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Intoleranz und Toleranz in der arabischen Moderne Dr. Sarhan Dhouib (Universität Bremen) Der Vortrag wurde am 12. April 2016 am Institut für Orientalistik der Universität Wien im Rahmen der Vortragsreihe „Interkulturelle Philosophie – Theorie und Praxis“ (Semesterschwerpunkt „Philosophie in der arabisch-islamischen Welt“) gehalten. Diese Vortragsreihe wurde von Dr. in Anke Graneß konzipiert und vom Institut für Orientalistik der Universität Wien, vom Institut für christliche Philosophie der Universität Wien, von der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP) und vom Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) organisiert. Jede Toleranz (at-tasāhul) gründet in einem Konflikt. Ar-Rīḥānī, Ar-Rīḥānīyāt (1910), 1987, S. 39

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Intoleranz und Toleranz in der arabischen Moderne Dr. Sarhan Dhouib (Universität Bremen)

Der Vortrag wurde am 12. April 2016 am Institut für Orientalistik der Universität Wien im Rahmen der Vortragsreihe „Interkulturelle Philosophie – Theorie und Praxis“ (Semesterschwerpunkt „Philosophie in der arabisch-islamischen Welt“) gehalten. Diese Vortragsreihe wurde von Dr.in Anke Graneß konzipiert und vom Institut für Orientalistik der Universität Wien, vom Institut für christliche Philosophie der Universität Wien, von der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP) und vom Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) organisiert.

Jede Toleranz (at-tasāhul) gründet in einem Konflikt.

Ar-Rīḥānī, Ar-Rīḥānīyāt (1910), 1987, S. 39

1. Einleitung 2. Begriffsklärung von „Toleranz“ in der arabischen Moderne

2.1. Toleranz als tasāhul (Adīb Isḥāq, Amīn ar-Rīḥānī, Faraḥ Antūn) 2.2. Toleranz als tasāmuḥ (Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ben ʿĀšūr, ʿAbd al-ʿAzīz at-Taʿālibī)

3. Begriffsklärung von „Intoleranz“ in der arabischen Moderne 3.1. Positive Verwendung des Begriffes der Intoleranz: Taʿaṣṣub als „Gruppensolidarität“ (Ğamāladdīn

al-Afġānī, Muḥammad ʿAbduh) 3.2. Negative Verwendung des Begriffes der Intoleranz: Taʿaṣṣub als Intoleranz

4. Drei Toleranzdefinitionen und ihre Begründungsstrategie bei ar-Rīḥānī 5. Kritische Auseinandersetzung mit ar-Rīḥānīs Auffassung der Toleranz

5.1. Die Besprechung von Rašīd Riḍā 5.2. Die Besprechung von Faraḥ Anṭūn

6. Fazit

Jahr Autor Ort/Land Titel des Beitrages Begriffe 1874 Adīb Isḥāq Gesellschaft Zahrat al-

Adāb Beirut

Intoleranz und Toleranz Taʿaṣṣub Tasāhul

1884 Ğamāladdīn al-Afġānī, Muḥammad ʿAbduh

Zeitung al-ʿUrwā al-Wutqā Paris/Ägypten/Indien

Intoleranz Einheit der Nation und Einheit der Religion

Taʿaṣṣub

1898 Rašīd Riḍā

Zeitschrift al-Manār Kairo

Intoleranz Taʿaṣṣub

1900 Amīn Ar-Rīḥānī Gesellschaft der jungen Maroniten New York

Die religiöse Toleranz Tasāhul

1900-02 1903

Faraḥ Anṭūn/ Muḥammad ʿAbduh

Zeitung al-Ğāmiʿa Alexandria Al-Manār in Kairo Averroes und seine Philosophie

Sinn der Toleranz Toleranz und die Unterscheidung zwischen den politischen und religiösen Macht

Tasāhul Taʿaṣṣub

1908 Sulaimān al-Bustānī Monografie Beirut

Die Verfassung und die Intoleranz

Taʿaṣṣub

1915 Ḫalīl Saʿāda Zeitung ar-Risāla Buenos Aires

Religiöse Intoleranz im Orient und bei den Orientalen

Taʿaṣṣub

1920 ʿAbd al-ʿAzīz at-Taʿālibī La Tunisie Martyre Paris

Toleranz und Gasfreundschaft

Tolérance/tasāmuḥ Hospitalité/karam aḍ-ḍiyāfa

1936 Muḥammad aṭ-Ṭāhir Ben ʿĀšūr

Zeitschrift al-Hidāya Kairo/ Tunis

Toleranz Tasāmuḥ

1 „Das Wort taʿaṣṣub (Intoleranz) wird im arabischen Sprachgebrauch für einen Exzess im Glauben und im Meinen verwendet bis hin zur parteiischen Ablehnung derjenigen, die eines andern Glaubens und einer anderen Meinung sind. Hingegen verwende ich das Wort tasāhul (Toleranz) im Sinne der gemäßigten Haltung (iʿ dāl) in der Lehre und im Glauben und folge dabei den Europäern (ifranğ) in ihrer Verwendung des Wortes Toleranz (tolérance)“ (Adīb Isḥāq 1886, 7f.). 2 „Die Definition der Intoleranz in der zeitgenössischen Philosophie bezeichnet den Exzess in dem, was jemand für wahr hält; in seiner Übertreibung geht er sogar bis zu dem Punkt einer radikalen Ablehnung, er zwingt Menschen dazu, seine Meinung zu teilen und hindert sie daran, ihren Glauben zu zeigen; somit folgt er dem Drang, seine eigene Vollkommenheit zu behaupten und mithin die Unvollkommenheit Anderer zu zeigen“ (Adīb Isḥāq, ebd., S. 8).

3 „Tasāhul ist das Tolerieren von Jemandem, der mit mir in Konflikt steht“ (Ar-Rīḥānī, Ar-Rīḥānīyāt, S. 35). 4 Toleranz bedeutet „das Zulassen von Glaubensformen und religiösen Ritualen, die in Konflikt zu den gewöhnlichen Glauben und Ritualen stehen“ (ebd.). 5 Religiöse Toleranz sei hier als „Respekt“ (iḥtirām) und „Achtung (iʿ bār), zu der wir gegenüber den Menschen anderer Glaubenslehren verpflichtet sind, wenngleich diese Glaubenslehren im Widerspruch zu den unsrigen stehen“ (ebd., S. 36).

6 „Ich habe gesagt, dass die Toleranz auf Konflikt gründet. Ein solcher Konflikt hat die Skeptiker zum Zweifel in allen Bereichen geführt. Daher haben sie bezüglich aller Dinge ‚wir wissen es nicht’ gesagt. Und diese Skeptiker werden Agnostiker genannt“. „Ihre Aussage ‚wir wissen es nicht’ muss als eine Antwort auf eine Frage verstanden werden, die ihre Wahrnehmung überschreitet, da sie von göttlichen Dingen handelt, die der menschliche Verstand nicht bestimmen kann“ (ebd., S. 40). 7 „Wer die Antwort ‚ich weiß es nicht’ (lāadrī) als Antwort auf eine Frage gibt, die er nicht beantworten kann, der hat auf seinen gesunden Menschenverstand, seine gute Meinung, tiefe Weisheit, scharfe Intelligenz und seinen gesunden Geschmack hingewiesen“ (ebd., S. 40).

8 „Bitte schenken Sie mir Ihre Aufmerksamkeit: Ich werde Ihnen einen Traum erzählen, der mir in einer Nacht gekommen ist. Bevor ich ins Bett ging, war ich dabei, die Sterne und die Planeten zu betrachten und das Aufgehen des Vollmondes zu beobachten. Dies geschah mir als ich auf meinem lieben Gebirge im Libanon war, ein Ort, an dem sich unter seinen einfachen Bewohnern der Aberglaube und die Konfessionen und Religionen vermehrt haben. An diesem Abend war ich dabei, die Planeten, den Vollmond, die Plejaden und die Milchstraße – die auch Galaxis genannt wird –, zu betrachten. Ich habe die Milchstraße mit der Straße der Toleranz auf Erde verglichen, weil sie reines Weiß ist, in dessen Inneren sich die Sterne bewegen, ohne zusammen zu prallen. Denn sie sind in Verbindung und zugleich getrennt […].

Aufgrund meiner intensiven Betrachtung des Schöpfers an diesem schönen Abend habe ich davon geträumt, dass ich in den Himmel – lebendig in einem Wagen aus Feuer – gefahren bin. Als ich in das göttliche Paradies, das mit der Rhetorik der Menschen nicht beschreibbar ist, eingetreten bin, habe ich einen hochgestellten und großartigen Thron gesehen, der aufgrund seiner intensiven Strahlung und Beleuchtung die Augen blendete. Vor ihm standen vier Männer, die böse und eifersüchtig einander anblickten. Ich habe dann einen von den Engeln nach diesen Männern gefragt. Er antwortete daraufhin: Es sind die Vertreter der Weltreligionen im Himmel: dies ist der Botschafter des Christentums und der andere der des Islam, dies ist der Botschafter des Buddhismus und der andere der des Judentum. Ich habe gesagt: Was wollen sie denn? Er sagte mir: Sie haben mit ihren permanenten Streiten und Konflikten die Ruhe der Engeln und die Bewohner dieser Häuser gestört und nun kommen sie zum Gott des Himmels und der Erde und bitten um Hilfe! Der große Gott hat sie mit Mitleid und Liebe angeschaut und gesagt: Ihr habt alle Recht, meine Söhne, ihr habt alle Recht.“ (ebd.)