 302 f. Barthes, R. 123 Baudelaire, Ch. 155 Beardsley, M. C. 48 f. Beckett, S. 31, 213, 248, 322, 326,

343-347 Bennett, A. 281 Bergson, H. 221 Birkner, G. 135 Blackmur, R. P. 324 Blanchard, F. 1. 311 Blumenberg, H. 118 Boehme, J. 50 Booth, W. C. 64, 212, 317 Breuer, D. 28 Bunyan, J. 171 Butor, M. 191

Carlyle, T. 16, 18 Carstensen, B. 149 Cassirer, E. 104 H. Cavell, S. 97, 208, 225, 252, 281,

344 Chapman, R. 146 Chaucer, G. 76 Chrestien, 130

Cervantes, M. 213 Clair, R. 281 Coleridge, S. T. 64 Collingwood, R. G. 123 Compton-Burnett,1. 294, 298,

300 f. Conrad, J. 213, 320 Corke, H. 299 Croesus, 231, 235 Curtius, E. R. 324

Darbyshire, A. E. ISO f. Dewey, J. 216 f., 231 Dickens, Ch. 160, 296 f. Dufrenne, M. 156, 220, 223

Eco, U. 106 f., 114, 148, ISS, 203, 260,283,324

Eliot, T. S. 36, 265 Ellmann, R. 211

Faulkner, W. 185, 338, 340-342 Fielding, H. 33, 107-110, 127 f.,

134, 196-199, 205, 213 f., 223, 231-239, 286, 289, 307 H., 311. 315,330,333-338

Fish, St. 55 H., 146 Foucault, M. 253 Frege, G. 244 Freud, S. 67 f., 256, 346 Frye, N. 50

Gadamer, H. G. 164 Geiger, M. 274 Gerard, H. B. 257 f. Godard, J. 1. 282 GoHman, E. 262

* zusammengestellt von Gabriele Hermanns

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Gombrich, E. H. 30, 151 H., 194 f., 202, 208

Graumann, C. F. 66, 185 Gurwitsch, A. 197, 287, 303, 305

Habermas, J. 118 f. Hamburger, K. 103 Harding, W. D. 255 Hegel, G. W. F. 26, 29, 250 Henrich, D. 26 f. Hirsch, E. D. 23 Hobsbaum, Ph. 33 f., 44 Hogarth, W. 232 Holland, N. 51, 67 H., 84 Homer, 137, 324, 350 Hume, D. 221 Husserl, E. 180 f., 197, 219, 240-

244, 253 H., 255, 329

Ingarden, R. 10, 38, 87, 102 f., lOS, 167 f., 180, 183-186, 234, 267-284

Irwin, M. 309

James, H. 12 H., 207 f., 220, 253 James, W. 226 Jauss, H. R. 63, 130 Jones, E. E. 257 f. Joyce, J. 83, 133, 137, 140 f., 174,

185,211-213,286,320,323,325f.

Kalivoda, R. 117,280 Kant, 1. 43, 201 Kenner, H. 344 Köhler, E. 130 König, J. 41 Kosik, K. 132 Kracauer, S. 298 Kummer, W. 285

Laing, R. D. 259 H. Langer, S. K. 255 Learis, F. R. 47 Lee, A. R. 259 H. Lesser, S. 51, 67 f., 77 H.

Lewis, C. S. 47 Lobsien, E. 66 Locke, J. 120 f., 124 H. Lorenzer, A. 72 Lotman, J. 1. 109 f., 146, 204, 287,

302,321,355 Luckmann, T. 236, 305 Luhmann, N. 118 f.

Malecki, H. 117 Merleau-Ponty, M. 136, 204, 215,

229, 266, 351 Milton, J. 33 f., 47 Moles, A. A. 138 f., 158, 195 Morris, eh. 89, 106 Mukarovsky, J. 115, 142, 146 f., 280

Naumann, M. 63, 175 Newman, J. H. 294

Ogden, C. K. 76

Pater, W. 206 Phidias, 232, 235 Phillipson, H. 259 H. Piaget, J. 314 f. Pinget, R. 322 PI at on, 29 Pontalis, J. B. 14 ff.,67 f., 70 Posner, R. 155 Poulet, G. 248-251 Praxiteles, 232, 235 Pr es ton, J. 290

Richards, 1. A. 76, 80 Richardson, S. 134 Ricoeur, P. 230, 244 f., 256 RiHaterre, M. 54ff., 146,342 Ritchie, B. 209 f. Ronte, H. 311 Ryle, G. 220-222, 228 Rubin, E. 159 H.

Sachs, H. 254 Sartre, J. P. 154, 176 f., 201, 221 f.,

357

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227, 238 f., 250, 289, 292 f., 321, 329,331

Savigny, E. von 93, 95 Schapp, W. 214 Schelling, F. W. J. von 26 Schlaeger, J. 76 Schlesinger, J. M. 179 Schmidt, S. J., 118, 284 H. Schütz, A. 63 f., 236, 305 f. Scott, W. 33 Searle, J. R. 90, 98, 102 f. Shakespeare, W. 74, 137, 252, 324 Sharp, B. 187 Shaw, G. B. 215 Sidney, Ph. 25 Simmel, G. 29 H. Sklovskij, V. 290 f. SlatoH, W. 37 f. Smith, F. 179, 189, 193, 195 Smollett, T. 173 Smuda, M. 222 Sontag, S. 23 f. Spenser, E. 135 Starobinski, J. 219

358

Sterne, 1. 124 H., 129, 176,316 Stierle, K-H. 229 Stout, G. F. 303

Thackeray, W. M. 174, 187 f;, 191 Tillotson, K 160

Vivas, E. 217

Wardhaugh, R. 179 Warning, R. 10, 55, 63, 65, 125 Warren, R. P. 80 Weitz, M. 46, 48 Whitehead, A. N. 112 f. Wiener, N. 111 . Wimsatt, W. K 48 f. Wittgenstein, 1. 228 f. Wolff, E. 55, 58 f. Wollheim, R. 152 f. Woolf, V. 185, 264-266 Wygotski,1. S. 40

Zehner, G. 322

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