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M I T T E I L U N G E N
Januar 2012 · 94. Jahrgang
Geschäftsstelle
Entfelderstrasse 11
5001 Aarau
Telefon 062 837 18 18
www.aihk.ch · www.ahv-aihk.ch
Wirtschaftspolitisches Mitteilungsblatt
für die Mitglieder der AIHK
Nr. 1 von 12
Herausforderungen für Politik und Wirtschaftvon Peter Lüscher, lic. iur., AIHK-Geschäftsleiter, Aarau
2012 sind auf Kantons- und Bundesebene für die Wirtschaft wichtige Themen
traktandiert. So hat der Grosse Rat vor Redaktionsschluss dieses Heftes über ein
neues Energiegesetz entschieden. 2011 war die Bundespolitik von den Wahlen
geprägt. Dieses Jahr ist der Kanton Aargau dran. Am 21. Oktober wählen wir
den Grossen Rat und den Regierungsrat. Die Wirtschaft steht vor einem kon-
junkturell schwierigen Jahr, die Aargauer Unternehmen sind dafür aber gut ge-
rüstet.
JAHRESAUSBLICK
Die Konjunkturprognosen für das neue Jahr sind eher
pessimistisch. Für die Schweiz wird 2012 gerade noch
mit einem BIP-Wachstum von 0,5 Prozent gerechnet.
Dies als Folge der weltwirtschaftlichen Probleme. Auch
die Bevölkerung ist skeptisch. Auf dem Sorgenbarome-
ter der Credit Suisse steht das Thema Arbeitslosigkeit
zuoberst, die Wirtschaftsentwicklung an dritter Stelle.
Entscheidend für die wirtschaftliche Entwicklung in der
Schweiz wird der künftige Frankenkurs zum Euro und
zum Dollar sein. Hier ist die Schweizerische National-
bank gefordert. Was die aargauischen Unternehmen
erwarten, klärt die AIHK zurzeit mit ihrer Wirtschafts-
umfrage ab. Deren Resultate werden in der Februar-
Ausgabe unserer Mitteilungen veröffentlicht.
Administrative Entlastung als (schwieriges) Dauerthema
Kämpft die Wirtschaft mit konjunkturellen Proble-
men, so sind gute Rahmenbedingungen besonders
wichtig. Dazu muss sowohl die Bundes- als auch die
kantonale Politik ihren Beitrag leisten. Wohl wird im-
mer wieder von administrativer Entlastung gespro-
chen. Die Zahlen sprechen leider eine andere Spra-
che: In der Amtlichen Sammlung des Bundesrechts
wurden 2011 gut 6’500 Seiten publiziert, in der Aar-
gauischen Gesetzessammlung fast 500. Es wird also
munter weiter reguliert.
Das Beispiel der Mehrwertsteuer zeigt die Schwierig-
keiten in diesem Bereich deutlich auf. Nachdem sich
der Bundesrat mutig dazu aufgerafft hatte, die
Mehrwertsteuer mit der Einführung eines Einheits-
satzes wesentlich zu vereinfachen, machte ihm das
Parlament einen Strich durch die Rechnung. Die Vor-
lage wurde – wohl weil damit (zu) viele Ausnahme-
regelungen aufgehoben worden wären – abgelehnt.
Ein neuer Vorschlag soll wieder auf einem Zweisatz-
modell beruhen. Die AIHK hat sich immer für einen
Einheitssatz stark gemacht und bedauert deshalb
diesen Beschluss des Parlaments.
Die nach langem Hin und Her verabschiedete Revision
des Rechnungslegungsrechts bringt Mehrbelastun-
gen für die Unternehmen. Nach Meinung des Bun-
desrats hätte sogar eine grosse Zahl von Konzernen in
Familienbesitz neu Abschlüsse nach international an-
erkannten Standards erstellen müssen. Das hätte zu
massiven Mehrkosten geführt, ohne dass daraus ein
spürbarer Nutzen resultiert hätte. Dank grossem Ein-
satz ist es uns zusammen mit verschiedenen Partnern
gelungen, (wenigstens) dies zu verhindern.
2
Es geht also nicht nur darum, bestehende administ-
rative Belastungen abzubauen, sondern immer wie-
der auch darum, neue zu vermeiden. Wir erhoffen
uns vom neu zusammengesetzten Parlament eine
kritische Prüfung aller Vorlagen auch aus diesem
Blickwinkel. Es soll nur dort reguliert werden, wo
und soweit es wirklich notwendig ist.
Die Wirtschaftsverbände fordern seit Jahren administ-
rative Vereinfachungen und kämpfen gegen die un-
mässige Belastung der Unternehmen an – leider erst
mit wenig Erfolg. Dabei ist selbstkritisch anzumerken,
dass uns die Nennung konkreter Entlastungsmöglich-
keiten schwer fällt. Um die Politik überzeugen zu kön-
nen, brauchen wir aber möglichst viele konkrete Bei-
spiele! Der Autor nimmt deshalb Meldungen von
administrativen Belastungen, die abgebaut werden
könnten oder müssten, jederzeit gerne entgegen.
Abstimmungen im Multipack
Im März werden die Stimmberechtigten im Kanton
Aargau über nicht weniger als neun Vorlagen zu be-
fi nden haben, fünf des Bundes und vier kantonale.
Dabei geht es auf Bundesebene um eine Volksinitia-
tive gegen Zweitwohnungen, eine Bausparinitiative,
die kantonalen Monopole für Geldspiele, eine Feri-
eninitiative der Gewerkschaften sowie um ein Refe-
rendum zur Verhinderung der Wiedereinführung der
Buchpreisbindung. Kantonal steht die Verfassungs-
und Schulgesetzrevision zur Stärkung der Volksschu-
le im Zentrum des Interesses. Daneben kommen die
Verfassungsgrundlagen für die Justizreform und für
das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht zur
Abstimmung.
Der AIHK-Vorstand wird seine Parolen am 19. Januar
beschliessen.
Auch an den drei weiteren Abstimmungsterminen
2012 sind wirtschaftsrelevante Vorlagen zu erwar-
ten. So ist die Volksinitiative der AUNS «für die Stär-
kung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsver-
träge vors Volk!)» abstimmungsreif. Die AUNS will
damit das obligatorische Referendum bei Staatsver-
trägen ausdehnen. Das Parlament hat im Dezember
2011 das revidierte CO2-Gesetz verabschiedet. Im
Frühling werden die Initianten darüber entscheiden,
ob deshalb ihre Volksinitiative «Gesundes Klima» zu-
rückgezogen wird oder nicht. Wird sie nicht zurück-
gezogen, könnte diese Volksinitiative auch 2012 zur
Abstimmung kommen. Das Gleiche gilt für die «Ab-
zocker-Initiative» von Thomas Minder und eine wei-
tere Bausparinitiative des Hauseigentümerverban-
des. Zudem läuft zurzeit die Unterschriftensammlung
für ein Referendum gegen die Änderung des Bun-
desgesetzes über die Krankenversicherung (Mana-
ged Care) vom 30. September 2011.
Nachdem im Wahljahr 2011 nicht weniger als 23 neue
Volksinitiativen lanciert wurden, wird der Stoff für
Volksabstimmungen wohl nicht so schnell ausgehen.
Weitere wichtige Vorlagen in der Pipeline
Wir werden uns neben Stellungnahmen zu kantona-
len Themen auch dieses Jahr in Zusammenarbeit mit
economiesuisse, dem Schweizerischen Arbeitgeber-
verband und der Vereinigung der Schweizer Indust-
rie- und Handelskammern an Vernehmlassungsver-
fahren des Bundes beteiligen. Verschiedene für die
Wirtschaft äusserst wichtige Geschäfte sind bereits
angekündigt:
Der Bundesrat will gemäss Jahresplanung seine Ener-
giestrategie 2050 konkretisieren und diese zusam-
men mit den Grundsätzen zu deren Umsetzung in die
Vernehmlassung geben. Im Weiteren sind Anhörun-
gen zur Unternehmenssteuerreform III, zu einer
2. Etappe der Teilrevision des Raumplanungsgesetzes
und zu einem Bericht über die Zukunft der 2. Säule
(BVG) angekündigt.
Der Bundesrat plant zudem, eine nächste AHV-Revisi-
on in Angriff zu nehmen. Die langfristige Sicherung
unserer Altersvorsorge darf aus unserer Sicht nicht
einfach weiter hinausgeschoben werden. Das Gleiche
gilt für die Revision der Invalidenversicherung. Wir be-
obachten mit grosser Sorge, dass bei der IV-Revision
6b der Sparwille des Parlaments offenbar abnimmt.
Die Wirtschaft hat der Zusatzfi nazierung für die IV sei-
nerzeit nur unter der Bedingung zugestimmt, dass mit
der Revision 6b die fi nanzielle Situation der IV nach-
haltig ins Lot gebracht wird. Dazu gehört auch der
Schuldenabbau. Wir erwarten vom Parlament, dass es
sich an die damaligen Versprechen hält.
Am 1. Januar 2012 ist die IV-Revision 6a in Kraft ge-
treten. Damit sollen innert sechs Jahren rund 17’000
Invalidenrentner wieder bzw. noch stärker in den Ar-
beitsmarkt integriert werden. Das ist eine grosse He-
rausforderung auch für die Unternehmen. Sie erhal-
ten dabei Unterstützung durch Verbände und
IV-Stellen. Mit dem Instrument des Arbeitsversuchs
und den Coaching-Angeboten wird die Aufgabe er-
3
leichtert. Wir informieren unsere Mitglieder im Detail
darüber und stehen für Fragen zur Verfügung.
Als weiteres wichtiges Thema steht die Klärung des
Verhältnisses der Schweiz zu Europa (inkl. Umgang mit
der Personenfreizügigkeit) auf der Traktandenliste.
Steuergesetzrevision und Hightech Aargau für mehr Standortqualität
Der Kanton Aargau hat sein Triple-A-Rating halten
können. Die Unternehmen sind mehrheitlich mit den
Standortbedingungen zufrieden. Trotzdem dürfen
wir uns nicht selbstzufrieden zurücklehnen, sondern
müssen unsere Standortbedingungen dauernd opti-
mieren. Das ist in erster Linie für die ansässigen Un-
ternehmen wichtig, in zweiter Linie dient es auch für
die Förderung des Zuzugs neuer Betriebe.
In der laufenden Steuergesetzrevision, die sich im
parlamentarischen Verfahren befi ndet, geht es in
erster Linie um die Realisierung der versprochenen
Entlastung des Mittelstandes. Welche weiteren Ent-
lastungen auch für juristische Personen möglich
sind, ist im Rahmen der 2. Lesung zu klären. Es darf
nicht vergessen werden, dass die Höhe der Steuer-
belastung ein wesentliches Element der Standort-
qualität ist. Ziel muss im Hinblick auf die zu erwar-
tende Volksabstimmung ein mehrheitsfähiges
Gesamtpaket sein.
Mit seiner Initiative «Hightech Aargau» will der Re-
gierungsrat die Innovationskraft unserer Unterneh-
men stärken. Wir unterstützen die Stossrichtung,
haben aber zu einzelnen Massnahmen im Rahmen
des Vernehmlassungsverfahrens Vorbehalte ange-
bracht. Gespannt erwarten wir die Botschaft des Re-
gierungsrates, die im Frühjahr herauskommen soll.
Die AIHK ist bereit, bei der Umsetzung mitzuarbei-
ten. Die angestrebte «Erhöhung der Verfügbarkeit
von Immobilien und Industrieland für Aargauer Un-
ternehmen und Ansiedlungsprojekte» (Entwick-
lungsschwerpunkt im Aufgaben- und Finanzplan)
unterstützen wir nur, soweit dies mit ordnungspoli-
tisch vertretbaren Mitteln geschieht.
Sorgen wir für einen wirtschafts-freundlichen Grossen Rat
Erstmals fi nden am 21. Oktober 2012 die Parla-
ments- und Regierungswahlen im Kanton Aargau
am gleichen Termin statt. Damit zusammenhängend
werden auch die Amts- und Rechnungsjahre zusam-
mengelegt. Die AIHK begrüsst beide Neuerungen
ausdrücklich. Das Gleiche gilt für die im letzten No-
vember beschlossene Einführung eines Quorums im
Grossratswahlgesetz.
Die nachstehenden Tabellen zeigen Wähleranteile
und Sitzzahlen der Parteien in den letzten Jahrzehn-
ten sowie die Parteistärken in den einzelnen Bezir-
ken bei den letzten Grossratswahlen.
Wichtig aus Sicht der AIHK ist eine gute Vertre-
tung wirtschaftsfreundlicher Personen im Grossen
Rat. Unser Kantonsparlament beeinflusst mit sei-
nen Entscheiden die Rahmenbedingungen für die
unternehmerische Tätigkeit im Aargau wesent-
lich.
Wir rufen deshalb alle Unternehmen dazu auf, ge-
eigneten Personen eine Kandidatur sowie eine allfäl-
lige Tätigkeit im Grossen Rat zu ermöglichen.
Jahr SVP SP CVP FDP Grüne EVP SD EDU BDP GLP FPS LdU Übrige
1953 16,2 33,3 23,2 20,1 – 2,7 – – – – – 4,2 0,4
1957 14,8 33,0 22,8 20,3 – 3,4 – – – – – 5,0 0,7
1961 14,8 30,9 22,2 20,5 – 3,0 – – – – – 4,1 4,4
1965 15,0 30,1 22,1 21,3 – 3,1 – – – – – 3,5 4,9
1969 15,0 26,8 21,8 18,6 – 2,9 – – – – – 7,1 8,0
1973 14,5 22,2 23,9 19,3 – 4,8 6,6 – – – – 5,2 3,5
1977 14,5 24,6 23,2 21,0 – 5,1 6,2 – – – – 5,4 –
1981 16,9 24,1 24,6 22,4 – 5,5 2,3 – – – – 3,8 0,3
1985 15,9 20,5 23,3 23,7 5,2 4,4 3,1 – – – – 3,6 0,2
1989 15,6 17,7 20,7 20,2 6,5 4,8 3,1 0,3 – – 7,6 3,0 0,6
1993 17,1 19,9 17,8 19,6 4,4 4,7 2,6 0,4 – – 9,6 2,9 1,1
1997 21,9 21,7 17,3 19,6 3,5 4,3 3,2 1,3 – – 4,5 1,4 1,3
2001 33,5 18,6 15,0 19,0 4,0 4,9 1,8 1,0 – – 2,0 – 0,3
2005 30,3 19,7 17,5 16,9 6,8 5,7 1,3 1,3 – – 0,3 – 0,3
2009 31,9 15,7 15,0 14,3 8,9 4,5 1,2 1,8 3,1 3,5 – – 0,1
Wähleranteile bei den Grossratswahlen 1953 – 2009
Quelle: Statistik Aargau, Heft 192, «Grossratswahlen 2009, Ergebnisse» Parteistärke in Prozent
4
Bezirk SVP SP CVP FDP Grüne EVP SD EDU BDP GLP FPS LdU Übrige Total
Aarau 5 3 1 3 2 1 – 1 – – – – – 16
Baden 8 4 6 4 3 1 1 – 1 2 – – – 30
Bremgarten 6 2 3 2 1 – – – 1 1 – – – 16
Brugg 3 2 1 2 1 1 – – – 1 – – – 11
Kulm 4 1 – 1 1 1 1 – – – – – – 9
Laufenburg 2 1 2 1 1 – – – – – – – – 7
Lenzburg 4 2 1 1 1 1 – – 1 1 – – – 12
Muri 2 1 2 1 1 – – – – – – – – 7
Rheinfelden 3 2 2 2 1 – – – – – – – – 10
Zofi ngen 5 3 1 2 1 1 – 1 1 – – – – 15
Zurzach 3 1 2 1 – – – – – – – – – 7
Kanton AG 45 22 21 20 13 6 2 2 4 5 – – – 140
2005 46 30 26 24 7 7 – – – – – – – 140
2001 72 36 32 40 7 8 4 – – – 1 – – 200
1997 47 48 37 40 6 8 7 1 – – 4 2 – 200
1993 36 44 35 41 7 8 3 – – – 19 5 2 200
1989 34 37 42 45 11 9 3 – – – 12 6 1 200
1985 32 44 48 52 5 9 3 – – – – 6 1 200
1981 34 51 50 48 – 10 – – – – – 7 – 200
1977 29 51 45 46 – 8 10 – – – – 11 – 200
1973 30 46 54 41 – 8 10 – – – – 9 2 200
Grossrätinnen und Grossräte nach Parteien und Bezirken, 2009
Quelle: Statistik Aargau, Heft 192, «Grossratswahlen 2009, Ergebnisse»
Auf dem Weg zum globalen Klimaabkommenvon Jan Krejci, lic. iur., juristischer Mitarbeiter der AIHK, Aarau
Obwohl das Ergebnis der UNO-Klimakonferenz in Durban kritisiert wird, konnte
einiges erreicht werden. So wurde beschlossen, dass bis 2015 ein neues Klima-
abkommen geschaffen wird, das für alle Staaten gelten soll. Im Gegenzug ver-
pfl ichteten sich zahlreiche Industriestaaten für eine zweite Verpfl ichtungsperi-
ode unter dem Kyoto-Protokoll. Die Verlängerung ist für den Klimaschutz und
für die sich auf diesem Gebiet engagierenden Unternehmen enorm wichtig.
KLIMAPOLITIK
«Ohne einen baldigen Kurswechsel werden wir dort
enden, wo wir derzeit hinsteuern» schreibt die Inter-
nationale Energie-Agentur (IEA) in ihrem neusten
«World Energy Outlook 2011». Konkret würde dies
heissen, dass wir das von der Wissenschaft vorgegebe-
ne Ziel einer für das Klima gerade noch verträglichen
Erderwärmung von maximal 2 Grad Celsius auf keinen
Fall erreichen würden. Der Bericht hält fest, dass es
wenige Anzeichen gebe, dass der dringend notwendi-
ge Kurswechsel bei den weltweiten Energietrends ein-
geleitet wurde. Trotz unsicheren Wirtschaftsaussichten
sei nämlich der weltweite Primärenergieverbrauch im
Jahre 2010 um bemerkenswerte 5 Prozent gestiegen,
was zu einem neuen Höchststand bei der Emission von
CO2 führte. Unterdessen kämpfen die USA und diverse
europäische Staaten mit stetig steigenden Staatsschul-
den oder gar mit drohender Zahlungsunfähigkeit. Dies
lenke den Blick von griffi gen Klimaschutzmassnahmen
ab und beeinträchtige das Einhalten der vereinbarten
Klimaschutzziele.
Wohin der CO2-Ausstoss bereits geführt hat, zeigt eine
neuste Studie der ETH, die in der letzten Ausgabe des
Fachmagazins «Nature Geoscience» veröffentlicht
wurde. Die Autoren, Prof. Reto Knutti und Markus Hu-
ber, kamen wie bereits frühere Studien zum Schluss,
dass der Mensch mit höchster Wahrscheinlichkeit für
den grössten Teil der Klimaerwärmung – nämlich drei
Viertel – verantwortlich ist. Seit 1950 sei die durch-
schnittliche Lufttemperatur der Erdoberfl äche um über
0,5 Grad Celsius angestiegen. Gemäss ihrem Berech-
nungsmodell, das sich auf den Zugewinn der Energie-
menge von Ozeanen und der Atmosphäre bei einer
globalen Erwärmung stützt, wäre die Temperatur allei-
ne aufgrund der Treibhausgase sogar um 0,85 Grad
Celsius gestiegen. Kühlende Effekte, wie etwa Schwe-
5
beteilchen in der Luft, führten aber zu einem geringe-
ren Temperaturanstieg. Kritiker der Studie verwiesen
wiederum auf den zu kurzen Zeitraum der von den
Autoren berücksichtigten Daten (60 Jahre) und die no-
torische Unsicherheit von Klimaprognosen.
Alle sollen CO2 reduzieren
Mit dieser bedrohlichen Ausgangslage vor Augen
machten sich Vertreter aus 194 Ländern auf nach Dur-
ban in Südafrika an die 17. UNO-Klimakonferenz. Al-
leine die Schweiz reiste mit einer 20-köpfi gen Delega-
tion bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern der
Verwaltung (UVEK, EDA, EDI und EVD), Wirtschaft,
Wissenschaft, von Entwicklungsorganisationen und
von Umweltverbänden an. Die Position wurde vorgän-
gig vom Bundesrat festgelegt. Hauptanliegen der
Schweiz war und ist es, ein Regime zu schaffen, in
dem sich alle namhaften Verursacher von Klimagasen
rechtlich verbindlich zu einer Verminderung des Treib-
hausgasausstosses verpfl ichten. Insbesondere sollten
sich die USA und wichtige Schwellenländer wie China,
Indien und Brasilien zu einer Reduktion verpfl ichten.
Man wollte bei einem umfassenden Klimaabkommen
ab 2020 einen Schritt weiter kommen und klären, wie
es mit dem Kyoto-Protokoll nach dessen Ende 2012
weitergehen soll. Entscheidend für eine Verlängerung
des Protokolls war für die Schweiz das Engagement
der anderen Industrieländer inklusive USA sowie der
Schwellenländer China, Brasilien und Indien. Ausser-
dem wollte die Schweiz eine aktive Rolle beim im letz-
ten Jahr geschaffenen «Green Climate Fund» spielen
und sich um die Ansiedlung des Fonds in Genf bemü-
hen. Der Fonds soll fi nanzielle Unterstützung bei der
Umsetzung von Klimamassnahmen in Entwicklungs-
ländern bieten.
Im Vorfeld dunkle Wolken
Trotz diesen hehren Zielen standen die Vorzeichen
für ein Gelingen schlecht. Namhafte CO2-Emitenten
hatten vorab kein Interesse, sich an einer Fortfüh-
rung des Kyoto-Protokolls zu beteiligen. So wollten
Japan, Russland und Kanada nichts von einer Verlän-
gerung wissen. Kanada hätte die Verlängerung Milli-
arden gekostet. Weil das nordamerikanische Land
das vereinbarte CO2-Ziel, eine Reduktion um 6 Pro-
zent im Vergleich zu 1990, mit den getroffenen
Massnahmen bis nächstes Jahr niemals erreicht hät-
te, hätte es nämlich CO2-Zertifi kate in Milliardenhö-
he als Kompensation zukaufen müssen. Mittlerweile
ist bekannt, dass Kanada ganz aus dem Kyoto-Proto-
koll ausgestiegen ist.
Die Verhandlungen an der Klimakonferenz entwi-
ckelten sich entsprechend harzig. Es gab kaum Fort-
schritte und Franz Perrez, Chef der Schweizer Ver-
handlungsdelegation, vermeldete aus Durban: «Die
Fronten haben sich seit der letzten Vorbereitungs-
konferenz im Herbst in Panama verhärtet». Da auch
bis zum vorgesehenen Konferenzschluss am 9. De-
zember 2011 kein befriedigendes Resultat erzielt
wurde, gingen die Verhandlungen in eine Zusatzrun-
de und endeten mit einem passablen Ergebnis erst
zwei Tage später, um fünf Uhr in der Frühe.
«Paradigmenwechsel»
Nach dem Verhandlungsmarathon sprach Bruno
Oberle, Direktor des Bundesamtes für Umwelt (BAFU),
von einem Paradigmenwechsel in der Klimapolitik. In
Zukunft sollen alle Länder gemäss ihrem jeweiligen
Ausstoss und ihren Möglichkeiten zur Verminderung
des Treibhausgasausstosses verpfl ichtet werden. Aus
Sicht des BAFU «machten die internationalen Klima-
verhandlungen (damit) einen grossen Schritt vor-
wärts». So sind die grossen Verursacher von Treibhaus-
gasen, China, Brasilien, Indien, Südafrika und die USA
bereit, bis 2015 ein rechtlich verbindliches Klima-
schutz-Abkommen zu vereinbaren. Die konkreten Ver-
handlungen sollen nächstes Jahr beginnen. Dabei soll
festgelegt werden, wer wie viele Emissionen reduzie-
ren muss. Dank dieser Einigung sahen die EU, Neusee-
land, Australien und die Schweiz ihre Bedingungen als
erfüllt an und stimmten einer zweiten Verpfl ichtungs-
periode unter dem Kyoto-Protokoll zu.
Budget-Idee vonProf. Reto Knutti, ETH ZürichDie Idee stützt sich darauf, dass aufgrund der langen Aufenthaltszeit von CO2 in der Atmosphäre jede ausgestossene Tonne, unabhängig von Entstehungsort und -zeit, ungefähr die gleiche Erderwärmung zur Folge hat. Gemäss den Berechnungen der ETH haben wir ein beschränktes «globales Budget» von etwas mehr als 1000 Milliarden Tonnen CO2 zur Verfügung, damit wir eine 2-Grad-Celsius-Erderwärmung nicht überschreiten. Eine grössere Erwärmung hätte verheerende Folgen.. Etwa die Hälfte des Budgets haben wir bereits ver-braucht. In den zukünftigen Klimakonferenzverhandlun-gen könnte es deshalb auch darum gehen, eine «faire» Aufteilung der anderen Hälfte zu fi nden.
Nutzen der Klimakonferenzen?
Kritiker der Klimakonferenzen fragen sich unterdes-
sen, ob ein solch «mageres» Resultat nicht auch
ohne die Flüge der zahlreichen Verhandlungsdelega-
tionen rund um den Globus gelungen wäre. Wieso
müssen all diese Leute nach Südafrika fl iegen und so
6
sinnlos CO2 ausstossen? Heute gibt es doch Skype?
Auch an einer Vorbereitungskonferenz in Bonn war
dies durchaus ein Thema. Die Idee wurde aber in ei-
ner Abstimmung zu Recht verworfen. Auch wenn es
in der Klimadebatte nur harzig vorangeht, sind die
persönlichen Begegnungen sowie die Gespräche
und Verhandlungen am Rande der Konferenz für das
Vorankommen sehr wichtig. Sie fördern das Vertrau-
en unter den Verhandlungspartnern und ermögli-
chen so Kompromisse, die ansonsten nicht zustande
kämen. Zudem rücken solche Konferenzen das The-
ma und die Probleme in das Bewusstsein der Weltöf-
fentlichkeit und führen so zu einem permanenten
Druck, die Verhandlungen am Leben zu erhalten und
voranzutreiben.
Ausserdem fi nden im Rahmen dieser Konferenzen
«Side Events» statt, wo sich die Länder und die Wirt-
schaft mit ihren Lösungen für das Klimaproblem prä-
sentieren können. Unter der Leitung von economiesu-
isse und der Mitwirkung der AIHK konnte sich so auch
die Schweizer Wirtschaft an der diesjährigen Klima-
konferenz der Weltöffentlichkeit präsentieren. Unter
anderem mit Publikationen und Videokonferenzen
wurden die Schweizer Errungenschaften den interes-
sierten Delegationen und Journalisten aus der ganzen
Welt vorgestellt. Die internationale Staatengemein-
schaft sollte erfahren, wie gut die Leistungen der
Schweiz und die Lösungen sind, die wir zu bieten ha-
ben. Aus solchen Kontakten entstehen im Weiteren
gute Beziehungen, die zu Aufträgen führen können.
Ein Schritt in die richtige Richtung
Durch die Einigung in letzter Sekunde wurden die be-
währten Mechanismen des Klimaschutzes gesichert und
ein Stillstand ab dem Jahr 2012, wenn die erste Ver-
pfl ichtungsperiode des Kyoto-Protokolls ausläuft, ver-
mieden. Alle Unternehmen, die sich der Energieagentur
der Wirtschaft angeschlossen haben, und alle anderen
Firmen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, erhalten
so den benötigten rechtlichen Rahmen. Ausserdem
konnte so deren Absatz und Wert gesichert werden.
Die nächste Klimakonferenz fi ndet nächstes Jahr in
Qatar statt. Ziel muss es sein, unbedingt einen weite-
ren Schritt Richtung eines international verbindli-
chen Klimaabkommens zu machen. Gemäss ETH
müssten nämlich die CO2-Emissionen spätestens bis
2015 ihren Höhepunkt erreicht haben und bis 2020
deutlich unter die heutigen Werte sinken, um das
Ziel einer Erderwärmung von maximal 2 Grad Celsius
noch einzuhalten. Ausserdem ist nur mit einem glo-
balen Abkommen gesichert, dass sich Staaten mit
ambitionierter Klimapolitik keine Nachteile gegen-
über Trittbrettfahrern einhandeln, und dass Firmen
ihre Produktion nicht in Staaten verlagern, die nied-
rigere oder gar keine Umweltschutzaufl agen haben.
50 Jahre Sozialcharta – kein Grund zur Ratifi kationvon Philip Schneiter, lic. iur., Rechtsanwalt, juristischer Mitarbeiter der AIHK, Aarau
Das 50. Jubiläum, das die Europäische Sozialcharta vor kurzem gefeiert hat, war
der Arbeitnehmerseite in der Schweiz ein willkommener Anlass, um – wieder
einmal – die Ratifi kation der Sozialcharta zu fordern. Die Ratifi kation würde
aber zahlreiche einschneidende Änderungen des schweizerischen Arbeits- und
Sozialrechts mit sich bringen. Die möglichen Auswirkungen müssen sorgfältig
analysiert werden, bevor über die Ratifi kation weiter nachgedacht wird.
EUROPAPOLITIK
Im Jahr 1949 ist – als erster Schritt zu einem vereinig-
ten Europa – der Europarat gegründet worden. Der
Europarat hat unter anderem die Aufgabe, den «so-
zialen Fortschritt» der Mitgliedsstaaten zu fördern.
Die Schweiz ist seit 1963 Mitglied im Europarat.
Vom 18. November 2009 bis zum 11. Mai 2010 hat-
te die Schweiz – turnusgemäss – die Präsidentschaft
des Ministerkomitees des Europarats inne.
Das Ministerkomitee trifft die Massnahmen, die zur
Erfüllung der Aufgaben des Europarates geeignet
sind. Es beschliesst zum Beispiel Abkommen und
Vereinbarungen. Die Beratende Versammlung arbei-
tet Empfehlungen zu Händen des Ministerkomitees
aus.
Seit der Gründung des Europarats hat das Minister-
komitee zwei grosse Konventionen beschlossen: die
7
Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. No-
vember 1950 (EMRK) und die Europäische Sozial-
charta vom 18. Oktober 1961 (ESC).
Die EMRK ist für die Schweiz im Jahr 1974 in Kraft
getreten. Die ESC hat der Bundesrat im Jahr 1976
unterzeichnet, aber nie ratifi ziert. Die Ratifi kation
scheiterte mehrmals an der Genehmigung durch das
Eidgenössische Parlament, letztmals im Jahr 2004.
Am 17. Dezember 2004 hat der Nationalrat eine von
der sozialdemokratischen Fraktion eingereichte par-
lamentarische Initiative zur Genehmigung der ESC,
ohne eine inhaltliche Debatte geführt zu haben, für
erledigt erklärt. Der Nationalrat lehnte es ab, die Frist
zur Behandlung der am 19. Juni 1991 eingereichten
parlamentarischen Initiative zu verlängern. Er trug
damit den Bedenken Rechnung, welche die Kommis-
sion für soziale Sicherheit und Gesundheit des Natio-
nalrats geäussert hatte. Die Kommission hatte starke
Zweifel daran, dass das schweizerische Recht mit der
ESC vereinbar ist. Die Bundesverwaltung war nicht in
der Lage, die Unklarheiten zu beseitigen. Ihre Unter-
lagen erwiesen sich offenbar als «wenig brauchbar».
Neue Anläufe zur Ratifi kation
Das 50-Jahre-Jubiläum, das die ESC vor kurzem ge-
feiert hat, war der Arbeitnehmerseite ein willkom-
mener Anlass, um – wieder einmal – die Ratifi kation
der ESC zu fordern. Von der Arbeitnehmerseite un-
terstützte Politiker haben vom Bundesrat verlangt,
einen Bericht über die Vereinbarkeit der ESC mit
dem schweizerischen Recht vorzulegen. Noch wäh-
rend die Schweiz die Präsidentschaft des Ministerko-
mitees des Europarats innehatte, hatte sich der Bun-
desrat dazu bereit erklärt, einen derartigen Bericht
zu verfassen. Vorgängig hatte «AvenirSocial», der
Verband der Berufstätigen mit einer Ausbildung in
Sozialarbeit, Sozialpädagogik usw., ein Gutachten
erstellen lassen, nach dem die Ratifi kation der ESC
durchaus «möglich» wäre.
72 arbeits- und sozialrechtliche Einzelbestimmungen
Die ESC beschlägt alle zentralen Bereiche des Ar-
beits- und Sozialrechts. In den 90er Jahren des letz-
ten Jahrhunderts ist sie umfassend revidiert worden.
Die revidierte Fassung besteht in ihrem Kern aus
neun Artikeln. Die Kernartikel werden durch umhül-
lende Artikel ergänzt. Die ESC enthält insgesamt 72
arbeits- und sozialrechtliche Einzelbestimmungen.
Ein Staat, der die ESC ratifi zieren möchte, muss min-
destens sechs der neun Kernartikel und insgesamt
63 der insgesamt 72 arbeits- und sozialrechtlichen
Einzelbestimmungen anerkennen.
Die neun Kernartikel der ESC:Art. 1 Recht auf Arbeit
Art. 5 Vereinigungsfreiheit
Art. 6 Kollektive Rechte, v.a. Streikrecht
Art. 7 Schutz der Kinder und Jugendlichen
Art. 12 Recht auf soziale Sicherheit
Art. 13 Recht auf Fürsorge
Art. 16 Schutz der Familie
Art. 19 Schutz der Wanderarbeitnehmer
Art. 20 Verbot der Geschlechtsdiskriminierung
Die ESC richtet sich in erster Linie an den Gesetzge-
ber eines Staats. Der Gesetzgeber hat dafür zu sor-
gen, dass die Gesetze den Vorgaben der ESC ent-
sprechen.
Die Einhaltung der ESC durch die Staaten, welche
die ESC ratifi ziert haben, wird durch einen Ausschuss
unabhängiger Sachverständiger, die von der Bera-
tenden Versammlung des Europarats gewählt wer-
den, geprüft. Staaten, welche die ESC ratifi ziert ha-
ben, haben dem Ausschuss regelmässig über die
Einhaltung der ESC Bericht zu erstatten. Gestützt auf
das Ergebnis der Prüfung durch die unabhängigen
Sachverständigen, kann das Ministerkomitee des Eu-
roparats jedem Staat, der die ESC ratifi ziert hat,
«Empfehlungen» abgeben.
Namentlich auf das in Art. 6 Ziff. 4 ESC gewährte
Streikrecht kann sich aber jeder Arbeitnehmer beru-
fen. In einem Urteil aus dem Jahr 1985 hat das Bun-
desgericht – obwohl die Schweiz die ESC nie ratifi -
ziert hat – unmittelbar auf Art. 6 Ziff. 4 ESC Bezug
genommen, um das Streikrecht zum Bestandteil der
schweizerischen Arbeitsverfassung zu erklären – in
der Bundesverfassung ist das Streikrecht erst seit
dem Jahr 2000 ausdrücklich verankert.
Unter anderem aus den «Empfehlungen» des Minis-
terkomitees des Europarats hat sich im Laufe der
Zeit eine – stark durch politische Motive beeinfl usste
– «Rechtspraxis», wie die insgesamt 72 arbeits- und
sozialrechtlichen Einzelbestimmungen der ESC zu
verstehen sind, herausgebildet. So wird das nach
Art. 1 Ziff. 2 ESC zu gewährleistende Recht des Ar-
beitnehmers, «seinen Lebensunterhalt durch eine
frei übernommene Tätigkeit zu verdienen», in dem
Sinne verstanden, dass Arbeitnehmer bei der
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Bewerbung um eine Tätigkeit vor Diskriminierungen
auf Grund der Rasse, der Herkunft, des Geschlechts,
der Religion, der Weltanschauung, des Alters usw.
zu schützen sind. Ein solcher Schutz ist ohne Erlass
eines umfassenden Antidiskriminierungsgesetzes
kaum sicherzustellen.
Eine sorgfältige Analyse ist unaus-weichlich
Vor kurzem konnte der Presse entnommen werden,
dass es der Bundesrat offenbar ausschliesst, dass die
Schweiz die Art. 12, Art. 13 und Art. 19 ESC aner-
kennt. Die Anerkennung dieser Kernartikel würde in
der Tat zahlreiche Gesetzesänderungen bedingen:
Das Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12 ESC) wür-
de beispielsweise eine obligatorische Krankentag-
geldversicherung voraussetzen.
Das Recht auf Fürsorge (Art. 13 ESC) wäre unter
anderem unvereinbar mit Art. 63 Abs. 1 Bst. c Aus-
ländergesetz (AuG), wonach die einem Ausländer
erteilte Niederlassungsbewilligung entzogen wer-
den kann, wenn der Ausländer dauerhaft in erheb-
lichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist.
Der Schutz der Wanderarbeitnehmer (Art. 19 ESC)
würde es erforderlich machen, dass Staatsangehö-
rigen von Albanien, Armenien, Aserbeidschan, Ge-
orgien, Moldawien und der Ukraine gewisse Frei-
zügigkeitsrechte eingeräumt würden.
Wenn es ausgeschlossen ist, dass die Schweiz die
Art. 12, Art. 13 und Art. 19 ESC anerkennt, dann
würde die Ratifi kation der ESC durch die Schweiz vo-
raussetzen, dass die Schweiz Art. 1, Art. 5, Art. 6,
Art. 7, Art. 16 und Art. 20 ESC anerkennt. Entgegen
anderslautenden Behauptungen, die in der letzten
Zeit zu lesen waren, würde die Anerkennung dieser
Artikel, beispielsweise diejenige von Art. 1 Ziff. 2
und Art. 6 Ziff. 4 ESC, aber nicht bloss «einige klei-
nere Anpassungen» des schweizerischen Rechts ver-
langen, sondern zahlreiche einschneidende Ände-
rungen mit sich bringen:
Die Anerkennung des Rechts des Arbeitnehmers,
durch eine frei übernommene Tätigkeit «seinen
Lebensunterhalt» zu verdienen (Art. 1 Ziff. 2 ESC),
würde – abgesehen vom Erlass eines umfassenden
Antidiskriminierungsgesetzes – den Erlass von
Mindestlohnvorschriften unumgänglich machen.
Nur Mindestlohnvorschriften können nämlich ge-
währleisten, dass der Lohn zur Bestreitung des Le-
bensunterhalts ausreicht. Nach dem liberalen Ver-
ständnis des schweizerischen Arbeitsrechts erhält
der Arbeitnehmer seinen Lohn aber nicht zur Be-
streitung seines Lebensunterhalts, sondern als Ge-
genleistung für seine Arbeitsleistung. Dass der
Lohn zur Bestreitung des Lebensunterhalts aus-
reicht, ist deshalb nicht ohne weiteres gewährleis-
tet, sondern davon abhängig, wie viel die Arbeits-
leistung des Arbeitnehmers wert ist.
Die Anerkennung des Streikrechts (Art. 6 Ziff. 4
ESC) würde es erforderlich machen, politische
Streiks für zulässig zu erklären: Die Bundesverfas-
sung erlaubt Streiks insofern, als die Streikenden
ein Ziel verfolgen, das in einem Gesamtarbeitsver-
trag (GAV) geregelt werden kann. Streiks, mit de-
nen bloss Druck auf den Gesetzgeber ausgeübt
werden soll, sind hingegen verboten. Art. 6 Ziff. 4
ESC gewährleistet demgegenüber auch das Recht,
politische Streiks zu führen. Nach Art. 6 Ziff. 4 ESC
setzt das Streikrecht nämlich einzig voraus, dass
ein «Interessenkonfl ikt» vorliegt.
Fundamentale Richtungsänderung allein aus Imagegründen?
Die Aargauische Industrie- und Handelskammer
(AIHK) lehnt die Ratifi kation der ESC – weiterhin –
entschieden ab. Es kann nicht geleugnet werden,
dass sie eine fundamentale Richtungsänderung der
schweizerischen Arbeits- und Sozialpolitik einleiten
würde. Allein deshalb, weil die Ratifi kation der ESC
das «Image» der Schweiz verbessern würde, sollte
namentlich unser liberales Arbeitsrecht, das sich für
die schweizerische Wirtschaft als Erfolgsfaktor er-
wiesen hat, nicht geopfert werden. Die AIHK ver-
langt zumindest, dass der Bundesrat die möglichen
Auswirkungen der Ratifi kation der ESC auf das
schweizerische Recht gründlich untersucht und voll-
ständig zusammenträgt, bevor über die Ratifi kation
weiter nachgedacht wird.
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