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ORIENTIERUNGEN 117 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Wirtschaftswissenschaften Abkehr von der Ordnungspolitik? Mindestlöhne Das Ende der Tarifautonomie? Bildungspolitik Mythen und Fakten Wirtschaftspolitik in Deutschland aus der Sicht Großbritanniens Frankreich Die Reformen Sarkozys Länderberichte Vietnam und China LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN September 2008

ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK 117 · 2016. 6. 29. · Editorial Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008) 1 Gutes Geld braucht keinen Guru

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ORIENTIERUNGEN

117ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

WirtschaftswissenschaftenAbkehr von der Ordnungspolitik?

MindestlöhneDas Ende der Tarifautonomie?

BildungspolitikMythen und Fakten

Wirtschaftspolitik in Deutschlandaus der Sicht Großbritanniens

FrankreichDie Reformen Sarkozys

LänderberichteVietnam und China

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

S e p t e m b e r 2 0 0 8

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Ordnungspolitische Positionen �

Christian Watrin Vom Nutzen und Wert der Ordnungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Stefan Voigt Mehr Mathematik gleich weniger Ordnungspolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Ingo Pies Mathematik und Ordnungspolitik: Kein Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . 13

Probleme

der Wirtschaftsordnung �

Klaus Schrader Staatliche Lohnsetzung statt Tarifautonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

Ludger Wößmann „Bildungsrepublik Deutschland“: Mythen und Fakten . . . . . . . . . . . . . . . 24

Außenansicht �

Rainer Hillebrand/ Die deutsche Wirtschaftspolitik

William E. Paterson im Spiegel britischer Befindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Internationale

Wirtschaftspolitik �

Henrik Uterwedde Frankreichs Reformagenda:

Eine Zwischenbilanz der Politik Nicolas Sarkozys . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

Wolfgang Klenner Chinas Währungspolitik:

Die Internationalisierung des Renminbi will gut überlegt sein . . . . . . . . 43

Myriam Hadnes/ Wohlstand für alle in Vietnam:

Rainer Klump Ergebnis erfolgreicher Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Liberalismusforschung �

Hans Jörg Hennecke Wandlungen des Neoliberalismus –

Zu einem Buch von Philip Plickert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

� Inhalt

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Editorial

1Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)

Gutes Geld braucht keinen Guru

Gutes Geld war nach Ansicht von Ludwig Erhard ein unverzichtbares Elementseiner Idee einer „Sozialen Marktwirtschaft“. Eine Marktwirtschaft konnte sei-ner Meinung nach nicht das Prädikat „sozial“ tragen, wenn die Menschen sichnicht darauf verlassen dürfen, dass die Geldeinheit, die sie mit ihrer Arbeit ver-dienen, morgen und übermorgen noch den Wert hat, zu dem sie heute ihreArbeitsbereitschaft, ihre Konsumwünsche und ihre Sparpläne bewerten. Ver-lässlich stabiler Geldwert war für Ludwig Erhard eines der moralischen und öko-nomischen Grundversprechen der „Sozialen Marktwirtschaft“.

Die Geldordnung der Bundesrepublik und später der Europäischen Wäh-rungsunion hat – alles in allem – den Geist des Erhardschen Vermächtnisses be-wahrt. Über die sechzig Jahre umgerechnet am Maßstab der Preisentwicklungist „Erhards Mark“ heute nicht mehr das, was sie am Tag der Währungsreformwar. Aber ein solcher Vergleich wäre ohnehin hoch problematisch. Die öko-nomische Welt des Tages der Währungsreform ist nicht die ökonomische Weltvon heute. Geblieben aber ist so etwas wie eine Stabilitätsvorliebe der Deut-schen. Die Politik – von der Finanzpolitik bis zur Sozialpolitik – hat in Deutsch-land viele Fehler machen dürfen, ohne dafür abgestraft zu werden. Eine offeneInflation aber hätten die Deutschen der Politik wohl nicht verziehen. DiesesMittel des Betrugs hat der Politik in der Geschichte der Bundesrepublik nie zurVerfügung gestanden, wenn auch die Mark nicht immer im realen Sinne dieMark geblieben ist, und wenn auch der Euro – wie etwa gegenwärtig – nichtfrei von Inflationsverlusten ist.

Insgesamt aber können sich die Deutsche Bundesbank und – seit Gründungder Europäischen Währungsunion – die Europäische Zentralbank im inter-nationalen Vergleich der Leistungen der großen Notenbanken gut sehen las-sen. Im Ausland führt man das auf die „deutsche Stabilitätsmentalität“ zurück.Und dahinter steht das Erbe Ludwig Erhards. Der hat gewusst, dass die Stabilitätdes Geldwertes nicht nur im technischen Sinne mit der Längenverlässlichkeiteiner Messlatte vergleichbar ist. Der Verlass auf die Wertbeständigkeit des Gel-des gehört in der Tat zu einer Wirtschafts- und Sozialordnung, in der die Men-schen nicht nur ihren wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch ihre „Aufgeho-benheit“ suchen. Wo man heute nicht weiß, was die eben verdienteGeldeinheit morgen und übermorgen noch wert ist, da kommen diejenigenunter die Räder, zu deren Lebenszuschnitt der wettähnliche Abschluss von Ter-mingeschäften nicht gehört.

Die Notenbanken der im internationalen Maßstab großen Wirtschaftseinhei-ten haben ihre je eigene Philosophie entwickelt. In Amerika hat die Fed – dasdortige Zentralbanksystem – immer wieder mal auf die Figur des „Guru“ ge-setzt, mit aller Theatralik vor allem in der Ära Alan Greenspan. In Deutschlandhat sich über die Jahrzehnte hin eine sehr viel strikter ökonomisch begründ-bare Strategie der Sicherung des Geldwertes herausgebildet, die dann auch –technisch ausgefeilt und modifiziert – von der Europäischen Zentralbank in ih-rer Zwei-Säulen-Theorie übernommen wurde. Den Leistungsvergleich müs-sen die Europäer nicht scheuen.

Hans D. Barbier

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Vom Nutzen und Wertder OrdnungspolitikProf. Dr. Christian WatrinStellvertretender Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung

� In jüngerer Zeit entwickelt sich im deutschen Sprachraum eine Debatte da -rüber, welchen Stellenwert die Anwendung mathematischer Methoden für dieZukunft der Volkswirtschaftslehre hat. Solche Debatten sind seit Leon Walras(1834 –1910) keine Seltenheit. In der Gegenwart sind sie dadurch strukturiert,dass für die mathematische Richtung eine Vorrangposition beansprucht wird;vor allem in ihren Ergebnissen und Beiträgen spiegele sich der Fortschritt derWissenschaft. Als zu bekämpfende Position gilt die Ordnungspolitik. Ihr wer-den wissenschaftliche Versäumnisse angekreidet und es wird ihr empfohlen,sich mehr an den Vorgehensweisen der mathematischen Richtung zu orientie-ren. Aber auch ein zweiter Rang oder sogar ein Verschwinden von der Bühneder Wissenschaften wären kein Anlass zur Trauer.

Debatten wie diese sind nicht ohne praktische Folgen. Sie schlagen sich im Wis-senschaftsbetrieb in der Besetzung von Stellen und in den Lehrplänen der Stu-dierenden nieder. Die Langfristwirkung äußert sich später in den Beiträgender Wissenschaftler zur Gestaltung der Wirtschaftspolitik.

Menschliches Zusammenleben als Problem der Ordnungspolitik

Der Begriff „Ordnung“ hat im deutschen Sprachgebrauch viele Bedeutungen.In Verbindung mit dem Wort „Politik“ bezeichnet er eine Geistesrichtung, diein und nach dem Zweiten Weltkrieg entstand – also in einer Zeit, in der es galt,die Trümmer der nationalsozialistischen Diktatur abzuräumen und den Weg ineine „offene Gesellschaft“ (Karl Popper) einzuschlagen.

Heute wird der Begriff Ordnungspolitik oft verwendet. Er hat Eingang in dieAlltagssprache gefunden. Seine lateinischen Wurzeln liegen im Ordo-Gedan-ken. Sein Gegenstand sind die Regeln und Grundsätze menschlichen Zu-sammenlebens. So gesehen liegen die Ursprünge des ordnungspolitischenDenkens nicht in der Neuzeit, sondern in der griechischen Klassik, das heißtdem Abschied von der homerischen Welt, in der die Götter den Weltenlauf be-stimmten, und dem Eintritt in die Ära Platons und Aristoteles‘ um 500 vor Chris-tus. Beide Philosophen äußerten sich in Schriften, die bis zum heutigen Tag be-achtet werden, vertieft über die Verfassung eines „guten Staates“ und einer ge-rechten Ordnung. Ordnungspolitik ist also keine Zeiterscheinung, kein schnell

Theaitetos: „Nun hör mir aufmerksam zu, Sokrates,

denn was ich Dir vorlegen will, ist recht verwickelt.“

Sokrates: „Ich verspreche dir, mein Bestes zu tun, Theaitetos,

wenn Du mich verschonst mit den Feinheiten

deiner Entdeckungen in der Zahlentheorie

und in einer Sprache sprichst, die ich,

ein gewöhnlicher Mensch, verstehen kann.“

(Karl Popper, Vermutungen und Widerlegungen,

Band II, 1994, Seite 441)

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)2

Ordnungspolitische Positionen

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vergängliches Modethema, sondern ein Anliegen, das Philosophie und Men-schen seit zweieinhalb Jahrtausenden beschäftigt.

Im internationalen Diskurs, der heute immer wichtiger wird, stößt der im Deut-schen leicht verständliche und viel verwandte Begriff „Ordnungspolitik“ aller-dings auf Schwierigkeiten. Vor allem seine Übersetzung in die Weltsprache un-serer Tage, das Englische, will nicht gelingen. In zwei Büchern, die dem angel-sächsischen Leser das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft vorstellen,wird der Begriff entweder in seiner deutschen Form beibehalten, was seinerVerbreitung nicht gerade nutzt, oder es werden Umschreibungen versucht, dieinhaltlich nicht überzeugen.1

In der innerdeutschen Diskussion spielt dieser Mangel keine Rolle, wenngleichman sich erinnern sollte, dass unter dem Regime der ehemaligen DDR derBannfluch der Ideologie auf jenen lastete, die sich um die Verfassung einerfreiheitlichen Gesellschaft bemühten und das Marxsche Geschichtsmodell ab-lehnten. Ihnen wurde vorgeworfen, dass ihre Vorstellungen von einer künfti-gen humanen oder freien Gesellschaft einem „falschen Bewusstsein“ entsprän-gen – und folglich zu bekämpfen seien. Ja, man ging sogar noch einen Schrittweiter und plädierte dialektisch, dass die (Zwangs-)Bekehrung zum vermeintlich„richtigen Bewusstsein“ des Marxismus im „wahren Interesse“ der dem Ideo lo -gievorwurf Ausgesetzten sei. Nur im Zuge einer Umerziehung könnten die Dis-sidenten wieder auf den Weg des „richtigen“ Verständnisses der Welt geleitetwerden.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus unter dem Freiheitsbegehren derihm Unterworfenen meinten verschiedene Historiker, dass unser künftiges Le-ben nur noch durch die Ordnungen von Demokratie und Marktwirtschaft be-stimmt sei. Daraus wurde mitunter der Schluss gezogen, dass ordnungspoliti-sche Debatten, wie sie vor allem das zwanzigste Jahrhundert bestimmten, derVergangenheit angehörten und künftig von minderem Interesse wären.

Mittlerweile stellt sich jedoch heraus, dass diese Sicht falsch ist. Zwar erzieltenbeide Ordnungen – vor dem Hintergrund der totalitären und autoritären Re-gime des vorigen Jahrhunderts – große Fortschritte. Aber beide Ordnungen er-weisen sich als unvollkommen und sind bestenfalls verbesserungsfähig, abernicht perfektionierbar. Die Schalmeien der Perfektionisten und Idealisten fin-den mithin nicht nur nach wie vor ein dankbares Publikum. Vielmehr könnensachlich ausgerichtete Reformanstrengungen zu schweren Fehlern führen, diedas Erreichte infrage stellen.

Von der Ordnungspolitik zur Ordnungsökonomik

Ausgangspunkt der jüngeren Ordnungspolitik ist die Diskussion im vorigen Jahr-hundert um die Vor- und Nachteile von dezentral koordinierten Märkten einer-seits und zentral gesteuerten Wirtschaftsplänen andererseits. Schon vor dem Zer-fall der sozialistischen Lenkungsmechanismen in China, Russland und Indienhat sich das Spektrum der Ordnungspolitik und der ihr zugehörigen Ordnungs-theorie in der wissenschaftlichen Diskussion erheblich ausgeweitet. Gleichzeitighaben sich die Akzente deutlich verschoben. Selbst der Begriff Ordnungspolitikist vielfach dem neuen Begriff Ordnungsökonomik gewichen. Dadurch wird ein

1 Siehe die von Alan Peacock und Hans Willgerodt herausgegebenen Bände „Germany’s Social MarketEconomy: Origins and Evolution“, Seiten 37 und 45, sowie „German Neo-Liberals and the Social MarketEconomy“, Seiten 74, 78, 95, 97 f., 100, 102, Trade Policy Research Centre, London 1989.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008) 3

Abkehr von der Ordnungspolitik?

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Wandel der Sichtweise ausgedrückt. Gesellschaftliche Probleme werden nichtlänger unter der Perspektive erörtert, dass sich in der Gestaltung des sozialen Le-bens große Kollektive einander gegenüberstehen (wie Kapitalisten und Proleta-rier oder Unternehmer und Arbeitnehmer). Vielmehr wird, dem Vorbild derneueren ökonomischen Theorie folgend, eine individualistische Perspektive zu-grunde gelegt. Daraus folgt, dass die soziale Wirklichkeit nicht mehr unter Grup-pen- und Klassenkampfaspekten gesehen, sondern als ein komplexes System vonInteraktionen aufgefasst wird, in dem die einzelnen Akteure höchst verschiede-ne Ziele verfolgen. Die daraus erwachsenden Interaktionen führen zu einemkomplexen und stark revidierten Bild der Realität im Vergleich mit den Nach-kriegsvorstellungen der älteren Ordnungspolitik.

Zur Erläuterung der neueren Entfaltung der Ordnungspolitik sei nur wenigesgenannt. Die Befassung mit der Wettbewerbsproblematik hat Jurisprudenz undOrdnungsökonomik eng zueinander geführt. Gleichzeitig ließ die Betonungder Wichtigkeit von Eigentumsrechten für den Wirtschaftsprozess das neueFach „Law and Economics“ entstehen. Das Aufkommen der Institutionenöko-nomik gab der herkömmlichen Ordnungspolitik ein neues verbessertes theo-retisches Gerüst. Die in den USA entstandene Konstitutionenökonomik drängtin alle Winkel und Ecken des Sachgebiets, das früher der „politischen Wissen-schaft“ zugeschrieben wurde. Die Kritik am – wie von Hayek es nannte – „altenGespenst des Homo oeconomicus“ durch die experimentelle Ökonomik undneuerdings die Neuroökonomik stellt ältere ordnungspolitische Denkrichtun-gen vor die Frage, wie im Lichte dieser neuen Verhaltenstheorien Wirtschafts-politik betrieben werden kann. Und die in jüngerer Zeit sich entfaltende evo-lutorische Ökonomik verlangt Antworten auf die Frage, ob und wie menschli-che Interaktionsprozesse, dort wo sie spontan entstehen, überhaupt staatlichreguliert werden können. Und schließlich ist zu fragen, ob ein friedliches welt-weites Zusammenleben und allgemeiner Wohlstand eine irrlichternde Utopieoder eine realisierbare Alternative ist. Heute ist die Ordnungspolitik (odermittlerweile Ordnungsökonomik) längst nicht mehr identisch mit den LehrenWalter Euckens, Franz Böhms oder Friedrich A. Lutz‘.2

Ordnungsökonomik als „ideologiegestützte Plausibilitätsüberlegung“?

Vor diesem Hintergrund wirkt es befremdend, wenn eine bekannte Wirt-schaftszeitung glaubt, ordnungspolitisches Denken und Handeln mit dem Vor-wurf abzutun, Ordnungspolitik oder -ökonomik sei lediglich eine Ansamm-lung „ideologiegestützter Plausibilitätsüberlegungen“. Wenn es hier um mehrgehen sollte als einen der üblichen Marketingeffekte, dann ist daran zu erin-nern, dass gerade das, was als plausibel gilt, allzu oft sachlich falsch ist. Wir se-hen die Sonne morgens auf- und abends untergehen; das daraus ableitbareptolemäische Weltbild ist plausibel, aber falsch. Was plausibel ist, ist nochlängst nicht richtig im Sinne des Popperschen Kriteriums der Überprüfung vontheoretischen Aussagen und empirischer Erfahrung.

Gerade die Wirtschaftssystemdebatte des vergangenen Jahrhunderts ist ein Pa-radebeispiel dafür, wie irreführend Plausibilitätsargumente sein können. Ei -nerseits ist die Vorstellung plausibel, dass der Staat Probleme wie Krisen, Ar-beitslosigkeit und Armut kraft seiner Macht meistern kann. Daraus lässt sichableiten, dass eine Zentralverwaltungswirtschaft die bessere ordnungspoliti-

2 Vgl. Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hrsg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungs-ökonomik, Tübingen 2008.

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Ordnungspolitische Positionen

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sche Alternative im Vergleich zur Marktwirtschaft ist. Auf der anderen Seite istnichts weniger plausibel als die Behauptung, dass im vermeintlichen „Chaosder Märkte“ Wohlstand entstehen kann, der die sozialistische Lösung weit inden Schatten stellt. Der „unplausible“ Markt ist die wirtschaftspolitisch erfolg-reichere Strategie. Die Wahl der plausiblen Lösung, die staatliche Steuerung,hingegen bedeutet Niedergang und Armut.

Eine Marktwirtschaft, erst recht wenn sie globale Ausmaße annimmt, ist einehöchst unplausible Ordnung und überdies nicht leicht zu erklären. In ihr han-deln die Teilnehmer nach eigenem Belieben, sie suchen nach Gewinnchancen,deren Erfolg keineswegs sicher ist. In der Generationenfolge ist heute nurnoch selten die dritte Generation im Besitz des Ererbten. In der ständischenWirtschaft war dies anders. Die Erben saßen noch nach Jahrhunderten auf dergleichen Scholle. Vieles ist heute ein Rätsel, und die in den öffentlichen Me-dien angebotenen Erklärungen und besonders die dort aufgestellten Progno-sen sind meist kurzlebig und falsch.

Ähnliches gilt für demokratische Ordnungen. In ihnen wechselt das politischePersonal von Legislaturperiode zu Legislaturperiode. Im echten Sinne regie-rende Dynastien existieren heute allenfalls in zentralgeleiteten Ökonomienund Ländern. Und dennoch ist auch die unplausible Regierungsform der De-mokratie im Vergleich zur leicht verständlichen Steuerung sozialer Prozessedurch Zentralkomitees und Politbüros so erfolgreich, dass die Zahl der Länder,die die Demokratie übernommen haben, in den beiden letzten Jahrzehntenerheblich angestiegen ist.

Das Argument unzureichender Wissenschaftlichkeit

In einem „Zeitgespräch“ der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ stellt Clemens Fuest,selbst Mitglied in viel beachteten Kreisen ausgewiesener Ratgeber der Wirt-schaftspolitik, die zweifelnde Frage, ob der von den deutschen Ordnungspoli-tikern mitbewirkte Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft die Nationalökonomieals theoretische Wissenschaft heute noch voranbringen könne.3 In seiner Ant-wort verneint er das. Seine Überlegungen stützen sich auf drei Argumente: diemangelnde Beachtung des Max-Weber-Prinzips der Trennung von Sachaussa-gen und Werturteilen, die mangelnde mathematische Fundierung der Ord-nungspolitik und die unzureichende empirische Forschung in der Ordnungs-politik. Gemeint sind hier sowohl die Ordnungstheorie als auch die Ord-nungspolitik.

Im Hinblick auf die Werturteilsproblematik wird oft das Offenlegen von Wert -urteilen empfohlen – ein Vorschlag, der plausibel, aber kaum praxistauglichist. Daraus folgt allerdings nicht, dass Sach- und Wertaussagen beliebig ver-mengt werden dürfen. Die angestrebte Objektivität der Wissenschaften ergibtsich vielmehr nicht aus edlen Absichten oder Schwüren der Wissenschaftler,sondern sie ist das Resultat der freien und offenen Diskussion, der Wissen-schaftsfreiheit, in deren Prozessen sich – allerdings jeweils revidierbar – die An-sichten über die Bewährung und Nichtbewährung von theoretischen Aussagenherausschälen.

Kann man die Meinung vertreten, dass die Prozesse der öffentlichen Kritik inden letzten sechzig Jahren in Deutschland nicht funktioniert haben? Die deut-

3 Vgl. Clemens Fuest, Die Stellung der Ordnungspolitik in der Ökonomik, Wirtschaftsdienst 1/2006, Sei-ten 11 ff.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008) 5

Abkehr von der Ordnungspolitik?

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schen Ordnungspolitiker – übrigens wie auch die freiheitlichen Sozialisten(zum Beispiel Karl Schiller und Heinz-Dietrich Ortlieb) – haben das Ziel verfolgt,eine freiheitliche Ordnung zu schaffen und die zahllosen Probleme im Span-nungsfeld von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Ordnung zu bewäl-tigen. Die frühen Ordo-Liberalen mögen Wert- und Sachaussagen vermengthaben, und es sind ihnen sicherlich manche Fehler unterlaufen. Aber sie ha-ben mit offenem Visier gekämpft, ihre vermeintlich ideologische Ausrichtungim Sinne kryptonormativer Aussagen müsste daher durch eindeutige Nach-weise belegt werden. Politik bedeutet immer das Ringen um Wertungen. Wert-freie Politik ist ein Widerspruch in sich selbst.

Zur Nichtverwendung mathematischer Methoden

Die menschliche Sprache ist wahrscheinlich ein Spätprodukt der Evolution. Sieist die Voraussetzung für das Zustandekommen von Großgesellschaften und ei-ner heute weltumspannenden Ökonomie. Aus gegenwärtiger Sicht kann zwi-schen natürlichen und künstlichen Sprachen unterschieden werden. Natürli-che Sprachen entwickeln sich im Zuge der Zeit und adaptieren sich mehr oderminder spontan an die Zeitumstände, künstliche Sprachen sind Produktemenschlichen Handelns. Mathematik und formale Logik sind die wichtigstenBeispiele für den zweiten Sprachzweig.

Sprachen haben die Eigenschaft, verschiedene Gesichtspunkte oder Sichtwei-sen zu betonen und andere nicht. Gleichzeitig hat jede Sprache und besonderseine Kunstsprache enge Grenzen, das heißt, nicht alles lässt sich in jeder Spra-che ausdrücken. Das lässt sich am Problem der Gemeinwohlinterpretation ver-deutlichen. Bekanntlich versuchte die ältere Wohlfahrtsökonomik die Ge-meinwohlidee mithilfe sogenannter gesellschaftlicher Wohlfahrtsfunktionenin die Sprache der Mathematik zu übersetzen. Ein Versuch, der als gescheitertanzusehen ist.

Fuest ist der Meinung, dass die spätestens seit Walras zunehmend in die Öko-nomie einfließenden mathematischen Modelle „den Vorzug haben, die Vo -raussetzungen ihrer Argumentation in der Regel klarer und transparenter zumachen als die verbale Analyse. Aus diesem Grund bieten mathematische Me-thoden einen wirksamen Schutz vor dem ‚Einschmuggeln‘ versteckter Annah-men einschließlich ideologischer Urteile.“4

Stimmt das wirklich? Der Beitrag von Bernd Lucke im gleichen „Zeitgespräch“verdient hier Beachtung.5 In der Wirtschaftsrechnungsdebatte vor allem der1920er und 1930er Jahre ging es um die Frage, ob Sozialismus möglich sei, dasheißt, ob zentrale Planung zu ökonomisch brauchbaren Ergebnissen führenkönne. Kernpunkt der Kritik der Ordo-Liberalen war die These, dass adminis-trativ gesteuerten Ökonomien das Preissystem als Indikator der relativenKnappheit von Gütern und Ressourcen fehle. Die Planer könnten den GüternPreise anheften, aber diese signalisierten nicht die Wünsche der Konsumentenin der gleichen Weise wie ein freies Preissystem. Vor allem würden Änderungender Bedarfsstrukturen durch technischen Fortschritt oder durch den Wandelvon Konsumentenwünschen nicht angezeigt. Fehlallokationen der vorhande-nen Mittel in Form von nicht absetzbaren Gütern einerseits und leeren Rega-

4 Ebenda, Seite 12.5 Bernd Lucke, Ablösung der Ordnungspolitik durch mathematische Methoden? Wirtschaftsdienst1/2006, Seiten 6–9.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)6

Ordnungspolitische Positionen

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len wegen Nichtproduktion andererseits seien daher die unausweichliche Fol-ge administrativer Steuerung.

Im weiteren Verlauf der öffentlichen Debatte zeigten mathematisch fundierteArbeiten von Kenneth J. Arrow und Gérard Debreu, wie Lucke berichtet, dass dieMathematisierung des Koordinierungsproblems zunächst zum für die Markt-wirtschaft schmeichelhaften Resultat geführt habe, dass die beiden in derWohlfahrtsökonomik entwickelten Hauptsätze die weitverbreitete Überzeu-gung stützten, eine Marktwirtschaft sei – unter bestimmten Bedingungen – pa-reto-effizient, also quasi die beste aller Ordnungen.

Im weiteren Verlauf der Debatte, so Lucke, hätte sich dieses Ergebnis aber alsmathematisch nicht haltbar herausgestellt. Die mit dem Plädoyer für eine li-berale Wirtschaftsverfassung einhergehende „Insinuation“, Systeme zentralerPlanung führten zu allokativ unterlegenen Ergebnissen, fände in der mathe-matischen Analyse heute keine Unterstützung mehr. Im Gegenteil: Die beidenwohlfahrtsökonomischen Hauptsätze könnten auch so interpretiert werden,dass Systeme staatlicher Planung eine der Markwirtschaft überlegene Einrich-tung seien. Dies wäre der Fall, wenn ein zentraler Planer über ein geeignetesPreissystem verfüge und zugleich beliebige Eigentumsumverteilungen vor-nehmen dürfe, die mit dem traditionellen Schutz des Privateigentums konfli-gierten. Dieses Ergebnis sei, so der Autor, von „großer, auch praktischer Be-deutung“.

„Reine Marktwirtschaften“ sind unrealistische Gebilde

An der formalen Richtigkeit dieser Argumentation zu zweifeln, hieße Eulennach Athen tragen. Die gesellschaftliche Relevanz infrage zu stellen, ist hinge-gen angebracht. Der Planer ist im vorliegenden Zusammenhang als uneinge-schränkt mächtig und – was die Preise angeht – als allwissend zu interpretieren.Damit aber verlässt die Argumentation schlicht ihren Ausgangspunkt: die Ge-sellschaftswirtschaft, in der es zahlreiche Akteure mit verschiedenen Präferen-zen gibt und in der folglich Konflikte im Hinblick auf die Verwendung von Res-sourcen bestehen. In ihr müssen infolgedessen Wege gefunden werden, wieder gesellschaftliche Wohlstand nicht nur erhalten, sondern erhöht werdenkann.

Der hier unterstellte Planer aber hat – wie einst Robinson vor der Ankunft Frei-tags – nur eine einzige Funktion: das Treffen der Allokationsentscheidungen.Konflikte über den Ressourceneinsatz interessieren nicht, denn er allein ent-scheidet darüber, was, für wen und wie viel produziert wird. Die Wirtschafts-subjekte werden hier als willenlose Schachfiguren modelliert. Für die ord-nungspolitische Analyse gilt jedoch seit Adam Smith das genaue Gegenteil: DieWirtschaftssubjekte sind selbstbestimmte Akteure mit eigenen Plänen und Prä-ferenzen. Lucke übersieht das. Er definiert das zugrunde liegende Problem wegund fällt ein Werturteil zugunsten zentralistischer Lösungen.

Bleiben dann am Ende wenigstens noch Pluspunkte für die Marktwirtschaft,wie viele Ökonomen seinerzeit meinten? Auch das dürfte schwer zu bejahensein. Die von Lucke unterstellte Welt ist als „reine Marktwirtschaft“ modelliert,mit anderen Worten: Das ganze Wirtschaftsleben besteht nur aus Tauschakten.Nur für diese Ausgangssituation werden die abgeleiteten Sätze als richtig be-hauptet. Sobald der Staat die Bühne betritt – Lucke erörtert diesen Punkt aller-dings in einem anderen Zusammenhang – sind die Prämissen der ursprüng-lichen Ableitung nicht mehr gültig. Sie decken diesen Fall nicht mehr ab.

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Abkehr von der Ordnungspolitik?

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Überzeugte Libertäre vom Typ eines Ludwig von Mises mögen sich allerdingsnach einer Welt der „reinen Marktwirtschaft“ sehnen. Aber daraus folgt nochlange nicht, dass es sie je gegeben hat oder geben wird. Reale Marktwirtschaf-ten bedürfen der Regulierung, wenn ihre „Einwohner“ friedlich miteinanderauskommen wollen. Hier liegen die eigentlichen Probleme. „Reine Marktwirt-schaften“ sind Gebilde, die wir denken, aber nicht beobachten können.

Aber lässt sich nicht einwenden, die Deduktionen seien logisch richtig, folglichwäre eine Überprüfung überflüssig? Dem ist entgegenzuhalten, dass sich dieNationalökonomie als eine theoretische Wissenschaft versteht, die zugleichden Anspruch erhebt, empirisch nachprüfbare Aussagen aufzustellen. Aus ge-dachten Welten folgen jedoch keine real prüfbaren Aussagen. Die formalenVorgehensweisen aber erweisen sich gegenüber Fallgruben nicht als so sicher,dass man sie als vorzugswürdig gegenüber anderen Vorgehensweisen bezeich-nen kann.

Der Vorwurf mangelnder empirischer Fundierung

Ein weiterer Vorwurf von Fuest gegen die Ordnungspolitik geht dahin, dass sichihre Anhänger in Fragen der empirischen Forschung nicht hinreichend enga-gierten. Daraus leitet er die Empfehlung ab, die quantitative Analyse – was im-mer in diesem Zusammenhang das Adjektiv „quantitativ“ bedeutet – zum zent -ralen Gegenstand nationalökonomischer Forschung zu machen.

Dem ist entgegenzuhalten, dass sich die Nationalökonomen seit Adam Smith(vielleicht mit Ausnahme von David Ricardo) nicht nur um die innere Logiktheoretischer Aussagen gekümmert, sondern stets empirische Überlegungeneinbezogen haben. Dass die Faktenanalyse in den frühen Anfängen nicht mehrheutigen Standards entspricht, liegt auf der Hand. Aber schon Smiths Werk„Der Wohlstand der Nationen“ lässt sich durchaus als eine empirisch abge-stützte Kritik des Merkantilismus lesen. Sie stützt sich nicht nur auf die man-gelnde Logik der merkantilistischen Handelstheorie als Nullsummenspiel, son-dern auch auf zahlreiche empirische Beobachtungen der merkantilistischenWirtschaftspolitik.

Ähnlich war es in Westdeutschland bei Kriegsende. Die liberalen Ökonomenhatten hinreichend klare Erfahrungen mit den Möglichkeiten einer weiterenFortführung der aus der nationalsozialistischen Zeit resultierenden Wirt-schaftslenkung, die man nicht leicht als „Anekdoten“ abtun kann. Die Erset-zung des überkommenen Lenkungssystems durch die Einführung einer Markt-wirtschaft kann in diesem Zusammenhang als ein harter Test der Theorie inter-pretiert werden, dass eine freie Wirtschaft produktiver ist als eine staatlich ge-steuerte.

Überprüfende Fakten können mittlerweile mit der Verbesserung von Statisti-ken und modernen Rechnern anders zu Rate gezogen werden als früher. Aberes wäre dogmatisch, wenn nur noch die von der mathematischen Richtung prä-ferierten Verfahrensweisen zugelassen und andere Arten, wie die individuelleBeobachtung, als nicht wissenschaftlich verbannt würden. Es kommt nicht da -rauf an, aus welcher Quelle die überprüfenden Fakten stammen, wenn siewahr sind, sondern ob die vorliegenden theoretischen Vermutungen hinrei-chend sind, um echte Tests durchzuführen. Dass ökonometrische Methodenzum Beispiel für Prognosezwecke besser geeignet sein sollen, ist vorerst nochnicht erhärtet und kann allenfalls durch einen langen Prozess zutreffenderVorhersagen gestützt werden. Schließlich ist zu beachten, dass Faktenanalyse in

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)8

Ordnungspolitische Positionen

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einem so hoch dynamischen System wie der heutigen Weltwirtschaft mit derSchwierigkeit fortwährender ständiger Verhaltensänderungen zu kämpfen hat.

Mathematischer und ordnungsökonomischerAnsatz im Wettbewerb

Die soziale Welt ist nicht in der gleichen Weise wie die physikalische Welt zu er-fassen. Ihre Objekte verfolgen eigene Ziele, die nicht aufgrund von Vergan-genheitsdaten erfasst werden können. Selbst wenn Wirtschaftssubjekten, wie intotalitären Systemen üblich, ihre Handlungsmöglichkeiten weitgehend entzo-gen oder stark beschnitten werden, stellen sich nicht jene Ergebnisse ein, wel-che die Herrschenden anstreben.

Im sozialen Bereich stehen bis heute keine der Physik vergleichbaren Gesetzezur Verfügung und es ist fraglich, ob sie je gefunden werden. Das verpflichtetzum konkurrierenden Methodenpluralismus und zur Ablehnung jener Posi-tionen, die meinen, dass die eine oder andere Sichtweise die Vorherrschaftüber ihre Mitwettbewerber beanspruchen kann. Wie immer in der Welt öko-nomischen Denkens hat jede Vorgehensweise Vor- und Nachteile. Mehrere An-sätze, die statistische Tatsachenforschung, die formalmathematische Theoriesowie die ordnungsökonomische Forschung, werden gebraucht. Sie sollten freimiteinander konkurrieren. �

Mehr Mathematik gleichweniger Ordnungspolitik?Prof. Dr. Stefan VoigtLehrstuhl für Ordnungsökonomik und internationale Wirtschaftsbeziehungenan der Philipps-Universität Marburg

� Zwei Beobachtungen werden heute immer wieder gemacht: Erstens wirddie Volkswirtschaftslehre als Disziplin immer stärker formalisiert, sozusagenmathematischer; zweitens geht der Stellenwert der Ordnungspolitik in derLehre immer stärker zurück. Die Frage, ob es sich nicht nur um eine Koinzi-denz handelt, sondern um eine Kausalität, ist daher naheliegend. Hintergrundfür die Frage könnte die Sorge sein, dass die Ökonomik als Disziplin immermehr ihrem Selbstzweck dient und immer weniger politikrelevant wird.

Verlust praktischer Relevanz für die gesamte Disziplin?

Zunächst ist erstaunlich, wie weit die Selbstwahrnehmung vieler Ökonomenvon der Wahrnehmung vieler Nichtökonomen abweicht: Wie häufig wird inder Öffentlichkeit über die „Ökonomisierung“ von immer mehr Lebensberei-chen lamentiert? Wie vorwurfsvoll werden Ökonomen angeschaut, wenn vomangeblichen Siegeszug des Neo-Liberalismus die Rede ist? Das klingt nicht un-bedingt nach Marginalisierung und Bedeutungsverlust. Mögen viele dieser

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Abkehr von der Ordnungspolitik?

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Einschätzungen auch auf einem grundlegenden Missverständnis beruhen, wasunter „Ökonomisierung“ zu verstehen sei, so haben sie doch einen wahrenKern: In den letzten Jahrzehnten hat sich gezeigt, dass der ökonomische An-satz – also die Feststellung, dass wir unter Knappheitsbedingungen leben, ge-paart mit der Annahme, dass jeder versucht, einen möglichst hohen Nutzen zuerzielen und dabei zumindest intendiert, rational zu handeln – in der Lage ist,menschliches Verhalten nicht nur in Bezug auf traditionell wirtschaftliche Fra-gen zu erklären, sondern auch in Bezug auf Politik und Recht. Die ökonomi-sche Theorie der Politik genauso wie die ökonomische Theorie des Rechts sindaus den Curricula guter Universitäten nicht mehr wegzudenken. Akademi-scher Bedeutungsverlust sieht anders aus.

Wenn von der Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre die Rede ist, wirdhäufig unterstellt, dass sie quasi-automatisch zu geringerer Relevanz der Öko-nomik für die reale Welt führe. Natürlich kann es sein, dass mathematisch den-kende Ökonomen viele Ressourcen in einen noch eleganteren Beweis steckenund deshalb weniger über dringendere Probleme nachdenken. Aber auch an-dere Werkzeuge können zum Selbstzweck werden: Informell arbeitende Öko-nomen könnten etwa viel Zeit in eine noch elegantere Prosa investieren. Mög-licherweise ist eine andere Annahme aber viel bedeutsamer für die Verbin-dung zwischen stärkerer Mathematisierung und geringerer Relevanz: Häufigwird unterstellt, dass viele wichtige Probleme so komplex seien, dass sie sich ei-ner mathematischen Formulierung entziehen würden. Dies ist zweifellos rich-tig. Aber es kann auch als die Stärke der Formalisierung betrachtet werden: Siezwingt, Klarheit über die Annahmen zu schaffen. Welche zwei oder drei Ursa-chen sind so wichtig, dass ein Modell ohne sie unvollständig wäre? Und welcheanderen Ursachen sind weniger wichtig? Wie genau kann man sich einen Wir-kungsmechanismus vorstellen? Gerade diese Rigidität macht kontra-intuitiveErgebnisse wahrscheinlicher. Und gerade sie sind es ja, weshalb Wissenschaftüberhaupt betrieben wird.

Ökonomische Theorien müssen laufendempirisch überprüft werden

Mathematisierung ist ein offener Begriff. Sicherlich gibt es Werkzeuge undEntwicklungen, die der Volkswirtschaftslehre mehr weiterhelfen als andere.Hervorgehoben sei hier nur die Spieltheorie. Fast zwei Jahrhunderte war die„unsichtbare Hand“ allgemein akzeptiert und galt als unumstößlicher Teil desökonomischen Kanons. Mithilfe des Gefangenendilemmas wurde Mitte des 20.Jahrhunderts gezeigt, dass individuell rationales Handeln keineswegs automa-tisch zu kollektiv wünschbaren Ergebnissen führt. Vielmehr müssen entspre-chende Regeln die erwünschten Handlungen attraktiver machen und die un-erwünschten weniger attraktiv. Die Entwicklung der Spieltheorie kann deshalbdurchaus als ein Beispiel angesehen werden, in dem eine spezifische Form derMathematisierung zu einer Bestätigung ordnungsökonomischer Einsichten ge-führt hat. Die Spieltheorie hat auch in vielen anderen Bereichen zu wichtigenErkenntnisfortschritten geführt, weil mit ihr ein Instrumentarium zur Verfü-gung steht, strategische Interaktionsbeziehungen zwischen zwei und mehr Ak-teuren systematisch zu analysieren.

Die Mathematisierung ist allerdings nur ein Aspekt der zunehmenden Forma-lisierung der Volkswirtschaftslehre. Ein zweiter – möglicherweise sogar nochwichtigerer – Trend ist die zunehmende „Ökonometrisierung“, mit anderenWorten: der Versuch, ökonomische Theorie mithilfe von Daten empirisch zuüberprüfen. Gegen diesen Trend können ähnliche Argumente wie gegen die

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Ordnungspolitische Positionen

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Mathematisierung vorgebracht werden: Viele der Variablen, deren Ursachenoder Wirkungen man gern empirisch überprüfen würde, seien viel zu kom-plex, um operationalisierbar zu sein. Dies ist in der Tat ein Problem: Die „Un-abhängigkeit der Justiz“ etwa zeigt sich in den Handlungsspielräumen oft vie-ler Tausend Entscheidungsträger. Sie in einer einzigen Zahl zusammenfassenzu wollen, zeugt von Ignoranz – so die Einschätzung der Kritiker – oder aberder Bereitschaft, Komplexität sinnvoll zu reduzieren – so die Einschätzung derBefürworter.

Dass die zunehmende Ökonometrisierung mit Problemen verbunden ist, soll-te uns allerdings nicht daran hindern, ihre Vorteile zu würdigen. Konrad Lorenzhat einmal gesagt, dass es die vornehmste Aufgabe eines Wissenschaftlers seinsollte, jeden Morgen beim Frühstück einige seiner Lieblingshypothesen überBord zu werfen. Vielleicht ist das morgendliche Frühstück nicht der richtigeOrt, aber Wissenschaft, die beansprucht, Aussagen über die reale Welt zu ma-chen, muss sich einer systematischen Überprüfung stellen. Dies schließt dieOrdnungsökonomik als Teildisziplin mit ein.

Gründe für den Bedeutungsverlust der Ordnungsökonomik

Von Ordnungsökonomik war bisher wenig die Rede. Ich teile die Ausgangsbe-obachtung, dass ihre Bedeutung sowohl akademisch als auch politisch in denletzten Jahren zurückgegangen ist. Der politische Bedeutungsverlust ist meinesErachtens offenkundig: Die Einführung von Mindestlöhnen ist das letzte Bei-spiel in einer langen Reihe ordnungspolitischer Sündenfälle der aktuellen Re-gierung. Der akademische Bedeutungsverlust ist fast ebenso offenkundig: DieZahl der ordnungsökonomischen Lehrstühle ist in den letzten Jahren konti-nuierlich zurückgegangen. Aber ist die zunehmende Formalisierung daranschuld, oder gibt es andere Gründe?

Ökonomik ist eine globale Disziplin. Ihre Vertreter sprechen zwei Sprachen:Englisch und Mathematik. Vertreter der traditionellen Ordnungstheorie und-politik haben – mit einigen Ausnahmen – jedoch überwiegend auf Deutschpubliziert. Obwohl Walter Eucken eines der Gründungsmitglieder der Mont Pè-lerin Society war, sind seine Erkenntnisse nicht Teil der globalen Disziplin Öko-nomik geworden. Das ist bei Friedrich A. von Hayek anders. Viele seiner Werkesind zunächst auf Englisch erschienen, er hat in London und in Chicago ge-lehrt und war damit von vornherein anschlussfähiger. Auch der frühe TodEuckens könnte eine größere Präsenz in der englischsprachigen Welt verhinderthaben. Bemerkenswert ist allerdings, dass nur wenige seiner Schüler mehr alsgelegentlich über den deutschen Tellerrand hinausgeschaut haben. Dazu passtauch, dass es bis heute keine allgemein akzeptierte Übersetzung des Begriffs„Ordnungsökonomik“ gibt.

Ordnungsökonomen beanspruchen, Wirtschaftswissenschaft mit einem be-stimmten Stil zu betreiben: dem Denken in Ordnungen. Der von Eucken undseinen Zeitgenossen gewählten Methode war das Erbe der historischen Schulesehr deutlich anzumerken. Eucken war bemüht, die „große Antinomie“ zwi-schen Induktion und Deduktion zu überwinden. Die meisten seiner angel-sächsischen Zeitgenossen waren nicht an einer Überwindung der Antinomieinteressiert, sondern an der Fortentwicklung einer deduktiven Ökonomik. In-sofern hatte Eucken nicht nur einen sprachlichen Nachteil – für die meisten an-gelsächsischen Ökonomen war er nicht zugänglich –, sondern auch einen me-thodischen – für die meisten der angelsächsischen Ökonomen, für die ersprachlich zugänglich war, war die von ihm gewählte Methode nicht attraktiv.

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Abkehr von der Ordnungspolitik?

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Einige der ordnungsökonomischen Topoi sind heute gleichwohl Bestandteildes Mainstream geworden, häufig allerdings ohne aktives Zutun deutscherOrdnungsökonomen. Dass Sitten und Konventionen die resultierende Ord-nung maßgeblich prägen können, wird seit einiger Zeit unter dem Stichwort„Sozialkapital“ diskutiert. An der Diskussion sind nicht nur Ökonomen, son-dern auch Politikwissenschaftler, Soziologen und Historiker beteiligt. Dass Ent-scheidungen, die vor langer Zeit getroffen wurden, große Relevanz für die Ent-wicklungsoptionen einer Gesellschaft haben können, spielt in der Diskussioneine große Rolle, die unter dem Stichwort „Pfadabhängigkeit“ geführt wird.

Fortschreitende Spezialisierung der Ordnungsökonomik

Viele der ordnungsökonomischen Fragen werden heute im Rahmen des For-schungsprogramms der Neuen Institutionenökonomik diskutiert, das seitknapp zwei Jahrzehnten höchst erfolgreich ist. Ihre Vertreter fragen nach denWirkungen sanktionsbewehrter Regeln. Als Teilgebiet der Institutionenöko-nomik ist insbesondere die Konstitutionenökonomik zu nennen. Ihre Vertre-ter sind einerseits an der Legitimation grundlegender Regeln interessiert undandererseits an der Erklärung ihrer ökonomischen Wirkungen, aber auch derGründe für ihre Herausbildung bzw. Veränderung über die Zeit. Es ist kein Zu-fall, dass einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung in Deutschland, ViktorVanberg, einen Lehrstuhl an der Universität Freiburg hat und das Walter- Eucken-Institut leitet. Der stärker positiv orientierte Zweig der Konstitutionen-ökonomik hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Auch an deut-schen Universitäten spielen diese Forschungsprogramme eine beachtliche Rolle.

Was aber geht verloren, wenn heute zunehmend die Rede ist von Institutionen-und Konstitutionenökonomik, aber nicht von Ordnungspolitik? Ein genuinerBestandteil des ordnungsökonomischen Stils war die Zusammenarbeit zwi-schen Ökonomen und Juristen (Forschungs- und Lehrgemeinschaft). Staats-wissenschaftliche Fakultäten, in denen eine solche Zusammenarbeit institutio-nalisiert war, sind heute jedoch eher die Ausnahme. Und eine mangelnde Zu-sammenarbeit kann gewichtige Nachteile haben: So wurden die Grundpfeilerder europäischen Wettbewerbspolitik Ende der 1950er Jahre unter Mitwirkungdes Juristen Franz Böhm eingezogen. Seit einigen Jahren ist die EU-Kommissiondabei, einen „more economic approach“ umzusetzen. Allgemein gültige Re-geln spielen darin eine deutlich reduzierte Rolle. Die von der Kommission an-gestrebte Einzelfallgerechtigkeit ist ein verständliches Ziel; es steht allerdingszu befürchten, dass der erheblich ausgeweitete Entscheidungsspielraum euro-päischer Bürokraten die Erwartungssicherheit eher reduziert – und damitauch ökonomisch fragwürdige Konsequenzen haben wird.

Nun kann fortschreitende Spezialisierung auch eine Konsequenz akademi-schen Fortschritts sein. Wenn Detailkenntnisse kombiniert werden sollen mitDetailkenntnissen aus anderen Bereichen oder mit dem Blick fürs große Gan-ze, wird eine Zusammenarbeit verschiedener Wissenschaftler mehr und mehrerforderlich. Es würde die Politikrelevanz vieler Forschungsprojekte erhöhen,wenn mehr in Teams geforscht würde als heute. Aber Ökonomen produzierenauch heute sehr viele unmittelbar politikrelevante Erkenntnisse. Wenn vieleÖkonomen dennoch darüber frustriert sind, dass ihre Ergebnisse von der Po-litik ignoriert werden, kann das verschiedene Gründe haben:

� Politiker haben nur wenig Interesse an ökonomischen Erkenntnissen, wennderen Umsetzung nicht dabei hilft, ihre Wiederwahl-Chancen zu erhöhen.Dies mag man bedauern, ist aber Konsequenz der bestehenden Institutionen.

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Ordnungspolitische Positionen

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� Forschungsergebnisse werden in einer für Politiker – und andere potenziellInteressierte – nur schwer zugänglichen Sprache veröffentlicht. Englisch undMathematik sind zwei Hürden, aber auch viele auf Deutsch verfasste informel-le Aufsätze könnten verständlicher formuliert werden. Hier für Verbesserungzu sorgen, liegt in der Hand der Ökonomen selbst. Allerdings sind die Anrei-ze, dies zu tun, beschränkt: Lehrstühle und Drittmittel werden in der Regelnicht für eine allgemein verständliche Vermittlung von Forschungsergebnissenvergeben. �

Mathematik und Ordnungspolitik:Kein WiderspruchProf. Dr. Ingo PiesLehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

� Der deutsche Wissenschaftsbetrieb befindet sich im Umbruch. Forschungund Lehre werden radikal reorganisiert. Wie es aussieht, könnte die Ord-nungspolitik dabei auf der Strecke bleiben. Damit steht eine wichtige ökono-mische Denkschule auf dem Spiel. Ihr droht ein Traditionsabbruch: die Ver-bannung aus universitärer Forschung und Lehre. Die Langzeitfolgen für dieAusrichtung gesellschaftlicher Diskurse und Reformprozesse wären absehbar:Ordnungspolitische Standards würden zunehmend weiter erodieren, weil inder Ausbildung von Führungskräften für Wirtschaft, Politik und Zivilgesell-schaft ein „Denken in Ordnungen“ immer weniger gelehrt und eingeübt wür-de, zumal wenn entsprechende Forschungsimpulse fehlen.

In einer derart prekären Lage lassen sich drei Fehler identifizieren, die ver-mieden werden sollten:

� Der erste Fehler bestünde darin, in pessimistische Resignation zu verfallen,die Misere der Ordnungspolitik lamentierend zu beklagen – und fatalistischhinzunehmen.

� Der zweite Fehler bestünde darin, die Misere der Ordnungspolitik ver-schwörungstheoretisch erklären zu wollen, indem man sie auf die finsteren Ma-chenschaften missgünstiger Subjekte – zum Beispiel formal orientierter Volks-wirte – zurückführt.

� Der dritte Fehler bestünde darin, sich unnötigerweise in eine auswegloseFrontstellung zu begeben: Wollte man für die Misere der Ordnungspolitiküberhandnehmende Mathematisierungstendenzen verantwortlich machen,durch die die Ordnungspolitik aus dem volkswirtschaftlichen Curriculum –und ihre Vertreter von den Besetzungslisten für Lehrstühle – gedrängt werden,so machte man sich eine Frontstellung zu eigen, in der die Ordnungspolitikvon vornherein auf verlorenem Posten steht. Um es in aller Deutlichkeit zu sa-gen: Eine Diagnose, die die formal orientierte Volkswirtschaftslehre und ihre Ver-treter als Feindbild aufbaut, ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Prob lems.Sie macht eine erfolgreiche Therapie unmöglich. Schickt man die Ordnungs-

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Abkehr von der Ordnungspolitik?

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politiker in diesen vermeintlichen „Machtkampf“, so ist ihre Sache von vorn-herein verloren.

Die Zukunft der Ordnungspolitik ist selbst ein Ordnungsproblem

Diese Fehler lassen sich am ehesten vermeiden, indem man der ordnungspoli-tischen Denktradition treu bleibt – also der Tradition, das Denken zur ord-nenden Potenz zu erheben. Als These formuliert: Die gegenwärtige Misere derOrdnungspolitik ist selbst ein ordnungspolitisches Problem. Im Wissenschafts-betrieb sind die Weichen derzeit so gestellt, dass die Ordnungspolitik zum Aus-laufmodell degradiert wird. Will man die Ordnungspolitik vom Abstellgleis ho-len und wieder flott machen, so müssen bestimmte Weichen anders gestelltwerden. Das aber werden die Ordnungspolitiker nicht im Alleingang bewerk-stelligen können. Sie benötigen dafür Verbündete, denen man argumentativklarmachen muss, dass nicht nur die Ordnungspolitiker, sondern auch sieselbst – als Kooperationspartner – von einer Re-Aktualisierung der Ordnungs-politik in Forschung und Lehre profitieren würden.

Im Zuge des Bologna-Prozesses – eines politischen Vorhabens zur Schaffung ei-nes einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis zum Jahr 2010 – ist eineUmstellung von Diplom- auf Bachelor- und Masterstudiengänge im Gange, inderen Verlauf ordnungspolitische Inhalte tendenziell ausgedünnt oder gleichaussortiert worden sind. Die neuen Studiengänge sind stärker verschult undinsgesamt stromlinienförmiger. Vor allem im Bachelor-Bereich gibt es deutlichweniger Wahlmöglichkeiten und weniger Optionen, über den disziplinärenTellerrand zu schauen. Umgekehrt zeichnet sich im Master-Bereich die Ten-denz ab, sehr enge Spezialisierungen zu fördern und hierbei – Stichwort: Ma-thematisierung – der formalen Theoriebildung oder den empirischen Metho-den einen deutlichen Schwerpunkt einzuräumen.

Aber nicht nur die Lehre, auch die akademische Forschung vermittelt den Ein-druck, dass sich die Tradition der Ordnungspolitik tendenziell auf dem Rück-zug befindet. Das hat strukturelle Gründe: Bei der Berufung auf Lehrstühlezählen Monographien nicht mehr, weil die Anzahl der Zeitschriftenaufsätze –sowie das Ranking der Zeitschriften, in denen veröffentlicht wird – zum domi-nierenden Kriterium geworden ist. Zumeist handelt es sich um internationaleZeitschriften, bei denen nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Herausge-ber oder die eingesetzten Gutachter mit der spezifisch deutschen – und dasheißt, um ein drastisches Versäumnis anzusprechen: mit der über Jahrzehntespezifisch deutschsprachig gebliebenen – Tradition ordnungspolitischen Den-kens sonderlich vertraut wären, von den typischen Lesern dieser Zeitschriftenganz zu schweigen. Das beginnt schon mit den Schwierigkeiten, den Begriff„Ordnungspolitik“ ins Englische zu übertragen. Hinzu kommt, dass die deut-schen Texte der Klassiker ordnungspolitischen Denkens in internationalenFachzeitschriften (Journals) als nicht zitierfähig gelten, das heißt als Referenz-position nicht anerkannt sind. Hier fehlen englische Übersetzungen. Es fehlenaber auch Zeitschriften, die insbesondere Nachwuchswissenschaftler dafür gra-tifizieren würden, sich in ihrer Forschungsarbeit mit ordnungspolitischen Prob -lemstellungen auseinanderzusetzen.

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Ordnungspolitische Positionen

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Panta rhei, alles fließt. Schon die alten Griechen mussten sich von ihren Philosophen sagen lassen, dass derMensch zu lernen hat, auf Veränderungen gefasst zu sein. Das ist keine schlechte Wegweisung für das Leben.Aber muss man deswegen alles Neue begrüßen?

Was sich seit geraumer Zeit und nun offenbar in verschärfter Gangart an ehemals wirtschaftswissenschaftlichenFakultäten der deutschen Universitäten tut, gehört nicht in die Kategorie „Fortschritt“. Jedenfalls nicht aus derSicht derer, die im Unterschied zur Betriebswirtschaftslehre und zum Finanzrechnen die Ökonomie – unabhän-gig davon, ob sie sich auch in Formeln mitteilt oder nicht – vorrangig als eine Ordnungslehre verstehen. Diewird nun systematisch abgewickelt. Was dabei verlorengeht, ist das Verständnis von Ordnungen, die für die Frei-heits-, Wettbewerbs-, Einkommens- und Sozialqualität des jeweiligen Ortes der Bewährung von Menschen aus-schlaggebend sind.

Ordnungstheorie ist keine Spökenkiekerei. Die Wettbewerbsordnung entscheidet darüber, ob das bessere undpreisgünstigere Angebot eine Chance hat, das schlechtere und das teurere zu verdrängen, oder ob die Käuferden Kartellen und anderen Formen der künstlichen Verknappung ausgeliefert sind. An der Geldordnung liegtes, ob es lohnt, eine langfristige Spar- und Investitionsperspektive zu entwickeln. In der Wahl der Geldordnungentscheidet es sich, ob in einer Gesellschaft Realkapital gebildet wird oder ob im Verfolg von Renditen diejeni-gen von der Politik begünstigt werden, die geschickt mit sich schnell entwertendem Geld umgehen können.An Währungsordnungen liegt es, das Kapital auf seinen Wanderungen rund um die Erde dorthin zu führen, woes besonders knapp und gesucht ist. Währungspreise machen in solchen Ordnungen keine Sprünge, die sichaus Überraschungsmanövern der Politik ergeben.

Die Lohnordnung entscheidet darüber, ob Arbeitnehmer und Arbeitgeber in dezentralen Verhandlungen dieChance haben, die Knappheitsverhältnisse von Arbeit und Kapital so in Lohnhöhen und Lohnrelationen umzu-rechnen, dass beide Produktionsfaktoren ihre Chance bekommen, Knappheitsrenten dann zu erwirtschaften,wenn sie wirklich knapp sind; und dass die Disponenten beider Produktionsfaktoren die Möglichkeit haben,durch Rücknahme der Vergütungsansprüche einer Entwertung des Kapitals und der Freisetzung bei der Arbeitzu entgehen. In einer guten Lohnordnung gibt es keinen Platz für einen rein politisch ermittelten Mindestlohn,der zur Arbeitslosigkeit führt, die anschließend von murrenden Steuerzahlern zu alimentieren ist.

An der ökonomischen Qualität der Sozialordnung liegt es, ob für die Altersvorsorge Sparpläne gemacht wer-den können, die auch nach vierzig Jahren nicht zur Enttäuschung von Erwartungen führen. Eine gute Sozial-ordnung bietet – im Rahmen dessen, was wirtschaftliche Berechenbarkeit leisten kann – kalkulierbare Sicher-heit anstelle einer politisch ausgerufenen „Aufgehobenheit“ zu Lasten der Staatshaushalte und ungefragtenSteuerzahler von morgen.

Den intellektuellen Zugang zu solchen Ordnungen verschafft eine Ausbildung in Ökonomie, die sich als Ord-nungsökonomie versteht. Die Anbieter solcher Auffassung von Ökonomie sind die Ordnungsökonomen gewe-sen. Man hat sie auf den Lehrkanzeln der Fakultäten und in Beratungsgremien der Politik vorgefunden. Heuteleben sie als Emeriti und wehren mit beiden Händen ab, wenn man sie auf die Veränderungen in „ihren“ Fa-kultäten anspricht. Ihre Nachfolger streifen durch die Flure der Ministerien und bieten den Rat des schnellenRechnens an: hier die neue Riesterformel für alles; dort der Mindestlohn für Einkommensgerechtigkeit ohneRisiko der Arbeitslosigkeit.

Man muss den Universitäten laut zurufen: „Kehret um!“ Gebraucht wird jetzt eine Lobby für die Ordnungs -ökonomie.

Hans D. BarbierVorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung

Quelle: Zur Ordnung, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Juli 2008

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Abkehr von der Ordnungspolitik?

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Ordnungspolitik und formal orientierte Ökonomik sind aufeinander angewiesen

Will man aus diesem Doppelbefund einer ordnungspolitischen Misere eine Di-agnose entwickeln, die zur Therapie befähigt, muss man sich vor voreiligenund insbesondere irreführenden Fehl- und Kurzschlüssen hüten:

� Das Zurückdrängen ordnungspolitischer Inhalte aus dem Curriculum istdurch den Bologna-Prozess nicht verursacht worden. Die Krise ist älter. Sie trittmit dem Übergang von Diplom- auf Bachelor- und Masterstudiengänge ledig-lich offen zutage, weil im Prozess der curricularen Umstellung offenbar Argu-mente – und vielleicht auch schon Vertreter guter Argumente – gefehlt haben.

� Dass in den Umstellungsprozessen zu wenige Ordnungspolitiker zu Wort ge-kommen sind bzw. dass sie zu wenig Schlagkraft entfaltet haben, ist eine direkteFolge von Versäumnissen in der Ausrichtung ordnungspolitischer Forschung.Offenbar ist es bislang nicht ausreichend gelungen, ordnungspolitische Über-legungen „journalfähig“ zu machen, mit der Folge, dass Nachwuchswissen-schaftler sich anders orientieren müssen, wenn sie Karriere machen wollen.

Damit sich hier etwas zum Positiven verändern kann, muss die Stoßrichtung fürkonstruktive Reformbemühungen klar sein. Ziel sollte sein, den Konflikt zwi-schen den Interessen ordnungspolitisch ausgerichteter Ökonomen und denInteressen formal orientierter Ökonomen zu überwinden. Dazu muss man denDenkhorizont so erweitern, dass gemeinsame Interessen ins Blickfeld geratenund Potenziale wechselseitiger Besserstellung identifiziert werden können.

Wenn der Eindruck nicht täuscht, dominiert bei vielen Ökonomen, aber auchbei vielen Beobachtern des Wissenschaftsbetriebs, die Wahrnehmung, dass inden letzten Jahren die formal orientierten Ökonomen die Gewinner, die ord-nungspolitisch ausgerichteten Ökonomen spiegelbildlich die Verlierer sind. InWirklichkeit jedoch befinden sich derzeit alle Ökonomen gleichermaßen aufder Verliererstraße. Die Volkswirtschaftslehre insgesamt droht, ein sterbendesFach zu werden. Ihr gehen die Studierenden aus. Das betrifft zum einen un-mittelbar das eigene Fach; immer weniger Studierende wollen zu Volkswirtenausgebildet werden. Es betrifft aber auch die Studierenden der Betriebswirt-schaftslehre, die sich immer weniger für eine rein formale Ökonomik interes-sieren, zumal sie ihnen wenig bieten kann, wenn es um betriebswirtschaftlicheBerufsqualifikationen geht.

Diese Überlegungen lassen sich zu folgender Diagnose bündeln: Die Ord-nungspolitik wird aus den Curricula gedrängt; dies aber nicht, weil sie in derLehre nichts zu bieten hätte, sondern vielmehr deshalb, weil sie Schwächen inder Forschung aufweist, durch die ihr der wissenschaftliche Nachwuchs ab-handen kommt. Die formal orientierte Ökonomik ist in einer ähnlichen, aller-dings spiegelbildlich verkehrten Situation: Sie ist in der Forschung stark, hataber Schwächen in der Lehre, durch die ihr der studentische Nachwuchs ab-handen kommt. Die Langzeitfolgen sind klar absehbar: Ressourcenentzug bishin zur Streichung bzw. Umwidmung von Lehrstühlen.

Abschließend als These formuliert: Der Forschungserfolg der formal orien-tierten Ökonomen ist ein Pyrrhussieg, wenn es nicht gelingt, wieder mehr Stu-dierende für das eigene Fach zu begeistern. Das kann nur gelingen, wenn mandie Praxisrelevanz ökonomischer Erkenntnisse unter Beweis stellt. Hier hat dieOrdnungspolitik ihre Stärke. Lässt man sich auf diese Perspektive ein, sind dieOrdnungspolitik und die formal orientierte Ökonomik natürliche Verbünde-

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te: Sie haben ein gemeinsames Problem. Und zur Lösung dieses Problems sindsie aufeinander angewiesen, weil es sich letztlich nur durch eine Kooperationzum wechselseitigen Vorteil beheben lassen wird.

Verbesserungsvorschläge für Lehre und Forschung

Aus dieser Diagnose lassen sich zahlreiche Therapie-Optionen herleiten. Zu-mindest einige seien thesenartig skizziert. Die ersten drei Optionen beziehensich auf die Lehre, die letzten beiden auf die Forschung.

� An ordnungspolitischen Themen herrscht kein Mangel. Im Gegenteil: DerBedarf an ordnungspolitischen Orientierungsleistungen ist groß und nimmtkontinuierlich zu. Man denke nur an die immer noch unbewältigten Ord-nungsprobleme innerhalb Deutschlands, an die Reformnotwendigkeiteninnerhalb der Europäischen Union oder an die Herausforderungen für einefunktionierende Ordnung auf weltgesellschaftlicher Ebene. Aber nicht nur inder vertikalen, auch in der horizontalen Dimension ist die Ordnungspolitik un-vermindert aktuell, weil die „Interdependenz der Ordnungen“ nach einem in-tellektuellen Orientierungsrahmen verlangt, der es ermöglicht, ökologische,soziale, wirtschaftliche, politische und allgemein gesellschaftliche Aspekte in-tegrativ zu behandeln. Hinzu kommt, dass neben den traditionellen ord-nungspolitischen Akteuren zunehmend auch zivilgesellschaftliche Organisa-tionen sowie insbesondere Unternehmen die politische Bühne betreten undsich aktiv an Regelfindungsdiskursen und Regelsetzungsprozessen beteiligen.

Im Klartext: Zunehmende Komplexität verlangt nach methodisch kontrollier-ter Komplexitätsreduktion, die das Denken in die Lage versetzt, sich als ord-nende Potenz zu entfalten. Hier hat die Ordnungspolitik den Studierendenviel zu bieten.

� In der Lehre hat die Ordnungspolitik einen komparativen Vorteil darin, diePraxisrelevanz von Erkenntnissen der formalen Ökonomik unter Beweis zustellen und anschaulich vor Augen zu führen. Sie kann dazu beitragen, die imStudium oft isoliert nebeneinander stehenden Subdisziplinen der Mikro- undMakroökonomik zu integrieren und für die Strukturierung interessanter Prob -leme fruchtbar zu machen.

Im Klartext: Wenn Ordnungspolitik und formale Ökonomik zusammenar-beiten, anstatt sich feindselig zu begegnen, können sie gemeinsam stärkerwerden.

� Die formal arbeitende Volkswirtschaftslehre befindet sich in einem Spagatzwischen beeindruckenden Forschungserfolgen und mangelndem Lehrerfolg,durch den das gesamte Fach in eine ernste Existenzkrise hineinschlittert. Demakademischen Lehrangebot geht die studentische Nachfrage verloren. Unterdiesen Bedingungen läuft die rein formal ausgerichtete VolkswirtschaftslehreGefahr, in eine äußerst prekäre Situation zu geraten, weil ihr die Ressourcenwegbrechen. Aus dieser Lage kann sie sich nur befreien, wenn sie sich – mit-hilfe der Ordnungspolitik – konsequent darauf einstellt, nicht nur zur Ausbil-dung betrieblicher Führungskräfte, sondern allgemein zur Ausbildung gesell-schaftlicher Führungskräfte beizutragen. Dies bedeutet, den Anschluss an an-dere Disziplinen zu suchen, neben der Betriebswirtschaftslehre namentlich andie Rechtswissenschaft, die Soziologie und Politologie sowie an die Medizinund an die Philosophie, insbesondere an die Ethik, aber auch an die Lehrer-ausbildung sowie an die Journalistenausbildung.

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Ordnungspolitische Positionen

18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)

Im Klartext: Ordnungspolitik und formal orientierte Ökonomik können sichgemeinsam neue Märkte in der Lehre erschließen.1

� Um ihrer gesellschaftlichen Funktion nachkommen zu können, aber auch,um ihre Existenz in Lehre und Forschung zu sichern, bedarf die Ordnungspo-litik einer konzeptionellen Re-Aktualisierung. Eine Möglichkeit hierzu stehtunter der Bezeichnung „Ordonomik“ zur Diskussion.2 Sie setzt auf ein spiel-und institutionentheoretisch basiertes Forschungsprogramm zur Analyse vonInterdependenzen zwischen Sozialstruktur und Semantik: Mithilfe der – for-mal(isierungsfähig)en – Theorie sozialer Dilemmata werden sozialstrukturelleRegelarrangements analysiert. Und mithilfe eines Mehr-Ebenen-Schemas wirduntersucht, wie Regelsetzungsprozesse durch semantische Weichenstellungenin Regelfindungsdiskursen beeinflusst werden. Damit unterbreitet die Ordo-nomik ein Angebot, wie das traditionelle „Denken in Ordnungen“ durch ein„Denken in Anreizen“ aktualisiert werden kann und in ein Forschungspro-gramm mündet, das wissenschaftliche Beiträge zur Aufklärung und Steuerungder Gesellschaft leistet.

Im Klartext: Zunehmende Mathematisierung ist nicht das Problem, sondernTeil der Lösung. Nur durch sie kann die Ordnungspolitik wieder Anschluss anden Forschungsbetrieb herstellen. Und mit der expliziten Analyse der Seman-tik kann die Ordnungspolitik dazu beitragen, einen blinden Fleck der rein so-zialstrukturell orientierten Ökonomik aufzuhellen.

� Die Ordnungspolitik hat nur eine Zukunft, wenn es ihr gelingt, Nach-wuchswissenschaftler zu gewinnen, die im Wissenschaftsbetrieb erfolgreichKarriere machen können. Hierfür gibt es zwei Optionen, die sich wechselseitigzu ergänzen vermögen: Zum einen kann man versuchen, formal orientierteÖkonomen für ordnungspolitische Fragestellungen zu interessieren; zum an-deren kann man versuchen, ordnungspolitische Nachwuchswissenschaftler indie Lage zu versetzen, journalfähige Artikel zu schreiben. Für beides fehlt der-zeit eine geeignete Infrastruktur, etwa in Form eines Graduiertenkollegs.

Im Klartext: Ohne die konstruktive Zusammenarbeit zwischen der formal ar-beitenden Ökonomik und der Ordnungspolitik ist es um die akademische Zu-kunft beider schlecht bestellt. Es gibt also viel zu tun. �

1 In den Bachelor-Studiengängen für Volks- und Betriebswirte sieht beispielsweise die Universität Halle-Wittenberg Vorlesungen zur „Angewandten Ökonomik“ und zur „Ethik der Sozialen Marktwirtschaft“ vor,die stark ordnungspolitisch ausgerichtet sind. Im Master-Studiengang „Empirische Ökonomik und Politik-beratung“ gibt es einen engen Schulterschluss zwischen Ordnungspolitik und Ökonometrie. Und im Mas-ter-Studiengang „VWL“ steht die interdisziplinäre Vernetzung mit der Soziologie und Politologie im Vorder-grund. In allen drei Beispielen erfüllt die Integration ordnungspolitischer Lehrinhalte eine Brücken- undScharnierfunktion, weil eingeübt wird, wie sich ökonomische Modellerkenntnisse auf eine praxisrelevanteWeise gesellschaftlich kommunizieren lassen.2 Vgl. Ingo Pies, Markt versus Staat? – Über Denk- und Handlungsblockaden in Zeiten der Globalisie-rung, in: K. Graf Ballestrem u. a. (Hrsg.), Politisches Denken. Jahrbuch 2006/2007, Berlin 2007, Seiten259–293.

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19Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)

Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn von 7,50Euro war in der Großen Koalition nicht konsensfä-hig. Durch den Beschluss des Koalitionsausschus-ses vom 18. Juni 2007 wurden alternative Wege zumflächendeckenden Mindestlohn aufgezeigt: Jenach Ausmaß der Tarifbindung sollen Mindestlöh-ne entweder auf Grundlage des Arbeitnehmer-Ent-sendegesetzes oder des Mindestarbeitsbedingungs-gesetzes etabliert werden. Aber wie vertragen sichdiese Ansätze einer staatlichen Lohnsetzung mitder marktwirtschaftlichen Ordnung, zu der inDeutschland auch die Tarifautonomie gehört?

Mindestlöhne durch das Entsendegesetz

Im Mittelpunkt der Bemühungen um die Einfüh-rung von Mindestlöhnen stand bislang die Auswei-tung des im Jahr 1996 eingeführten „Gesetzesüber zwingende Arbeitsbedingungen bei grenz-überschreitenden Dienstleistungen“, kurz: Arbeit-nehmer-Entsendegesetzes (AEntG). Das Gesetzumfasste zunächst vornehmlich baunahe Bran-chen mit etwa 1,8 Millionen Beschäftigten. Im De-zember 2007 waren die von einer „Entsendepro-blematik“ weitgehend unberührten Briefdienst-leister aufgenommen worden. Bis zum vorläufigenStichtag, dem 31. März 2008, haben sieben weitereBranchen mit etwa 1,4 Millionen Beschäftigten ei-nen Aufnahmeantrag gestellt. Damit haben weni-ger Branchen als von der Regierung erhofft dieAufnahme in das Entsendegesetz beantragt.

Um den Aufnahmeprozess zu vereinfachen, wurdeam 16. Juli 2008 ein Regierungsentwurf für eineAEntG-Novelle vorgelegt. Sie sieht vor, dass Bran-chen mit einer Tarifbindung von mindestens 50Prozent der Beschäftigten auf Antrag der Tarifpar-teien in das AEntG aufgenommen werden kön-nen. Angemessene Mindestarbeitsbedingungenfür entsandte Arbeitnehmer werden weiterhin alsZiel genannt, doch ist die Entsendeproblematikkein Selektionskriterium bei der Branchenaus-

wahl. Das Entsendegesetz wird auf die Weise in einallgemeines Mindestlohngesetz verwandelt.

Die Schwellen für den politisch gewünschten „Ent-sendemindestlohn“ sind relativ niedrig: Bei erst-maligem Antrag auf Allgemeinverbindlichkeitser-klärung ist der paritätisch besetzte Tarifausschusseinzuschalten, der allerdings keine große Hürdedarstellt. Selbst bei einer Pattsituation oder Zustim-mung von nur einem Drittel der Mitglieder kannein Mindestlohntarifvertrag allgemein verbindlichwerden. Es bedarf dann nur eines Kabinettsbe-schlusses. Der Tarifausschuss kann gleich umgan-gen werden, wenn schon einmal ein Antrag auf All-gemeinverbindlichkeitserklärung gestellt wurde.

Für den Fortbestand der Tarifautonomie noch be-denklicher als dieser Alibicharakter des Tarifaus-schusses sind die Auswahlkriterien des Bundesar-beitsministers bei konkurrierenden Tarifverträgen.Sie stellen unter anderem auf die Repräsentativitäteines Tarifvertrags ab: Für allgemein verbindlichsoll derjenige Mindestlohntarifvertrag erklärt wer-den, der die größere Zahl Beschäftigte und Mit-glieder der vertragschließenden Gewerkschaft ein-bindet. Diese Kriterien dürften in der Regel dengrößeren DGB-Gewerkschaften Vorteile gegenüberkleineren Konkurrenten verschaffen – auch wennderen Tarifvereinbarungen wie auch Firmentarif-verträge bei der Ermittlung der Tarifbindung einesWirtschaftszweiges berücksichtigt werden.

Allerdings fürchtet wohl selbst die Bundesregie-rung unliebsame Nebenwirkungen ihrer Mindest-lohngesetzgebung. Daher sollen negative Beschäf-tigungseffekte vermieden werden durch dieOrientierung des Verordnungsgebers an fairenund funktionierenden Wettbewerbsbedingungen,am Erhalt der sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigung und an der Wahrung der Tarifautono-mie. Aus dem Zielkatalog wurden die ursprünglichenthaltene Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ge-strichen und funktionierender Wettbewerb aufge-

Staatliche Lohnsetzung statt Tarifautonomie?Dr. Klaus SchraderStellvertretender Leiter des Zentrums Wirtschaftspolitik, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel

Am Anfang der Mindestlohn-Debatte stand die Frage: Warum Mindestlöhne? Trotz aller Warnungen vor den ökonomischen

Gefahren eines solchen Eingriffs stellt sich gegenwärtig für große Teile der deutschen Politik nur noch die Frage nach

dem „Wie“.

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nommen, wodurch die Rolle des Staates als Lohn-setzer etwas herabgestuft wird. Die im Vergleichzum Referentenentwurf hinzugekommene Ver-pflichtung des Verordnungsgebers, „besondereSorgfalt“ walten zu lassen und einen „schonendenAusgleich“ von Grundrechtsinteressen herbeizu-führen, zielt in die gleiche Richtung.

Allerdings ist zweifelhaft, ob diese interpretationsfä-higen Sicherungsmechanismen Schaden abwendenkönnen. So wäre die akute Gefährdung von Wettbe-werb und Beschäftigung durch den „Entsendemin-destlohn“ für Briefdienstleister kaum verhindertworden. Der Postmindestlohn auf dem hohenHaustarifniveau der Deutsche Post AG hat ein Qua-si-Briefmonopol gesichert und den vornehmlich in-ländischen Wettbewerbern die Geschäftsgrundlageentzogen. Trotz der Wettbewerbseinschränkungen,des Schadens für die grundgesetzlich geschützte Ta-rifautonomie und des Beschäftigungsabbaus beider Postkonkurrenz hat die Bundesregierung ein„öffentliches Interesse“ an allgemein verbindlichenPostmindestlöhnen gesehen.1

Ein Relikt aus alten Zeiten

Weniger im Fokus standen bislang die politischenBestrebungen, auch in Branchen mit einer Tarif-bindung von weniger als 50 Prozent der Beschäf-tigten bzw. ohne einen Tarifvertrag Mindestlöhnezu etablieren. Diese Lücke soll das „Gesetz überdie Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen“(MiArbG) aus dem Jahr 1952 schließen, das einerModernisierung unterzogen werden soll. Schonder erste Referentenentwurf vom Januar 2008machte deutlich, dass auf Kosten der Tarifautono-mie ein noch weitergehender Schritt in Richtungstaatlicher Lohnsetzung beabsichtigt ist.

Das MiArbG wurde seit seinem Inkrafttreten im Ja-nuar 1952 nie angewendet, sondern versank fürdie nächsten 56 Jahre in Bedeutungslosigkeit. Ausdem Jahr 1952 ist ein Versuch dokumentiert, Min-destarbeitsbedingungen für Angestellte vonRechtsanwälten und Notaren festzusetzen – dasVerfahren verlief jedoch im Sande.2 Die Bedeu-tungslosigkeit war aber schon im Entstehungspro-zess angelegt: Das MiArbG war 1950 auf Antragder SPD-Fraktion, unterstützt durch eine Resolu-

tion des Bundesrats, in einen langwierigen Bera-tungsprozess des Bundestags eingebracht worden.Einerseits sollte eine untere Lohngrenze alsSchutzwall gegen eine „Verelendung trotz Arbeit“gezogen werden, andererseits ging es darum, denVorrang frei vereinbarter Tarifverträge sicherzu -stellen. Die Bedenken gegen ein solches Gesetzrichteten sich schon damals gegen einen zu star-ken Einschnitt in die Tarifautonomie und gegenpolitische Lohnsetzung, mit der man schlechte Er-fahrungen gemacht hatte.3

Das schließlich verabschiedete Gesetz sollte denunterschiedlichen Interessen Rechnung tragen,dabei aber vor allem keinen Schaden anrichten.Die staatliche Festsetzung von Mindestarbeitsbe-dingungen wurde prinzipiell möglich, allerdingswurde gleichzeitig das Primat der tarifvertrag-lichen Lohnfindung als Grundsatz hervorgehobenund Tarifverträgen ein Vorrang gegenüber staat-lichen Mindestarbeitsbedingungen eingeräumt.Untermauert wurde diese Intention durch restrik-tive Kriterien für staatliche Eingriffe:

� Das Kriterium des Fehlens fachlich zuständigerGewerkschaften oder Arbeitgeberverbände warangesichts der dynamischen Entwicklung solcherVerbandsstrukturen bereits damals fast prohibitiv;zumal auch die fehlende Einigung auf einen Tarif-vertrag nicht als Rechtfertigung für Mindestar-beitsbedingungen per staatlicher Zwangsschlich-tung angesehen wurde.

� Die Vorgabe, dass nur eine Minderheit von Ar-beitnehmern und Arbeitgebern von den Vereini-gungen vertreten werden durfte, war nicht leichtzu erfüllen. Die Kommentare zum MiArbG ma-chen deutlich, dass Minderheit nicht als mathema-tisches Kriterium interpretiert wurde, sondern Ge-ringfügigkeit und Machtlosigkeit vo rausgesetztwurden. Demnach konnten auch Vereinigungenmit geringer Mitgliederzahl oder geringer forma-ler Tarifbindung repräsentative Tarifabschlüsse tä-tigen, die dem staatlichen Eingriff entzogen waren.

� Die sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse,die durch staatlich festgesetzte Mindestentgelte zubefriedigen wären, sind schwer zu identifizieren. Ei-ne überindividuelle Definition von Notstand würdedarauf hinauslaufen, dass jede Arbeit den Lebens-unterhalt garantieren müss te. Das hätte weitere Fol-

1 Siehe dazu auch die Kritik des Sachverständigenrats zur Begut-achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten2007/08, Wiesbaden 2007, Seite 367.2 Vgl. Gabriele Peter/Otto Ernst Kempen/Ulrich Zachert, Rechtli-che und rechtspolitische Aspekte der Sicherung von tariflichen Min-deststandards, Düsseldorf 2003, Seiten 88 f.

3 Vgl. zu den Hintergründen des Gesetzgebungsprozesses Karl Fit-ting, Das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingun-gen, Recht der Arbeit, 5. Jahrgang 1952; Wilhelm Herschel, Festset-zung von Mindestarbeitsbedingungen, Arbeitsrecht/Lohn- undTarifwesen, Bundesarbeitsblatt, Nr. 1, 1952.

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)20

Probleme der Wirtschaftsordnung

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gen: Sozialtransfers zur Einkommensergänzung,auch familienbezogene, müssten im Lohn „einge-preist“ werden; Teilzeit- und Zusatzverdienste müss -ten konsequenterweise hochgerechnet auf eineVollzeitstelle ebenfalls die sozialen und wirtschaft-lichen Bedürfnisse befriedigen können. Damit wäreeine branchenweise Lohndifferenzierung begrenztdurch einen Mindestlohn, der über die Höhe derSozialtransfers vorgegeben ist.

Ein Modernisierungsentwurf

Angesichts dieser Hürden ist das MiArbG von 1952ungeeignet für die Begründung staatlicher Min-destlöhne. Selbst gewerkschaftsnahe Gutachterkommen zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber zuZeiten Ludwig Erhards einen zu geringen Spiel-raum für eine staatliche Lohnsetzung gelassen hat-te. Sie empfehlen deshalb die Abschaffung der ge-nannten Hürden für staatliche Mindestarbeitsbe-dingungen.4 Der im Januar 2008 vorgelegte Refe-rentenentwurf für eine MiArbG-Novelle kam die-

sen Empfehlungen unter dem Etikett der „Moder-nisierung“ nach: Eine bundesweite oder regionaleTarifbindung von weniger als 50 Prozent wurde alseinzige Vorbedingung genannt, während alle Si-cherungen des damaligen Gesetzgebers gegen po-litische Lohnsetzung gestrichen wurden.

Daran hat auch der nach einer Ressortabstim-mung vorgelegte neue Regierungsentwurf vom Juli 2008 im Prinzip nichts geändert, auf der poli-tischen Agenda stand offensichtlich nur Schadens-begrenzung. Die Beschränkung des Mindestar-beitsbedingungsgesetzes auf Mindestentgelte ver-hindert wenigstens die staatliche Regulierung vonArbeitszeit oder Urlaub. Aber im Kern der Novelleging es ohnehin immer nur um staatliche Min-destlöhne in den Bereichen, die vom neuen Ent-sendegesetz – oder zutreffender: Mindestlohn-I-Gesetz – nicht erfasst werden. Somit entspricht das„modernisierte“ MiArbG dem ursprünglichen po-litischen Ziel, ein komplementäres Mindestlohn-II-Gesetz zu schaffen. Dementsprechend ist das„Kleiner-als-50-Prozent-Kriterium“ bezüglich derTarifbindung geblieben, wenn es jetzt auchbundesweit erfüllt sein muss. Auf diese Weise wur-4 Vgl. Gabriele Peter et al., a. a. O., Seiten 83–97.

GrundsatzPrimat der freien Vereinbarung von Arbeitsbedingungen zwischen den Tarifvertragsparteien durch TarifverträgeAnwendungsvoraussetzungenTarifgebundene Arbeitgeber eines Wirtschaftszweigs beschäftigen bundesweit weniger als 50 Prozent der re-levanten ArbeitnehmerGremien und VerfahrenHauptausschuss:

� sechs ständige Mitglieder und ein Vorsitzender, die über besondere soziale und ökonomische Kenntnisseverfügen müssen; Mitglieder sind weisungsunabhängig; Amtszeit: drei Jahre

� Vorschlagsrecht für je zwei Mitglieder bei den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberspitzenorganisationen sowiebeim Bundesarbeitsminister, der auch den Vorsitzenden vorschlägt

� prüft auf soziale Verwerfungen in einem Wirtschaftszweig und beschließt über Mindestarbeitsentgelte; sozi-ale und ökonomische Auswirkungen müssen umfassend berücksichtigt werden; schriftliche Begründung ist er-forderlich; Bundesministerium für Arbeit und Soziales muss zustimmen

� Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Spitzenorganisationen und Landesregierungen können ebenfallsMindestentgelte vorschlagenFachausschüsse:

� je drei Mitglieder auf Vorschlag von Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen sowie ein Vorsitzenderauf Vorschlag des Bundesarbeitsministers; Mitglieder sind weisungsunabhängig

� Entscheidung über Mindestentgelte nach den Kriterien: Schaffung angemessener Arbeitsbedingungen, Ge-währleistung fairen und funktionierenden Wettbewerbs, Erhaltung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung

� Erlass von Mindestarbeitsentgelten durch die Bundesregierung, eventuell mit BefristungEinschränkungBestandsschutz für vor dem 16. Juli 2008 abgeschlossene Tarifverträge und deren Folgeverträge

Novelle des Mindestarbeitsbedingungsgesetzes – Zentrale Inhalte

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008) 21

Mindestlöhne

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de der potenzielle Schaden begrenzt, doch die ex-plizit mathematische und damit sehr weitgehendeDefinition der Minderheit blieb unangetastet.

Wohl um dem Vorwurf einer politischen Lohnset-zung auf Kosten von Beschäftigung und Tarifauto-nomie entgegenzutreten, enthält die Novelle imVergleich zum alten MiArbG „Sicherungsmecha-nismen“ anderer Art. Sie sollen ein Festsetzungs-verfahren nicht von vornherein verhindern, abereine Vorprüfung ermöglichen. Damit dies gelin-gen kann, sollen die Mitglieder beider mit derFestsetzung beauftragten Institutionen – Haupt-ausschuss und Fachausschüsse – über Experten-wissen verfügen und weisungsunabhängig sein.Doch im Detail zeigen sich die Unzulänglichkeitendieser Vorgaben: Der Hauptausschuss hat großesErmessen bei der Feststellung des Eingriffstatbe -stands „soziale Verwerfungen“, auch die Berück-sichtigung sozialer und ökonomischer Auswirkun-gen lässt politisch opportune Begriffsauslegungenzu. Daher kann schon allein die Zusammenset-zung des Ausschusses ausschlaggebend für die Ein-leitung eines Festsetzungsverfahrens sein.

Von großer Bedeutung ist das Vorschlagsrecht desBundesarbeitsministers für drei Mitglieder, ein-schließlich des Vorsitzenden, sowie der Spitzenor-ganisationen von Arbeitnehmern und Arbeitge-bern für je zwei Mitglieder. Im Referentenentwurfhatte der Minister kein Vorschlagsrecht, und Ver-bandsfunktionäre waren als Mitglieder ausge-schlossen. Nach dem vorliegenden Entwurf hat derMinister personelle Gestaltungsfreiheit gewonnen,und die Verbände können wenigstens ihr Personalin den Hauptausschuss entsenden. Der Einflussder Verbände ist weiterhin durch ihr alleiniges Vor-schlagsrecht für die Mitglieder der Fachausschüssegewährleistet, die letztlich die Mindestlöhne in ein-zelnen Wirtschaftszweigen bestimmen. Hier be-wahrt der Minister seinen Einfluss durch das Vor-schlagsrecht für den Vorsitzenden, dessen Stimmebei einem Patt im Fachausschuss entscheidet.

Wirkungslose Schadensbegrenzung

Die Kriterien der Fachausschüsse für die Festle-gung der untersten Lohngrenze orientieren sichan den Zielvorgaben des Verordnungsgebers imRahmen des neuen Entsendegesetzes:

� Die „Angemessenheit von Arbeitsbedingungen“ist ein Kriterium, wie es weicher kaum sein könnte.Es ist völlig ungerichtet, sodass die Interpreta-tionshoheit entscheidend für das Prüfergebnis ist.

� Funktionierende Wettbewerbsbedingungenwürden bedeuten, dass die Lohnhöhe ein Wettbe-werbsparameter, insbesondere für Marktneulingeoder für Branchen mit hoher internationalerWettbewerbsintensität, bleiben müsste. Daher wä-re der Verzicht auf Mindestlöhne statt deren Aus-weitung auf tarifungebundene Unternehmen fürdie Funktionstüchtigkeit des Wettbewerbs nahelie-gend. Wenn sich die Ausschussmitglieder mehram Gebot der Fairness orientieren, kann jeglicherLohnwettbewerb als unfair angesehen werden,dem durch einen entsprechend hohen Mindest-lohn ein Riegel vorzuschieben wäre. Ein Belas-tungstest für die Leidensfähigkeit von Marktneu-lingen oder von Unternehmen, die unter starkemWettbewerbsdruck stehen, wäre die Folge.5

� Wenn man das Kriterium des Erhalts sozialver-sicherungspflichtiger Beschäftigung ernst nähme,müssten sich Hauptausschuss und Fachausschussgenerell gegen einen Mindestlohn entscheiden.Ein Mindestlohn, der Beschäftigung erhalten bzw.fördern soll, darf den Marktgleichgewichtslohnnicht übersteigen – sonst wäre Arbeitslosigkeit dasunerwünschte Resultat des Eingriffs. Wenn er abergezielt unterhalb des Marktlohns bleibt, wird derMindestlohn zu einem verzichtbaren Symbol.

Als Versuch zur Schadensbegrenzung muss dahergewertet werden, dass der Regierungsentwurf ei-nen Bestandsschutz für die vor dem 16. Juli abge-schlossenen Tarifverträge und darauf basierendenFolgeverträge vorsieht. Auch die mögliche Befris-tung von Mindestentgeltverordnungen soll offen-bar zumindest die Hoffnung nähren, dass derSchaden staatlicher Mindestlöhne für Tarifauto-nomie und Beschäftigung zeitlich begrenzt bleibt.

Der Kreis der Betroffenen

Aufgrund der seit Jahren abnehmenden Tarifbin-dung hat sich der Kreis der vom MiArbG poten-ziell Betroffenen ständig erweitert. In West-deutschland betrug bei rückläufiger Tendenz derBindungsgrad im Jahr 2006 nur 57 Prozent, in Ost-deutschland lediglich 41 Prozent. Die Statistikzeigt, dass insbesondere in Ostdeutschland weni-ger als 50 Prozent der Beschäftigten, ob in der In-dustrie oder im Dienstleistungssektor, an einenBranchentarifvertrag gebunden sind. In West-deutschland ist die Tarifbindung in der Industrie

5 Zu den Wettbewerbsbeschränkungen durch Mindestlöhne vgl.Christian Wey, Erosion des Flächentarifsystems macht eine Wettbe-werbsaufsicht auf dem Arbeitsmarkt notwendig, DIW-Wochenbericht75 (6), Berlin 2008.

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Probleme der Wirtschaftsordnung

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relativ hoch, doch auch hier sind viele Dienstleis-tungsbranchen unter oder nahe dem kritischenBindungsgrad.6 Entsprechend würde die Novellefür den Dienstleistungssektor die höchste Rele-vanz haben, was umso schwerer wiegt, da beiunterdurchschnittlicher Tarifbindung mittlerwei-le mehr als 70 Prozent der Erwerbstätigen inDeutschland einer Dienstleistungsbeschäftigungnachgehen.

Betroffen von staatlichen Mindestarbeitsbedingun-gen sind potenziell auch tarifgebundene Arbeitge-ber und Arbeitnehmer, deren Tarifverträge zu „ge-ringe“ Mindestvergütungen aufweisen. Im März2008 bestanden für etwa 14 Millionen Beschäftigtetariflich vereinbarte Mindestvergütungen, die nichtallgemein verbindlich waren. Insbesondere in denDienstleistungsbranchen dürften die untersten Ta-rifgruppen durch Hauptausschuss und Fachaus-schüsse überprüft werden, sobald ihr Bestands-schutz ausläuft. Tarifliche Mindestlöhne zwischendrei und fünf Euro sind hier keine Seltenheit.7

Beide Gruppen von Betroffenen können zu Verlie-rern des MiArbG werden, wenn sich ihre Mindest-löhne als zu hoch erweisen. Schon bei einem Min-destentgelt von 7,50 Euro droht ein Beschäfti-gungsabbau: Berechnungen des Rheinisch-Westfä-lischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) er-gaben, dass fast 1,2 Millionen Arbeitplätze verlorengingen, davon mehr als 220 000 im beschäftigungs-schwachen Osten Deutschlands.8 Der eigentlicheKreis der Betroffenen bestände allerdings nicht ausVollzeitbeschäftigten, denn ihr Anteil an den Nied -riglohnbeziehern beträgt gerade einmal ein Drit-tel. Betroffen wären vornehmlich Bezieher vonZusatzverdiens ten, die das Haushaltseinkommenergänzen.9 Die Idee des MiArbG, dass jeder Be-schäftigte von seiner Arbeit leben sollte, würde da-her in vielen Fällen den Verlust von ergänzendenEinkommen zur Folge haben und zu „sozialen Ver-werfungen“ führen, die das Gesetz eigentlich ver-meiden soll.

Das hätte Ludwig Erhard nicht gewollt

Die vorliegenden Gesetzesinitiativen der Bundes-regierung unterstreichen das Beharrungsvermö-gen, mit dem in den letzten Jahren die Einfüh-rung flächendeckender Mindestlöhne verfolgtwurde. Sachverständige und Institute haben vorden Gefahren von Mindestlöhnen gewarnt, dochsie bleiben bislang ungehört. Eine große Koalitionaus Politik und gesellschaftlichen Gruppenscheint aufgrund unterschiedlicher Motive einestaatliche Lohnsetzung zulasten von Tarifautono-mie und Koalitionsfreiheit etablieren zu wollen:

� Teile der Politik glauben mit Blick auf Umfra-geergebnisse, ein populäres Thema zur sozialenProfilierung gefunden zu haben. Diejenigen, diesich der Gefahren bewusst sind, üben sich derweilin Schadensbegrenzung, stellen aber die Mindest-lohngesetze nicht infrage.

� Die Gewerkschaften verlieren im Zuge desStrukturwandels Organisationskraft und hoffen,über die Mindestlohngesetzgebung in Branchenund Regionen Fuß zu fassen, die für sie wie weißeFlecken auf der Landkarte sind. Den DGB-Ge-werkschaften bietet sich zudem die Chance, klei-nere, konkurrierende Arbeitnehmervereinigun-gen zu schwächen und ungeliebte Mindestlohn-verträge nach oben zu korrigieren.

� Auf der Arbeitgeberseite hegen vielfach größe-re Unternehmen die Hoffnung, sich lästiger Wett-bewerber über hohe Mindestlöhne zu entledigen;eine große Zahl kleiner und mittlerer Unterneh-men muss diesen Kostenschub fürchten.

� Für die Arbeitnehmer ist es verlockend, perstaatlichem Dekret höhere Löhne zu erhalten undauf diese Weise ausländische Konkurrenten um ih-re Arbeitsplätze fern zu halten. Diese Sichtweisewerden die ehemaligen Beschäftigten privaterPostdienstleister allerdings kaum mehr teilen.

Vor diesem Hintergrund führen Hinweise in dieIrre, dass man mit dem Mindestarbeitsbedin-gungsgesetz nur ein Gesetz aus den Zeiten LudwigErhards weiterentwickeln wolle. Dieses Gesetz warso konstruiert, dass es 56 Jahre keinen Schaden an-richten konnte. Erhard war sich des Zusammen-hangs von Lohnsteigerungen und Produktivitäts-entwicklung bewusst. �

6 Vgl. WSI (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut an derHans-Böckler-Stiftung), WSI Tarifhandbuch 2008, Frankfurt am Main2008, Seiten 89–96.7 Vgl. Reinhard Bispinck, Unterste Tarifvergütungen 2008, Informa-tionen zur Tarifpolitik 64, WSI, Düsseldorf 2008, Seite 4.8 Vgl. Ronald Bachmann/Thomas K. Bauer/Jochen Kluve/SandraSchaffner/Christoph M. Schmidt, Mindestlöhne in Deutschland: Be-schäftigungswirkungen und fiskalische Effekte, Materialien 43, RWI,Essen 2008.9 Vgl. Karl Brenke/Werner Eichhorst, Mindestlohn für Deutschlandnicht sinnvoll, DIW-Wochenbericht 74 (9), Berlin 2007.

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Mindestlöhne

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In ihrer Rede auf der Festveranstaltung zum 60.Jahrestag der Sozialen Marktwirtschaft hat Bundes-kanzlerin Angela Merkel gefordert: „Wir müssen dieBildungsrepublik Deutschland werden.“ Ihrer An-sicht nach ist Ludwig Erhards Motto der SozialenMarktwirtschaft heute weiter zu fassen: „Wohl-stand für alle heißt heute Bildung für alle.“ Damitdie Menschen sich nicht von der Sozialen Markt-wirtschaft abwenden, müsse unsere Gesellschaftdurchlässig sein, sodass alle an den Chancen derdurch die Globalisierung veränderten Welt teilha-ben können. Deshalb erwarteten die Menschen,„dass unser Bildungssystem jedem die Chance aufEinstieg und Aufstieg ermöglicht“.

Frau Merkel hat Recht. Bildung ist eine vernachläs-sigte Säule im Gedankengebäude der SozialenMarktwirtschaft. Bei den geistigen und prakti-schen Vätern der Sozialen Marktwirtschaft undder ihr zugrunde liegenden Wettbewerbsordnungkam Bildung nicht als zentraler Bestandteil vor.Auch in der christlichen Soziallehre nimmt Bil-dung nur eine Fußnotenstellung ein. Dabei ist diechristliche Soziallehre mit ihren klassischen Prin-zipien Solidarität und Subsidiarität prädestiniertdazu, die zur Selbsthilfe befähigende Rolle der Bil-dung zu betonen.

Allgemeine Schulpflicht heißt nicht, dass jeder amEnde eine gute Bildung bekommen hat. Die Qua-lität des Gelernten ist jedoch genau das, worauf esim Leben ankommt. Wenn es gelingen würde, al-len Menschen zum Zeitpunkt ihrer Mündigkeitdurch eine qualitativ hochwertige Bildung ausrei-chende Startchancen für den weiteren freiheit-lichen Lebensweg zu schaffen, käme man demIdeal einer menschenwürdigen Gesellschaftsord-nung wesentlich näher. Weil es an der Bildungspo-litik hängt, ob die Menschen in die Lage versetztwerden, in eigener Verantwortung ihren Lebens-

weg zu gehen, ist sie der entscheidende Bestand-teil einer solchen Gesellschaftsordnung.

Bestandsaufnahme

Wie keine andere Bestandsaufnahme der Bil-dungsleistungen hat das „Programme for Interna-tional Student Assessment“ (PISA) die öffentlicheDiskussion um den Zustand der Schulen inDeutschland entfacht. Das deutsche Abschneidenbei PISA ist bekannt: Entgegen der lange geheg-ten Vorstellung vom Land der Dichter und Denkerschneiden die Schüler im internationalen Ver-gleich in Mathematik, Naturwissenschaften undLesen regelmäßig nur im – zumeist unteren –Mittelfeld ab.

Zu den „Spitzenreitern“ gehört Deutschland dage-gen, wenn es um die Ungleichheit in den erzieltenSchülerleistungen geht. Hierzulande ist der Leis-tungsunterschied zwischen den besten und denschlechtesten Schülern größer als in fast allen an-deren Ländern. Und meist sind die sozial Benach-teiligten bei den Bildungsleistungen besonders weitabgeschlagen. In kaum einem anderen Land hän-gen die Bildungsleistungen stärker vom familiärenHintergrund der Schüler ab als in Deutschland.

Weitere Fakten belegen die große Bedeutung dersozialen Herkunft für die Bildungsergebnisse inDeutschland. Die Wahrscheinlichkeit, ein Gymna-sium zu besuchen, ist für Jugendliche aus Akade-mikerfamilien fast siebenmal so hoch wie für Ju-gendliche aus Arbeiterfamilien.1 Selbst bei glei -cher Kompetenz der Jugendlichen ist sie immernoch viermal so hoch. Die Ergebnisse der Interna-

„Bildungsrepublik Deutschland“: Mythen und FaktenProf. Dr. Ludger WößmannLudwig-Maximilians-Universität und ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München

Durch Bildung soll jedermann in die Lage versetzt werden, seinen Lebensweg eigenverantwortlich zu gehen. Das deut-

sche Bildungssystem erreicht dieses Ziel nicht. Vielen Jugendlichen sind bereits beim Berufsstart zahlreiche Chancen

verbaut. Die empirische Forschung hat Erkenntnisse gebracht, wie sich in anderen Ländern erfolgreiche Bildungssys-

teme entwickelt haben. Diese Fakten können den Weg in eine Bildungsrepublik Deutschland weisen.

1 Vgl. PISA-Konsortium Deutschland, PISA 2003: Der zweite Ver-gleich der Länder in Deutschland – Was wissen und können Jugend-liche?, Münster 2005, Seiten 261–262.

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Probleme der Wirtschaftsordnung

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tionalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU)belegen, dass der Einfluss der sozialen Herkunft aufdie Schulformempfehlungen der Lehrkräfte in denvergangenen fünf Jahren sogar gestiegen ist.2

Die sich in der Mittelstufe abzeichnende soziale Se-lektion der Schüler verstärkt sich im weiteren Ver-lauf der Bildungsbiographie: 88 Prozent der Ju-gendlichen, deren Vater einen Hochschulabschlusserworben hat, treten in die gymnasiale Oberstufeein, aber nur 46 Prozent der Jugendlichen mit Vä-tern ohne Hochschulabschluss.3 Während nahezualle (94 Prozent) aus der ersten Gruppe ein Hoch-schulstudium aufnehmen, ist es aus der zweitenGruppe lediglich die Hälfte. Damit fangen 83 Pro-zent der Kinder von Vätern mit Hochschulab-schluss, aber nur 23 Prozent der Kinder von Väternohne Hochschulabschluss ein Studium an.

Die Widerlegung von Mythen

Über die Gründe für das wenig beeindruckendeAbschneiden der Schüler und die große Ungleich-heit der Bildungschancen in Deutschland ist trotzder durch PISA entfachten schulpolitischen De-batten wenig bekannt. In den Debatten werdenvielfach alte ideologische Grabenkämpfe aufge-nommen. Aber die Frage, wie sich die Bildungs-leistungen verbessern lassen, ist keine Glaubens-frage. Sie ist vielmehr eine Frage, die sich auf diereal existierende Welt bezieht und die sich anhandvon Fakten beantworten lässt. Die empirische For-schung hat in den letzten Jahren einige Antwortenauf diese Frage gegeben.

Bei fast allen der lang gehegten und in der schul-politischen Debatte wiederholten Meinungen undVorurteilen handelt es sich um Mythen – Ge-schichten mit unbelegtem Wahrheitsgehalt, dieaber eine Wirkkraft auf Denken, Fühlen und Han-deln der Menschen haben, als wären sie wahr. Ei-nige dieser Mythen werden eher vom konservati-ven Spektrum der politischen Debatte gepflegt,andere eher vom linken. Viele Mythen haben sichin der jüngeren Forschung anhand der internatio-nalen Schülerleistungstests als Irrtümer erwiesen.

Ein Mythos lautet: Früher war alles besser. VieleBildungsdebatten fußen auf der Annahme, dass

Deutschland früher die besten Schulen der Welthatte und dass im Bildungssystem in den letzten 10bis 20 Jahren etwas schief gegangen ist, was jetztwieder auszugleichen ist. Aber schon im Jahr 1964rief Georg Picht „Die deutsche Bildungskatastro-phe“ aus und wies darauf hin, dass „die Bundesre-publik (…) in der vergleichenden Schulstatistikam untersten Ende der europäischen Länder“steht. Während sich diese Aussage auf den quanti-tativen Umfang der Bildung deutscher Jugend-licher bezog, wurden bald darauf die ersten inter-nationalen Vergleichstests durchgeführt. Im Ma-thematiktest von 1964 landeten die deutschenSchüler nur im Mittelfeld. Wie das Ergebnis des1970 bis 1971 durchgeführten internationalenVergleichstests in Naturwissenschaften aussah,wird aus einem Titel in Die Zeit vom 20. Septem-ber 1974 ersichtlich: „Im internationalen Ver-gleich schneidet das Bildungswesen der Bundesre-publik miserabel ab – Die deutschen Schüler aufdem letzten Platz“.

Die Konsequenz aus dem dürftigen Abschneidenwar, dass Deutschland für die nächsten 25 Jahre ankeiner internationalen Vergleichsstudie mehr teil-nahm. Seit Deutschland 1995 dann wieder an derThird International Mathematics and Science Study(TIMSS) teilgenommen hat, wurde regelmäßig vorAugen geführt, dass die Leistungen deutscher Schü-ler international höchstens im unteren Mittelfeldanzusiedeln sind. Analysen belegen, dass die durch-schnittliche Bildung deutscher Schüler in den1960er und 1970er Jahren nicht wesentlich besseroder schlechter war, als sie heute ist. Dementspre-chend sind die Ursachen für die mangelnde Qua-lität der Bildung tiefer zu suchen als in den Ent-wicklungen der letzten 10 oder 20 Jahre.

Bessere Schüler durch höhere Ausgaben?

Ein weiterer Irrtum ist, dass es auf das, was dieinternationalen Vergleichsstudien testen, nicht an-kommt. Trotz des mittlerweile wohlbekanntenschwachen Abschneidens im PISA-Vergleich gaben60 Prozent der Eltern schulpflichtiger Kinder inDeutschland an, dass sie mit der Ausbildung ihrerKinder zufrieden oder sehr zufrieden sind. Aberdie Empirie belegt, dass internationale Vergleichs-studien sehr wohl wichtig sind: Länder, die besserabgeschnitten haben, weisen langfristig ein deut-lich höheres Wirtschaftswachstum auf.4 Würde2 Vgl. Wilfried Bos et al., IGLU 2006: Lesekompetenzen von Grund-

schulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich, Münster2007, Seiten 337 f.3 Vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Die wirt-schaftliche und soziale Lage der Studierenden in der BundesrepublikDeutschland 2006, 18. Sozialerhebung des Deutschen Studenten-werks, Berlin 2007, Seiten 108–114.

4 Siehe Eric A. Hanushek/Ludger Wößmann, The Role of CognitiveSkills in Economic Development, in: Journal of Economic Literature,Band 46, Heft 3, 2008.

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Bildungspolitik

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Deutschland im PISA-Mathematiktest vom derzei-tigen Platz nahe des Mittelwerts der OECD-Länderzu Ländern wie Belgien oder der Schweiz – dienoch nicht einmal zu den Spitzenreitern gehören– aufschließen, ginge das langfristig mit einemjährlich um rund einen halben Prozentpunkt hö-heren Pro-Kopf-Wachstum einher.

Die Bildungsleistungen sind auch von Bedeutungfür die Wahrscheinlichkeit, einen Arbeitsplatz zufinden, sowie – im zweiten Schritt – für die Höhedes individuellen Einkommens. Die Bildungsschwä-che ist ein wichtiger Grund für die hohe Arbeitslo-sigkeit, von der vor allem gering Qualifizierte be-troffen sind. Im internationalen Vergleich lassensich die Unterschiede in der Einkommensungleich-heit zwischen Ländern zum Großteil auf Unter-schiede in den Bildungsleistungen zurückführen.5Die Verteilung der Bildung ist entscheidend für diegesellschaftliche Einkommensverteilung. Damitsind die schwachen PISA-Leistungen von heute derfehlende Wohlstand von morgen, und die großeUngleichheit der PISA-Leistungen ist die sozioöko-nomische Ungleichheit von morgen.

Wie selbstverständlich scheinen viele Politiker, El-tern und Lehrer sowie die Medien vorauszusetzen,dass es einen quasi automatischen Zusammen-hang zwischen dem Ressourceneinsatz und denBildungsergebnissen gibt. Scheinbar denken sie,dass sich die Leistungen der Schüler zwangsläufigverbessern würden, wenn man nur mehr Geld fürdas Bildungssystem ausgibt. In den Analysen deu-tet jedoch nichts darauf hin, dass mehr Ausgaben– etwa in Form von kleineren Klassen oder höhe-rem Computereinsatz – für sich genommen dieschulischen Leistungen der Schüler verbessernwürden. Länder mit höheren Bildungsausgabenschneiden im Durchschnitt nicht besser ab.6 So-lange sich die Rahmenbedingungen des deut-schen Schulsystems nicht ändern, werden dieSchüler nicht mehr lernen, wenn einfach nurmehr Geld ins System gesteckt wird.

Appelle an die Moral reichen nicht aus

Schulpolitische Initiativen fordern vielfach ein bes-seres Schulklima sowie mehr Motivation und Enga-

gement der Lehrer. Solche Forderungen sind gutgemeint – aber gutes Klima und Motivation kannman nicht mit Worten einfordern. Ohne eine Ab-kehr vom Status quo der Rahmenbedingungenwird es kaum zu Verbesserungen kommen. Statt-dessen muss es um die Ursachen gehen, die einemleistungsfördernden Klima und Verhalten zugrun-de liegen: Menschen müssen durch entsprechendeRahmenbedingungen motiviert werden.

Das beste Mittel für bessere Bildungsleistungen sindsomit institutionelle Reformen, die alle Beteiligtenzur Förderung der konkreten Schülerleistungenanspornen, indem gute Leistungen belohnt werdenund schlechte Leistungen negative Konsequenzennach sich ziehen. Im derzeitigen Schulsystem hat esfür viele Beteiligte keine Auswirkungen, ob dieSchüler viel oder kaum etwas lernen. Einfach nuran die Moral oder das Verantwortungsbewusstseinder Schulleiter, Lehrer oder Eltern zu appellieren,wird deren Verhalten nicht grundlegend ändern.Nur wenn sie sehen, dass sich ein Einsatz für besse-re Leistungen lohnt, werden sie sich anstrengen,um die Lernleistungen zu verbessern.

Die institutionellen Reformen wären zahlreichund beinhalteten unter anderem Änderungen desPrüfungssystems.7 Externe Leistungsüberprüfun-gen wie das Zentralabitur führen zu besseren Lern -erfolgen, weil sie sowohl die Schulen für das Er-reichte in die Verantwortung nehmen als auch denSchülern die Möglichkeit geben, ein klares undfür jeden erkennbares Signal ihrer Leistungen set-zen zu können. Darüber hinaus machen sie denLehrer vom „Richter“ zum „Coach“, der mit sei-nen Schülern zusammenarbeitet. Deshalb könn-ten in Deutschland nationale Zwischen- und Ab-schlussprüfungen in allen Schulen eingeführt wer-den. Die Fakten sprechen dafür, dass dies die Leis-tungen der Schüler wesentlich verbessern würde.Externe Prüfungen schaffen Verantwortlichkeitbei Schülern, Schulen sowie Landesregierungenund damit Anreize, sich auf den Weg zu bessererLehre und zielgerichtetem Lernen zu machen.

Mehr Freiheit und Wettbewerb

Gleichzeitig zeigen die internationalen Fakten,dass – sobald die Verantwortlichkeit durch externePrüfungen besteht – Schüler mehr lernen, wenndie einzelnen Schulen mehr Freiheit im Tagesge-5 Siehe Stephen Nickell, Poverty and Worklessness in Britain, in:

Economic Journal, Band 114, Heft 494, 2004, Seiten C1–C25.6 Siehe Eric A. Hanushek, The Failure of Input-Based Schooling Po-licies, in: Economic Journal, Band 113, Heft 485, 2003, Seiten F64–F98; Ludger Wößmann, International Evidence on Expenditures andClass Size: A Review, in: Brookings Papers on Education Policy, Band2006/2007, Seiten 245–272.

7 Vgl. Ludger Wößmann, Bildungspolitische Lehren aus den inter-nationalen Schülertests: Wettbewerb, Autonomie und externe Leis-tungsüberprüfung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Band 7,Heft 3, 2006, Seiten 417–444.

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Probleme der Wirtschaftsordnung

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schäft und in Personalfragen haben. Indem sie Re-chenschaft einfordern, bringen externe Prüfun-gen die positiven Aspekte der Selbständigkeit derSchulen voll zum Tragen. Die planwirtschaftlichorganisierte Zuweisung von Lehrern auf die öf-fentlichen Schulen durch Schulbehörden ist dage-gen ein Anachronismus, der die Schulen inDeutschland darin behindert, das Beste aus demPotenzial ihrer Schüler zu machen.

Das Gleiche gilt in Bezug auf die Unabhängigkeitder Schulen bei der Setzung von erfolgsabhängi-gen Bestandteilen der Lehrergehälter. Einige neu-ere Untersuchungen aus Israel und England bele-gen, dass Schülerleistungen wesentlich besser wer-den können, wenn die Vergütung der Lehrer vontatsächlich erzielten Lernsteigerungen der Schü-ler abhängig gemacht wird. Für solche institutio-nellen Reformen wäre in den meisten deutschenBundesländern eine Abkehr von der Verbeamtungder Lehrer notwendig, zumindest aber einegrundlegende Reform des Beamtenrechts.

Bei der Rollenverteilung von Staat und Markt imBildungssystem sind die Fakten ebenfalls klar: Beiallgemeiner staatlicher Finanzierung der Schulenführen privat geleitete Schulen durch Wettbe-werb zu einem höheren Leistungsniveau für alleSchüler – gerade auch für diejenigen, die im der-zeitigen System benachteiligt sind. Analysen derinternationalen Schülervergleichstests belegen,dass Schulsysteme, die mehr Schulen in nicht öf-fentlicher Trägerschaft haben, bessere Schüler-leistungen erzielen.8 Können Eltern die aus ihrerSicht beste Alternative für ihre Kinder wählen,konkurrieren verschiedene Schulen um dieGunst der Eltern. Auch die öffentlichen Schulenwerden besser, wenn sie mit privaten Schulenkonkurrieren müssen. Wettbewerb wirkt alsoauch im Schulsystem positiv.

Wenn sich allerdings aufgrund von hohem Schul-geld nur die oberen Zehntausend den Besuch vonPrivatschulen leisten können, entsteht kaum Wett-bewerb: Die meisten Eltern haben dann keine Al-ternative. Erst wenn durch staatliche Finanzie-rung alle die gleichen Wahlmöglichkeiten haben,entsteht ein Wettbewerb der Schulen um die bes -ten Konzepte, der allen Schülern zugute kommt.Die Niederlande bieten ein Beispiel für solch einSystem öffentlich finanzierter Privatschulen: Dortbesuchen drei Viertel aller Schüler privat geleite-

te Schulen, die alle die gleiche staatliche Finan-zierung erhalten wie die öffentlich geleitetenSchulen.

Die staatliche Finanzierung von Schulen in priva-ter Trägerschaft kommt besonders denjenigen zu-gute, denen im heutigen Schulsystem keine quali-tativ hochwertige Alternative offen steht.9 Kinderaus sozioökonomisch schwachen Schichten profi-tieren mehr als Kinder aus besser gestelltenSchichten davon, wenn Schulen sowohl in privaterals auch in staatlicher Trägerschaft in Bezug aufdie staatliche Finanzierung gleichgestellt werden.In Ländern, in denen dies der Fall ist, ist die Chan-cengleichheit höher als in Ländern, in denen pri-vat geleitete Schulen auf private Finanzierung bau-en müssen. Ohne die finanzielle Gleichstellungvon staatlich und privat geleiteten Schulen wirddagegen die Schere zwischen Arm und Reich wei-ter aufklappen, weil sich die Bessergestellten ausdem System verabschieden.

Wege zu mehr Chancengleichheit

Neben dem schwachen Leistungsniveau liegt daszweite große deutsche Problem in der großen Un-gleichheit der Leistungen.10 Hier wird jede Mengemenschliches Vermögen vergeudet. Vom Mythos,dass das deutsche Schulsystem allen Kindern, un-abhängig von ihrem Hintergrund, die gleichenChancen eröffnet, muss man sich verabschieden.Die international vergleichenden Untersuchun-gen weisen auf zwei Wege hin, wie sich die Un-gleichheit der Bildungschancen verringern lässt:

� Zum einen sind die Bildungschancen dort aus-geglichener, wo ein ausgebautes System der früh-kindlichen Bildung besteht. Möglichst alle Kinder– gerade auch aus sozial schwachen Schichten –müssen schon in der vorschulischen Phase geför-dert werden.11 Dafür ist in Deutschland weiteresUmdenken notwendig: Um das frühkindliche Po-tenzial des spielenden Lernens auszuschöpfen,dürfen Kindergärten ihre Aufgabe nicht haupt-

8 Siehe etwa Ludger Wößmann, Public-Private Partnerships andStudent Achievement: A Cross-Country Analysis, in: Rajashri Cha-krabarti/Paul E. Peterson (Hrsg.), School Choice International, Cam-bridge, Mass. 2008, Seiten 13–45.

9 Siehe hierzu insbesondere Gabriela Schütz/Martin R. West/ Lud-ger Wößmann, School Accountability, Autonomy, Choice, and theEquity of Student Achievement: International Evidence from PISA2003, OECD Education Working Paper 14, Organisation for EconomicCo-operation and Development, Paris 2007.10 Vgl. Gabriela Schütz/Heinrich W. Ursprung/Ludger Wößmann,Education Policy and Equality of Opportunity, in: Kyklos, Band 61,Heft 2, 2008, Seiten 279–308. 11 Zur Bedeutung der frühkindlichen Bildung vgl. James J. Heckman,Skill Formation and the Economics of Investing in DisadvantagedChild ren, in: Science, Band 312, Heft 5782, 2006, Seiten 1900–1902;Flavio Cunha/James J. Heckman, The Technology of Skill Formation,in: American Economic Review, Band 97, Heft 2, 2007, Seiten 31–47.

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Bildungspolitik

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Probleme der Wirtschaftsordnung

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sächlich in der Betreuung von Kindern sehen, son-dern müssen einen Bildungsauftrag erhalten. Soist es möglich, gerade solchen Kindern die Zu-kunftschancen offen zu halten, die eine gute Lern-grundlage nicht schon von ihrer Familie vermitteltbekommen.

� Zum anderen belegen die Befunde der inter-nationalen Vergleichsstudien, dass die große Un-gleichheit der Bildungsleistungen zu einem er-heblichen Teil darauf zurückzuführen ist, dass dieKinder fast überall in Deutschland schon nach dervierten Klasse in unterschiedliche Schularten auf-geteilt werden. Die Datenlage zeigt, dass eine spä-tere schulische Selektion den Unterschied in denBildungsleistungen von Kindern unterschied-licher sozialer Herkunft am Ende der weiterfüh-renden Schule verringert. Außer in Österreichgibt es kein weiteres Bildungssystem auf der Welt,das die Kinder so früh auf verschiedene Schulty-pen aufteilt wie in Deutschland. Zahlreiche Län-der, die früher ebenfalls eine schulische Selektionin jungen Jahren hatten, wie etwa Finnland, Groß-britannien oder Schweden, haben dies spätestensin den 1970er Jahre aufgegeben.

Erwiesen ist, dass eine solch frühe Selektion ent-scheidend vom sozialen Hintergrund der Schülerabhängt und dem tatsächlichen individuellen Po-tenzial nicht gerecht wird. Auch bei Förderungvon späterer Durchlässigkeit und Ausbau alterna-tiver Wege in die höhere Bildung verstärkt die frü-he Selektion die Ungleichheit der Bildungsleis-tungen – ohne, dass sie zu einer systematischenSteigerung des Leistungsniveaus beitragen wür-de.12 In keinem Land, das sowohl in der Grund-schulstudie IGLU als auch in der Mittelstufenstu-die PISA teilgenommen hat, steigt die Ungleich-heit zwischen dem Ende der Grundschule unddem Ende der Mittelstufe so stark an wie inDeutschland. Eine spätere Aufteilung auf verschie-dene Schulformen würde Chancen für benachtei-ligte Kinder schaffen, und die Besseren würdendabei nicht schlechter abschneiden.

Das Problem der ideologisierten deutschen Bil-dungsdebatten seit den 1960er Jahren lag vor allemdarin, dass die Idee eines integrierenden Systems

gedanklich immer mit der Ablehnung von Leistungund Wettbewerb verbunden wurde. Es ist eine eben-so falsche wie verhängnisvolle Verknüpfung im deut-schen Denken zu meinen, dass gemeinsamer Unter-richt für alle mit einem Absenken des Leistungsan-spruchs einhergehen müsse. Benötigt wird beides –sowohl die Abkehr vom selektiven System als auchklare Leistungsorientierung und Wettbewerb –, da-mit alle Kinder eine gute Bildung erlangen.

Schulpolitische Maßnahmen regelmäßig überprüfen

Eine Bildungspolitik, die allen Kindern gute Start-chancen für einen erfolgreichen Lebensweg bie-tet, ist der zentrale – und in der Ordnungspolitikzu sehr vernachlässigte – Bestandteil einer men-schenwürdigen und freiheitlichen Gesellschafts-ordnung. Weil von ihr abhängt, ob die Menschendie Möglichkeit haben, eigenverantwortlich diesich in einer freien Gesellschaft ergebenden Chan-cen zu nutzen, ist Bildungspolitik als Instrumentzur Herstellung gleicher Startchancen eine zentra-le Säule der modernen Sozialen Marktwirtschaft.Und deshalb kann der Staat die Sicherstellunggleicher Bildungschancen nicht aus seiner Verant-wortung geben.

Dieser Verantwortung wird er aber nicht einfachdurch mehr Geld, sondern nur durch das Setzenbesserer Rahmenbedingungen gerecht. Wesent-lich für eine erfolgreiche Schulpolitik sind darü-ber hinaus eine höhere Experimentierfreude unddass die Ergebnisse von Reformen wissenschaftlichüberprüft werden. Seit den 1960er Jahren hat dasdeutsche Bildungssystem unzählige Bildungsrefor-men durchlebt, doch am Leistungsniveau derSchüler scheint das wenig geändert zu haben. Undes ist noch nicht einmal bekannt, welche Refor-men möglicherweise positive, negative oder garkeine Effekte auf das Erlernte der Schüler hatten– denn das wurde nie überprüft. Je mehr man sichin Zukunft auf eine regelmäßige Überprüfung derWirkung schulpolitischer Maßnahmen einlässt,desto eher werden die Kinder in Schulen aufwach-sen, die ihr Potenzial bestmöglich fördern. So kön-nen die Schulen selbst zu lernenden Einrichtun-gen werden. �

12 Siehe überblicksartig Ludger Wößmann, Beeinflusst Bildungsse-lektion Bildungsergebnisse und Ungleichheit? Internationale und na-tionale Evidenz, erscheint in: Martin Held/Gisela Kubon-Gilke/Richard Sturn (Hrsg.), Jahrbuch Normative und institutionelleGrundfragen der Ökonomik, Band 8: Bildungsökonomie in der Wis-sensgesellschaft, Marburg 2009; Eric A. Hanushek/Ludger Wöß-mann, Does Educational Tracking Affect Performance and Inequa-lity? Differences-in-Differences Evidence across Countries, in:Economic Journal, Band 116, Heft 510, 2006, Seiten C63–C76.

Literaturhinweis

Ludger Wößmann, Letzte Chance für gute Schu-len: Die 12 großen Irrtümer und was wir wirk-lich ändern müssen, München 2007.

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In Großbritannien ist die Wahrnehmung der deut-schen Wirtschaftspolitik wesentlich durch die ei-gene wirtschaftliche Lage geprägt: Bis in die frü-hen 1990er Jahre galt Deutschland gemeinhin alsdas Musterland des Wirtschaftswunders.1 Die leis-tungsfähige Infrastruktur, das hohe Maß an sozia-lem Frieden dank Mitbestimmung und Branchen-tarifverträgen, die gut ausgebildeten Fachkräftesowie die ausreichende Kreditversorgung derUnternehmen über das Hausbankensystem bilde-ten die Grundlage für die Entstehung wettbe-werbsfähiger Industrien.2 Insbesondere der starke,exportorientierte Mittelstand als Rückgrat derdeutschen Wirtschaft bot Anlass für Bewunderungund Respekt. Dies galt umso mehr, als der Wieder-aufbau nach dem Krieg in relativ kurzer Zeit undaus den Ruinen eines wirtschaftlich und politischvöllig zerstörten Landes gelang.

Großbritannien erlebte nach dem Zweiten Welt-krieg eine gegenteilige Entwicklung: Das Land war1945 im Prinzip bankrott. In den ersten Nach-kriegsjahren fiel es im Vergleich zu Kontinentaleu-ropa wirtschaftlich zurück. Anfängliche Versuche,die Wettbewerbsfähigkeit des britischen verarbei-

tenden Gewerbes zu stärken, scheiterten an demInvestitionsmangel, einem zu geringen Qualifika-tionsniveau der Beschäftigten, übermächtigen Ge-werkschaften und einem schwachen Managementin den Unternehmen. Auf gesamtwirtschaftlicherEbene herrschte insbesondere in den 1970er Jah-ren eine tiefe Verunsicherung durch Zahlungsbi-lanz- und Währungskrisen, hohe Inflation sowieStagnation. Den Höhepunkt des Niedergangs bil-dete der „Winter of Discontent“ 1978/79.

Auch in den ersten Regierungsjahren von Pre-mierministerin Margaret Thatcher änderte sich ander Einschätzung der deutschen Wirtschaftsstärkewenig: Trotz einschneidender Reformen und ers -ter sichtbarer Erfolge – von 1979 bis 1990 wuchsdie britische Wirtschaft um mehr als ein Viertel –ging von der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin ei-ne große Faszination aus.3 Vor diesem Hinter-grund ist auch die skeptische Haltung Thatcherszur deutschen Wiedervereinigung zu sehen:Deutschland drohte, Europa nicht nur als wirt-schaftlicher Riese, sondern fortan auch als politi-sches Schwergewicht zu dominieren.

Besonders deutlich – wenn auch zum Teil erst imRückblick – wird die britische Beurteilung derökonomischen Machtverhältnisse am Beispiel desEuropäischen Währungssystems (EWS): Der Wirt-schaftsjournalist David Smith beschreibt den EWS-Beitritt des Pfund Sterlings im Jahr 1990 als den

Die deutsche Wirtschaftspolitikim Spiegel britischer BefindlichkeitDr. Rainer Hillebrand/Prof. William E. PatersonInstitute for German Studies, University of Birmingham

Der rheinische Kapitalismus und das angelsächsische Wirtschaftsmodell gelten in der britischen Wahrnehmung oftmals

als Gegenpole. Das deutsche Wirtschaftssystem wurde lange als industrielles Erfolgsmodell bewundert. In den letzten

anderthalb Jahrzehnten trübte sich das Bild ein – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der boomenden Wirtschaft im Ver-

einigten Königreich. Insgesamt scheint die britische Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland im Hinblick

auf das Potenzial der Sozialen Marktwirtschaft optimistischer zu sein als die deutsche Einschätzung.

3 Allerdings gab es Ende der 1980er Jahre erste kritische Kom-mentare. So schrieb die liberale Wochenzeitschrift The Economist,dass Deutschland in den 1980er Jahren unter seinem ökonomischenPotenzial geblieben sei und im Vergleich zu seinen europäischenNachbarn „krank“ wirke, vgl. Wunderkind at 40, The Economist vom7. Mai 1988.

1 Vgl. hierzu unter anderem Kenneth Dyson/Stephen Padgett, In-troduction: Global, Rhineland or Hybrid Capitalism, in: German Poli-tics, Volume 14, Nr. 2, 2005, Seiten 115–124; David Smith, Will Eu-rope Work?, London 1999; Rebecca Harding, The UnmovableElephant: Germany and the UK’s Competitiveness Jungle, in: SimonGreen und Edward Turner (Hrsg.), Policy Convergence in the UK andGermany, Special Issue, German Politics, Volume 16, Nr. 1, 2007,Seiten 137–149.2 In seinem in den 1990er Jahren viel diskutierten Buch „The StateWe‘re in“ weist Will Hutton insbesondere auf die mangelhafte Ver-sorgung der britischen Industrie mit Finanzmitteln durch die heimi-sche Finanzwirtschaft hin. Letztere ist vor allem auf kurzfristige Ren-diten aus, was zu einer Vernachlässigung der Finanzierung von sicherst langfristig amortisierenden Investitionen geführt hat; vgl. WillHutton, The State We‘re in, London 1995.

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Gipfel der „britischen Unterwürfigkeit gegenüberdem deutschen Wirtschaftsgiganten“.4 Sein Kolle-ge Anatole Kaletsky vergleicht ihn mit der Unter-ordnung der britischen Außenpolitik unter US-Primat infolge des 11. September 2001.5 Die Bin-dung der eigenen Währung im EWS schien dem-nach wie das Eingeständnis, die Lage selbst nichtmehr unter Kontrolle zu haben und mithin dasRuder an Deutschland übergeben zu müssen.

Umkehrung der ökonomischen Machtverhältnisse

Einen Wendepunkt in der britischen Wirtschafts-politik bildet der „Schwarze Mittwoch“ am 16. Sep-tember 1992. Das britische Finanzministeriumund die Bank of England konnten das britischePfund nicht länger gegen den Abwertungsdruckder Märkte verteidigen, und der Sterling mussteaus dem EWS ausscheren. Für das Scheitern wur-den unter anderem die Politik in Frankfurt (Deut-sche Bundesbank) und Bonn (Bundesfinanzmi-nisterium) verantwortlich gemacht: Die deutscheGeldpolitik hatte – getreu ihrer Stabilitätsver-pflichtung – die Leitzinsen erhöht, um die auf-kommende Inflation infolge der Wiedervereini-gung und der expansiven Fiskalpolitik im Keim zuersticken. Großbritannien reagierte ebenfalls mitZinserhöhungen auf bis zu 15 Prozent, war aberschließlich machtlos.

Was zunächst wie ein Fiasko für Großbritannienaussah, erwies sich im Nachhinein als Segen: Dieständige Inflationsgefahr konnte besiegt sowie dieHerrschaft über die eigene Geld- und Wirtschafts-politik wiedergewonnen werden. In der Folge ent-faltete sich der längste Aufschwung der jüngerenbritischen Wirtschaftsgeschichte. Die Reformender Thatcher-Jahre – etwa die Deregulierung derLondoner Finanzwirtschaft im Jahr 1986, die zu ei-nem Boom im Finanzdienstleistungssektor führte,zeigten Wirkung. Die Arbeitslosenquote halbiertesich von fast zehn Prozent im Jahr 1993 auf unterfünf Prozent zur Mitte dieses Jahrzehnts. Die Be-schäftigung vor allem im Niedriglohnsektor stieg,und das Wirtschaftswachstum lag regelmäßig überden kontinentaleuropäischen Vergleichswerten.Nicht ohne Stolz wird immer wieder betont, dassGroßbritannien Länder wie Italien, Frankreichund Deutschland beim Pro-Kopf-Einkommenüberholen konnte. Deutschland erbte den Titeldes „kranken Mannes von Europa“ und galt als

„Inbegriff des sklerotischen europäischen Mo-dells“6 mit aufgeblähtem öffentlichen und über-großem industriellen Sektor. Es wurde immer häu-figer mit dem Großbritannien der 1970er oderdem Japan der 1990er Jahre verglichen.

Im Vereinigten Königreich machte sich eine ge-wisse Selbstgefälligkeit breit, und die Umkehrungder wirtschaftlichen Verhältnisse wurde nicht ohneSchadenfreude registriert. Der Economist wähltefür seine Deutschland-Artikel Überschriften wie„Ein schwacher Riese“ oder „Ist die DeutschlandAG kaputt?“7 The Sunday Times titelte im Juni2004: „Die Großbritannien AG hat das Sagen – werbraucht Europa?“8 Mit Genugtuung wurde imGuardian bemerkt, dass BundesbankpräsidentAxel Weber die britische Reformpolitik als wegwei-send für Deutschland bezeichnete.9

Auch in der wissenschaftlichen Debatte setzte sichdie Einschätzung durch, dass das Vereinigte Kö-nigreich der „flexible, Beschäftigung schaffendeAnführer“ und Deutschland der „inflexible, Ar-beitslosigkeit schaffende Nachzügler“ sei.10

Deutsch lands Industrielastigkeit wirkte angesichtsder scheinbar unschlagbaren Konkurrenz aus denasiatischen Schwellenländern antiquiert, die deut-sche Wirtschaftsstruktur galt als in der Globalisie-rung auf Dauer nicht überlebensfähig. Großbri-tannien dagegen – so die Einschätzung – hatte sichder verarbeitenden Industrie vorausschauend ent-ledigt und entwickelte sich mit seinen flexiblen Ar-beitsmärkten und der Fokussierung auf Dienstleis-tungen zum Maßstab für erfolgreiche Wirtschafts-politik im Zeitalter der Globalisierung.

Krisensymptome der Sozialen Marktwirtschaft

Die Schlagworte, mit denen die gesamtwirtschaft-liche Leistungsschwäche in Deutschland umrissenwird, sind auf beiden Seiten des Ärmelkanalsgleich:11 geringe wirtschaftliche Dynamik, hoheund verfestigte Arbeitslosigkeit, defizitäre öffentli-

4 The Sunday Times vom 20. Juni 2004.5 The Times vom 29. Juni 2006.

6 The Observer vom 15. Januar 2006.7 The Economist vom 5. Dezember 2002.8 The Sunday Times vom 20. Juni 2004.9 The Guardian vom 10. September 2005.10 Vgl. Louise Amoore, The Tale of the Hare and the Tortoise: Glo-balisation and the Restructuring of the German Model, in: RebeccaHarding/William E. Paterson (Hrsg.), The Future of the German Eco-nomy, Manchester 2000, Seite 57.11 Vgl. Matthew C. Allen, The Varieties of Capitalism Paradigm: Ex-plaining Germany’s Comparative Advantage?, Basingstoke 2006, Sei-ten 2 f.; Richard Deeg, The Comeback of Modell Deutschland? TheNew German Political Economy in the EU, in: German Politics, Vo-lume 14, Nr. 3, 2005, Seiten 332 f.

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Außenansicht

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che Haushalte und Sozialversicherungssysteme,ein vergleichsweise geringer Zufluss an Direktin-vestitionen sowie zahlreiche Produktionsverlage-rungen ins Ausland. Vertreter der sogenannten„Crisis“- oder „Declinist“-Literatur und weite Teileder britischen Presse sehen – vor dem Hinter-grund des eigenen angelsächsischen Modells – dieUrsachen für die Dauerkrise des StandortsDeutschland in Inflexibilitäten und Reformblo-ckaden auf der Angebotsseite der Volkswirtschaft.

Demnach behindern stark regulierte Arbeitsmärk-te, ein überdimensionierter Wohlfahrtsstaat sowieein zu hohes Regulierungs- und Bürokratieniveaudie Selbstheilungskräfte des Marktes. Hinzukommt ein ausgeprägtes Besitzstandsdenken, dasdie stellvertretende Direktorin des Centre for Eu-ropean Reform in London, Katinka Barysch, wiefolgt umschreibt: „Erwartet werden sichere, gutbezahlte Jobs mit vielen Urlaubstagen und kurzenArbeitszeiten sowie ein starkes soziales Sicherungs-netz.“12 Die Folge sind international nicht wettbe-werbsfähige Lohnkosten, die auch durch die hö-here Produktivität nicht kompensiert werden kön-nen. Der britische Wirtschaftshistoriker Niall Fer-guson fasst zusammen: Was Deutschland fehle,seien die Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformender 1980er Jahre, wie sie Großbritannien und dieUSA unter Premierministerin Thatcher und Präsi-dent Reagan erlebt haben. Bundeskanzler Kohl ha-be wirtschaftspolitisch hingegen den Weg des ge-ringsten Widerstands gewählt.13

Den Mangel an einschneidenden Strukturrefor-men in Deutschland erklären britische Wissen-schaftler mit dem Ausbleiben einer tief greifendenökonomischen und politischen Krise nach demZweiten Weltkrieg.14 Während Großbritannien En-de der 1970er Jahre und Frankreich in den frühen1980er Jahren zu einem radikalen wirtschaftspoli-tischen Kurswechsel gezwungen waren, vollzogsich der wirtschaftliche Abstieg Deutschlands gra-dueller. Die individuelle monetäre Lage vieler Bür-ger ist bis heute vergleichsweise gut, sodass radika-le Reformen vor allem Angst vor dem Verlust liebgewonnener Privilegien auslösen.

Zugleich fördert das komplizierte föderale Systemder Bundesrepublik mit seiner zentralen Rolle vonpolitischen Parteien und halbstaatlichen Institu-tionen – in der englischsprachigen Literatur als„semi-souveränes Staatsmodell“ bezeichnet – Kon-

senszwang und kleinschrittige Politik.15 Entspre-chend bleiben durchgreifende Reformen aus. AusSicht der „Declinist“-Kommentatoren wird sichDeutschland dennoch einer Stärkung der Markt-institutionen und einem Abbau staatlicher Inter-ventionen auf Dauer nicht entziehen können. Derverschärfte internationale Wettbewerb im Zugeder Globalisierung werde unweigerlich eine Kon-vergenz des deutschen Wirtschaftsmodells hinzum dominanten neoliberalen System angelsächsi-scher Prägung erzwingen.

Die deutsche Wiedervereinigung als Krisenursache

Während die wirtschaftspolitische Diskussion inDeutschland häufig um die Bedeutung der institu-tionellen Starrheiten kreist, ist der britische Erklä-rungsansatz insgesamt breiter angelegt: So werdendie in Deutschland als Krisenverstärker beinahe ta-buisierten externen Schocks der Wiedervereini-gung und der Euro-Einführung als weitere Ursa-chen der gesamtwirtschaftlichen Problemlage re-gelmäßig mit in Betracht gezogen.

Das Centre for European Reform etwa sieht den„Wiedervereinigungs-Kater“ als das Hauptprob -lem Deutschlands an: „Der Schock, eine Volkswirt-schaft mit 16 Millionen Menschen, Tausenden vonveralteten Fabriken und einem Vermächtnis von40 Jahren Planwirtschaft zu absorbieren, hätte je-des Land in die Knie gezwungen. Aber im Fall derdeutschen Wiedervereinigung kam zu allem Übeleine Serie von schweren Politikfehlern hinzu.“16

Hierzu zählt das Institut den politisch motivierten1:1-Umtauschkurs von Ost- zu D-Mark, der denehemaligen DDR-Bürgern eine enorme Kaufkraftbescherte, zugleich aber der ostdeutschen Wirt-schaft erhebliche Wettbewerbsnachteile brachte.Als noch schädlicher wird die von den Tarifpar-teien der alten Bundesrepublik getriebene schnel-le Angleichung der ostdeutschen Löhne an dasWestniveau beurteilt – trotz massiven Produktivi-tätsgefälles zwischen West und Ost. Auch der übermehrere Jahrzehnte immer weiter ausgebautewestdeutsche Wohlfahrtsstaat wurde dem Ostengleichsam übergestülpt.

12 The Observer vom 7. November 2004.13 The Sunday Times vom 24. November 2004.14 Vgl. Kenneth Dyson/Stephen Padgett, a. a. O., Seite 116.

15 Vgl. hierzu den Sammelband von Simon Green/William E. Pa-terson (Hrsg.), Governance in Contemporary Germany: The Semi-sovereign State Revisited, Cambridge 2005.16 Vgl. Katinka Barysch, Germany – the sick man of Europe?, Cen-tre for European Reform policy brief, Dezember 2003, London, Seite1. Auch The Economist (zum Beispiel in der Ausgabe vom 18. Au-gust 2005) sieht eine wichtige Ursache der „deutschen Krankheit“in den Folgen der Wiedervereinigung.

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Kommentare aus Großbritannien

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Die Folgen dieser Entwicklungen waren der Zu-sammenbruch der Produktion und ein massiverAnstieg der Arbeitslosigkeit in den neuen Län-dern. Um die Transfers und die öffentlichen In-vestitionen in Ostdeutschland zu finanzieren, er-höhte sich die gesamtdeutsche Steuer- und Abga-benlast erheblich und die öffentlichen Haushalterutschten massiv ins Minus. Die Lohnnebenkostenstiegen, was die Konkurrenzfähigkeit auch derwestdeutschen Unternehmen beeinträchtigte undmit einem breit angelegten Personalabbau kom-pensiert wurde. Anders als noch von Premiermi-nisterin Thatcher befürchtet, entwickelte sichDeutschland nicht zur europäischen Supermacht,sondern wurde eher zum Problemfall.

Die Euro-Einführung: Geldpolitik jenseits deutscher Kontrolle

Ein zweiter Hemmschuh für die deutsche Volks-wirtschaft ist aus angelsächsischer Sicht der Euro –in dieser Einschätzung spiegelt sich nicht zuletztauch die kritische Haltung vieler Briten zur euro-päischen Gemeinschaftswährung wider. Der re-nommierte britische Journalist und Autor DavidMarsh sieht in der Fixierung des DM-Wechselkur-ses mit anderen europäischen Währungen – wennauch zu einem zu hohen Eintrittskurs – die Vortei-le einer verringerten Anfälligkeit der deutschenExportwirtschaft für Wechselkursschwankungen.17

Frankreich, Spanien oder Italien ist dadurch zumBeispiel die Möglichkeit genommen, durch eineAbwertung die Wettbewerbsfähigkeit der eigenengegenüber der deutschen Industrie zu verbessern.

Auf der anderen Seite wurde die deutsche Wirt-schaft ihres relativen Zinsvorteils gegenüber denehemaligen Hochzinsländern in der Eurozone be-raubt. Entscheidend sei darüber hinaus – so dieEuropa-Volkswirte David Mackie und Silvia Pepinovon der Investmentbank JP Morgan –, dassDeutschland durch die monetäre Integration inEuropa die Herrschaft über wichtige Politikinstru-mente wie die Geld- und Wechselkurspolitik verlo-ren habe. Die Europäische Zentralbank müsse beiihren geldpolitischen Entscheidungen auftragsge-mäß die makroökonomischen Bedingungen undinsbesondere die Preisstabilität in der gesamtenEurozone im Blick haben. Die Folge seien zu hoheLeitzinsen für die durch niedrige Inflation und ei-

ne schwache Binnennachfrage gekennzeichnetedeutsche Volkswirtschaft.18

Verschärft wird die „Handlungsunfähigkeit“ deut-scher Politik durch den Stabilitäts- und Wachstums -pakt, der – darauf weisen britische Kommentato-ren oftmals hin – ironischerweise erst auf massivesDrängen Deutschlands zustande kam. Mit derObergrenze eines sanktionsfreien Gesamtstaatsde-fizits von maximal drei Prozent des Bruttoinlands-produkts sind der Politik fiskalpolitische Grenzengesetzt. Während die britische Politik flexibler aufdie konjunkturelle Lage reagieren kann, istDeutschland der Weg einer ausgeprägten antizyk -lischen Wirtschaftspolitik verwehrt. So beschreibtetwa Kenneth Dyson von der Cardiff University diedeutsche Fiskalpolitik nach dem Ende des New-Economy-Booms um die Jahrhundertwende alsunangemessen deflatorisch und prozyklisch.19

Teil der britischen Wahrnehmung: Die Stärken der deutschen Wirtschaft

Über die Analyse der Krisenursachen hinaus war-nen einige britische Experten allerdings bereitsseit Längerem davor, allein China und Indien alsProduktionsstandorte der Zukunft zu betrachtenund dabei die Vitalität der deutschen Wirtschaftzu unterschätzen. Mit Begriffen wie „janusköpfigesProfil“20 oder „Performance Paradoxon“21 um-schreiben sie die scheinbare Widersprüchlichkeitvon unübersehbaren makroökonomischen Schwä-chen und gleichzeitig vorhandenen mikroökono-mischen Stärken. Die Stärken kommen etwa in derVielzahl international erfolgreicher deutscherUnternehmen, in dem im Vergleich zu Großbri-tannien höheren Ausbildungs- und Produktivitäts-niveau und in den nach wie vor bewunderten Ex-porterfolgen zum Ausdruck.

Anerkannt wird, dass sich die deutschen Unter-nehmen in den letzten Jahren unter dem Druckder Internationalisierung der Finanz- und Güter-märkte verstärkt auf den Weltmarkt ausgerichtethaben. Die engen finanziellen und personellenVerflechtungen der alten Deutschland AG sind –unterstützt durch eine Reihe von Finanzmarkt-und Corporate-Governance-Gesetzen sowie die

17 Vgl. David Marsh, A Pattern of Light and Shade for the GermanEconomy, in: Rebecca Harding/William E. Paterson (Hrsg.), The Fu-ture of the German Economy, Manchester 2000, Seite 72.

18 Financial Times vom 27. Februar 2003.19 Vgl. Kenneth Dyson, Economic Policy Management: CatastrophicEquilibrium, Tipping Points and Crisis Intervention, in: SimonGreen/William E. Paterson (Hrsg.), a. a. O., Seite 124.20 Kenneth Dyson/Stephen Padgett, a. a. O., Seite 116.21 Rebecca Harding, Standort Deutschland: An End to the EconomicMiracle?, in: German Politics, Volume 8, Nr. 1, 1999, Seiten 66–88.

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Unternehmensteuerreform 2000 – einer Interna-tionalisierung der Kapitalgeber und der Manage-mentkultur gewichen.22 Unrentable Teile derWertschöpfungskette wurden vielfach ausgelagertund die Branchentarifverträge durch betrieblicheÖffnungsklauseln flexibilisiert. Die Politik derLohnzurückhaltung durch die Tarifpartner –nicht zuletzt unter Hinweis der Arbeitgeber aufmögliche Arbeitsplatzverlagerungen nach Osteu-ropa oder Asien – führte zu sinkenden Lohnstück-kosten und damit zu Produktionskostenvorteilengegenüber ausländischen Konkurrenten.

Innovationsstandort Deutschland

Rebecca Harding von der London Business Schoolund andere verweisen zudem auf die hochgradigleistungsfähige Innovationslandschaft in Deutsch-land.23 Ihre Kennzeichen seien das enorme Poten-zial hoch qualifizierter Arbeitskräfte, langfristigzur Verfügung stehendes Kapital gerade auch fürUnternehmensneugründer, eine enge Verzah-nung von öffentlichen und privaten Akteuren invitalen Forschungsnetzwerken sowie große Anpas-sungsfähigkeit aller Beteiligten innerhalb der ins -titutionellen Strukturen. Auf dieser Grundlage ha-ben deutsche Unternehmen im Maschinenbau, inder Automobil- oder Chemieindustrie immer wie-der qualitativ hochwertige, technologieintensiveGüter entwickelt und auf den Markt gebracht.

Der Blick auf diese mikroökonomischen Struktu-ren der deutschen Wirtschaft gibt britischen Ex-perten Anlass zu Optimismus und Glauben an dieZukunftsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsmo-dells. Gerade in Zeiten der Globalisierung seiendie enge Netzwerkbildung, die Technologiefokus-sierung und die weitgehende Spezialisierung un-schätzbare Vorteile. Richard Milne und Daniel Schä-fer verweisen zudem auf die große Bedeutung derfinanzstarken deutschen Familienunternehmen,die sich nicht dem Diktat der Finanzmärkte beu-gen müssen, sondern langfristige Investitionspro-jekte verfolgen können. So konnten sie sich inzahlreichen Nischenmärkten als Weltmarktführeretablieren.24

Die Betonung dieser in der deutschen Öffentlich-keit oftmals weniger beachteten Stärken lässt sicherneut vor dem Hintergrund der eigenen briti-

schen Schwachstellen erklären: Beklagt werdenjenseits des Ärmelkanals die unzureichende inter-nationale Wettbewerbsfähigkeit der verbliebenenIndustrie, die stärkere Fokussierung auf schnelleGewinne, das vergleichsweise geringe Niveau öf-fentlicher Investitionen in Forschung und Ent-wicklung sowie die Schwächen in der Ausbildungvon Fachkräften. Während die Bedeutung des bri-tischen verarbeitenden Gewerbes – weiter belastetdurch das bis zuletzt starke Pfund – unaufhaltsamzu schrumpfen scheint, feiert die deutsche Indus-trie Weltmarkterfolge.

Agenda 2010 als erster Schritt in die richtige Richtung

Nichtsdestotrotz empfehlen auch die Optimistenunter den britischen Beobachtern politischeStrukturreformen. Arbeitslosigkeit, öffentlicheDefizite und nicht haltbare Wohlfahrtssystemesind demnach Zeichen dafür, dass Deutschlandhinter seinen Möglichkeiten bleibt. Die wirtschaft-liche Erholung seit 2005 ist vor allem auf die unter-nehmerischen Kostensenkungsprogramme unddie gute weltwirtschaftliche Lage zurückzuführen.Das Potenzialwachstum bleibt hingegen gering.Dem exportgetriebenen Wachstum und den Han-delsüberschüssen in Deutschland stehen auf Dau-er nicht tragbare Handelsdefizite in anderen Län-dern gegenüber. Simon Tilford vom Centre for Eu-ropean Reform fordert daher von Deutschland ei-nen Beitrag zur Verbesserung der Wirtschaftslagedurch flexiblere und wettbewerbsfähigere Arbeits-und Produktmärkte, die zu mehr Beschäftigungund damit mehr heimischer Nachfrage führenkönnen.25

Die von der rot-grünen Bundesregierung angesto-ßenen Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreformen derAgenda 2010 werden insgesamt als ein wichtigerSchritt in die richtige Richtung bewertet. Die briti-sche Rundfunkanstalt BBC kommentierte dieSchröderschen Reformen mit den Worten: „ZwanzigJahre des Nichtstuns sind vorbei“;26 David Smith be-zeichnete sie als wichtigen Beitrag zur Überwin-dung der Sklerosis.27 Der Economist betonte, dassdie Agenda 2010 die ersten Arbeitsmarktreformenin der Bundesrepublik seien, die diesen Namenwirklich verdient hätten.28

22 Vgl. Richard Deeg, a. a. O., Seiten 333–346.23 Vgl. Rebecca Harding, The Unmovable, a. a. O.; Rebecca Har-ding/David Soskice, The end of the innovation economy?, in: Rebe-cca Harding/William E. Paterson (Hrsg.), a. a. O., Seite 83.24 Financial Times vom 25. Juli 2008.

25 Vgl. Simon Tilford, Time for the Export-Weltmeister to start con-suming, http://centreforeuropeanreform.blogspot.com, Blog-Bei-trag vom 13. Februar 2008.26 Vgl. Tim Weber, Germany inches towards reform, BBC News On-line, http://www.bbc.co.uk vom 17. Oktober 2003.27 The Sunday Times vom 18. September 2005.28 The Economist vom 18. August 2005.

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Dennoch gibt es auch kritische Stimmen. So be-zeichnet der Frankfurter Bürochef der FinancialTimes, Ralph Atkins, die Agenda 2010 als „bruch-stückhaft“.29 Weit verbreitet ist die Einschätzung,dass die Agenda-Reformen zu kurz greifen und zuspät kamen. Zudem wird die mangelhafte Flankie-rung durch eine gesamtwirtschaftliche Nachfrage-politik beklagt. So seien – begründet nicht zuletztdurch das enge finanz- und geldpolitische Korsettder Europäischen Wirtschafts- und Währungs-union, wie The-Times-Kommentator Anatole Ka-letsky bemerkt30 – die kurzfristigen Negativeffekte,zum Beispiel auf die Zahl der registrierten Arbeits-losen, verstärkt und die Stimmung massiv ver-schlechtert worden.

Wirtschaftliche Erholung Deutschlands im britischen Interesse

Auch die bisherige Bilanz der Großen Koalitionunter Bundeskanzlerin Angela Merkel fällt aus briti-scher Sicht gemischt aus: Positiv werden die ersteStufe der Föderalismusreform, die Unternehmen-steuerreform, die Heraufsetzung des Rentenein-trittsalters und die Rückkehr zur Haushaltsdiszi-plin bewertet.31 Kritisch hingegen werden die Ver-wässerung der Gesundheitsreform oder die „Rollerückwärts“ bei der Bezugsdauer der Arbeitslosen-unterstützung für ältere Arbeitnehmer gesehen.

Insbesondere aus wirtschaftsliberaler Sicht – so et-wa die Einschätzung des Economist32 – scheine es,als ob die deutsche Politik angesichts des öffent-lichen Reformgegenwinds „die Nerven verliert“und dringend benötigte Strukturmaßnahmen aufdem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und inden Systemen der sozialen Sicherung auf die langeBank schiebt. Fast schon ungeduldig wird ange-merkt, dass der Leidensdruck offenbar nicht großgenug sei und durch die verbesserte konjunkturel-le Lage weiter abgeschwächt werde. Als ein weite-res Risiko für den wirtschaftspolitischen Moderni-sierungskurs gilt in britischen Diskussionen derLinksruck im politischen Parteiengefüge: Durchdas Erstarken der Linkspartei und nach den ein-schlägigen Negativerfahrungen von CDU/CSUmit ihrem Wahlkampf 2005 scheint sich der Re-formhunger der politisch Verantwortlichen merk-lich abgeschwächt zu haben.

Insgesamt hat Großbritannien großes Interesse aneiner dauerhaft gesundeten deutschen Wirtschaft.Zum einen ist dies politisch wichtig: WährendFrankreich als der natürliche europäische An-sprechpartner in der Außen- und Sicherheitspoli-tik gilt, kommt Deutschland nach Einschätzungvon Financial-Times-Kommentator Philip Stephensdiese Rolle in der Handels- und Wirtschaftspolitikzu.33 Deutschlands wirtschaftliche Stärke hat zu-dem immer wieder geholfen, Verhandlungsab-schlüsse auf EU- oder internationaler Ebene durchfinanzielle Zugeständnisse zu erleichtern. Darüberhinaus betont die Confederation of British Indus-try, dass die konjunkturelle Lage in Deutschlandals dem zweitwichtigsten Handelspartner nachden USA erheblichen Einfluss auf den britischenAußenhandel hat.34 Das Centre for European Re-form weist auf die große Bedeutung der deutschenVolkswirtschaft für die nähere Zukunft hin: Wennes in den bisherigen Boom-Ländern wie Spanienund Großbritannien zu einem massiven Nachfra-geausfall infolge der Finanzmarktturbulenzenkomme, müsse Deutschland als Konjunkturloko-motive einspringen – hierzu dürfte es aufgrundder noch zu schwachen heimischen Nachfragederzeit jedoch nur bedingt in der Lage sein.35

Erneute Kehrtwende in der Wahrnehmungdeutscher Wirtschaftspolitik?

Seit dem Ausbruch der internationalen Finanz-marktkrise steht die Beurteilung der deutschenWirtschaftspolitik auch in der breiteren britischenÖffentlichkeit zunehmend vor einer erneutenWende. Ausschlaggebend hierfür ist – wie bereitsin früheren Fällen – die Veränderung der eigenenwirtschaftlichen Lage: So spricht die British Cham-ber of Commerce mittlerweile von einem „ernst-haften Rezessionsrisiko“.36 Der Economist vom5. Juli 2008 beschwört auf seiner Titelseite „Groß-britanniens versinkende Wirtschaft“: Nach 16Wachstumsjahren drohe der britischen Wirtschaftder Absturz. Auch wenn grundsätzlich alle Staatender Kreditkrise, einer sich abschwächenden Welt-konjunktur und global zunehmenden Inflations-sorgen ausgesetzt seien, treffe es Großbritannien

29 Financial Times vom 23. Juli 2007.30 The Times vom 22. September 2005.31 Zum Beispiel Financial Times vom 10. Juni 2008.32 The Economist vom 19. Dezember 2007.

33 Financial Times vom 18. März 2008.34 Vgl. Confederation of British Industry (CBI), Surveying Germany:where next?, Economic Bulletin, November 2002, Seite 1.35 Vgl. Katinka Barysch/Simon Tilford/Philip Whyte, The LisbonScorecard VIII: Is Europe ready for an economic storm?, Centre forEuropean Reform, London 2008.36 British Chamber of Commerce, Alarming results highlight se-rious risks of UK recession, Pressemitteilung vom 8. Juli 2008,http://www.britishchambers.org.uk.

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härter als andere Industrieländer:37 Die Immobi-lienblase habe hier größere Ausmaße angenom-men als anderswo. Nach den konsumgetriebenenBoom-Jahren seien die Haushalte im VereinigtenKönigreich höher verschuldet als auf dem Konti-nent, und die Londoner City als Wachstumstreibersei durch die internationale Finanzmarktkrise na-turgemäß besonders beeinträchtigt. Die lange alsüberlegen erachtete Strategie, einseitig auf (Fi-nanz-)Dienstleistungen zu setzen und die verar-beitende Industrie zu vernachlässigen, erscheintvor diesem Hintergrund in einem zunehmend ne-gativen Licht.

Deutschland gibt hingegen ein anderes Bild ab.Aus Sicht der Financial Times hat sich das als ver-altet und ineffizient verschriene Modell der Sozia-len Marktwirtschaft als erstaunlich widerstandsfä-hig erwiesen.38 Im ersten Quartal 2008 fiel dasWirtschaftswachstum mit 1,5 Prozent gegenüberdem Vorquartal unerwartet stark aus, und die Ar-beitslosigkeit erreichte Mitte 2008 ein 15-Jahres-Tief. Aufgrund seiner diversifizierteren Wirt-schaftsstruktur, der Spezialisierung auf technolo-giebasierte Exportgüter und des intensiven Han-dels mit den weiterhin boomenden Wachstums-märkten in Asien scheint es der größten Volkswirt-schaft auf dem Kontinent eher zu gelingen, sichvon den Einbrüchen auf den globalen Märktenunabhängig zu machen. Hamish McRae von The

Independent sieht Deutschland entsprechend „alsklaren Gewinner“ unter den Industrienationen.39

Deutschland und Großbritannien vor den gleichen Herausforderungen

Jenseits aller phasenweisen Leistungsunterschiedestehen die britische und die deutsche Volkswirt-schaft vor den gleichen Herausforderungen: Wiekann auf die demographische Entwicklung unddie Überalterung der jeweiligen Bevölkerung rea-giert werden? Wie ist neuen Energie- und Umwelt-risiken zu begegnen, ohne wirtschaftliches Wachs-tum abzuwürgen? Wie lässt sich die Wettbewerbs-fähigkeit der Wirtschaft angesichts neuer Konkur-renten in China, Indien oder Osteuropa bewah-ren? Wie kann der Lebensstandard der eigenenBevölkerung gesichert werden? Ob sich im Zeital-ter der Globalisierung der im Modell Deutschlandangelegte langsamere und schrittweise Wandeloder die flexiblere angelsächsische Art als Erfolgversprechender erweisen werden, oder inwieweitbeide dauerhaft nebeneinander bestehen können,wird die Zukunft zeigen. Die Polarität und Spie-gelbildlichkeit von rheinischem Kapitalismus undangelsächsischem Wirtschaftsmodell sorgen in je-dem Fall für politischen und wissenschaftlichenGesprächsstoff. Von diesem Wettbewerb der Ideenkönnen beide Länder nur profitieren. �

37 Auf die Folgen einer globalen Finanzmarktkrise für Großbritan-nien und die Anfälligkeit der britischen Wirtschaft wies die Politik-wissenschaftlerin Louise Amoore bereits im Jahr 2000 hin. Das deut-sche Wirtschaftssystem kennzeichnete sie als „langsamer“, aberauch als „widerstandsfähiger“ gegenüber globalen Trends; vgl. Louise Amoore, a. a. O., Seite 63.38 Financial Times vom 10. Juni 2008.

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Kommentare aus Großbritannien

39 The Independent vom 27. April 2008.

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Ist mit der Wahl von Nicolas Sarkozy zum französi-schen Staatspräsidenten am 6. Mai 2007 eine neueÄra angebrochen? Selten zuvor hat eine Wahl der-art im Zeichen der Erneuerung gestanden, undebenso selten hat ein Präsidentschaftskandidat einderart umfassendes Paket struktureller Verände-rungen formuliert – eine wahre Reformagenda –,mit denen er verkrustete Strukturen und Reform-blockaden aufbrechen und damit eine neue Wirt-schaftsdynamik auslösen wollte.1 Entsprechendhochgesteckt waren die Erwartungen im In- undAusland. Nicolas Sarkozy sei „Frankreichs Chance“,titelte der Economist schon vor der Wahl, denn „erist der einzige Kandidat, der genügend Mut hat,sich für den ‚Bruch‘ mit der Vergangenheit einzu-setzen, den Frankreich nach zahlreichen düsterenJahren benötigt“.2 Die Frankfurter Allgemeine Zei-tung (FAZ) sah in der Wahl vom 6. Mai 2007 „einVotum für den Aufbruch, für die Bereitschaft zueinem mitunter schmerzhaften Wandel, für die Er-kenntnis, dass sich Wettbewerbsfähigkeit nichtdurch die Zementierung von Besitzständen erkau-fen lässt“.3

15 Monate später ist von der Aufbruchstimmungnur noch wenig zu spüren. Schon im Januar 2008bezeichnete die FAZ den Präsidenten als „Zaude-rer Sarkozy“ und charakterisierte dessen Anspruch,ein Mann der Tat und ein Tabubrecher zu sein,„auf dem Feld der Wirtschaftspolitik (...) zuneh-mend als Pose. Dahinter steckt ein erstaunlichesMaß an Zaudern und Zaghaftigkeit.“4 Auch inFrankreich haben die hohen Erwartungen längstErnüchterung, wenn nicht harter Kritik Platz ge-

macht. Die Wirtschaftspolitik des Präsidenten istseit einigen Monaten äußerst unpopulär. Im Juni2008 wurde sie nur von 28 Prozent der Bevölke-rung gutgeheißen, während 67 Prozent eineschlechte Meinung von ihr hatten.5 „Der Bruchüberzeugt die Franzosen nicht“, titelte das Wirt-schaftsblatt La Tribune zur Einjahresbilanz.6 Auchbei Experten findet der Präsident kaum Gnade:Schon sechs Monate nach seinem Amtsantritt be-mängelte das Wirtschaftsmagazin L’Expansionden Mangel an Klarheit und „Lesbarkeit“ des neu-en wirtschaftspolitischen Kurses, und nach einemJahr fällt das Urteil noch schärfer aus: „Noch niewaren die Franzosen so deprimiert, und die ge-fürchtete Wahlkampfmaschine [Sarkozy] hat sichin eine Fabrik zur Produktion von Enttäuschungverwandelt.“ Der Ökonom Christian Saint-Etiennebefindet kurz und bündig: „Man sieht nicht, waswirklich die Wachstumshemmnisse beseitigenkönnte.“7

Widersprüchliche Erwartungen

Die Ursachen für dieses Wechselbad der Gefühleund Urteile sind vielschichtig. Sie liegen erstens inder Persönlichkeit des Präsidenten: in seinem zu-mindest in der ersten Phase autokratischen Stil, imüberzogenen Erwartungshorizont, den er selbstmit seinen allumfassenden Ankündigungen aufge-baut hat, in seiner Neigung zu irrealen Heilsver-sprechen – „Ich werde der Präsident der Kaufkraft

Frankreichs Reformagenda: Eine Zwischenbilanz der Politik Nicolas SarkozysProf. Dr. Henrik UterweddeStellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts (dfi), Ludwigsburg

Seit Mai 2007 bekleidet Nicolas Sarkozy das mächtige Amt des französischen Staatspräsidenten. Manche Beobachter be-

zeichnen seinen Regierungsstil als sprunghaft, widersprüchlich und autokratisch. Inwieweit konnte der Präsident seinen

im Wahlkampf vollmundig vorgetragenen Reformeifer bereits in die Realität umsetzen?

5 Zahlen nach dem Barometer zur Wirtschaftspolitik der Wirt-schaftszeitung Les Echos und France Inter, Juni 2008.6 La rupture ne convainc pas les Français, La Tribune vom 5. Mai2008, Seiten 2 f.7 Vgl. die umfassende Sechsmonatsbilanz „Sarkozy au-delà des slo-gans“ in: L’Expansion Nr. 724, November 2007, Seiten 38–72, so-wie die Einjahresbilanz unter dem Titel „L’état d’urgence“ im selbenBlatt, Nr. 730, Mai 2008, Seiten 38–60 (dort auch das Zitat vonSaint-Etienne).

1 Vgl. Henrik Uterwedde, Sarkozys Wirtschaftspolitik. Eine Reform -agenda à la française?, in: Dokumente Nr. 3/2007, Seiten 10–14.2 The Economist vom 12. April 2007.3 Christian Schubert, Frankreich in Aufbruchstimmung, FAZ vom7. Mai 2007.4 Christian Schubert, Zauderer Sarkozy, FAZ vom 17. Januar 2008.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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sein“; „Ich werde das Wachstum abholen“ –, diespätere Enttäuschungen geradezu programmierthaben.

Ein zweites Ursachenbündel liegt in der Schwie-rigkeit, strukturelle Reformen voranzubringen,die heilige Kühe schlachten und tradierte Besitz-stände angreifen. Dabei hat Sarkozy, ausgestattetmit zahlreichen Kompetenzen und einer sattenparlamentarischen Mehrheit, keine institutionel-len Blockaden zu befürchten. Zudem hat er prin-zipiell gute Argumente für seine Politik; die Zahlder Gutachten und Sachverständigenberichte, indenen Frankreich Reformbedarf attestiert wird, istLegion. So formuliert selbst das linke Wirtschafts-magazin Alternatives économiques: „Die Mehrzahlder Ökonomen, ob sie nun der Linken oder derRechten angehören, sind sich darin einig, dassFrankreichs Wirtschaft nicht an einem Nachfrage-defizit leidet (...), sondern an Problemen der An-gebotsseite. Mehr als eine Konjunkturbelebungbraucht das Land also eine Politik, die die Struk-turen der Wirtschaft verändert.“8

Das heißt: Um die Chancen für Wachstum, Be-schäftigung und Kaufkraft der Bevölkerung nach-haltig zu verbessern, ist eine Politik notwendig, diekurzfristig das Arbeitsangebot steigert (etwa durchErhöhung der Beschäftigungsquote), mittelfristigdie Güter- und Dienstleistungsmärkte liberalisiertund die überregulierten Arbeitsmärkte reformiertsowie längerfristig zusätzliche Ressourcen für dieuniversitäre Bildung und die Forschung bereit-stellt. Die Gesamtheit dieser Reformen, so dieSchätzung des angesehenen, dem Premierminis-ter zugeordneten Sachverständigenrats Conseil d’analyse économique, könnte das Wachstumspo-tenzial um einen Prozentpunkt jährlich steigern.9

Dennoch finden korporatistische Interessen vieleMittel und Wege, ihre Besitzstände zu verteidigen;zahlreiche Gruppierungen, von den Gewerkschaf-ten des öffentlichen Dienstes über die Bauern, Fi-scher, Kleinhändler, Taxifahrer oder Lastwagen-fahrer bis hin zu Schülern und Studenten verfü-gen über die Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung,deren öffentliche Wirkung zu ignorieren sich kei-ne Regierung leisten kann. Dies umso weniger, alsdie Protestbewegungen oft Verunsicherungen undÄngste gegenüber – als bedrohlich eingestuften –Veränderungen artikulieren, und sie an Werte und

Traditionen appellieren, die in der französischenGesellschaft weiterhin tief verwurzelt sind: ein „po-litisches“ Verständnis der Wirtschaft, eine damitzusammenhängende hohe Erwartungshaltung anden Staat und ein vielfach wirksamer Antilibera-lismus.10 Will sie sich nicht in diesem äußerst wir-kungsmächtigen Gestrüpp aus korporatistischenInteressen und republikanisch-antiliberalen Ideenverfangen, muss jede Wirtschaftspolitik – und hierliegt ein dritter Grund für die heutige Unzufrie-denheit – diesen widersprüchlichen Ängsten, Er-wartungen und Werthaltungen Rechnung tragen.

Eine vielschichtige Reformagenda

Deshalb hat Nicolas Sarkozy seine Reformagendamit äußerst unterschiedlichen, ja einander wider-sprechenden Signalen versehen, die sich nicht aufeinen einfachen Nenner bringen lassen.

� Auf den ersten Blick tragen sie konservativ-li-berale Züge: Die angekündigte Senkung der Steu-er- und Abgabenlast um vier Prozentpunkte wirdmit verteilungspolitischen Akzenten zugunstender mittleren und vor allem höheren Einkommenverbunden. Die Rückführung der Defizite, der ge-plante Stellenabbau in der staatlichen Verwaltungund die Sozialstaatsreformen deuten auf einen Ab-bau der (in Frankreich immer noch sehr bedeut-samen) Rolle des Staates im Wirtschaftsleben hin.

� Allerdings hat sich, zweitens, Sarkozy ausdrück-lich gegen eine „Politik des Verzichts“ ausgespro-chen, „denn diese führt zu nichts. Man reduziertdie Defizite und die Verschuldung nicht durchVerzicht.“ Stattdessen setzte er auf einen Wachs -tumskurs, der auch auf Nachfrageimpulsen beru-hen sollte. Sie sollten vor allem durch eine gründ-liche Abkehr von der Politik der Arbeitszeitverkür-zung, insbesondere der 35-Stunden-Woche, er-reicht werden. „Indem man das Arbeitsvolumenausweitet, erhöht man die Kaufkraft der Beschäf-tigten, gibt man der Wirtschaft neuen Treibstoffund erreicht man Spielräume, um die Defizite zureduzieren.“11

8 Croissance, emploi: Sarkozy peut-il réussir? Alternatives écono-miques Nr. 263, November 2007, Seite 7.9 Vgl. zum Beispiel den Bericht zum französischen Wachstumspo-tenzial Conseil d’analyse économique: Les leviers de la croissancefrançaise, La Documentation française, Paris 2007.

10 Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Staatsverständnis und Wirt-schaftspolitik in Frankreich: Politik zwischen Etatismus und Markt-wirtschaft, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspo-litik 108 (2/2006), Seiten 51–57. Zu den Ängsten vgl. Alain Duhamel,Les peurs françaises, Paris 1993, und den Überblick bei Henrik Uter-wedde, Wirtschaftliche Ängste und ihre Hintergründe, in: DokumenteNr. 1/1998, Seiten 16–23.11 Zitiert nach Interview in Le Monde vom 25. April 2007.

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Frankreich

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� In diesem Zusammenhang wird, drittens, einVoluntarismus deutlich, der glauben machen will,der politische Wille könne die Ökonomie lenken.So hat sich Sarkozy im Wahlkampf zur Formel hin-reißen lassen, er werde „der Präsident der Kauf-kraft“ sein, und kurz nach seiner Wahl erklärt, erwerde „das Wachstum nicht abwarten, sondern esabholen“.12

� Viertens sprach er sich unverblümt für direktestaatliche Eingriffe in die Unternehmen aus, wennes darum gehe, französische Unternehmen zuschützen – ein industriepolitischer Interventio-nismus, den er schon in seiner Amtszeit als Fi-nanzminister praktiziert hatte.

� Fünftens trägt der Diskurs Sarkozys protektio-nistische Züge. Unter dem Einfluss seines Sonder-beraters Henri Guaino, einem notorischen Euro-Skeptiker und Antiliberalen, hat er sich dieses Re-pertoires an prominenter Stelle wiederholt be-dient.13 So hat er in seiner ersten öffentlichen Re-de am Wahlabend die europäischen Partner be-schworen, „die Stimmen der Völker zu hören, diebeschützt werden wollen“ und „nicht taub zu seingegenüber der Wut der Völker, die die Europäi-sche Union nicht als Schutz, sondern als trojani-sches Pferd sämtlicher Bedrohungen auffassen,die die Transformationen der Welt mit sich brin-gen“.14 Dementsprechend hat er sich für Maßnah-men ausgesprochen, die in Richtung eines Euro-Protektionismus gehen: „Ich werde die ‚Gemein-schaftspräferenz‘ rehabilitieren, das heißt dasRecht Europas, seine Produkte, seine Unterneh-men, seine Märkte zu schützen, wenn es in seinemInteresse ist, vor allem bei der WTO.“15

Mit diesem bunten Cocktail, der Anleihen beigegensätzlichen wirtschaftspolitischen Denkschu-len macht, hat Nicolas Sarkozy unterschiedlichsteStrömungen der französischen Gesellschaft undWählerschaft zusammenführen wollen: den Willenzur Veränderung ebenso wie die weit verbreiteteSkepsis gegenüber der Marktwirtschaft, der „neoli-beralen“ EU und der Globalisierung. „Nicolas Sar-kozy ? Das ist ein Etatist, ein Keynesianer, ein ‚Kon-sumerist‘ und ein Populist“, wird ein Mitstreiterdes Präsidenten zitiert. „Aber er ist auch liberalund modernistisch.“16

Man kann in dieser Ansammlung widersprüch-licher Botschaften auch eine pragmatische Hal-tung und den Versuch sehen, eine breite politi-sche Mehrheit für die als notwendig erachtetenReformen zu sichern. Die Vielzahl an Reform-baustellen, die Sarkozy kurz nach seinem Amtsan-tritt nahezu gleichzeitig eröffnete, bot in der Tatdie Gelegenheit, Angebote an eine Vielzahl vonWählergruppen zu machen: Wohlhabende wie Är-mere, Unternehmer wie Arbeitnehmer, Umwelt-schützer oder Arbeitslose, Liberale wie Linke oderKonservative. Die Kehrseite war, dass in diesenwiderstreitenden Aussagen keine klare Hand-schrift erkennbar werden konnte, was sich in derPraxis sehr schnell gezeigt hat.

Politik mit Licht und Schatten

Nicolas Sarkozy wollte die Aufbruchstimmung, diemit seiner Wahl verbunden war, nutzen undschnell neue Fakten schaffen. Er öffnete seine Re-gierung für linke Politiker – die allerdings in derRegel auf Distanz zur Sozialistischen Partei gegan-gen waren – und brachte in geradezu atemberau-bender Weise zahlreiche Reformvorhaben gleich-zeitig auf den Weg.

Dabei setzte er zunächst einen Akzent in der Nach-fragepolitik, um Impulse für Wachstum, Einkom-men und Beschäftigung zu geben, während diePolitik der Strukturreformen in einem zweitenSchritt folgen sollte. So wurde im Sommer 2007ein Gesetz mit dem vielversprechenden Namen„Arbeit, Beschäftigung, Kaufkraft“ verabschiedet,das ein Steuerpaket mit einem Volumen von ins-gesamt knapp 15 Milliarden Euro beinhaltete. Esenthielt eine Reihe von Steuersenkungen im Be-reich der Einkommen-, Vermögen- und Erb-schaftsteuer, die vor allem obere Einkommens-gruppen betraf, für die zusätzlich eine absoluteObergrenze der Gesamtbesteuerung eingeführtwurde. Darüber hinaus wurde ein erster Schrittzur Aufweichung der 35-Stunden-Woche getan, in-dem Überstunden nicht nur erleichtert, sondernmit Zuschlägen versehen sowie steuer- und abga-benfrei gestellt wurden (getreu der Devise Sarkozys :„Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen“) – ein fürdie Staatskasse teures Unternehmen, das auf Jah-resbasis gerechnet fünf bis sechs Milliarden Eurokostet.

Sarkozys Ziel, mit diesen Maßnahmen einen „Ver-trauensschock“ und eine neue Wirtschaftsdynamikauszulösen, erwies sich bald als nicht erreichbar.Zum einen verschlechterten sich die Konjunktur

12 Dernières Nouvelles d’Alsace vom 6. September 2007.13 Vgl. dazu Christian Schubert, Die Euro-Skeptiker hinter NicolasSarkozy, FAZ vom 18. September 2007, Seite 12.14 Zitiert nach Le Monde vom 8. Mai 2007.15 Interview in Le Monde vom 25. April 2007.16 Zitiert von Jean-François Pécresse, Une voie hybride pour la po-litique économique, Les Echos vom 6. Mai 2008.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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und die internationalen Wirtschaftsdaten; zum an-deren wurde das Grundprinzip des Steuerpakets –eine nachfrageinduzierte Wachstumsstimulierung– von den meisten Experten als fragwürdig, wennnicht illusionär eingestuft, umso mehr, als in ersterLinie Wohlhabende betroffen waren und der er-hoffte Einkommenseffekt durch vermehrte Über-stunden sehr begrenzt blieb. Als ökonomisch inef-fizienter und in seinen Verteilungswirkungen frag-würdiger „Keynesianismus für die Reichen“ ist die-ses Programm zu Recht verspottet worden.17 Dazukommt, dass für diesen fragwürdigen Start die ge-samten verfügbaren Margen des Staatshaushaltsverbraucht wurden. Das Geld, so die einhelligeMeinung führender Ökonomen, hätte besser aus-gegeben werden können, zum Beispiel für struk-turelle Reformen oder angebotspolitische Maß-nahmen. Der Abbau der Staatsverschuldung istderweil in weite Ferne gerückt; Frankreich wirdMühe haben, die Vorgaben des europäischen Sta-bilitäts- und Wachstumspaktes zu erfüllen.

Mehr Erfolg hatte der Präsident mit der Teilre-form der Rentenversicherung. Hier wurden diesehr günstigen Sonderregelungen abgeschafft, dieAngehörigen einiger Bereiche des öffentlichenSektors einen frühzeitigen Renteneintritt ermög-lichten, teilweise bereits mit 55 Jahren. Diese Re-form, die 1,6 Millionen Personen im öffentlichenSektor betraf, löste eine Protest- und Streikwelleaus. Sie wurde zur ersten Kraft- und Bewährungs-probe für den Reformwillen der Regierung. DieRegierung setzte ihren Kurs aber durch, wennauch auf Kosten großzügiger Konzessionen an diebetroffenen Berufsgruppen. In der Krankenversi-cherung wurden, um ein für 2007 drohendes De-fizit in Höhe von 11,7 Milliarden Euro abzuwen-den, klassische Sparmaßnahmen beschlossen:Selbstbeteiligungen bei Medikamenten und beimKrankentransport, vollständige Umstellung derKrankenhausfinanzierung auf Fallpauschalen. Fal-len gelassen wurde indessen die ursprünglich ge-plante ehrgeizige Finanzierungsreform der Sozial-versicherung: Die Erhöhung der Mehrwertsteuerum vier Punkte sollte eine deutliche Senkung derSozialbeiträge und damit eine Senkung der Lohn-nebenkosten ermöglichen, stieß aber auf einebreite Ablehnungsfront in der Öffentlichkeit undbei Verbänden; sie wäre ohnehin wegen des schonsehr hohen Mehrwertsteuersatzes problematischgewesen.

Zaghafte Reformen des Arbeitsmarktes

Was die Arbeitsmarktreform angeht, so ist die bis-herige Politik hinter den Ankündigungen und Er-wartungen zurückgeblieben. Zum einen ist dieModernisierung der Arbeitslosenverwaltung inGang gesetzt worden. Die bisherige nationale Ar-beitsagentur (Agence nationale pour l’emploi)und die Arbeitslosenkassen (UNEDIC) wurden fu-sioniert, um eine einheitliche, aktivere und effi-zientere Betreuung und Vermittlung der Arbeits-suchenden zu gewährleisten und die durchschnitt-liche Dauer der Arbeitslosigkeit von neun auf dreiMonate zu senken.

Von hohem Symbolwert für die Regierung ist dieAufweichung der – 1998 von der LinksregierungLionel Jospins eingeführten – 35-Stunden-Woche.Allerdings wurde nicht an der legalen Wochenar-beitszeit von 35 Stunden gerüttelt, die die Normbleibt; die Flexibilität wird über großzügigereÜberstundenregelungen angestrebt, die allerdingsrecht kostspielig sind. Nachdem schon 2003 derRahmen möglicher Überstunden ausgeweitet wor-den war, setzte die Regierung im Juni 2008 eineweitere Flexibilisierung durch. Nunmehr kann dieZahl der Überstunden durch Unternehmensver-einbarungen freier ausgehandelt werden. In derRealität hat sich für die Unternehmen dadurchwenig geändert, weil viele von ihnen schon vonder 1998 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch ge-macht haben, über Jahresarbeitszeitkonten ihrenArbeitskräfteeinsatz zu flexibilisieren.

Einen klaren Rückzieher hat Sarkozy vorerst in Sa-chen Arbeitsrecht gemacht. Ursprünglich wollteer die bestehenden acht unterschiedlichen Typenvon Arbeitsverträgen in einen einheitlichen Ar-beitsvertrag (contrat de travail unique) überfüh-ren, der grundsätzlich unbefristet sein, dafür aberden Kündigungsschutz modifizieren und flexible-re Möglichkeiten der Vertragsauflösung bietensollte. Angesichts der negativen Einstellung derkonsultierten Sozialpartner verzichtete die Regie-rung auf dieses Vorhaben. Stattdessen führte sie ei-ne von den Sozialpartnern gutgeheißene Neue-rung ein, die eine einvernehmliche Auflösung desArbeitsvertrags ermöglicht und damit das starreKündigungsschutzrecht jedenfalls in diesem Falleflexibler gestaltet. Insgesamt aber geht die Regie-rung im sensiblen Feld der Arbeitsmarktpolitik äu-ßerst vorsichtig vor. Das dänische Vorbild der „flex-security“ ist parteiübergreifend in aller Munde, diePraxis indessen ist davon meilenweit entfernt. 17 Vgl. die Kritik einer Gruppe von hohen Beamten, die unter sozi-

alistischen Ministern Spitzenpositionen eingenommen hatten: „Lestrois péchés de Sarkozy“, in: Le Nouvel Observateur Nr. 2268, 24.–30. April 2008, Seite 26.

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Natürlich durfte in Sarkozys Ankündigungskatalogein Bekenntnis zur „Lissabon-Strategie“ nicht feh-len, in der es um mehr Investitionen in Bildung,Forschung und Innovation sowie um ein innova-tionsfreundlicheres Klima geht. Frankreich hat ei-nen deutlichen Rückstand in Bezug auf das ver-einbarte Ziel, mindestens drei Prozent des Brutto-inlandsprodukts für Forschung und Entwicklungaufzuwenden, wobei vor allem die Ausgaben imUnternehmenssektor mit 1,32 Prozent (Deutsch-land: 1,7 Prozent) zu gering und seit 1995 sogarrückläufig sind. Eine erste, sehr erfolgreiche Maß-nahme waren die Vereinfachung und deutliche Er-höhung der steuerlichen Förderung der Unter-nehmensforschung (crédit impôt recherche), de-ren durchschnittliche Fördersumme für mittel-ständische Firmen um das 2,4-fache und für grö-ßere Unternehmen um das 5-fache steigen soll.

Auch der Einstieg in die Universitätsreform, einesder ersten Gesetze der neuen Regierung, ist viel-versprechend. Die Autonomie der Universitätenwurde erhöht und die Stellung der Universitätslei-tungen aufgewertet. Zusätzlich hat die RegierungMilliarden Euro für eine Art Exzellenzinitiative be-reitgestellt, deren Finanzierung durch die Erlöseeiner Teilprivatisierung des Energiekonzerns Elec-tricité de France (EDF) erfolgen soll. Ihr Ziel ist,über den Weg eines Ausschreibungswettbewerbszehn universitäre Forschungspole, in denen sichverschiedene Hochschulen und Forschungsein-richtungen vor Ort zusammenschließen, von inter-nationalem Rang entstehen zu lassen.

Beschwerlicher Weg zu mehr Wettbewerb

Besonders mager fällt die bisherige Bilanz in Be-zug auf das Versprechen aus, verkrustete Struktu-ren, Korporatismen und Privilegien abzubauen,die nach Ansicht Sarkozys – hier ist er im Einklangmit den meisten Experten – das französischeWachstum hemmen. Auf diesem Feld ist – ausRücksichtnahme auf zahlreiche dem Präsidentennahe stehende Wählergruppen – so gut wie nichtsgeschehen. Im Januar 2008 wurde ein viel beach-teter, von Sarkozy in Auftrag gegebener Experten-bericht einer Arbeitsgruppe veröffentlicht, dieden Titel „Kommission für die Befreiung desWachstums“ trug und deren Vorsitzender JacquesAttali, der einstige Vertraute des sozialistischenPräsidenten François Mitterrand, war.18 Der Berichtzählt die Probleme der französischen Wirtschaftauf und benennt die Schlüsselfaktoren, um dasWachstumspotenzial des Landes zu stärken: einebessere Mobilisierung der Erwerbstätigen (das

heißt eine höhere Erwerbsbeteiligung und ein hö-heres Arbeitsvolumen je Beschäftigten), Investitio-nen in Wissen und Innovation, ein effektivererWettbewerb in zahlreichen von Privilegien undKorporatismen geprägten Bereichen, ein Finanz-system, das den Standort Frankreich für Investo-ren attraktiver macht, und schließlich eine konse-quente Öffnung der Wirtschaft nach außen. Aus-gehend von diesen allgemeinen Leitlinien werden316 konkrete, teilweise sehr weitgehende Maßnah-men und Reformen vorgeschlagen.

Aber während der Präsident die Ergebnisse derKommission lobte – „Was Sie vorschlagen, werdenwir verwirklichen“, erklärte er anlässlich der Über-gabe des Berichts am 23. Januar 2008 –, formiertesich schon starker politischer Widerstand. Geradeweil der Bericht zahlreiche Privilegien und Tabusanspricht und sich für mehr Wettbewerb in bislanggeschützten Sektoren stark macht, hat sich bereitseine Phalanx betroffener Interessenvertreter laut-stark zu Wort gemeldet, die auch ein Echo bei derMehrheitspartei UMP finden. „Man wird mit ei-nem Sperrfeuer der Interessengruppen rechnenmüssen, die im Namen einflussreicher politischerund ökonomischer Interessen handeln“, prognos-tiziert das Wirtschaftsblatt La Tribune: „Taxifahrer,Notare, Apotheker, Vertreter der Departements,Lehrende und Forscher (...), Einzelhändler, Ver-waltungen… die Liste derjenigen, die den Attali-Bericht am liebsten ganz hinten in einer Schubla-de verschwinden sehen würden, ist lang.“

Immerhin hat die Regierung im Juli 2008 ein „Ge-setz zur Modernisierung der Wirtschaft“ auf denWeg gebracht, das neben anderen Zielen – weni-ger Bürokratie für Firmengründer und Unterneh-men, Attraktivität des Wirtschaftsstandorts für In-vestoren und Manager, verbesserte Finanzierungs-möglichkeiten für Unternehmen – einen verstärk-ten Wettbewerb auf seine Fahnen geschrieben hat.Mehr Wachstum und mehr Einkommen durchmehr Konkurrenz, so lautet die Devise. Das Gesetzhat vor allem den Einzelhandel im Visier, wo eineReihe von Maßnahmen die Ansiedlung neuerSupermärkte erleichtern und mehr Preiskonkur-renz ermöglichen soll. Außerdem ist die Schaf-fung einer mit erweiterten Kompetenzen ausge-statteten Wettbewerbsbehörde geplant. Aber auchhier wird die Regierung Widerstände überwindenmüssen, um mehr Wettbewerb zu erreichen. Das

18 Commission pour la libération de la croissance française prési-dée par Jacques Attali, 300 décisions pour changer la France, LaDocumentation française, Paris 2008. Für einen Überblick vgl. Hen-rik Uterwedde, Masterplan für die Reformpolitik? Der Attali-Berichtscheidet die Geister, in: Dokumente Nr. 2/2008, Seiten 5–8.

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Beispiel des Taxigewerbes, in dem die Konkurrenzunter anderem durch eine sehr restriktive Vergabevon Lizenzen stark eingeschränkt wird, ist vielsa-gend: Schon 1960 hatte der Armand-Rueff-Berichtzur Modernisierung der französischen Wirt-schaft19 eine Öffnung angemahnt – ohne Erfolg,weswegen dieselbe Forderung knapp fünfzig Jahrespäter im Attali-Bericht wieder auftaucht. Der Prä-sident, der wie kein anderer ein Aufbrechen ver-krusteter Strukturen versprochen hat, wird deut-lich mehr politischen Mut zeigen müssen als bis-her, um seinem hochgesteckten Anspruch gerechtwerden zu können.

Ansätze zur Staatsreform

Eine andere Baustelle, die Staats- und Verwal-tungsreform, ist seit 1988 auf der Tagesordnung.Frankreich hat mit 53,7 Prozent eine der höchstenStaatsquoten in Europa. Sie wird nur von Schwe-den mit 56,3 Prozent übertroffen. Seit 1982 ist dieZahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten um24 Prozent gestiegen – doppelt so stark wie die Be-schäftigung insgesamt. Nimmt man die staatlichenUnternehmen hinzu, so arbeitet mehr als jederfünfte Franzose im öffentlichen Sektor.20 Die da-durch verursachten Kosten haben die Staatsver-schuldung kräftig steigen lassen. Dies wird ange-sichts der Vorgaben des europäischen Stabilitäts-und Wachstumspaktes, des demographischenWandels und dringender neuer Prioritäten der öf-fentlichen Politik zunehmend zum Problem – um-so mehr, als dem hohen finanziellen Aufwand keinentsprechendes Leistungsvermögen der öffent-lichen Verwaltungen gegenübersteht. WährendWirtschaft und Gesellschaft sich in den vergange-nen Jahrzehnten modernisiert hätten, sei eine ent-sprechende Staatsreform versäumt worden, urteil-te eine viel beachtete Publikation im Jahr 2000:„Im europäischen Wettbewerb ist dies unser letztesund vielleicht unser schwerstes Handicap.“21

Hier setzt nun Nicolas Sarkozy mit einer doppeltenAktion an: Zum einen will er den bevorstehendenEintritt geburtenstarker Jahrgänge ins Rentenalter

nutzen, um den Staatsapparat zu verschlanken. Inden kommenden Jahren soll nur jeder zweite al-tersbedingt frei werdende Arbeitsplatz im Staats-dienst wieder besetzt werden. Zum anderen hat ereine umfassende, auf höchster Ebene gesteuerteund mit straffem Zeitplan versehene kritische Be-standsaufnahme der öffentlichen Verwaltungen,ihrer Aufgaben, Organisations- und Interventions-formen in Gang gesetzt. Erklärtes Ziel ist es, dieVerwaltungen besser an die Bedürfnisse der Bür-ger anzupassen und Einsparungen zu erreichen,um neue Spielräume für prioritäre Politikfelder zugewinnen. 26 Evaluierungskommissionen wurdeneingesetzt, die die wichtigsten Ministerien und res-sortübergreifenden Politiken, aber auch das Ver-hältnis zwischen Staatsverwaltung und Gebietskör-perschaften unter die Lupe genommen haben.

Ein eigens gebildeter Rat für die Modernisierungvon Staat und Verwaltung hat im Dezember 2007sowie im April und im Juni 2008 eine Vielzahl vonEinzelmaßnahmen beschlossen, die nunmehr inein Programmgesetz eingebracht und in den kom-menden Jahren bis 2012 umgesetzt werden sollen.Es ist noch zu früh abzuschätzen, wie weit dieseVerwaltungsreform tragen wird und ob sie die an-gestrebten jährlichen Einsparungen in Höhe vonfünf Milliarden Euro erreichen kann. Widerstandseitens der – im öffentlichen Dienst stark organi-sierten – Gewerkschaften ist gewiss, obwohl die Re-gierung einen Teil der aus der Nichtwiederbeset-zung von Stellen eingesparten Mittel für Gehalts-aufbesserungen der Beamten verwenden will.22

Dass Präsident Sarkozy ein dynamischer, aber auchunbequemer Partner für Deutschland und dieübrigen EU-Staaten sein würde, zeichnete sichschon in den ersten öffentlichen Erklärungen ab.Sarkozy hat denn auch eine Reihe von Initiativenergriffen, die in Berlin auf Zurückhaltung, wennnicht auf Ablehnung stießen. In Erinnerung istnoch seine Selbst-Einladung in den Kreis der EU-Finanzminister im Sommer 2007, wo er persönlichseine Politik erläuterte, die von seinem Vorgängerversprochene Rückführung der Neuverschuldungerst später realisieren zu wollen. Dies führte zu ei-nem verbalen Zusammenstoß mit FinanzministerPeer Steinbrück und anderen Ministerkollegen.

19 Louis Armand/Jacques Rueff, Rapport du Comité pour la sup-pression des obstacles à l’expansion économique, Paris 1960. Dasvon General de Gaulle nach seiner Amtsübernahme 1958 einge-setzte Rueff-Armand-Komitee, das eine grundlegende Sanierung undModernisierung der Wirtschaft anstoßen sollte, diente Sarkozy alsVorbild für die Attali-Kommission.20 Vgl. Philippe Raynaud, L’emploi public est tiré par la fonction publique, in: Economie et statistique Nr. 369–370, 2003, Seiten 75–92.21 Roger Fauroux/Bernard Spitz (Hrsg.), Notre Etat. Le livre véritéde la fonction publique, Paris 2000, Seite 27.

22 Vgl. dazu Michel Le Clainche, Le point sur la révision généraledes politiques publiques: premières annonces, in: Revue françaised’administration publique Nr. 125, Seiten 197–200. Auf der Inter-netseite der Regierung (www.rgpp.modernisation.gouv.fr) finden sichpolitische Reden und Grundsatzbeschlüsse sowie zahlreiche Doku-mente der verschiedenen Evaluierungskommissionen.

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Ein rotes Tuch ist – nicht nur für Sarkozy – die Po-litik der Europäischen Zentralbank (EZB), die alszu einseitig stabilitätsorientiert und zu selbstherr-lich angeprangert wird. Im Grunde hat Sarkozy wieandere französische Politiker, die einem politi-schen Verständnis der Wirtschaft anhängen, bisheute nicht akzeptiert, dass die EZB über die Geld-politik wesentliche Entscheidungsbefugnisse invölliger Unabhängigkeit treffen kann. So erlebengegenwärtig alte französische Pläne für eine „eu-ropäische Wirtschaftsregierung“ eine erneute Re-naissance: Sarkozy hat nach Pressemeldungen imJuli 2008 einen Dreipunkteplan erarbeitet, nachdem die EZB künftig ihre Beratungsprotokolleveröffentlichen muss sowie ein ständiges Sekreta-riat der Finanzminister der Eurozone geschaffenund ein intensiverer Kontakt zwischen den Minis-tern und der EZB etabliert werden soll. Damit solleine bessere Abstimmung zwischen Geld- und Fis-kalpolitik erreicht, aber auch ein politischesGegengewicht zur EZB geschaffen werden.23

Sarkozy steht ferner für einen industriepolitischenWirtschaftspatriotismus, der den Schutz französi-scher Großunternehmen vor ausländischen Über-nahmen anstrebt. Schon als Finanzminister hatteer sich 2004 durch interventionistische Aktionenhervorgetan, etwa die mit politischem Druck be-wirkte Zusammenarbeit des ursprünglich deutsch-französischen privaten Chemiekonzerns Aventismit der französischen Sanofi-Gruppe oder die Ab-wehr von Siemens, das beim angeschlagenen fran-zösischen Vorzeigekonzern Alstom einsteigen woll-te. Derartige Aktionen finden in Frankreich über-wiegend Beifall. So schwärmte der damalige Vor-sitzende des Unternehmensverbandes Medef, Sar-kozy sei „der Zidane der Wirtschaftspolitik, ein Tor-jäger, der Aufschwung bringt und der sich beiAventis und Alstom überaus erfolgreich geschla-gen hat“.24 Mit ähnlicher Verve hat Sarkozy als Prä-sident den Zusammenschluss der (staatlichen)GDF und der (privaten) Suez zu einem großenfranzösischen Gaskonzern betrieben und dabei

die drohende Übernahme von Suez durch die ita-lienische Enel-Gruppe verhindert.

In der Außenhandelspolitik hat sich die französi-sche Regierung in der laufenden WTO-Verhand-lungsrunde mit einer harten Position profiliert,die sich Zugeständnissen im Agrarhandel weitge-hend verweigert. Im Kern sind alle diese Politik-ansätze und Forderungen nicht neu, werden siedoch seit Jahren erhoben.25 Sie erfahren aller-dings mit dem dynamischen neuen Präsidenten ei-ne Zuspitzung und eine neue politische Qualität.

Die vorläufige Bilanz weist Licht und Schatten auf.Sarkozy hat eine Reihe von Reformimpulsen gege-ben, in manchen Fällen aber auch bislang nur we-nig Mut zu Veränderungen bewiesen. Zudem sindFehlentscheidungen nicht ausgeblieben. Vor al-lem aber ist der Präsident Opfer einer eigenen, oftvöllig überzogenen Ankündigungspolitik, seinesoft autokratischen Regierungsstils und manchmalauch atemberaubender Kehrtwenden, was fastzwangsläufig Enttäuschungen und Kritik hervor-ruft. Wer zum Beispiel während des Wahlkampfsund zu Beginn seiner Regierungszeit den – ge-wollten – Eindruck erweckt, als könne die Politikneue Einkommen verteilen, um dann nach weni-gen Monaten den Franzosen brüsk zu erklären,die öffentlichen Kassen seien leer, trägt nicht ge-rade zur Glaubwürdigkeit der eigenen Politik bei.

Dennoch: Nicolas Sarkozy verdient weder die enthu-siastischen Vorschusslorbeeren noch die teilweisehämischen und überzogenen Kritiken, die ihm inFrankreich und hierzulande entgegengebracht wor-den sind. Frankreichs Partner haben Interesse da -ran, dass der Präsident die wirtschaftliche Erneue-rung Frankreichs erfolgreich vorantreibt. Dass der-artige Prozesse schwierig sind, Widerstände produ-zieren und mit Fehlern behaftet sind, haben auchdie deutschen Erfahrungen der Agenda 2010 ge-zeigt, ebenso, dass Reformen ohne gesellschaftlicheAkzeptanz auf Dauer nicht bestehen können. �

23 Vgl. Frankfurter Rundschau vom 22. Juli 2008.24 Zitiert nach Michael Mönninger, Der Zidane der französischenWirtschaftspolitik, Die Zeit Nr. 26/2004.

25 Vgl. dazu Henrik Uterwedde, Frankreichs Vision vom Wirt-schafts- und Sozialraum Europa, in: Dokumente Nr. 4/2000, Seiten292–298.

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Rechtlich gesehen ist Chinas Währung, der Ren-minbi, ausschließlich eine Binnenwährung. Es be-steht Handelskonvertibilität, aber keine Kapital-konvertibilität. Ausländer dürfen die Währung we-der als Zahlungsmittel noch als Wertaufbewah-rungsmittel außerhalb Chinas halten. Dies sind dieBestimmungen, die Realität sieht jedoch andersaus: Der Renminbi wurde schrittweise in ChinasNachbarländern als Tauschwährung akzeptiert.Inzwischen zirkulieren erhebliche Renminbi-Be-stände in den Grenzregionen Vietnams, Burmasund Russlands, in Laos, Kambodscha, Thailand,Malaysia und Indonesien sowie in Hongkong undMacao.1 Es handelt sich dabei allerdings nur umBargeld. Insofern erfüllt der Renminbi im Wesent-lichen die Funktion eines Zahlungsmittels.

Für Chinas Nachbarländer und sonstige Wirt-schaftspartner könnte es wichtig sein, sich mitmöglichen Szenarien für den Weg des Renminbihin zu einer stärker international ausgerichtetenWährung auseinanderzusetzen. Besonders fürLänder, deren Exporte nach China einen großenAnteil an den Gesamtexporten ausmachen, könn-ten Änderungen im Status der chinesischen Wäh-rung von Bedeutung sein. Falls etwa anzunehmenist, dass sein Außenwert in Zukunft zunehmenwird, wäre der Renminbi als Anlagewährung in Be-tracht zu ziehen. Eine solche Annahme scheint re-alistisch angesichts der vermutlich weiter wachsen-den Exportstärke Chinas sowie vor dem Hinter-grund der positiven Entwicklung des Außenwertsdes Yen und des Won in vergleichbaren Entwick-lungsphasen Japans und Südkoreas.

Der Renminbi wird attraktiver

Chinas Währung hat viele Wege gefunden, insAusland und wieder zurück zu fließen, trotz allerKontrollen von ausländischen Direktinvestitionen,Auslandskrediten, Portfolio-Investitionen und sons -tigen in der Kapitalbilanz erfassten Transaktionen.Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, als ChinasGeschäftsleute eine Abwertung erwarteten, wur-den mehrere Milliarden Renminbi aus China ex-portiert. Seit einem knappen Jahrzehnt fließtinternationales Kapital nach China, weil eine Auf-wertung der Währung erwartet wird. Zudem wur-de chinesisches Kapital illegal aus China transfe-riert und als „ausländische Direktinvestition“ inChina wieder angelegt, weil durch Auslandskapitalfinanzierten Projekten bessere Investitionsbedin-gungen geboten wurden als inländischen Investi-tionen. Weiterhin sind vermutlich mehrere hun-dert Milliarden US-Dollar über Chinas Grenzentransferiert worden, indem Import- und Export-rechnungen gefälscht und Dreiecksgeschäfte fürKreditgeschäfte arrangiert wurden.2

All dies sind Indizien für die begrenzte Fähigkeitchinesischer Währungsbehörden, Geld- und Kapi-talkontrollen durchzuführen, aber auch für dieinternationale Attraktivität der chinesischen Wäh-rung. Die Attraktivität hängt mit den Wirtschafts-leistungen des Landes und mit den vorteilhaftenWirtschaftsstrukturen zusammen. Die Währungs-reserven sind die höchsten in der Welt und neh-men jeden Monat enorm zu. Der Anteil der chine-sischen Volkswirtschaft am Weltbruttoinlandspro-dukt beläuft sich bereits auf rund fünf Prozent,

Chinas Währungspolitik: Die Internationalisierung des Renminbi will gut überlegt seinProf. Dr. Wolfgang KlennerFakultät für Ostasienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum

Trotz des gesetzlichen Verbots wird Chinas Währung – der Renminbi – zunehmend auch außerhalb der Landesgrenzen

verwendet. Vor allem für Chinas Wirtschaftspartner wird die Währung immer attraktiver. Die chinesische Regierung hat

somit nicht mehr die Wahl zwischen einer strikten Binnenwährung und einer internationalisierten Währung. Vielmehr

steht zur Debatte, wie und wann der Kapitalverkehr liberalisiert werden sollte.

2 Vgl. Wolfgang Klenner, Chinas Finanz- und Währungspolitik nachder Asienkrise – Bilanz und Perspektiven der Reformpolitik, Stuttgart2006.

1 Vgl. Jing Li, Regionalization of the RMB and China´s CapitalAccount Liberalization, in: China & World Economy, Volume 12, No2, Institute of World Economies and Politics & Chinese Academy ofSocial Sciences, Beijing 2004.

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und wegen des Fortschritts auch im High-Tech-Sek-tor wurde China inzwischen eine der dynamischs -ten Regionen der Weltwirtschaft. Die meisten Be-obachter sind der Auffassung, dass die BedeutungChinas in dieser Hinsicht noch zunehmen wird.

Chinas Image hat sich geändert

Die Situation der chinesischen Staatsunterneh-men hat sich ebenfalls geändert: Petrochina, Chi-namobile, die Industrial and Commercial Bankund Sinopec zählen zu den weltweit größten Fir-men, auch wenn sich aufgrund von Turbulenzenan der chinesischen Börse ihr Wert kürzlich ver-ringerte. Größe allein ist nicht ausschlaggebend,vor allem nicht, wenn sie auf der Basis der starkschwankenden chinesischen Aktienkurse ermitteltwird. Aber es gibt eine zunehmende Zahl chinesi-scher Staatsbetriebe, die weltweit tätig sind odersich auf die Erschließung des Weltmarktes vorbe-reiten. Sie wirtschaften gut, sogar auf umkämpftenMärkten wie dem Automobil-, Stahl-, Elektronik-und Schiffsbausektor.3 Die Zeit scheint vorbei zusein, in der Staatsfirmen in erster Linie das staatli-che Budget belasteten. Viele erwirtschaften hoheGewinne und haben dazu beigetragen, dass derStaatssektor inzwischen einen erheblichen Vermö-genswert darstellt – eine Entwicklung, die nochvor 15 Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

China hat eine weitere Schwäche überwunden, in-dem es das Ausmaß konjunktureller Schwankungenreduzieren konnte. Inzwischen kontrolliert derStaat die Volkswirtschaft mithilfe moderner Instru-mente der Geldpolitik, wie der Diskontsatz-, der Of-fenmarkt- und der Mindestreservepolitik. Dies führ-te dazu, dass China ein neues Image in der europä-ischen Geschäftswelt erhielt. Manche Beobachtererwarten sogar , dass das Land dazu beitragen wird,die negativen Auswirkungen der amerikanischenKreditkrise abzumildern. Wenig Zweifel bestehtdaran, dass Chinas Exporte und Importe von deramerikanischen Krise beeinträchtigt werden. DasLand wird aber wegen seiner starken Wirtschaft,der guten Haushaltslage und – was noch vor Kur-zem als Schwäche angesehen wurde – seines staat-lich regulierten Finanzsystems für fähig gehalten,die derzeitigen weltwirtschaftlichen Turbulenzen zuglätten. Dieses positive Image hat sich wegen derfast zweistelligen Inflationsrate etwas verschlechtert.Chinas Situation ist aber wesentlich besser als die

vieler seiner Nachbarländer und nicht wesentlichschlechter als die der Europäischen Union (EU),wo die Inflationsrate über vier Prozent beträgt, dieWachstumsrate des Sozialproduktes aber nur einViertel des chinesischen Wertes erreicht.

Weniger optimistisch wird Chinas Wirtschaftssys-tem eingeschätzt. Dies kam zum Ausdruck, als sichzunächst die USA und später die EU weigerten,China den Status einer Marktwirtschaft einzuräu-men. Zwar wurde anerkannt, dass private Firmenund Marktmechanismen eine immer wichtigereRolle einnehmen und Chinas Volkswirtschaft do-minieren. Aber es gab viele Gründe, Chinas An-trag auf Anerkennung als Marktwirtschaft abschlä-gig zu beurteilen. Der Hauptgrund war, dass die Fi-nanzangelegenheiten der Staatsfirmen vom Staatkontrolliert werden und Staatsfirmen den größtenAnteil an den Krediten der vom Staat kontrollier-ten Banken erhalten. Private Firmen, die wesent-lich zum Anstieg der volkswirtschaftlichen Pro-duktivität beitragen, haben nur begrenzt Zugangzum staatlichen Finanzsystem. Diese Situation wirdvon manchen Beobachtern als „Steinzeit“ einerMarktwirtschaft bezeichnet.

Ist eine zusätzliche Weltwährung nötig?

Die Frage, ob die Weltwirtschaft an einem stärkerinternationalisierten Renminbi oder sogar amRenminbi als weitere Weltwährung Bedarf hat, wä-re vor nur wenigen Jahren verneint worden. Indiesem Zusammenhang hätte man auf die wenigpositiven Erfahrungen Japans verweisen können,das während des sogenannten Big Bang Anstren-gungen unternahm, aus dem Yen eine internatio-nal stärker nachgefragte Währung zu machen.Gleichwohl hat der Yen bis heute seine internatio-nale Position nicht wesentlich verfestigen können.

Allerdings wird argumentiert, dass im Währungs-bereich Umschichtungen wegen der gegenwärti-gen, wohl anhaltenden Probleme der USA zu er-warten seien. Der internationale Status des Dollarskönnte geschwächt werden, und der Dollar könn-te seine Rolle als wichtigste Weltwährung verlie-ren. Stattdessen könnten Zentralbanken undUnternehmen mehr Euro, Yen, Pfund und Schwei-zer Franken für ihre Transaktionen und zur Reser-vehaltung nutzen. Die Länder, die intensive Han-delsbeziehungen mit China haben, könnten daraninteressiert sein, den Renminbi als Zahlungsmittelund als Reservewährung zu nutzen – unter derVorraussetzung, dass China den Umlauf seinerWährung im Ausland legalisiert.

3 Vgl. Geoff Dyer/Richard McGregor, China´s champions – whystate ownership is no longer proving a dead hand, in: Financial Timesvom 17. März 2008.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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Entgegen solcher Erwartungen wurde der Einsatzdes Dollars als internationale Währung kaum be-einträchtigt. Die Probleme der amerikanischenWirtschaft und die Verluste derjenigen, die auf denDollar als Reservewährung setzen, sind schon seitLangem bekannt. Dennoch beläuft sich der Anteildes Dollars an den durchschnittlichen täglichen De-visentransaktionen auf fast 90 Prozent. Exportgüterwie Öl, Zucker, Weizen und Palmöl werden in Dol-lar abgerechnet. Sogar die Länder, deren Exportein die USA nur einen kleinen Teil ihrer Exporteausmachen, verwenden den Dollar. Darüber hinauswerden nahezu zwei Drittel aller Zentralbankreser-ven in Dollar gehalten. Die Alternativen haben ih-ren Status als Weltwährung nicht verbessern kön-nen. Die internationale Rolle des Yen hat in einzel-nen Bereichen abgenommen, und der Euro konn-te insofern nicht seine Rolle als Reservewährungder Zentralbanken ausbauen, als sein Anteil immernoch unter den addierten Anteilen der Vorgänger-währungen vor seiner Einführung im Jahr 1999liegt.4 Vor dem Hintergrund ist schwer vorstellbar,dass die Weltwirtschaft den Renminbi als weitereinternationale Währung benötigen könnte.

Die Dominanz des Dollars könnte jedoch Ergebnisder Inflexibilität des Weltwährungssystems sein. DerUmbau der auf dem Dollar basierenden kom -plexen Finanzarchitektur könnte hohe Kosten ver-ursachen. Genauer: Der Aufwand, das gegenwärtigeSystem in eine neue Währungsordnung zu transfor-mieren, könnte als zu hoch angesehen werden. Zuden Kosten gehören zum Beispiel der Wertverlustder Dollarreserven überall in der Welt, vor allemder Zentralbanken Japans, Chinas und Singapurs.Insofern könnte eine schrittweise Umstrukturie-rung des Weltwährungssystems weg vom Dollar er-wartet werden, sobald die Kosten seiner Beibehal-tung als wichtigste Währung höher werden als dieTransformationskosten. In dem Fall wäre vorstell-bar, dass Regierungen und Unternehmen solcherLänder, die intensive geschäftliche Beziehungenmit China haben, an einem Wechsel nicht nur hinzu den existierenden Währungsalternativen, son-dern hin zum Renminbi interessiert sind.

Risiken eines internationalen Renminbi

Seit Beginn der Wirtschaftsreformen waren dieKapitalkontrollen in China nie besonders effektiv.Die Internationalisierung des Renminbi ist bereits

ein Faktum. Chinas Regierung ist daher kaum mitder Frage konfrontiert, ob sie die Kapitalkontrol-len verstärken oder ob sie eine sorgfältig koordi-nierte Liberalisierung der Kapitalbilanz vorneh-men soll. Zur Debatte steht vielmehr, ob zu erwar-ten ist, dass entsprechende Liberalisierungsmaß-nahmen bald ergriffen und welche Schritte dieskonkret sein werden.

In diesem Zusammenhang sind die Vorteile undRisiken für ein Land, das eine internationale Wäh-rung stellt, von Bedeutung. Zu den Vorteilen zäh-len das Erzielen von Seignorage-Einkommen, dieReduzierung von Wechselkursrisiken und damitauch von Transaktionskosten, wenn internationa-len Transaktionen die eigene Währung zugrundegelegt wird, sowie die Möglichkeit, im AuslandKredite in eigener Währung aufzunehmen. Chinabräuchte sich nicht dem Risiko steigender Schul-den auszusetzen, falls seine Währung im Vergleichzu anderen internationalen Währungen abgewer-tet werden sollte – ein Problem, mit dem Thailandund andere asiatische Volkswirtschaften, derenSchulden in Dollar notiert waren, während der Fi-nanzkrise konfrontiert waren. Weitere Vorteile wä-ren die leichtere wirtschaftliche Integration Chi-nas mit solchen Ländern, die den Renminbi alsAustauschmittel akzeptieren, und vor allem die Er-höhung des Status als führende Wirtschaftsmacht.

Zu den Risiken gehören folgende Szenarien: DieBewahrung der Wechselkursstabilität könnteschwieriger werden, weil der Geldabfluss überHandelsdefizite oder Kapitalexporte akzeptiertwerden müsste, um internationale Liquidität zurVerfügung zu stellen. Die Geldpolitik könnte sichkomplexer gestalten, weil Zinssätze und Preisni-veau nicht nur von binnenwirtschaftlichen Fakto-ren beeinflusst würden, sondern auch von Ab- undZuflüssen von Renminbi. Schließlich läge es beiwirtschaftspolitischen Entscheidungen nahe, auchdie Wirtschaftspolitik der Partnerländer, in denengrößere Mengen von Renminbi in Umlauf sind, zuberücksichtigen.

Regionalisierung als erster Schritt

Wichtiger und problematischer sind jedoch die Ri-siken, die China auf dem Weg zur Internationali-sierung erwachsen, wenn es seine kontrollierteWährung und sein reguliertes Finanzsystem auf-gibt. Chinas Finanzfachleute scheinen sich dieserProbleme bewusst zu sein und diskutieren dahergegenwärtig als ersten Schritt lediglich eine Regio-nalisierung des Renminbi.

4 Vgl. Craig Karmin/Joanne Slater, Dollar´s Dive Deepens as Oil So-ars. Power of Greenback Faces Severe Test, But No Rivals Loom, in:The Wall Street Journal vom 29. Februar 2008.

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China

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Wenn dieser Weg eingeschlagen würde, müsstenKanäle für legale Ausflüsse von Kapital in ausge-wählte Länder und für Kapitalzuflüsse aus diesenLändern geschaffen werden. Zu den Kanälen fürAbflüsse gehören Handelsdefizite und zum Beispielausländische Direktinvestitionen chinesischer In-vestoren. Die Kanäle für Rückflüsse müss ten attrak-tive Bedingungen innerhalb Chinas für potenzielleInvestoren aus der betreffenden Region bieten.Hierzu wäre zunächst das Vertrauen in ChinasBankensystem und Kapitalmärkte zu stärken. Inzwi-schen wurde viel unternommen, um das Banken-system attraktiver zu machen, das sich nunmehr ineiner wesentlich besseren Lage als vor fünf odersechs Jahren befindet. Aber Ausländer könnten im-mer noch Bedenken haben, den Banken ihre Er-sparnisse anzuvertrauen. Chinas Kapitalmärkte sindebenfalls noch unterentwickelt und erheblichenFluktuationen ausgesetzt. Besonders Börsenwerteschwanken stark. Nur der Markt für Regierungsan-leihen könnte Erwartungen ausländischer Investo-ren erfüllen; er macht aber nur ein kleines Segmentdes chinesischen Kapitalmarktes aus.

Vor diesem Hintergrund könnte die regionale Li-beralisierung von Kapitalströmen zwischen Chinaund ausgewählten Partnern ein praktikablerSchritt hin zur vollen Konvertibilität des Renminbisein. So würde Zeit gewonnen, um die wichtigstenAuswirkungen kennenzulernen und auszuwertensowie rechtzeitig geeignete Rahmenbedingungenund Institutionen zu schaffen. Daher kann esnicht erstaunen, dass die Frage der Regionalisie-rung des Renminbi zurzeit ein wichtiges Diskus-sionsthema in China ist. Das Ergebnis einer Regio-nalisierung könnte aber enttäuschend und in An-betracht der nur begrenzten Fähigkeit der chine-sischen Regierung, internationale Kapitalströmezu kontrollieren, problematisch sein.

Probleme einer Regionalisierung

Seit mehr als einem Jahrzehnt sind an die Seitedes Multilateralismus bilaterale Handelsverträgegetreten. In vielen Fällen ergriffen gerade dieUSA, die sich lange Zeit für den Multilateralismuseingesetzt hatten, die Initiative und schufen einpolitisches Klima, in dem auch andere Industrie-länder wie Japan und Australien den scheinbar ra-scher zum Erfolg führenden Weg bilateraler Ab-kommen einschlugen. Häufig wird argumentiert,dass bilaterale Verträge die zweitbeste Lösungseien, wenn es wegen politischer und wirtschaft-licher Probleme schwierig ist, zu einem multilate-ralen Abkommen zu gelangen.

Diese Vermutung kann sich als falsch erweisen, wieein hypothetisches Beispiel zeigt: China und Chileschließen ein bilaterales Handelsabkommen. Da -raufhin vergrößern chilenische Eigentümer vonApfelplantagen ihre Anbauflächen. Kurz danachunterzeichnet China ein weiteres bilaterales Ab-kommen, zum Beispiel mit Indien. Indiens Bau-ern, denen nicht entgeht, dass China ein guter Ab-satzmarkt für Äpfel ist, beginnen, ebenfalls Apfel-plantagen anzulegen. Weil ihre Plantagen näherzum chinesischen Markt liegen und ihre Produk-tionskosten niedriger sind, ist es für sie sehr leicht,mit den chilenischen Bauern zu konkurrieren. DieBauern in Chile werden bald wahrnehmen, dass ih-re Investitionsentscheidung falsch war. Innerhalbdes nunmehr stärker multilateral ausgerichtetenhandelspolitischen Rahmenwerks erweist sich ihreEntscheidung sogar als extrem kostspielig, und siewerden vermutlich wünschen, ihre Regierung hät-te niemals einen bilateralen Vertrag geschlossen.

Möglicherweise sind bilaterale Rahmenbedingun-gen weniger schädlich, wenn sie nicht Handel undInvestitionen betreffen, sondern Finanzströme,die leichter umzulenken sind, sollte ein bilateralesVertragswerk eines Tages in ein multilaterales Ver-tragswerk umgewandelt werden. Aber auch siekönnen Schaden verursachen, da Finanzströmeinnerhalb eines bilateralen Rahmenwerks Signalefür Handels- und Investitionsentscheidungen set-zen, die sich immer dann als „falsch“ erweisenkönnen, wenn eines Tages ein stärker multilateralgeprägter Ansatz durchgesetzt wird. Hinzukommt, dass häufig diejenigen, die von den bilate-ralen Rahmenbedingungen profitieren, als Inte -ressengruppe den Wechsel zu einem multilatera-len Vertragswerk politisch bekämpfen.

Wichtiger für China ist jedoch seine schlechte Er-fahrung mit Kapitalkontrollen. Aller Voraussichtnach würde eine schrittweise Regionalisierung derchinesischen Währung nur formal zu begrenzterKonvertibilität führen. Vor dem Hintergrund derinternationalen Netzwerke chinesischer Geschäfts-leute, die bisher für illegale Kapitaltransfers ge-nutzt wurden, ist schwer vorstellbar, dass China inder Lage wäre, den freien Kapitalfluss auf eine be-stimmte Gruppe von Ländern zu beschränken.Vermutlich würde die Regionalisierung des Ren-minbi de facto rasch zu seiner vollen Internationa-lisierung führen. Geschäftsleuten, die bisher zumBeispiel die Virgin Islands für Kapitalverschiebun-gen nutzten, könnten Grenzregionen, zum Bei-spiel in Myanmar, zu Drehkreuzen internationalerKapitaltransaktionen machen. Sie würden auf dieWeise von den bilateralen Abkommen zwischen

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Internationale Wirtschaftspolitik

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China und seinen Nachbarn profitieren und siegleichzeitig infrage stellen. Der Einwand, Chinaschlösse voraussichtlich nur mit solchen Nachbar-ländern bilaterale Verträge, die ihrerseits Kapital-kontrollen haben, sodass die Gefahr einer Inter-nationalisierung des Renminbi gering wäre, istskeptisch zu beurteilen. Die Kontrollbehördenkönnten sich den Geschäftspraktiken internatio-naler Finanzakteure als nicht gewachsen erweisen.

Erfahrungen in anderen Ländern

Risiken für Chinas Finanzsystem entstündenaußerhalb und innerhalb des Landes. Allein inden letzten zwei Jahrzehnten ist die Liste der Bei-spiele für die außenwirtschaftlichen Risiken lang:Argentiniens, Chiles und Uruguays nur wenig kont -rollierte Öffnung der Finanzmärkte sowie die asia-tische Finanzkrise und die Probleme, mit denensich viele Wirtschaftspartner der USA als Ergebnisder amerikanischen Finanzkrise auseinanderset-zen müssen. Die bisherigen Finanzkrisen konnteChina verhältnismäßig unbeschadet überstehen,weil es Kapitalströme und seinen Finanzsektorhalbwegs kontrollierte.5 Nach einer formalen Re-gionalisierung seiner Währung wäre China aberimmer weniger in der Lage, sich von solchen Tur-bulenzen abzuschotten.

Japans Erfahrungen mit der Deregulierung seinesBankensystems und der gleichzeitigen Liberalisie-rung der Kapitalmärkte vor circa zwei Jahrzehntensind ein Beispiel für binnenwirtschaftliche Risi-ken.6 In jener Zeit durfte auf den Kapitalmärktenein immer breiteres Spektrum attraktiver Finanz-instrumente angeboten werden. Das Angebot ver-anlasste viele Firmen, sich dem Kapitalmarkt zuzu-wenden. Banken verloren einen Teil ihrer Ge-schäftsfelder. Sie hielten nach neuen Möglichkei-ten Ausschau und begannen, einer neuen Gruppevon Kunden Kredite zu gewähren: Geschäftsleu-ten, die Aktien und Grundstücke nicht kauften,um sie produktiv zu nutzen, sondern um sie zu ver-äußern, sobald ihre Preise hinreichend gestiegenwaren. Das Ergebnis dieses massiven kreditfinan-zierten Einkaufs von Aktien und Grundstückenwar die „Spekulationsblase“, die Japan ein Jahr-zehnt wirtschaftlichen Wachstums kostete.

China könnte bald die Liberalisierung des Ban -ken sektors und die Belebung seiner Kapitalmärkteauf die Agenda setzen. Die Maßnahmen sind nö-tig, um einen effizienteren Kapitaleinsatz durch-zusetzen und es dem Land zu ermöglichen, hoheWachstumsraten auch mit einer niedrigeren Spar-quote als bisher zu verwirklichen. Bei entspre-chenden Umstrukturierungen lassen sich Irrtü-mer und Fehler vermutlich nicht vermeiden. Einemöglicherweise hieraus resultierende Krise würdesich aber in China mit seinen Hunderten vonMillionen armer Menschen, die auf hohe und sta-bile Wachstumsraten des Sozialproduktes angewie-sen sind, nachteiliger auswirken als in Japan.

Stärkere Kontrollen des Finanzsystems

Chinas Finanzexperten diskutieren unterschiedli-che Szenarien zur Liberalisierung des Renminbi.Entwicklungen vorhersagen zu wollen, wäre daherzu früh. Aber in Anbetracht der Probleme, die sichaus der Regionalisierung des Renminbi ergeben,wäre es verständlich, wenn sich China zunächst aufseinen Bankensektor und Kapitalmarkt konzent -rierte, bevor es sich auch formal in Richtung einerInternationalisierung seiner Währung bewegte.

Interessant wird sein zu beobachten, welche Posi-tion China bei den gegenwärtigen Diskussionenum das internationale Finanzsystem einnimmt.Zahlreiche Finanzexperten in Europa ziehen, imGegensatz zu vielen Ökonomen in den USA undin England, die Entwicklung effizienter Instru-mente zur Vorbeugung von Krisen vor. Ein detail-lierteres, einheitliches Regelwerk zur Kontrolleglobaler Finanzströme wird für notwendig erach-tet. Es sollte alle Geschäfte und Risiken nicht nurvon Banken, sondern auch von Hedge-Fonds undsonstigen Finanzinstitutionen strafferen Regelun-gen unterwerfen. Chinas Finanzexperten, diefürchten, dass das globale Finanzsystem zu einemCasino werden könnte,7 scheinen diesen Ansatz zubefürworten. Sie fordern, jedes neue Finanzpro-dukt von Kontrollkommissionen untersuchen undgenehmigen zu lassen. Ein entsprechendes Systemkönnte China und anderen aufstrebenden Volks-wirtschaften die Integration in die Weltwirtschafterleichtern, da es weniger risikobehaftet wäre. �

5 Vgl. Wolfgang Klenner, a. a. O.6 Vgl. Tesuro Toya, The political economy of the Japanese FinancialBig Bang, Institutional Change in Finance & Public Policymaking, Ox-ford University Press, 2006.

7 Vgl. Jamil Anderlini, Beijing rebukes west over regulation, in: Fi-nancial Times vom 28. Mai 2008.

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China

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Spätestens seit 1990 hat Vietnam einen spektaku-lären wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, derdurch die Asienkrise nur kurz gedämpft wurde.Die Wachstumsraten der Pro-Kopf-Einkommen la-gen im Durchschnitt über fünf Prozent pro Jahr;gleichzeitig ging die Armut deutlich zurück. Gut20 Jahre früher litt das Land noch unter den Fol-gen eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs und ei-ner orthodoxen sozialistischen Misswirtschaft. Vordiesem Hintergrund ist der Wachstumsboom inVietnam als Wunder zu bezeichnen, zu dem es auf-grund besonders günstiger äußerer Umständekommen konnte. Auf den zweiten Blick kann mandas vietnamesische Wirtschaftswunder aber auchals Ergebnis einer gezielten Transformationsstra-tegie interpretieren, die als Erfolgsmodell für vieleandere Entwicklungs- und Schwellenländer die-nen kann.1

Historischer Überblick – Vor und nach den Wirtschaftsreformen

Die Eroberung Südvietnams durch die Truppendes kommunistischen Nordens beendete 1975 ei-nen 30-jährigen Bürgerkrieg. Im Jahr 1976 erfolg-te die offizielle Wiedervereinigung, deren ökono-mische Folge die Ausdehnung der sozialistischenPlanwirtschaft des sowjetischen Typs auf das ge-samte Land war. Die Kollektivierung des Privatei-gentums, die Abschaffung freier Märkte und strik-te Preiskontrollen lösten im Süden eine Wirt-schaftskrise aus, die sich auf das ganze Land aus-weitete. Gerade die besser qualifizierten Arbeits-kräfte wanderten in großer Zahl aus. Die ökono-

mische Krise war verbunden mit zunehmender po-litischer Isolation des Landes, insbesondere nachder vietnamesischen Invasion in Kambodscha1978 und den militärischen Grenzkonflikten mitChina 1979 – zumal der einzige internationale Ver-bündete, die Sowjetunion, unter der eigenen Wirt-schaftskrise litt. Gleichzeitig wurde ab 1980 deut-lich, dass die Wirtschaftsreformen in China dorteinen neuen und unumkehrbaren Wachstums-schub ausgelöst hatten.

Hungersnöte, Hyperinflation und die Gefahr, vonder ökonomischen Dominanz des großen Nach-barn im Norden erdrückt zu werden, zwangenschließlich die kommunistische Führung Viet-nams zum Handeln. Der 6. Kongress der Kommu-nistischen Partei Vietnams verabschiedete 1986 ei-ne umfassende wirtschaftliche Reformagenda un-ter dem Titel „Doi Moi“ (Erneuerung). Doi Moiumfasste die Anerkennung von Privateigentum,das Bekenntnis zur makroökonomischen Stabili-sierung, die Abschaffung der Güterrationierungund die Einführung freier Preisbildung. Der Rück-zug aus Kambodscha 1989, die Aufhebung des US-Embargos 1994 und die Aufnahme in den Ver-band Südostasiatischer Nationen ASEAN (Associa-tion of Southeast Asian Nations) im Jahr 1995 öff-neten den Weg zu einer politischen und ökonomi-schen Reintegration Vietnams in die Weltgemein-schaft, der 2007 in die Aufnahme in die Welthan-delsorganisation (WTO) mündete.

In die Konzeption von Doi Moi flossen die Erfah-rungen anderer wirtschaftlich erfolgreicher Staa-ten Ostasiens ein:

� Nachhaltiges Wirtschaftswachstum wird am bes -ten durch Exportorientierung, makroökonomi-sche Stabilität und Investitionen in Humankapitalgefördert.

Wohlstand für alle in Vietnam:Ergebnis erfolgreicher WirtschaftspolitikDipl.-Volksw. Myriam Hadnes/Prof. Dr. Rainer KlumpLehrstuhl für wirtschaftliche Entwicklung und Integration an der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Vietnam zählt zu den wirtschaftlich besonders erfolgreichen Ländern Ostasiens. Das Land gilt als Musterbeispiel für eine

gezielt breitenwirksame Wachstumspolitik. Sie führte nicht nur zu hohen Wachstumsraten, sondern konnte gleichzeitig

die Massenarmut drastisch senken.

1 Vgl. Rainer Klump, Pro-poor Growth in Vietnam: Miracle or Mo-del?, in: Timothy Besley/Louise J. Cord (Hrsg.), Delivering on the Pro-mise of Pro-poor Growth – Insights and Lessons from Country Ex-periences, World Bank and Palgrave Macmillan, Washington D. C.2007, Seiten 119–146.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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� Ein marktwirtschaftliches System ist mit einemautoritären politischen System kompatibel, wenndie herrschenden Eliten als Urheber des Boomsangesehen werden.

� Wirtschaftswachstum ist nicht zwingend mitstark wachsender Ungleichheit verbunden, son-dern kann gezielt zur Minderung von Massenar-mut eingesetzt werden.

Gleichzeitig profitierten die vietnamesischenWirtschaftsreformen von positiven Ausgangsbe-dingungen:

� Im Süden Vietnams hatte man bereits Erfah-rungen mit einer funktionierenden Marktwirt-schaft in der Zeit vor 1975; in Nordvietnam warwährend des Bürgerkriegs die Planwirtschaft sehrflexibel und pragmatisch betrieben worden.

� Fast drei Millionen Vietnamesen, die im – zu-meist hoch entwickelten – Ausland lebten, standenbereit, um mit finanzieller Unterstützung, Wis-senstransfer und internationalen Geschäftsnetz-werken den Aufschwung der vietnamesischenWirtschaft zu unterstützen.

� Die Dominanz des Agrarsektors in Vietnammachte die Systemtransformation einfacher als inLändern, in denen es einen dominierenden volks-eigenen Industriesektor gab.

� Die Lage des Landes inmitten der Boom-Regionder Weltwirtschaft erleichterte den Auf- und Aus-bau der internationalen Wirtschaftsbeziehungen.

Angesichts dieser besonderen Faktoren resultierteaus der Rückständigkeit der vietnamesischen Wirt-schaft im Vergleich zu vielen Nachbarländern eingroßes Wachstumspotenzial. Dass das Potenzial ge-nutzt werden konnte und dass es auch erhaltenblieb, nachdem die günstigen Ausgangsbedingun-gen ihre Wirkungen eingebüßt hatten, muss als Er-folg der praktizierten Wirtschaftspolitik gewertetwerden.

Entwicklung in drei Phasen

Seit Beginn der Doi-Moi-Reformen hat Vietnamspektakuläre Erfolge bei den Kennzahlen wirt-schaftlicher Entwicklung erzielt. Mit durchschnitt-lichen jährlichen Wachstumsraten des Bruttoin-landsprodukts (BIP) von fast sieben Prozent überdie gesamte Periode ist Vietnam eines der amschnellsten wachsenden Länder der Erde. Wederdie Asienkrise noch die SARS-Epidemie oder dieFolgen der Geflügelpest konnten das Wachstumstoppen, wenn auch die hohen Wachstumsratender 1990er Jahre nach der Jahrtausendwendenicht mehr erreicht werden konnten. Da gleich-zeitig das Bevölkerungswachstum reduziert wer-den konnte, ergab sich ein durchschnittlichesjährliches Wachstum des BIP pro Kopf von rundfünf Prozent, das im internationalen Vergleich

Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008) 49

Vietnam

Wirtschaftswachstum in Vietnam

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts in Prozent

Quelle: Bundesagentur für Außenwirtschaft

1999

4,8

2000

6,8

2001

6,9

2002

7,1

2003

7,3

2004

7,8

2005

8,4

2006

8,2

2007

8,5

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noch eindrucksvoller ist. Auch der kontinuierlicheAnstieg des Human Development Index (HDI),der neben dem Einkommen die Lebenserwartungund den Bildungsgrad der Bevölkerung berück-sichtigt, unterstreicht den Erfolg Vietnams bei dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Innerhalb der Gesamtentwicklung seit Beginn vonDoi Moi lassen sich drei Phasen des Wachstumsmit jeweils unterschiedlichen strukturellen Merk-malen unterscheiden.

� Die erste Phase (1986–1991) war gekennzeich-net durch hohe Exporte von Agrarprodukten(hauptsächlich Reis) und Rohstoffen (hauptsäch-lich Öl). Der Anteil der Landwirtschaft am BIPund an der gesamten Beschäftigung ging in dieserPhase nur leicht zurück, während der unterentwi-ckelte Dienstleistungssektor stark wuchs. Der An-teil der Industrie am BIP verringerte sich als Folgeder Umstrukturierung unrentabler Staatsbetriebe.

� In der zweiten Phase (1992–1997) verdoppeltesich der Export von Industriegütern, obwohl derBeschäftigungsanteil in der Industrie noch nichtstark stieg.

� Dies änderte sich in der dritten Phase (seit1998). Der Anteil der Industrie am BIP und an dertotalen Beschäftigung wuchs nun ebenso wie ihrAnteil an den Exporten.

Besonders eindrucksvoll ist die massive Verringe-rung der Armut, die mit dem Wachstumsboom inVietnam einherging (Tabelle). Die nationale Ar-mutsquote lag, gemessen nach der Definition derWeltbank, 1986 noch bei etwa 75 Prozent; 2002war sie bereits unter 30 Prozent gefallen; heute sollsie bereits unter 20 Prozent liegen. Armut in Viet-nam herrscht besonders in bestimmten ländlichenGegenden und unter den ethnischen Minderhei-ten des Landes. So sind die Regionen mit denhöchsten Armutsquoten – North West und CentralHighlands – typisch ländliche Regionen mit demhöchsten Anteil ethnischer Minderheiten. Die Re-

gionen mit den geringsten Armutsquoten – SouthEast und Red River Delta – befinden sich um diebeiden urbanen Zentren des Landes herum: HoChi Minh-City (Saigon) und Hanoi.

Breitenwirksames Wachstum

Da die Mehrzahl der Armen in Vietnam auf demLand lebt, sind landwirtschaftlicher Boden undunqualifizierte Arbeit als Produktionsfaktoren diewichtigsten strategischen Komplemente für eineerfolgreiche Politik breitenwirksamen Wachstums.Die Verfügbarkeit der ungelernten Arbeit verän-dert sich mit dem Wachstum und dem Gesund-heitszustand der Bevölkerung. Das Bevölkerungs-wachstum sank deutlich, nachdem die vietnamesi-sche Regierung ab 1988 das offizielle Ziel der„Zwei-Kind-Familie“ proklamiert hatte. Ein landes-weites Programm der Familienplanung wurde ent-wickelt und durchgesetzt. Der Gesundheitszustandder vietnamesischen Bevölkerung wird im Ver-gleich zu vielen anderen Entwicklungsländern alsgut eingeschätzt, insbesondere auch der Gesund-heitszustand von Kindern.

Was den Faktor Boden angeht, war einer der ers -ten Schritte der Doi-Moi-Reformen die Auflösungder sozialistischen Landwirtschaftskollektive. Seit1988 wurden private Landnutzungsrechte garan-tiert, und die Neuverteilung des Landes erfolgterelativ gleichmäßig. Das 1993 verabschiedeteLandgesetz regelte die Vererbung, den Verkaufund die Beleihung der privaten Landnutzungs-rechte. Diejenigen Provinzen, in denen die Neu-verteilung der Landnutzungsrechte schnell undeffizient abgewickelt wurde, konnten besondersstarke Zuwachsraten in der Produktivität derLandwirtschaft erzielen und besonders schnell dieArmut breiter Schichten senken.

Allerdings ist die Verfügbarkeit fruchtbaren land-wirtschaftlichen Bodens auch in Vietnam begrenzt.Die rasche Expansion der landwirtschaftlichen Pro-duktion in der ersten Reformperiode führte nichtnur zu zunehmender Bodenverknappung, son-dern auch zu Bodenerosion im Hochland sowie zuökologischen Problemen als Folge von Überdün-gung und Einsatz von Pestiziden in den beidenDeltaregionen im Norden und im Süden. Eine wei-tere Steigerung der landwirtschaftlichen Produkti-vität wird nur durch massiven technischen Fort-schritt in der Landwirtschaft (in Form ertragrei-cherer Sorten und effizienterer Anbauverfahren)möglich sein, der wiederum massive Investitionenin die landwirtschaftliche Forschung voraussetzt.

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Internationale Wirtschaftspolitik

Armutsraten

Headcount-Index* in Prozent

1993 1998 2002 2004

National 58,1 37,4 28,9 24,1

Stadt 25,1 9,2 6,6 10,8

Land 66,4 45,5 35,6 27,5

* Der Headcount-Index ist ein von der Weltbank genutzter Armuts-indikator. Er gibt den Prozentsatz der Bevölkerung eines Landes an, dernach dem Pro-Kopf-Konsum unter eine bestimmte Armutsgrenze fällt.

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Entwicklung des Kapitalmarkts

Angesichts der zunehmenden Knappheit des Bo-dens musste die Strategie breitenwirksamenWachstums auch auf andere Komplemente zu un-qualifizierter Arbeit aufbauen: auf qualifizierte Ar-beit und auf Kapital. Ein Erbe der sozialistischenZeit waren der relativ hohe Alphabetisierungsgradder vietnamesischen Bevölkerung und die hohenWerte bei Humankapitalindikatoren, bei denendie Durchschnittswerte erhebliche Unterschiedezwischen den Regionen, zwischen den ethnischenGruppen sowie zwischen Männern und Frauenverdeckten. Generell waren die Voraussetzungenaber gut, um in Vietnam zusätzlich zur landwirt-schaftlichen Produktion auch immer stärker eineindustrielle Produktion mit höher qualifiziertenArbeitskräften zu entwickeln.

Kapitalbildung und Kapitalmarkt stellten bisherdie Achillesferse des vietnamesischen Wachstums-booms dar. Zwar verdoppelte sich die Bruttoinves-titionsquote von 15 Prozent im Jahr 1991 auf 30Prozent im Jahr 2001, allerdings standen dahintervor allem massive Investitionen des Staates undstaatlicher Unternehmen. Die Auslandsdirektin-vestitionen wuchsen bis zur Asienkrise stetig bisauf 30 Prozent der gesamten Investitionen an, san-ken danach wieder ab und verharren seitdem aufeinem Niveau von etwa 20 Prozent.

Die Entwicklung der privaten inländischen Erspar-nis und Investitionen wurde durch die nur langsamvollzogene Reform des staatlichen Banken systemsund den Aufbau eines funktionierenden Kapital-markts begrenzt. Erst im Jahr 2000 wurde die Bör-se in Ho Chi Minh-City eröffnet. Nachdem zu-nächst nur zwei Papiere notiert waren, wurden2008 schon über 500 verschiedene Wertpapieregehandelt. Die über die Börse gehandelten Papie-re unterliegen einem hohen Spekulationsrisiko,wie man im ersten Halbjahr 2008 deutlich sehenkonnte, als der vietnamesische Aktienmarkt knapp60 Prozent seines Wertes verlor. Der sich entwi-ckelnde private Geschäftssektor finanziert sich inVietnam heute immer noch hauptsächlich über in-formelle Kredite von Familienangehörigen oderGeschäftsfreunden.

Sektorale Entwicklung

Auch die sektorale Analyse beginnt naturgemäßmit dem Agrarsektor, der in Vietnam traditionellvom Reisanbau dominiert wird. Sowohl die Pro-duktion von Reis und die dabei erzielten Einkom-

men als auch der Konsum von Reis als Grundnah-rungsmittel gerade der ärmeren Bevölkerungs-gruppen wirken sich deutlich auf die gesamtwirt-schaftliche Armutsentwicklung aus. Doi Moibrachte eine umfassende Liberalisierung des Bin-nen- und des Außenhandels mit Reis mit sich. DerWert der Reisexporte Vietnams wuchs zwischen1992 und 1998 um fast zehn Prozent pro Jahr. DasLand, das noch Anfang der 1980er Jahre mit Hun-gersnöten zu kämpfen hatte, war 20 Jahre späterder zweitgrößte Reisexporteur auf dem Weltmarkt.Vom durch die Landwirtschaftsreform ausgelöstenEinkommensanstieg profitierten die Landwirte imSüden überproportional, auch weil sie frühzeitigihr Angebot diversifizierten, zum Beispiel im zent -ralen Hochland in den Kaffeeanbau oder an derKüste in die Fischzucht.

Die Entwicklung Vietnams im Nicht-Agrarsektorist gekennzeichnet durch den Rückbau der staat-lichen Unternehmen und das langsame, aber ste-tige Wachstum eines privaten Industrie- undDienstleistungssektors. Die Restrukturierung dersozialistischen Staatsbetriebe durch Betriebsschlie-ßungen, Betriebszusammenlegungen und Privati-sierung schritt einerseits zügig voran: Von 12 000Staatsbetrieben, die es 1991 gab, existierten 1994nur noch 6 000 und 2004 weniger als 5 000; schonin der ersten Phase verloren fast eine Million Ar-beitskräfte ihren Arbeitsplatz, darunter überpro-portional viele Frauen. Die gesamtwirtschaftlichenFolgen blieben aber gering, da sowohl die Land-wirtschaft als auch der private Industriesektor undvor allem der stark wachsende Dienstleistungsbe-reich Arbeitskräfte nachfragten. Allerdings zeich-nete sich die Privatisierungspolitik auch durch er-hebliche Asymmetrien aus. Privatisiert wurden vorallem die unrentablen Staatsunternehmen, dievon den Provinzregierungen geführt wurden.Weiterhin in Staatsbesitz blieben die profitablenStaatsunternehmen, die direkt der Zentralregie-rung unterstellt sind, darunter die nationale Ölge-sellschaft, die nationale Telefongesellschaft unddie nationale Fluglinie.

Zur Förderung der Privatwirtschaft wurde bereits1991 ein Unternehmensgesetz erlassen, auf dessenGrundlage in der Folgezeit im Durchschnitt jähr-lich 5 600 neue Unternehmen angemeldet wur-den. Eine Novellierung des Gesetzes im Jahr 2000,durch die die Registrierung neuer Unternehmenerleichtert wurde, hatte zur Folge, dass die jähr-lichen Anmeldezahlen auf fast 20 000 stiegen. DerBoom der Privatunternehmen, in der Mehrzahlkleine Firmen, hatte auch einen deutlich positivenEffekt auf die Beschäftigungsentwicklung nach

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Vietnam

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der Asienkrise. Eine große Zahl der neuen Unter-nehmen ist im Groß- und Einzelhandel tätig, da-neben aber auch in der Nahrungsmittel- undHolzverarbeitung sowie in der Textilwirtschaft. Ge-rade in den zuletzt genannten Industrien gibt eszahlreiche Joint Ventures mit ausländischen Inves-toren, die ebenfalls zur positiven Wachstums- undBeschäftigungsentwicklung beigetragen haben.

Der Boom der nicht-landwirtschaftlichen Entwick-lung hat die regionalen Ungleichgewichte in Viet-nam verstärkt. Der südliche Wachstumspol um HoChi Minh-City trägt etwa ein Drittel zum BIP bei,der nördliche Wachstumspol im Hanoi knapp einViertel. Zur Entlastung der beiden Zentren treibtdie vietnamesische Regierung schon seit längererZeit das Projekt eines dritten Wachstumspols inder Mitte des Landes zwischen Da Nang und Huevoran. Großprojekte wie der Bau einer Raffinerienahe Da Nang oder die Verbesserung der Verbin-dung zwischen Da Nang und Hue durch einenTunnel unter dem Wolkenpass sollen die Attrakti-vität der Industrieansiedlung in dieser Region er-höhen. Sie könnte mittel- und langfristig zusätzli-che Impulse durch die Erschließung von Märktenin Nordthailand und Laos erhalten.

Liberalisierung und Dezentralisierung

Die Reformen wurden im Jahr 1989 durch ein um-fassendes Stabilisierungsprogramm ergänzt. DasReformpaket beinhaltete eine Abwertung der viet-namesischen Währung, eine Drosselung der Sub-ventionen für staatliche Unternehmen, schärfereBudgetrestriktionen auf allen Verwaltungsebenensowie eine Neugestaltung des Steuersystems. Zu-sammen mit einer monetären Restriktionspolitikkonnten die Reformmaßnahmen die Hyperinfla-tion wirkungsvoll bekämpfen. Die Inflationsratesank schnell und drastisch, und durch die höhereKaufkraft verbesserte sich das Los der Armen un-mittelbar. Durch die geringere Inflation verringer-te sich beispielsweise auch die Volatilität der Reis-preise, sodass die Preisrisiken sowohl für die Ver-braucher als auch für die Produzenten sanken.

Die makroökonomische Stabilisierung war schließ-lich auch eine wesentliche Voraussetzung für dieaußenwirtschaftliche Öffnung Vietnams, die überden Beitritt zur ASEAN (Association of SoutheastAsian Nations), zur ASEAN-Freihandelszone AFTA(ASEAN Free Trade Area) und zur Asiatisch-Pazi-fischen Wirtschaftsgemeinschaft APEC (Asia-Paci-fic Economic Cooperation) sowie zahlreiche bila-terale Handelsabkommen (darunter mit den

USA) schließlich 2007 zur Aufnahme in die WTOführte. Die Auswirkungen der Außenhandelslibe-ralisierung waren weitreichend. Sie beinhaltetendie Annäherung der Inlands- an die Weltmarkt-preise, die Abschaffung von Exportquoten, dieVerringerung inländischer Subventionen sowieden freieren Marktzugang für ausländische Produ-zenten und Investoren. Deutlich schlug sich die Li-beralisierung in der Veränderung der Struktur desvietnamesischen Außenhandels nieder. Währendin der ersten Phase von Doi Moi die agrarintensi-ven Exporte dominierten, stieg ab 1990 der Anteilder Exportgüter mit hoher Intensität nicht-qualifi-zierter Arbeit drastisch an. Seit 1995 erhöht sichauch der Anteil der humankapitalintensiven Ex-portgüter.

Zum Doi-Moi-Reformprogramm zählten auchzahlreiche institutionelle Veränderungen, darun-ter ein Programm zur Dezentralisierung derStaatsverwaltung. Seit 1995 werden administrative,fiskalische und politische Verantwortlichkeiten aufdie lokale bzw. die Provinzebene verlagert; seit2002 verbinden sich diese Ansätze mit dem Zielder Comprehensive Poverty Reduction andGrowth Strategy (CPRGS), den Prozess von Wachs-tumsförderung bei gleichzeitiger Armutsreduk-tion gezielt auf die regionale Ebene zu übertragen.Dabei ist die fiskalische Dezentralisierung schonrelativ weit gediehen. Nur noch 40 Prozent alleröffentlichen Ausgaben und 55 Prozent aller sozia-len Ausgaben werden über die Zentralregierungabgewickelt, während der Rest in der Verantwor-tung von Regionen, Provinzen und Kommunenliegt. Seit 2002 gibt es weitere Fortschritte in derpolitischen Dezentralisierung mit einer Übertra-gung von Budgetrechten von der nationalen aufdie unteren Entscheidungsebenen.

Relativ unterentwickelt ist dagegen die administra-tive Dezentralisierung, die bisher wenig regionaleFlexibilität in der Umsetzung von staatlichen Pro-grammen gebracht hat. Genau dies scheint derGrund zu sein, warum die staatlichen Programmezur gezielten Armutsminderung in Problemregio-nen insgesamt wenig erfolgreich waren. Dies trifftinsbesondere für Programme zur Verbesserungder wirtschaftlichen Lage der ethnischen Minder-heiten in Vietnam zu, die häufig an den konkretenBedürfnissen der Betroffenen vorbei konzipiertwerden. Andere Programme wurden gezielt zurUnterstützung armer Haushalte oder armer Dör-fer konzipiert, sie konnten allerdings das Entste-hen und Anwachsen großer interregionaler Unter-schiede nicht verhindern. Als weitgehend erfolg-reich erwies sich dagegen das staatliche Investi-

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Internationale Wirtschaftspolitik

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tionsprogramm in den Auf- und Ausbau der In-frastruktur. Es verbesserte die Verbindungen zwi-schen den Märkten in den städtischen Zentrenund dem ländlichen Hinterland, erleichtert dieinterne Migration von Arbeitskräften ebenso wiedie Rücksendung von Geld in die Heimatgemein-den und dient letztlich der Verfestigung einerfunktionsfähigen Marktwirtschaft.

Herausforderungen für die Zukunft

Der Erfolg der vietnamesischen Entwicklungspoli-tik in den vergangenen 20 Jahren darf nicht denBlick auf die Probleme verstellen, denen sich dasLand gegenüber sieht. Ein Problem, auch mitBlick auf die zukünftige politische Stabilität desLandes, stellen die wachsenden Ungleichgewichtezwischen den Regionen und Provinzen des Landesdar. Trotz aller staatlichen Maßnahmen zur He-bung des Lebensstandards in abgelegenen Regio-nen und zur Entwicklung eines neuen Wachstums-pols in der Mitte des Landes ist die Anziehungs-kraft der beiden großen urbanen Zentren unge-brochen, wobei die südliche Metropole Ho ChiMinh-City das Wachstum im nördlichen ZentrumHanoi deutlich übertrifft. In beiden großen Zent -ren entstehen inzwischen neue Formen städti-scher Armut, die durch das Raster der bisherigenMaßnahmen zur Armutsbekämpfung zu rutschendrohen. Und in den armen ländlichen Regionensind es vor allem die zahlreichen ethnischen Min-derheiten des Landes, deren Einkommen deutlichlangsamer wachsen, was wiederum politischeSpannungen heraufbeschwört. Eine Schlüsselrollebeim Abbau der Spannungen werden auch weiter-hin Investitionen in den Auf- und Ausbau der In-

frastruktur und des Humankapitals auch in abge-legenen Provinzen spielen.

Abhilfe gegen ökonomische Ungleichheit und po-litische Spannungen kann an vielen Stellen die För-derung des Wachstums im privaten Sektor schaf-fen, sozusagen eine besondere vietnamesischeForm der Mittelstandspolitik. Auch in armen Re-gionen gibt es inzwischen private Unternehmer,die in vielfältiger Form mit dem Weltmarkt verbun-den sind und über profitable Exporte dauerhafteArbeitsplätze schaffen. Die weitere Expansion desprivaten Sektors wird aber immer wieder begrenzt,nicht nur durch rigide Bürokratie und immer nochzu wenig entwickelte Infrastruktur, sondern vor al-lem durch den relativ zurückgebliebenen Finanz-markt. Auch die Entwicklung der Börse konnte kei-nen vollwertigen Ersatz für ein solides System derUnternehmensfinanzierung über Banken und an-dere formelle Finanzintermediäre bieten.

Letztlich wird die Breitenwirksamkeit des ökono-mischen Wohlstands in Vietnam aber auch weiterepolitische Reformen auslösen. Es liegt nahe, dasseine adäquate Politik der Wachstumsförderungund Armutsbekämpfung auf Provinzebene unter-schiedlich aussehen kann in Abhängigkeit von denbesonderen strukturellen Voraussetzungen. DieUmsetzung unterschiedlicher Politikansätze erfor-dert aber eine Stärkung der politischen Macht derRegionen und Provinzen gegenüber der Zentral-regierung. Dies wiederum setzt voraus, dass auchdie politische Legitimation der dezentralen Ebe-nen wächst. Das vietnamesische Wirtschaftswun-der verspricht ein interessantes Experimentierfeldfür Entwicklungsstrategien zu bleiben, die einbreitenwirksames Wachstum zum Ziel haben.2 �

2 Vgl. Thomas Bonschab/Rainer Klump, Pro-Poor Growth in Viet-nam: Explaining the Spatial Differences, in: Michael Grimm/StephanKlasen/Andrew McKay (Hrsg.), Determinants of Pro-poor Growth –Analytical Findings from Country Cases, Palgrave Macmillan, Hound-mills 2007, Seiten 81–110.

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Vietnam

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Trotz des Scheiterns des Sozialismus im Jahr 1989haben in Deutschland Begriffe wie Freiheit, Kapi-talismus, Globalisierung oder Neoliberalismus kei-nen guten Klang. Das Meinungsklima wird be-herrscht durch Schlagworte wie Sicherheit, sozialeGerechtigkeit oder Gleichheit. Auf der Tagesord-nung der Parteien und Verbände stehen Mindest-löhne, Steuerkartelle, wachstumsorientierte Staats-ausgabenpolitik, sektorale Planwirtschaften, egali-täre Sozialpolitik, Stilblüten des Interventionismusund manches mehr, was mit Liberalismus unver-einbar ist.

Die Einsicht, dass für die Menschen in der Bundes-republik nach 1948 inmitten eines Meers von sozi-alistischen und halbsozialistischen ExperimentenWohlstand für alle möglich wurde, weil Ludwig Er-hard den Mut zu einer nicht anders als „neoliberal“zu charakterisierenden Reformpolitik fand, giltheutzutage nicht allzu viel. Der Begriff der „Sozia-len Marktwirtschaft“ ist längst so gründlich umge-deutet worden, dass niemand mehr mit Wider-spruch rechnen muss, sondern Beifall erwartenkann, wenn er Soziale Marktwirtschaft als Ord-nungsmodell vor den Unbilden eines Neolibera-lismus schützen will. Die intellektuelle KulturDeutschlands und anderer westlicher Staaten istunübersehbar antiliberal und antikapitalistisch ge-prägt: Wer hierfür verlässliche Indikatoren sucht,muss nur die jüngeren „Unwörter des Jahres“durchmustern oder die stattliche Ehrentafel mehroder weniger skurriler Kommunisten betrachten,die in den letzten zehn Jahren mit dem Literatur-nobelpreis ausgezeichnet wurden.

Die Beispiele sind äußere Symptome dafür, dassdiejenigen, die die Idee der Freiheit befürworten

und die kollektivistischen Bewegungen als dasHauptübel des 20. Jahrhunderts ansehen, die„Sprachgebrauchspolitik“,1 das Feuilleton, das kul-turelle Leben, die Berufungs- und Forschungspo-litik an den Universitäten, den Wirtschaftsjourna-lismus, die Pädagogik, die Lehrerausbildung sowieanderes mehr, was die öffentliche Meinung auflange Sicht prägt, der Gegenseite überlassen ha-ben. Zur Liste der Versäumnisse gehört auch dieGeschichtspolitik: Die einzige quellengesättigteBiographie über Ludwig Erhard, die bis heute vor-liegt, ist in einer eher gehässigen Tonlage verfasst.2Und nach wie vor werden in vielen Darstellungenzur Ideengeschichte der Bundesrepublik liberal-konservative Intellektuelle als Gesinnungsgenos-sen und Handlanger des Nationalsozialismus, zu-mindest eines bösartig reaktionären Autorita-rismus abgestempelt.

Mont Pèlerin Society – Forum zum Gedankenaustausch

Auch die Geschichtsschreibung zur Mont PèlerinSociety (MPS), der international wohl wirkungs-vollsten Vereinigung liberaler Intellektueller im20. Jahrhundert, hat man im deutschen Sprach-raum bislang im Wesentlichen einer an Karl Marxund Antonio Gramsci geschulten Forschung über-lassen. Die Forschung verstieg sich – zugegebener-maßen auf der Grundlage gründlicher Quellen-

Wandlungen des Neoliberalismus –Zu einem Buch von Philip PlickertDr. Hans Jörg HenneckePrivatdozent an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock

1947 kamen auf Einladung Friedrich August von Hayeks 36 liberale Intellektuelle – meist Ökonomen, aber auch Historiker

und Philosophen – zusammen, um Gegenwart und Zukunft des Liberalismus zu diskutieren. Die Gruppe nannte sich „Mont

Pèlerin Society“, nach dem Schweizer Berg, unterhalb dessen die Tagung stattfand. Die Mitglieder betonten, dass ihre Ab-

sicht nicht in der Aufstellung orthodoxer Glaubenssätze, der Ausrichtung nach jedweder Partei oder öffentlichkeitswirksa-

men Auftritten bestand. Ihr Ziel war einzig der Austausch zwischen geistesverwandten Gelehrten, um die Prinzipien einer

freien Gesellschaft zu festigen sowie Stärken und Schwächen marktwirtschaftlicher Systeme zu untersuchen.

1 Hermann Lübbe, Fortschritt als Orientierungsproblem im Spiegelpolitischer Gegenwartssprache, in: Clemens Graf Podewils (Hrsg.),Tendenzwende? Zur geistigen Situation der Bundesrepublik, Stutt-gart 1975, Seiten 8–24, hier Seite 13.2 Gemeint ist die Biographie von Volker Hentschel, Ludwig Erhard.Ein Politikerleben, München 1996.

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Liberalismusforschung

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Buchbesprechung

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kenntnis – zu abenteuerlichen Verschwörungsthe-orien. Vor diesem Hintergrund verdient eine Tü-binger Dissertation über die Entwicklung und Aus-strahlung der MPS Beachtung, die von Philip Plickert vorgelegt wurde. Plickert ist ein junger Wirt-schaftswissenschaftler, der Lesern des RheinischenMerkurs, der Tagespost oder seit einiger Zeit derFrankfurter Allgemeinen Zeitung durch seine wirt-schaftspolitischen Artikel ein Begriff sein dürfte.Wer an einer peniblen Vereinschronik und an De-tails der Organisation, Finanzierung oder Mitglie-derentwicklung der Gesellschaft interessiert ist,greift nach wie vor besser zur offiziösen Darstel-lung des früheren MPS-Präsidenten Ronald M.Hartwell aus dem Jahr 1995.3 Plickerts Arbeit infor-miert auch über solche Aspekte, legt aber ihrenSchwerpunkt auf die inhaltliche Entwicklung derMPS seit ihrer Gründung 1947 und auf die Außen-wirkung, die ihre Mitglieder auf die Wirtschaftspo-litiken in verschiedenen Ländern entfaltet haben.

Mit seiner detailreichen, aber gut proportionier-ten und eingängig formulierten Arbeit entziehtPlickert manchen Mythen den Boden. Er bietet ei-ne Darstellung, die gründlicher und seriöser ist alsalles, was deutschsprachige Leser bislang über dieVor- und Gründungsgeschichte sowie die innereEntwicklung der MPS finden konnten. Vor allemzwei grundlegende Beobachtungen kristallisierensich bei der Lektüre heraus:

� Die MPS war niemals eine politisch aktive Or-ganisation, die auf Eigenwerbung, Beratungstätig-keit oder öffentliche Stellungnahmen ausgerichtetgewesen wäre. Immer wieder gab es Mitglieder, dieeine aktivere Rolle in die Öffentlichkeit hinein ge-wünscht haben. Bis heute setzte sich aber die vonihrem Gründungspräsidenten Friedrich August vonHayek von Beginn an favorisierte Auffassungdurch, dass sich die MPS auf die Rolle eines Fo-rums zum Gedankenaustausch und der Kontakt-pflege ihrer Mitglieder konzentrieren solle. Einweitergehendes Engagement hätte wohl ange-sichts der inhaltlich divergierenden Auffassungenin vielen Einzelfragen zu ernsten Zerreißprobengeführt. Allein schon der Namensgebung gingbeim Gründungstreffen eine schwierige Debattevoraus, die nur dadurch beendet werden konnte,dass man den Namen des Schweizer Bergs an-nahm, unterhalb dessen Gipfels man zusammen-gekommen war.

� Dass die MPS kein programmatisch monolithi-scher Akteur war, ist der zweite wichtige Befund,den Plickert eindrucksvoll untermauert, indem eranhand der bei den Jahrestagungen gehaltenenVorträge die großen Kontroversfragen innerhalbder MPS nachzeichnet. Bereits beim Kolloquium,das 1938 zu Ehren Walter Lippmanns in Paris statt-fand und das als Ouvertüre für die Gründung derMPS neun Jahre später gelten kann, trat zutage,dass die Vorstellungen über einen neuen Libera-lismus durchaus unterschiedlich waren – dassüberhaupt umstritten war, ob man sich in Abgren-zung zum klassischen Liberalismus als Neuliberaleverstehen und nach außen darstellen soll. Über-zeugend breitet Plickert aus, dass sich zwischen denbeiden Weltkriegen in London um Edwin Cannan,in Wien um Ludwig von Mises, in Freiburg um Wal-ter Eucken, in Chicago um Frank Knight und an-dernorts mehrere Denkschulen und Gruppen bil-deten, die nicht in jeder Hinsicht auf einen Nen-ner zu bringen waren. Während man sich in derZurückweisung der sozialistischen Wirtschafts-rechnung und im Plädoyer für internationalenFreihandel weitgehend einig war, fielen die Ant-worten zur konjunkturpolitischen Überwindungder Weltwirtschaftskrise unterschiedlich aus.

Kontroverse Positionen in der Währungs- und Wettbewerbspolitik

Für die erste Phase der MPS-Geschichte zwischen1947 und 1962 identifiziert Plickert den radikal -liberalen Ludwig von Mises und den jenseits der rei-nen Marktwirtschaft für eine umfassende „Vitalpo-litik“ plädierenden Alexander Rüstow als die beidenäußeren Punkte des ideologischen Spektrums.Zwischen ihnen waren führende Mitglieder wievon Hayek, Wilhelm Röpke oder Milton Friedman mitunterschiedlichen Profilen anzusiedeln. Das Ver-hältnis des Liberalismus zum Christentum, derStellenwert der Sozialpolitik, der Streit um dieRückkehr zu Goldwährungen, die Sonderstellungder Landwirtschaft, die Entwicklungspolitik sowieschließlich die Frage, ob man dem Keynesianismusmit von Hayek mikroökonomisch oder mit Fried-

3 Ronald M. Hartwell, A History of the Mont Pelerin Society, India-napolis 1995.

Besprochen wird:

Philip Plickert, Wandlungen des Neolibera-lismus. Eine Studie zu Entwicklung und Aus-strahlung der „Mont Pèlerin Society“, Lucius &Lucius, Stuttgart 2008.

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man makroökonomisch entgegentreten solle – alldas bot in den ersten Jahren viel Stoff für Diskus-sionen. Die Diskussionen zeichnet Plickert mit Zu-griff auf die dogmenhistorisch wichtigen Texteund Argumente nach.

Auch nachdem die um den langjährigen SekretärAlbert Hunold schwelende – von Plickert zu Recht als„Hunold-Affäre“ bezeichnete – Krise zwischen 1960und 1962 ausgestanden war, mit Rüstow und Röpkedie beiden Protagonisten des wirtschaftshumanis-tisch-soziologischen Flügels ausgeschieden warensowie von Hayeks Rolle zugunsten des jüngerenFriedman für einige Jahre in den Hintergrund trat,gab es kontroverse Debatten und Positionen. Vorallem die Währungs- und die Wettbewerbspolitikbildeten nach dem Urteil von Plickert zentrale The-men, an denen sich die Wandlungen des Neolibe-ralismus, wie ihn die MPS im Querschnitt ihrerMitglieder verkörperte, nachvollziehen ließen:

� Die Befürworter einer Rückkehr zum Gold-standard verloren nach dem Ende des Bretton- Woods-Systems in der MPS an Boden. Die Anhän-ger freier Wechselkurse trugen den Sieg davonund propagierten wie von Hayek teilweise sogar die„Entnationalisierung des Geldes“.

� In der Wettbewerbspolitik ging der Einfluss derordoliberalen Vertreter im Laufe der Jahre zurück.Unter dem Einfluss der vielen aus Chicago stam-menden Ökonomen wurden die Chancen und dieNotwendigkeit einer staatlichen Wettbewerbspoli-tik zunehmend kritischer beurteilt. Die Debattezwischen „Monetaristen“ und „Strukturalisten“verwies auf unterschiedliche Lösungsstrategienzur Überwindung der Krise, in die sich der demo-kratische Wohlfahrtsstaat in den 1970er Jahren na-hezu überall hineinmanövriert hatte.

Der politische Einfluss der MPS

Der Gretchenfrage, welchen Einfluss die MPS imLaufe ihrer mehr als sechzigjährigen Geschichtegehabt hat, geht Plickert nach, indem er die Wirt-schaftspolitiken und die dazugehörigen Kontro-versen in ausgewählten Ländern nachzeichnetund dabei die politische Rolle von MPS-Mitglie-dern aufarbeitet. Sein Buch gerät so nebenbei zueinem Stück Dogmengeschichte ökonomischenDenkens und Wirtschaftsgeschichte der zweitenHälfte des 20. Jahrhunderts. Es illustriert, wie einekleine Gruppe von Liberalen, die sich anfangs zueiner „Notgemeinschaft“ (Plickert, Seite 468) zu-

sammengefunden hatten, allmählich anwuchsund der kollektivistischen Brandung entgegentrat.

Die wirtschaftshistorischen Konjunkturen verlie-fen dabei unterschiedlich: Während Westdeutsch-land bereits 1948 zum Musterfall neoliberaler Re-formen wurde, versumpfte Großbritannien bis indie 1970er Jahre in einem demokratischen Sozia-lismus und einem wohlfahrtsstaatlichen Konsens,mit dem erst Margaret Thatcher brach. Auch in denUSA dauerte es bis in die 1980er Jahre hinein, bisdie prägenden Vorstellungen des „New Deals“ undder „Great Society“ grundsätzlich infrage gestelltwurden. In der Beurteilung der oft als „neolibera-le Revolutionen“ titulierten Klimawechsel unterThatcher und Ronald Reagan mahnt Plickert aller-dings eine differenzierte Betrachtung an: Erfolgeim neoliberalen Sinn gab es durchaus, aber ein Zu-rückdrängen der Ausuferungen des Wohlfahrts-staats hat es nirgendwo gegeben.

Plickert berücksichtigt die komplizierten und dis-kontinuierlichen Entwicklungen in Italien undFrankreich und macht auch keinen Bogen um ei-nen heiklen Fall wie Chile. Dass dort unter demDiktator Augusto Pinochet eine entschlossene Kurs-korrektur weg von den verheerenden sozialisti-schen Experimenten des bis heute überschätztenund verharmlosten Präsidenten Salvador Allende er-folgte und dass diese marktwirtschaftliche Re-formpolitik eine wesentliche Voraussetzung für diegelungene Demokratisierung nach 1989 war, ver-schweigt Plickert ebenso wenig wie die eklatantenund widerwärtigen Menschenrechtsverletzungendurch Pinochet, über die seinerzeit der eine oderandere Wirtschaftsberater hinweggesehen hat.

Da die Studie die Jahre nach 1990 mit einem stär-keren Zeitraffer behandelt als die ersten Jahrzehn-te, fallen die Darstellungen zu den ost- und mittel-europäischen Transformationsgesellschaften knap-per aus. Aber in der Zusammenschau der Länder-analysen wird deutlich, wie man sich den Einflussder MPS vorzustellen hat: Unmittelbar trat sie –abgesehen von der Auswahl ihrer Tagungsorte –nie in Erscheinung; ihre Wirkung beruhte auf denAktivitäten ihrer einzelnen Mitglieder, die in ihrenHeimatländern oft isolierte Figuren waren und de-nen innerhalb der MPS ein Gedankenaustauschunter Gleichgesinnten möglich war. So trug dieMPS zur Bildung von Beziehungsgeflechten beiund fungierte – auf vergleichbare Weise wie diekonservativ-liberale „Philadelphia Society“ in denUSA – als eine Art Schirm, unter dem zahlreichenationale Think Tanks entstanden, die jeweils aufihre Weise und mit unterschiedlichem Erfolg die

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Wirtschaftspolitik ihrer Länder beeinflussten – al-len voran das sagenumwobene Londoner „Institu-te of Economic Affairs“, das in den 1970er Jahrendie Thatcher-Regierung inhaltlich vorbereitete. ZurWirkungsgeschichte der MPS gehört schließlichauch der Umstand, dass angefangen mit LudwigErhard und Luigi Einaudi bis hin zu Václav Klaus inunseren Tagen eine stattliche Anzahl von Fachmi-nistern sowie Staats- und Regierungschefs Mitglie-der der MPS waren.

Zum vielschichtigen Bild, das Plickert zeichnet, ge-hören erhellende Personenportraits. Über Biogra-phien wie diejenige von Hayeks, Röpkes, Friedmans,von Mises’ oder James Buchanans werden die meis-ten Leser, die das Buch in die Hand nehmen, be-reits im Bild sein. Aber hochkarätige Gelehrte wieCarlo Antoni, William Rappard, Louis Rougier, JacquesRueff oder Lionel Robbins sind im deutschsprachi-gen Raum weithin unbekannt. Erst recht gilt dasfür eher praktisch oder beratend wirkende unddeshalb für die Wirkungsgeschichte so wichtige Fi-guren wie Anthony Fisher, Albert Hunold oder RalphHarris. Sie alle werden in Plickerts Buch, dem einPersonenregister gut getan hätte, durch zahlrei-che Hinweise und Kurzportraits vorgestellt, diesich vorzugsweise in den durchweg lesenswertenFußnoten befinden.

Grenzen einer rein ökonomischenBetrachtung der Freiheit

Im Schlusskapitel zieht Plickert eine ambivalenteBilanz zum Erfolg der MPS. Entstanden aus demGeist der Krise und als kleine Gruppe von ver-sprengten Liberalen hat sie im Lauf der Jahrzehn-te eine eindrucksvolle Größe erreicht. Seit denNobelpreisen für Wirtschaftswissenschaften, dievon Hayek 1974 und Friedman 1976 erhielten, ha-ben die Mitglieder der MPS eine spürbare Wir-kung auf das ökonomische Denken im späten 20.Jahrhundert ausgeübt. Würde man von der Ideen-geschichte des 20. Jahrhunderts alle MPS-Mitglie-der und Sympathisanten subtrahieren, würde daswohlfahrtsstaatlich-kollektivistische Denken unan-gefochten dastehen und würde die liberale Tradi-tion bis auf eine Handvoll Gelehrter nur noch inGestalt des Sozialliberalismus als eine kümmerli-che Fußnote zum Sozialismus Erwähnung finden.

Aus der Mitte der MPS wurden die entscheiden-den Kritikpunkte an den Strukturproblemen desdemokratischen Wohlfahrtsstaats vorgetragen undspätestens seit den 1970er Jahren in nahezu jederHinsicht durch dessen Begleiterscheinungen – wie

Inflation, Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschul-dung oder die tückischen Finanzierungsfallen derZwangsversicherungssysteme – bestätigt. PolitischeErfolge konnte der von den Mitgliedern der MPSin verschiedenen Spielarten verfochtene Neolibe-ralismus durchaus vorweisen. Allerdings, so Pli-ckert, seien diese Erfolge oft auf besondere Kons -tellationen zurückzuführen, in denen tatkräftigePolitiker wie Erhard oder Thatcher Reformendurchsetzten. Nicht gelungen sei, der Idee derFreiheit in den westlichen Demokratien eine brei-te Massenbasis zu geben und den kollektivisti-schen Wohlfahrtsstaat entscheidend zurückzu-drängen.

Plickert lässt seine Sympathien für einen konserva-tiv gefärbten Neoliberalismus im Sinne Röpkesdurchblicken, wenn er auf der Suche nach Ursa-chen für diese durchwachsene Bilanz auf die Gren-zen eines nur-ökonomischen Diskurses verweist.Durch die Beschränkung auf die ökonomischenAspekte der Freiheit sei es den Neoliberalen nichtgelungen, die Zerstörung der bürgerlich-liberalenGesellschaft im Zuge des postmodernen Wertere-lativismus aufzuhalten. Er spricht sogar von einem„Dilemma vieler neoliberaler Theoretiker“: „In-dem sie die individuelle Freiheit und Selbstbestim-mung als höchsten und einzigen Wert propagie-ren, laufen sie Gefahr, die kulturellen Grundlagenderselben zu ignorieren“ (Plickert, Seite 475). Deran Röpke angelehnte Hinweis, dass die reine Markt-wirtschaft noch keine ausreichende Grundlage fürdas Zusammenleben der Menschen bietet, son-dern sie auf einige kulturelle und moralische Vo -raussetzungen angewiesen ist, die sie nicht selberschaffen kann, mag manchen Ökonomisten eben-so wenig behagen wie die Erinnerung daran, dassder Zusammenhang von Freiheit und Bindung imZeitalter der Globalisierung neue Bedeutung ge-winnt und dass eine offene Gesellschaft sich selbstgefährden kann, wenn sie eine völlige Beliebigkeitder individuellen Werte predigt.

Die Idee der Freiheit hat in ausgereiftenWohlfahrtsstaaten einen schweren Stand

Das sind Schlussbemerkungen eines urteilssiche-ren, umsichtigen und selbstbewussten Buchs, dieweder in Bezug auf das liberale Argument an sichnoch in Bezug auf dessen politische Überzeu-gungskraft von der Hand zu weisen sind. Wer sichdie Lage in Deutschland ansieht, wird eingestehenmüssen, dass das liberale Argument nur eineschwache Durchschlagskraft hat und dass in einemweiteren Sinne bürgerliche Ordnungs- und Wert-

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vorstellungen ihre Mehrheitsfähigkeit eingebüßthaben. Dass das neoliberale Musterland von einsttrotz des einen oder anderen Zwischenhochs kon-tinuierlich zu einem ordnungspolitischen Sorgen-kind heruntergewirtschaftet wurde und selbstkleinste Reformschritte nur mit hohem politi-schen Risiko unternommen werden können, ge-hört zu einem umfassenden Prozess der Desorien-tierung und der politischen Selbstgefährdung.

In Fortführung von Plickerts Argumenten gibt esgute Gründe dafür, Liberale beziehungsweise Neo -liberale vor den Gefahren eines Relativismus undeines Rationalismus zu warnen. Auch der Liberalesollte zur Stärkung seiner Position das eine oderandere bedenken, was Joseph Ratzinger über die„Pathologien der Vernunft“ zu sagen hat. Im Übri-gen sollte er auch die Schnittmengen zum politi-schen Skeptizismus und Antirationalismus einesKonservativen wie Michael Oakeshott zu würdigenwissen. Nötig ist die Besinnung auf ein bürgerli-ches Denken, das liberale, konservative und christ-liche Wurzeln umfasst sowie den zahlreichen Geg-nern einer offenen Gesellschaft eine tragfähigeund attraktive Haltung entgegenzusetzen hat.

Die Wirkungsgeschichte der MPS lässt erkennen,dass nur langfristige ideenpolitische StrategienAussicht auf Erfolg haben und dass es eine ganzeGeneration dauern kann, bis sich wissenschaftli-che Paradigmenwechsel über die – von von Hayekals „Zwischenhändler der Ideen“ bezeichneten –Intellektuellen und reflexiven Eliten auf das poli-tische Handeln und die Werthaltungen in der Be-völkerung auswirken werden. Bürgerliche Kreisehaben in vielen Feldern Entwicklungen hinge-nommen, die ihren Einfluss und ihre Sichtbarkeiterheblich eingeschränkt haben: An den Univer-sitäten hat man in einschlägigen Fächern wie denWirtschafts- und Sozialwissenschaften viel Terrainverloren und ganze Traditionen wie die Ord-nungsökonomik oder die historisch-geisteswissen-schaftlich orientierte politische Wissenschaftdurch Mathematisierung an den Rand gedrängt.Um die Lehrerausbildung und die journalistischeNachwuchsausbildung hat man sich nicht ausrei-chend gekümmert.

Überhaupt fallen die Defizite bei der Bildung undPflege von persönlichen Netzwerken sowie in derNachwuchspolitik auf. Vor allem im engeren Kreisder Politik sticht der eklatante Mangel an Persön-lichkeiten mit dem nötigen Rüstzeug ins Auge, waswohl auch daran liegen dürfte, dass die politi-schen Rekrutierungs- und Karrieremuster verödetsind und viele Nachwuchspolitiker außer der Uni-

versität ihrer Heimatstadt und der jeweiligen poli-tischen Jugendorganisation nur wenige geistigeImpulse mitbekommen sowie kaum Lebenserfah-rungen außerhalb der Politik erwerben.

Wer sich mit diesen Entwicklungen nicht achselzu-ckend zufrieden geben will, kann aus der Ge-schichte des begrenzten Erfolgs der MPS, wie siePlickert ausgebreitet hat, das eine oder andere fürden deutschen Fall lernen. Es bedarf nicht allzugroßer theoretischer Anstrengungen, um zu erah-nen, dass die Idee der Freiheit in einem ausgereif-ten Wohlfahrtsstaat, in dem das Einkommen derMenschen immer weniger von den Erträgen der ei-genen Arbeit, sondern immer mehr von staatlichenTransferleistungen abhängig ist, einen schwerenStand hat. Wo Selbstbestimmung und Selbstverant-wortung für große Teile der Bevölkerung nichtmehr zu alltäglichen Lebenserfahrungen gehören,muss man sich über Verschiebungen in den Wert-haltungen ebenso wenig wundern wie über die Be-mühungen der großen Parteien, auf diese mehr-heitsfähigen Werthaltungen Rücksicht zu nehmenund Verteilungskoalitionen zu schmieden.

Fehlendes bürgerliches Engagement für die Idee der Freiheit

Die Sache wird nicht einfacher dadurch, dass sichdiejenigen, die sich nach wie vor bürgerlichenWerten verbunden fühlen, in der Regel nur müh-sam zu politischem Engagement aufraffen. Wäh-rend die Betroffenheits- und Empörungsnetzwer-ke der Linken trotz aller Mobilisierungsprobleme,die es auch dort längst gibt, meist verlässlich funk-tionieren, hält sich der Konservative noch mehrals der Liberale gern von der politischen Ausei -nandersetzung fern und widmet sich lieber seinenprivaten Leidenschaften und Neigungen. DieserSkeptizismus gegenüber der Politik ist an sich kei-neswegs unsympathisch, verleitet aber dazu, daspolitische Feld mit unnötiger Nachgiebigkeitpreiszugeben und sich aus öffentlichen Diskursenzurückdrängen zu lassen.

Dass man sich zur Begründung des bürgerlichenArguments auf reine Vernunftgründe zurückzieht,macht seine öffentliche Stellung auch nicht einfa-cher: Insbesondere wer eine freiheitliche Wirt-schaftsordnung nur wegen ihrer Zweckmäßigkeit,Nützlichkeit und Vernunft zu begründen weiß,aber keine ethische Rechtfertigung nennen mag,macht es der Gegenseite leicht, ihre Argumenteals „sozial“ und damit als moralisch überlegen dar-zustellen.

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59Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 117 (3/2008)

In eine auf lange Sicht ungünstige Position ma-növriert sich auch der, der sich für die Begrün-dung der Freiheit auf wirtschaftliche Fragen zu-rückdrängen lässt und nicht im Sinne eines umfas-send ordnungspolitischen Denkens den unauflös-lichen Zusammenhang zwischen wirtschafts- undsozialpolitischen Fragen herausstellt. Wer sein Ar-gument solcherart beschränkt, läuft Gefahr, dassihm selbst von Wohlmeinenden entgegengehaltenwird, man müsse wirtschaftliche Vernunft und so-ziale Gerechtigkeit gleichermaßen als Leitideenberücksichtigen. Er bereitet damit der Segmentie-rung ordnungspolitischen Denkens den Bodenund liefert Vorlagen für die Auffassung, man kön-ne Wirtschafts- und Sozialordnung nach unter-schiedlichen Prinzipien gestalten. Genau das istlängst die überwiegende Auslegung des Begriffsder Sozialen Marktwirtschaft geworden.

Das bürgerlich-liberale Argument wird nicht da-durch überzeugender, dass es in der politischenPraxis oft von Verbänden vorgetragen wird, denenSonderinteressen nicht fremd sind. Für die An-hänger einer freiheitlichen Wirtschaftsordnunggilt wie für das bürgerliche Lager insgesamt, dasssie ihre Kräfte vor allem in ideenpolitischen undpublizistischen Abwehrschlachten binden, aberwenig dafür tun, politische Themen vorausschau-end zu kommunizieren sowie ein Stück weit dieAgenda der Medien und der Politik zu bestimmen.In Deutschland fällt ein Mangel bürgerlicherDenkorte und Kommunikationsstränge auf. Dieparteinahen Stiftungen erfüllen manche nützlicheFunktion, stehen aber einer lebendigen und poli-tisch ambitionierten Kultur von Beratung undOrientierung im Weg, weil sie den Zugang zur Po-litik beanspruchen, aber selbst rechtlichen und po-litischen Restriktionen unterliegen. Im Wettstreitder politischen Ideen übernehmen sie daher eineeher nachholende, integrierende und legitimie-rende Funktion und können nur in Ausnahmefäl-len Stätten riskanten und kreativen Denkens sein.

Gewiss, mit der Ludwig-Erhard-Stiftung, dem Wal-ter-Eucken-Institut oder der Hayek-Gesellschaftgibt es Einrichtungen, die sich der Idee der Frei-heit verschrieben haben. Aber in ihnen überwiegteine akademische Prägung, die als Kerngeschäftnotwendig ist, aber nicht alles sein kann. Originä-re „Denkfabriken“ mit einschlägiger Ausrichtung,die sich die Orientierung und Beratung der Politikzum Ziel setzen, sind jedoch rar. Noch mehr giltdas für Institutionen, die auch Ehrgeiz zur Popula-risierung ihrer Ideen besitzen oder die neben derinhaltlichen Beratung der Politik auch die kom-plexen Anforderungen politischer Kommunika-tion bedenken und deshalb nicht nur die „richti-gen Lösungen“ für Reformfragen, sondern auchattraktive Kommunikationskonzepte und Erfolgversprechende Durchsetzungsstrategien anzubie-ten haben. Wer solche integrierten Angebotenicht unterbreiten kann, wird bei ohnehin schwer-hörigen Politikern und Verwaltungseliten mit sei-nen inhaltlichen Anliegen nur auf begrenztenWiderhall stoßen.

Eine bürgerliche Bewegung, die Prägekraft entfal-ten will, wird sich stärker als in der Vergangenheitdarum bemühen müssen, in allen einschlägigenDisziplinen die wissenschaftliche Grundlagenar-beit mit privatem Kapital zu stärken. Sie wird deut-lich mehr Energien auf die Bildung von Multipli-katoren und künftigen Entscheidungsträgern zuverwenden haben, und sie wird Beratungskompe-tenz aufbauen müssen, die den komplexen Ent-scheidungs- und Kommunikationssituationen derPolitik gerecht wird. Und sie muss den Willen ha-ben, auf eine die einzelnen Politikfelder überwöl-bende Weise Werte und Grundorientierungen, dieOrdnung und Zusammenhalt einer Gesellschaftausmachen, zu prägen. Der Neoliberalismus alsTeil einer bürgerlichen Bewegung wird in dieserHinsicht an einem inhaltlichen, aber auch strate-gischen und organisatorischen Wandel nicht vor-beikommen. �

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