Transcript
  • HANNOVER. Aufräumen –das machen nur wenige gern.Eine der wenigen ist EdelgardHärter aus Wunstorf. „Daswar schon immer so“, sagtdie 57-Jährige. „Es ist mireinfach ein inneres Bedürf-nis“. Sie schafft Ordnung, wosie kann – auch für andere,sagt sie und lacht. „In meinerKindheit waren es die Näh-kästen der Verwandtschaft.“Vor etwa acht Jahren hat sieihr Hobby zum Berufgemacht. Sie ist „Ihr Auf-räumservice in Hannoverund Niedersachsen“ – oderkurz gesagt: Edelgard Härterist „Aufräumexpertin“. Undsorgte bei mir zu Hause fürOrdnung.

    Ein kurzer Rundgangdurch die Wohnung, und siehat einige Problemzonenerkannt: „Unordentlich ist esnicht, aber Sie könnten einpaar mehr Schränke vertra-gen.“ Das offene Küchenre-gal überm Frühstückstischetwa, wo Honig, Zucker,Mehl, leere Einmachgläserund Spielzeug von den zweiKindern steht. „Brauchen Siedas alles täglich?“, fragt Här-ter. Und hat damit den Kerngetroffen. Zu viel Unbenutz-tes liegt offen herum.

    Mehr Stauraum durchSchränke an den Wänden –das muss nicht für jeden dasRichtige sein, betont dieExpertin. „Es gibt auch Men-schen, die wollen sich diefreien Wände bewahren.Dann muss man aberanderswo, etwa im Keller,verstauen.“

    Kommen wir zum Filet-stück für Ordnungsexperten:der Kleiderschrank. Hier wirdtäglich hin- und hergeschich-tet, neue Lieblingsteile kom-men dazu, alte Wegbegleiterverschwinden. Gerne in denTiefen des Schranks. DasErgebnis: Ein bunt zusam-mengewürfelter Klamotten-Haufen. „Wessen Schrank istdas?“, fragt Edelgard Härtererstaunt. Ihr Urteil: „Für zweiPersonen ist er eigentlich zuklein. Respekt, dass Ihre Fraudamit auskommt.“

    Und trotzdem wird innenauch noch Platz verschenkt:Die Fächer sind viel zu hoch.„Da bieten sich ein paar Zwi-schenböden an“, so dieWunstorferin. „Das hätteauch den Vorteil, dass nichtgleich alles durcheinanderpurzelt, wenn man ein Klei-dungsstück herausnimmt.“

    Die Fachtiefe lässt sich lei-der nicht ändern. „Die wirdvom großen Fach nebenanvorgegeben, in dem die Hem-den hängen.“ Unpraktisch istdas allerdings schon, daschnell zwei Reihen entste-hen und die hinteren Klei-dungsstücke schlechterreichbar sind. Dagegen hatHärter ein Rezept: „Die Klei-dung beim Zusammenlegenan die Tiefe des Schranksanpassen.“

    Aus einem Fach mit geroll-ten und recht unordentlichgeschichteten Pullis wird soin kurzer Zeit eine übersicht-liche Sache: Die Pullis liegennun flach gefaltet in zwei lan-gen Blöcken nebeneinander.Das spart Höhe – und allesist auf einen Blick zu sehen,weil im Hintergrund nichtsmehr „verloren“ gehen kann.

    Übrigens: Die von derjapanischen Aufräum-Ikone

    VON SIMON POLREICH

    Leben wir zunehmend in ungeordneten Verhältnis-sen?Mein Eindruck ist, dass wir ineiner fast schon übersättig-ten Gesellschaft leben. Wennich alles habe und mir sogarnoch mehr anschaffen kann,häuft sich extrem viel an.Oder anders gesagt: Shop-pen gehen ohne etwas zushoppen würde keinen Spaßmachen. Shoppen ist inzwi-schen ein Freizeitvergnügen.Die Herausforderung istdann, den Konsum zu mana-gen und das zu bewältigen,was wir haben, also Ordnungzu halten. Aus diesem Sattenheraus gibt es auch immerwieder Trends, sichabzugrenzen undumgekehrt mitbesonders wenigauszukommen. Daskann man aber nur ineiner Gesellschaftals Trend sehen, inder die meisten vielhaben und keinenMangel kennen.

    Es gibt auch Menschen, die räumen nur auf, um wichti-gere Arbeiten aufzuschie-ben. Dafür gibt es sogar einen Fachbegriff, Prokras-tination ...Das Fatale an der sogenann-ten Prokrastination ist, dasstatsächlich wichtige Aufga-ben aufgeschoben werdenund vermeintlich Wichtigeserledigt wird. Ich schiebedann beispielsweise dieSteuererklärung auf und put-ze lieber die Fenster. DasFatale: Ich erlebe eine kurz-fristige Belohnung, weil ichetwas geschafft habe, aberdas langfristige Wichtigehabe ich nicht unter Kontrol-le. Die Prokrastination tritthäufig da auf, wo wir einhohes Maß an Selbststeue-rung brauchen und wenigäußere Strukturen undexternen Druck haben. Häu-fig untersucht wurde diesesPhänomen etwa bei Studie-renden. Viele Unis habeninzwischen Anlaufstellen zurBehebung von Arbeitsstö-rungen. In schweren Fällen –nicht nur bei Studierenden –ist sogar therapeutische Hil-fe wichtig, weil es zu gravie-renden Baustellen im Leben

    führen kann. Leichte Fällevon Prokrastination kenntaber vermutlich jeder. DieFrage ist immer: EntstehenSchwierigkeiten in derLebensführung, etwa wennviele Fristen verstreichen,und dann sogar die Kranken-versicherung oder das Ein-kommen gefährdet ist? Daspassiert bei den meistenMenschen nicht.

    Wann wird Ordnung zum Zwang?Die Ordnung, die von Men-schen mit einer Zwangsstö-rung verfolgt wird, hat seltenetwas mit dem Ordnung hal-ten im eigentlichen Sinne zu

    tun. Hinter Ord-nungszwängen ver-birgt sich oft eineForm des „magi-schen Denkens“.Betroffene glauben,wenn sie Tassen bei-spielsweise nichtsymmetrisch, die Tel-ler nicht der Größenach oder die Klei-dung im Schrank

    nicht der Farbe nach anord-nen, wird etwas Schlimmespassieren. Bis dahin ist es einschleichender Prozess. Eswird dann immer anstren-gender oder aufwendiger fürBetroffene, im Alltag ihremAnspruch nachzukommen.So entsteht ein enormer Lei-densdruck. In den Häusernist es aber interessanterwei-se nicht besonders ordent-lich, auch weil die Betroffe-nen ihrem eigenen Zwangnicht mehr nachkommenkönnen. Es bleibt immermehr liegen, das Aufräumenwird aufgeschoben odersogar vermieden. In einerExtremform kann das auchzu messiemäßigen Erschei-nungen führen.

    Und dann gibt es ja noch die Menschen, die von Natur aus etwas unordentlicher sind ...Natürlich. Der Unterschiedzum krankhaften ist, dass esbei den meisten Menscheneinen Punkt gibt, an demman sich in der wachsendenUnordnung unwohl fühlt. Dieeinzige Lösung ist dann: Manräumt auf – und fühlt sichbesser.

    LottaWinter

    TIPPS ZUM AUSSIEBEN

    Die wichtigsten Hinweise der Auf-räumexpertin:3 Schere, Schlüssel, Mütze: AlleSachen haben einen festen Platz imHaus.3 Routine einbauen: Jeden Tagzehn Minuten, eine Stunde in derWoche oder einen anderen Zeitraumfür das Ordnung halten oder Sauber-machen fest einplanen.3 Frei halten: Fußböden sollten freigehalten werden. Auch auf Schränkesollte nichts gestapelt werden, wasauch im Schrank Platz hat. Zur Notlieber um- und aussortieren.3 Im Kleiderschrank: Mützen,Shirts und alles, was man jeden Tagbraucht, in Griffhöhe aufbewahren.Bettwäsche und Handtücher nachganz unten oder oben sortieren. Allesbeim Zusammenlegen an die Tiefeder Fächer anpassen.3 Handtaschen und Rucksäcke, dienicht täglich in Gebrauch sind, kön-nen ineinander gesteckt und so bes-ser verstaut werden. Das spartzudem Platz.3 Unordnung im Kinderzimmer:Den Nachwuchs an das Aufräumengewöhnen – etwa: Bevor es ins Bettgeht, die Spielsachen wegpacken.„Oft haben Kinder aber auch einfachzu viel Spielzeug für das Zimmer“,sagt die Expertin.3 Schreibtisch: Wenige Ablagefä-cher, und diese regelmäßig sortieren.Spätestens wenn das Fach voll ist.Papiere einscannen oder abfotogra-fieren und digital aufbewahren.

    GUTER TIPP: Sachen, die nicht täglich gebraucht werden, können im Schrank ineinander gelegt werden. Das spart Platz. Foto: Behrens

    „Aufräumen kann glücklich machen“HANNOVER. Eine aufge-räumte, saubere Wohnung –vielen ist das wichtig, man-che behaupten sogar, esmacht glücklich. Doch kannOrdnung wirklich Glücksge-fühle auslösen? Und wannwird daraus sogar Zwang?Die NP sprach mit Psycholo-gin Lotta Winter von derMedizinischen HochschuleHannover über den Sinn undUnsinn des Aufräumens.

    Macht Ordnung glücklich?Ordnung ist nicht für jedengleich wichtig. Das hängt mitden unterschiedlichenGrundbedürfnissen nachOrdnung und Kontrollezusammen, die bei jedemMenschen unterschiedlichstark ausgeprägt sind. Aberja: Aufgeräumt zu habenkann tatsächlich glücklichmachen.

    Warum ist das so?In der Regel geht es uns gut,wenn das Prinzip der Selbst-wirksamkeit greift, wenn wiruns also bestätigen, dass wiretwas können und etwasgeschafft haben. Greifen die-se beiden Faktoren, sind wirmeistens hinterher glücklich.Es tut gut zu merken: Ichhabe etwas drauf. Sogar inder Behandlung von anDepression erkrankten Men-schen werden diese Mecha-nismen genutzt, um Lustge-winn zu erfahren.

    Aber nicht jeder hat gleich viel Lustgewinn beim Aufräumen, richtig?Das hat damit zu tun, wie wirselber sozialisiert undgeprägt wurden. Ein sehrhohes Bedürfnis nach Ord-nung sehe ich oft bei Patien-ten besonders ausgeprägt,die selbst früher wenig davonerlebt haben, lange in unge-ordneten oder chaotischenVerhältnissen gelebt haben.

    Das Bedürfnis nach Ord-nung scheint zu wachsen – zumindest ist der Markt mit Büchern voller Aufräum-Tipps übersät. Eine der Bestseller-Autorinnen, Marie Kondo, hat jetzt sogar eine Netflix-Serie bekom-men, in der sie Wohnungen anderer Leute aufräumt.

    NPINTERVIEW

    aber dieser Anfang gemacht,wird das weitere Vorgehenzum Selbstläufer. Die Angstvor dem Papierberg ist oftgrößer als der Berg selbst.“

    Apropos Papierberg:Zahlreiche Schreibtische hatdie Aufräumerin schon inOrdnung gebracht. „Das isteinfach“, sagt sie. Zunächsttrenne man Berufliches undPrivates, bevor es zur inhalt-lichen Strukturierung geht(Versicherung, Bank, Steuerund weiteres). Die Blätterwandern entweder in eigeneOrdner oder werden einge-scannt und auf dem Compu-ter in digitalen Ordnernabgelegt – das spart Platzund erleichtert das Heraus-suchen.

    Doch wie bleibt der mühe-voll entrümpelte Schreib-tisch frei? „Indem ich mir einminimales Ablagesystemschaffe“, sagt Härter. „Mini-mal, weil: Je mehr Ablage-plätze ich habe, desto mehrlege ich hin.“ Ihr selbst reichesogar nur ein Ablagekastenals „Eingang“: „Einen Tag inder Woche setze ich mich hinund sortiere die Papiere dannein.“

    Sammlern von Magazinenoder Zeitschriften empfiehltHärter einen Korb oder Kas-ten: „Ist der Behälter dannvoll, wird aussortiert. DasPrinzip lässt sich auf vielesübertragen.“

    Klar sei es am einfachs-ten, alles wegzuwerfen, wasman nicht unmittelbarbraucht. Aber davon ist die57-Jährige kein Fan. „Da darfman auch nicht zu kritischmit sich selbst sein.“ Dasweiß sie aus beruflicherBeobachtung: „Viele Men-schen haben zunächstScheu, mich einzuladen undschämen sich für ihre Unord-nung. Wenn ich die Wohnungdann betrete, denke ich aberoft: So schlimm ist es dochgar nicht“, sagt sie und lacht.Etwas Unordnung ist dannmanchmal auch ganz in Ord-nung.

    Marie Kondo propagierteMethode, das Kleidungs-stück in ein schokoladenta-felgroßes Päckchen zu faltenund sie dann auf der langenKante ins Fach zu stellen,lehnt die Wunstorferin ab.„Die Kleidungsstücke fallenschlichtweg um, wenn nichtsdaneben steht. Stapeln las-sen sie sich so auch nicht.“

    Und noch mit einem ande-ren „Grundgesetz“ der Best-seller-Autorin geht sie insGericht: Laut Kondo solleman massiv ausmisten –indem man sich für jedenGegenstand fragt: Macht ermich glücklich? Härter: „Dasist übertrieben. Mich mussnicht jeder Alltagsgegen-stand glücklich machen!“

    Das massive Ausmistenerwarten auch die Kundender Wunstorferinhäufig: „Viele den-ken, die kommtjetzt und schmeißtalles weg“, sagtHärter. „Aberwarum sollte manetwas wegwerfen,wenn Platz dafürda ist?“

    Was man einJahr nichtgebraucht hat,kann weg, lautetetnoch eine Faustre-gel. Auch das lehntdie Aufräumerinab: „Ein Jahr ist für mich keinMaßstab. Ich habe oftSachen lange liegen gelassenund erst später gemerkt,dass ich sie wieder gebrau-chen kann“, sagt sie. „Undman darf sich auch Erinne-rungsstücke zugestehen,das gehört zum Leben dazu.“

    Häufig mangele es ihrenKunden nicht am Platz, son-dern an Kraft und Zeit, Ord-nung zu schaffen und zu hal-ten. „Viele sind berufstätig,haben Kinder, da bleibt meis-tens der Haushalt auf derStrecke.“ Härters einfacheGrundregel lautet deshalb:Disziplin ist das A und O.„Jeder schafft es, sich mor-gens die Zähne zu putzen.Wenn man zu dieser Disziplinfähig ist, kann man auch fürdie Ordnung Routinen in denAlltag einbauen – egal, ob einfester Termin in der Wochefür das Badezimmer oderzehn Minuten morgens fürdie Küche.“

    In schwereren Fällen sollteman sich allerdings auch maleinen ganzen Tag Zeit neh-men – etwa für das unterPapieren vergrabeneArbeitszimmer. Um eineGrundordnung zu schaffen,hilft nur: stupide die Papierezu sortieren. „Das ist eineSisyphusarbeit“, weiß Här-ter. Am besten sortiert manzunächst aus, was man nichtmehr braucht, dann kommtdie inhaltliche Ordnung. „Ist

    Das Bedürfnis nach Ordnung ist groß, das zeigt nicht nur der

    NetflixErfolg der japanischenAufräumExpertin Marie Kondo.

    NPRedakteur Simon Polreich sprach mit einer Psychologin

    über die Gründe – und ließ seinen Kleiderschrank von einer

    Aufräumexpertin aus der Region Hannover neu ordnen.

    Die neue Ordnungsliebe

    VOM FACH:Aufräum-ExpertinEdelgard Härterzeigte NP-ReporterSimon Polreich, wieOrdnung in denFächern desheimischenKleiderschrankseinzieht.Fotos: Behrens

    BESSER:Die schlampig

    gerolltenPullis legt die

    Expertin sozusammen,dass sie die

    Tiefe des Fachsausnutzen.

    Wenn ich eine Wohnung betrete, denke ich oft: So schlimm ist es gar nicht.EDELGARD HÄRTERAufräum-Expertin

    Hannover 15Neue PresseNr. 33 Freitag, 8. Februar 2019

    Praktikant1


Recommended