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Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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Frank Früchtel, Gudrun Cyprian, Wolfgang Budde Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
1 Vorwort
2 Sozialer Raum und Soziale Arbeit
2.1 Punks in C.stadt
2.2 Dimensionen des Sozialen Raums in der Sozialen Arbeit
3 Sozialraumorientierung
3.1 Sozialraumorientierung als integrierender Ansatz
3.2 Handlungsfelder: Das SONI-Schema
3.3 Die spezifische Perspektive
3.4 Systematisierung von Wissensbeständen
3.5 Schnittmenge: Lebensweltorientierung
3.6 Schnittmenge: Stadtteilarbeit
1 Vorwort Nach zehn Jahren sozialraumorientierter Arbeit herrscht in der Fachwelt noch
kein Einvernehmen darüber, was Sozialraumorientierung genau ist. Die Anzahl
der Sammelbände wächst stetig, zusammenfassende Systematisierungen in
Theorie oder Methodik sind allerdings Mangelware. Es ist wie bei allen Trends:
Wer innovativ wirken will, benutzt das Etikett, ob es passt oder nicht, der Kern
des Ansatzes verschwimmt und der wachrüttelnde Impuls verpufft. Vor dem
Hintergrund dieser Beobachtung entstand die Idee, diese Lehrbücher zu
schreiben. Die Rückmeldungen zu unserem E-learning-Kurs „Sozialer Raum
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und Soziale Arbeit“, den wir für die virtuelle Hochschule Bayerns (vhb)
entwickelt haben, verstärkten den Wunsch, dieses Thema als systematische
Einführung zu erschließen und dabei auch einen Überblick über die konkreten
Verfahrensweisen und Methoden „im Feld“ zu geben.
Sozialraumorientierung hebt die klassische Abgrenzung von Fallarbeit,
Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit auf und integriert die Arbeitsformen der
Sozialen Arbeit zu einem mehrschichtigen Ansatz. Die Frage „Was ist der
Fall?“ wird so neu beantwortet: Die dominante Beschränkung auf das
Individuelle wird aufgegeben und die Relation von Menschen im Sozialen Raum
an die Stelle des klassischen Falls gesetzt. Der „Fall“ ist dann der
kommunalpolitische Verteilungsdiskurs, die Funktionalität des Hilfesystems, die
Potenziale von Stadtteilen, die Ressourcen von Netzwerken und auch, aber
eben nicht mehr nur eine Lebensgeschichte. Das ist der Kern.
Die Verbindung von Fall, Feld, Organisation und Struktur eröffnet einen
mehrdimensionalen Sozialen Raum, den wir nicht nur theoretisch sondern auch
methodisch begehbar machen wollten. Das Textbook klärt im Wesentlichen,
was warum zu tun ist, und das Fieldbook, wie es getan werden kann.
An den beiden Büchern haben eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen
mitgewirkt, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten. Wir danken ihnen für
Erfahrungen und Fallbeispiele, die sie mit uns diskutiert haben und die es uns
möglich gemacht haben, Sozialraumorientierung im sozialarbeiterischen Alltag
darzustellen. Unser Dank gilt auch Monika Kühner, Schwester Franziska, Cindy
Bochnia und Andreas Schubert für die kritische Durchsicht und das Layout der
Texte. Der VS Verlag war uns ein angenehmer Partner, vor allem unsere
Lektorin, Frau Laux, hat den Weg dieser beiden Bücher sehr hilfreich begleitet.
Wolfgang Budde, Gudrun Cyprian, Frank Früchtel
Bamberg und Singapur, Januar 2007
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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2 Sozialer Raum und Soziale Arbeit
2.1 Punks in C.stadt
…
2.2 Dimensionen des Sozialen Raums in der Sozialen Arbeit
Welche Ebenen des Sozialen Raums müssen in der Sozialen Arbeit unterschieden werden? Die Rede vom Sozialraum stellt die Konstruiertheit des Raumes in den Mittelpunkt und macht ihn damit zum Produkt sozialer Prozesse (Genaueres dazu im Kapitel „Sozialer Raum“ am Ende des Buches). Je nachdem, auf welche sozialen Prozesse man sich bezieht, gelangt man in unterschiedliche Räume. Je nachdem, welche Akteure mit ihren jeweils unterschiedlichen Aufmerksamkeiten beobachten, werden unterschiedliche Räume gesehen. Diese Differenzen entsprechen gewohnheitsmäßig geprägten Wahrnehmungsschemata und aktuellen Interessenlagen. Verschiedene Wahrnehmungs- und Handlungsebenen des sozialen Raums können im einführenden Fall der „Punks“ auf der Brücke entdeckt werden; die Sozialarbeiter in dieser Fallgeschichte haben sie genutzt. Geht man vom Individuum aus, so kommt man zu subjektiven Wirkzonen, gemacht aus subjektiver Bedeutung, erfahrener sozialer Teilhabe und dem Aktionsfeld individueller Stärken und Kompetenzen. Der Mittelpunkt dieses Raumes ist die eigene Person. Seine Orte und Gegenden haben immer eine Bedeutung, die auf den jeweiligen Raumkonstrukteur bezogen ist. „Der konkrete Raum ist ein anderer; je nach dem Wesen, dessen Raum er ist, und je nach dem Leben, das sich in ihm vollzieht. Er verändert sich mit dem Menschen, der sich in ihm verhält, verändert sich mit der Aktualität bestimmter Einstellungen und Gerichtetheiten, die - mehr oder weniger augenblicklich - das ganze Selbst beherrschen.“ (Bollnow 2004, S. 21) Solche Räume trägt der Einzelne mit sich herum wie eine Schnecke ihr Haus. Die Wirkzone als die räumliche Dimension der Lebenswelt beeinflusst Interaktions- und Teilhabechancen. Wichtig sind Netzwerke, Verwandtschaften, Nachbarschaften, Organisationen und Orte, wo sich Vernetzungen kristallisieren. Einzelne beurteilen den Sozialraum als Wohnort, Interaktionsraum und Infrastruktur für den Alltag, aber auch in seinen symbolischen Qualitäten als Heimat, Möglichkeitsspielraum und Identitätsvermittler. An der individuellen Wirkzone wird Integration und Segregation deutlich, auch wenn sie andernorts „erzeugt“ wird. So existiert die Wirkzone nicht im „leeren Raum“, sondern wird beeinflusst von Verkehrswegen, Mietpreisen, kommunalen Ordnungen, infrastruktureller Ausstattung u.v.a. Die Punks auf der Brücke sind auf den ersten Blick eine Gruppe von ähnlich gestylten und befremdlich agierenden Jugendlichen. Die Gruppe nutzt die individuellen Unterschiede: Poldi spielt beim „Schnorren“ bewusst mit seiner österreichischen Herkunft. Seine gezielt eingesetzte charmant-schnoddrige Sprache weicht die angesprochenen Touristen oftmals erfolgreich auf. Poldis witzige Sätze scheinen angenehme Erinnerungen an das Urlaubsland Österreich und die Stadt Wien zu wecken. Die Begegnung mit ihm wird nicht in erster Linie als „Anmache“, sondern als amüsante Situation eingeschätzt, und die Touristen zücken den Geldbeutel oder geben
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zumindest eine ebenfalls heitere Bemerkung zurück. Die Streetworker nehmen die Gruppe und die Einzelnen in gleicher Weise ernst. Sie registrieren zum Beispiel schnell die unterschiedlichen sozialen Räume der Mädchen und der Jungen: Die Mädchen kommen meistens erst am Nachmittag auf die Brücke, am Vormittag scheinen sie als selbstverständlichen Alltag die Schule und den Schulbesuch zu akzeptieren. Für die männlichen Jugendlichen ist die Brücke wohl eher „Wohnzimmer“ und „Hof“ geworden, und dennoch haben auch sie sich unterschiedliche soziale Räume erschlossen: Jan als anerkannte Autorität in der Gruppe darf am stärksten das Geschehen auf der Brücke steuern. Er kann von seinem „Stammplatz“, auf der Brüstung sitzend, „von hinten“ durch knappe Kommentare und Anweisungen eingreifen. Er hat aber auch durch seine Kontakte über die Szene hinaus eine andere soziale Topografie im Kopf als seine Freunde. „Die da oben“ – Politiker, Chefs, Profis – sind für ihn nicht so weit entfernt wie für die anderen Punks. Die Streetworker nutzen mit ihrer Empfehlung einer ersten Plakataktion diese Spannung zwischen Gruppe und individueller Person: Die bedrohlich wirkende Clique auf der Brücke, die in der Wahrnehmung der Bürger provokant viel Raum besetzt, wird durch die einzelnen Poster in unterschiedliche Personen aufgelöst. Jeder in der Clique bekommt ein eigenes Gesicht, eine ganz eigene Biografie, individuelle Wünsche und unverwechselbare Kompetenzen.
Es gibt auffällige Überlappungen an Orten, die für viele bedeutungsvoll sind (vgl. Schütters „Analyse der sozialen Räume der Wäscher von Banaras“, 2005, S. 181ff). Sich dort auszukennen und präsent zu sein kann für Sozialarbeiter wichtig sein. Konstruktionsprinzip dieser „Überlappungs-Räume“ ist soziale Nähe, und Sozialraum ist damit das Ergebnis von Vernetzung und Abgrenzung. ‚Menschen situieren sich durch ein System von Wegen, das durch die Beziehung zwischen ihnen entsteht’, sagt Sartre. Indem man an den Freund in Singapur denkt, entwirft man, was man die Straße nach Singapur nennen könnte. Nachbarschaften sind Räume, die durch Beziehungen entstehen. So dehnen sich z.B. Spielmöglichkeiten von Kindern plötzlich auf viele Gärten und Wohnzimmer aus. Das beachtlichste Potenzial dieser Netzwerk-Räume steckt in der Möglichkeit zur gemeinsamen Aktion: Menschen schließen sich zusammen und eignen sich die Straße während des Straßenfestes an, Verbindungen zwischen Mietern machen aus einzelnen Parteien wirkungsvolle Gruppen. Den sozialen Raum von Netzwerken kann man einmal konzipieren als die Verbindungen zwischen Individuen und als die Potenziale, welche in diesen Verbindungen stecken. Bildhaft sähe das dann aus wie durch Tunnel verbundene Hohlräume. Außerhalb dieser Knotenpunkte ist kein Raum aus der Perspektive des jeweiligen Netzwerkes. Andererseits lässt sich der Sozialraum eines Netzwerkes auch als Aneignungs- oder Enteignungsprozess verstehen: Wenn es einer Clique von Jugendlichen z.B. gelingt, ein Jugendzentrum zu „übernehmen“, oder wenn eine Gruppe alleinerziehender Mütter einen kooperationsunwilligen Pfarrer durch humorvolle Kontaktanzeigen dazu bringt, doch einen Teil des Gemeindehauses abzutreten, oder wenn es eine Gruppe von Punks schafft, über die beherzte Vertretung ihrer Anliegen den Stadtrat von einem elastischen Umgang mit den engen Regelungen einer Freiflächennutzungssatzung abzubringen und so ihren angestammten Treffpunkt in der Fußgängerzone erhalten kann. Die Fallschilderung enthält viele Beispiele dafür, wie die Clique, die ja selbst ein Netz von Austauschbeziehungen darstellt, ihre Beziehungen nutzt – zur Erleichterung des Alltags ebenso wie für die Erreichung strategischer Ziele. Aber auch die Professionellen erweitern ihre eigenen Handlungsspielräume konsequent durch
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Netzwerkarbeit: Sie nutzen das institutionalisierte Netzwerk des formalisierten Arbeitskreises der kommunalen Jugendarbeiter. Hier laufen ständig Informations- und Abstimmungsprozesse zwischen den Sozialarbeitern vom Jugendamt, den Jugendzentren und -treffs, den Streetworkern, den Mitarbeitern des Spielmobils usw. Für das große offensive jugendpolitische Projekt „C.stadt hat eine junges Gesicht“ aktivieren die Sozialarbeiter Beziehungen zu Institutionen und Einflusszonen, die nicht gerade zu den alltäglichen Eckpunkten der Jugendarbeit zählen. Zugunsten der gemeinsamen Vision werden ganz neue, bisher „ungedachte“ Brücken geschlagen. Rückt man die Binnenstruktur und die Austauschbeziehungen von Organisationen ins Zentrum der Betrachtung, öffnen sich Räume, z.B. durch die Portale, mit denen Organisationen Zugänge gestalten bzw. behindern. Wann, wo, für wen und für was man offen ist, wird nicht nur durch Zuständigkeiten und professionelle Spezialisierungen markiert, sondern auch über die Gestaltung des Zugangs zu den Leistungen. Hierbei können sich Organisationen um die lebensweltnahe Platzierung ihrer Angebote bemühen, und sie können die Zugänge - unter Nutzung der Hilfeerfahrungen ihrer Adressaten - gemeinsam mit diesen konstruieren. Sozialräume entstehen also für Organisationen, wenn sich die Organisationen für Themen, Bedürfnisse und Zugänge zuständig machen oder sie eben ausfiltern. So fragte einmal ein Mitarbeiter einer heilpädagogischen Tagesgruppe, wo denn das Berggebiet sei (eine eher lebensweltliche Bezeichnung des Stadtteils, in deren Mitte die Einrichtung lag) und machte deutlich, dass der Sozialraum hier auf die Gruppenstruktur reduziert wurde. Welche Adressaten welche Erwartungen an eine Organisation haben dürfen, sind Faktoren, die Organisation als sozialen Raum beschreibbar machen. Im Fall der Punks dauerte es seine Zeit, bis sich eine Institution für die Punks auf der Brücke zuständig fühlte. Bei einem neuen sozialen Problem in der Stadt ist die präzise Adressierung von Spezialisten schwierig: Welche Merkmale bestimmen Zuständigkeit und Zugang – die räumliche Lage der Brücke, das Alter der Punks, die soziale Zusammensetzung, ihr Verhalten im Urteil welcher Beobachter, die Folgen ihres Aufenthalts auf der Brücke für Touristen, Ladenbesitzer, Hundebesitzer, ältere Bürger, Kinder usw. oder der mehr oder weniger zufällige Erstkontakt zu irgendwelchen Profis? Für das weitere Schicksal der Punks auf der Brücke war entscheidend, dass durch die Vermittlung von Sozialarbeitern die Stadt den Jugendlichen einen Auftritt im Jugendhilfeausschuss eingeräumt hat. Zuständigkeiten von Verwaltungen sind auch verantwortlich für die administrative Zergliederung von kommunalen Gebieten. Es entstehen Steuerungs- und Planungsräume, die quasi das Gegenstück zur inhaltlichen Spezialisierung der Verwaltungen bilden und zum „integrierenden Element für eine Vielzahl kommunaler Sektoren werden können.“ (Hinte 2005, S. 549) Solche sozialen Planungs- und Steuerungsräume können die „klassischen Steuerungsdimensionen Fall, Immobilie oder Abteilung“ sozialräumlich ergänzen (ebd. S. 549). Raum ist hier in erster Linie Macht- und Entscheidungsraum, Gestaltungs- und Interventionsraum. Auch die Austauschbeziehung zwischen öffentlichen und freien Trägern lassen sich sozialräumlich organisieren und dadurch effektivieren. Wenn beispielsweise ein Mittelstadtjugendamt seine Fälle nicht mehr auf 30 verschiedene Erziehungshilfeträger verteilt, sondern mit wenigen raumverantwortlichen Trägern zusammenarbeitet, entwickeln sich die Möglichkeiten der Einflussnahme des öffentlichen Trägers von einer Exit- zu einer Exit- und Voice-Steuerung (vgl. Hirschmann 1974).
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Schließlich werden Gebiete auch durch das Vorhandensein von Organisationen als spezielle Räume geprägt. Eine gute Ausstattung mit sozialer Infrastruktur, mit Geschäften und Kneipen gibt einem Sozialraum eine andere Prägung als eine triste Industrie- oder Wohnsilokonzentration. Organisationen prägen Sozialräume und sind gleichermaßen ihre gebietsrelevanten Schatztruhen. Es macht einen Unterschied für die sozialräumliche Arbeit in Zuffenhausen, dass Porsche dort produziert. Genauso kann eine Schule für die lokale Ökonomie etwas tun, indem sie ihren laufenden Unterhaltsbedarf in ihrem Stadtteil einkauft. Soziale Arbeit ist effektiver, wenn sie vor Ort über eine solche Schatztruhen-Perspektive und -Kartei verfügt. Für Geschäfte, Kirchen, Verbände oder Soziale Organisationen ist der Sozialraum das Einzugsgebiet für Kunden, Arbeitnehmer, Mitglieder oder Zielgruppen. Das benachbarte Jugendzentrum erweist sich im Fall der Punks als ein besonders ertragreicher Teil der jugendarbeiterischen „Schatztruhe“: ein gut ausgestattetes Fotolabor, Besucher, die sich vom großen Plakatierungs-Projekt begeistern lassen, Mitarbeiter, die ihre Qualifikationen für die Sponsorensuche und die Projektorganisation einbringen, ein Büro als „Schaltzentrale“ usw. Ein Konzept, das die Verteilung von Macht und Besitz als Koordinaten des Raumes begreift, entwirft Bourdieu, der die Objektivität der Sozialstruktur (die sich z.B. in Statistiken zu Einkommensverteilung, Bildungsniveaus, Erwerbsbeteiligung, sozialen Milieus etc. niederschlägt) im Verhältnis zur Subjektivität der mentalen Strukturen zu analysieren versucht (Bourdieu 1991a). Der soziale Raum besteht für ihn aus der relationalen Anordnung von Menschen und Gruppen im permanenten Verteilungskampf (Löw 2001, S. 181). Die Situation der Akteure, z.B. herrschend oder abhängig, wird bestimmt durch ihre Position im sozialen Raum, den Bourdieu wie ein Spielfeld beschreibt: Stärke und die Spielstrategien der Personen hängen ab vom ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapital (Bourdieu 1983, S. 183), welches sie und andere besitzen. Der physische Raum ist verobjektivierter sozialer Raum, nämlich das Ergebnis des Verteilungskampfes unterschiedlicher Akteure mit unterschiedlichen Chancen der Aneignung (vgl. Bourdieu, 1991b, S. 29): „Es ist der Habitus, der das Habitat macht.“ (ebd. S. 32) In den „Feinen Unterschieden“ beschreibt Bourdieu (1991a) minutiös, wie durch Verteilung und Kumulation von kulturellem, ökonomischem und symbolischem Kapital Räume entstehen, die von unterschiedlichen Milieus beherrscht werden. Solche Ungleichheitsräume tendieren zur sozialen Schließung. Man kommt dort, wo man nicht hingehört, schwer rein und von dort, wo man ist, nicht einfach weg. Geographische Nähe korreliert mit sozialer Nähe, weil letztere erstere schafft. Wir fühlen uns in den Straßen daheim bzw. sicher, deren soziales Leben dem unserer Straße ähnelt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es räumliche Konzentrationen von ähnlichen Lebensstilen gibt. „Das System räumlicher Gliederungen erstreckt sich über die verschiedenen Schichten der Sozialwelt“ (Schütz / Luckmann 1979, S. 68); und geographische Nähe und Distanz repräsentieren auch Vertrautheit bzw. Fremdheit. Soziale Differenzierung hat Auswirkung auf geographische Gliederung, und diese wiederum macht soziale Differenzierung erfahrbar. ‚Räumliche Strukturen sind soziale bzw. gesellschaftliche Strukturen’, folgern Schütz und Luckmann in ihrem Klassiker „Strukturen der Lebenswelt“. Wenn die Achsen des physikalischen Raums Länge,
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Breite und Höhe sind, dann ist der Soziale Raum aus dieser Verteilungsperspektive aufgespannt zwischen Macht, Besitz, Bildung und Status1. In unserem vorangestellten Fall lässt sich die sozialstrukturelle Ebene mehrfach aufspüren. Das zentrale Gut im sozialräumlichen Verteilungskampf ist dabei im kostbaren weltkulturerblich geschützten öffentlichen Raum der Stadt der Platz auf der Brücke. Dürfen die Punks einfach nahezu täglich dort ihr Lager aufschlagen, sehen, sitzen, trinken, reden, betteln? Die allseits vertrauten Straßenmusikanten wechseln wenigstens ihre Standorte und erscheinen trotz oftmals ebenfalls auffälliger Kleidung viel weniger fremd und anstößig. Der Staat setzt seine Machtmittel ein, z.B. Recht. Die Vorschrift in der „Freiflächennutzungssatzung“ - „auf öffentlichen Plätzen und Straßen ist der Verzehr von Alkohol im Sitzen verboten“- soll vor allem wohnungslose Menschen von ihren Treffpunkten vertreiben. „Sie werden so zum ständigen Umrunden der Parkbänke genötigt, wenn sie eine Bierflasche in der Hand haben“ – so ein Sozialarbeiter aus einer „Wärmestube“. Diese Regel soll jetzt auf die Punks angewandt werden. Der Einsatz von Videokameras und Polizeipräsenz zählen zu den Überwachungsstrategien. In unserem Fall greifen sie immer nur kurzfristig, „situativ“: In kurzer Zeit sind die Jugendlichen zurück oder wechseln geschmeidig zwischen benachbarten Plätzen. Mit einer Art „Duldung“ erreichen die Jugendlichen nach ihrem Auftritt im Jugendhilfeausschuss einen entscheidenden rechtlichen und symbolischen Vorteil. Ein weiterer sozialräumlicher Verteilungskampf verlagert sich auf die Ebene der kommunalen Jugendpolitik. Hier geht es um die Verteilung der knappen Güter „öffentliche Aufmerksamkeit“ und „politischer Handlungsbedarf“. Die Jugendarbeiter setzen auf Sichtbarmachung der jugendlichen Bewohner der Stadt, gehen mit ihrer Plakatierungsaktion in die Konkurrenz mit den üblichen kommerziellen Werbeträgern. Die Stadtreklame muss viele gut platzierte Plakatwände der Stadt „freikaufen“ und die Jugendlichen mischen sich selbst in die Auswahl und Gestaltung ihres öffentlichen Gesichts ein. Bewusst werden von den Plakatwänden nicht nur „einheimische“ Gesichter lächeln, vielmehr werden alle ethnischen und subkulturellen Zugehörigkeiten der jungen Einwohner„ins Bild gesetzt“. Die am Projekt beteiligten Jugendlichen haben eine gewichtige Stimme bei allen Entscheidungen. Und die Aktionen parallel zur Plakatierung machen die Verteilungsprozesse der besonders knappen Güter transparent: von Ausbildungsplätzen, Arbeitsplätzen, Freizeiträumen, positiver medialer Aufmerksamkeit usw. für Jugendliche. Vielleicht gelingt es, die Position der Jugendlichen in der Stadt zu stärken und sie zu einem wichtigen Akteur im politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Geschehen zu machen.
1 Vergleiche dazu auch die systematische Zusammenstellung der Schichtung Sozialer Räume
inklusive der dazugehörigen Methoden der Sozialraumanalyse in Riege / Schubert 2002, S. 37 -
42).
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3 Sozialraumorientierung
3.1 Sozialraumorientierung als integrierender Ansatz
Charakteristisch für Sozialraumorientierung ist die Verbindung unterschiedlicher
sozialarbeiterischer Handlungskonzepte (vgl. Budde/Früchtel 2005b). Damit sind
Ansätze gemeint, die …
… auf verschiedenen Ebenen liegen: strategische Steuerung von Politik und Top-
Management, operative Leitung, professionelles Alltagsgeschäft,
… aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit stammen: Fallarbeit und
Gemeinwesenarbeit,
… verschiedene Maximen der Sozialen Arbeit betonen wie beispielsweise
betriebswirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit, lernende Organisation;
… aus verschiedenen theoretischen Traditionen Sozialer Arbeit kommen:
Lebensweltorientierung, Empowermentansatz, Neue Steuerung, etc.
Sozialraumorientierung ist somit ein integrierender mehrdimensionaler Arbeitsansatz,
der immer entsprechendes Mehrebenenhandeln der Sozialarbeiter erforderlich und
möglich macht. Im Einzelnen sind die folgenden Konzepte als theoretischer
Hintergrund sozialraumorientierter Sozialer Arbeit zu verstehen:
Das Konzept der Lebensweltorientierung, das Betroffene immer als erfahren und
prinzipiell kompetent in ihrem aus Bewältigung und Scheitern zusammengesetzten
Alltag sieht. Ziel ist der gelingendere Alltag, durch Emanzipation aus bislang
praktizierter Routine oder durch höhere Verfügbarkeit bislang strukturell vorenthaltener
Ressourcen. Methodisch ist der fachliche, organisatorische und juristische Rahmen auf
den Alltag der Betroffenen hin zu orientieren, und es sind integrative Lösungen wo
immer möglich zu installieren. Die ethische Maxime professioneller Sozialarbeit ist die
reflexive Thematisierung von Expertenmacht und ihr Beitrag zur Vergrößerung sozialer
Gerechtigkeit (vgl. die systematische Zusammenfassung von Grunwald/Thiersch 2001).
Das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit, welches Betroffene nicht als einzelne
Bedarfsträger, Leistungsberechtigte, Kranke oder Hilfesuchende versteht, sondern ganz
grundsätzlich eine Mensch-in-Umwelt-Perspektive favorisiert. Menschen sind
mitbestimmt von sozialen, ökonomischen, kulturellen, administrativen Verhältnissen
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und können – wenn es gelingt, individualisierende Problemerklärungen zu überwinden
und Betroffenenkooperation zu schaffen – auf diese Verhältnisse einwirken (vgl. dazu
die Zusammenstellung von wesentlichen Aufsätzen zur GWA in Hinte 2001).
Das Konzept der Organisationsentwicklung, wonach Organisationen und Verwaltungen
primär als Ergebnisse sozialen Handelns und damit sinnbezogen konstruiert und
zielbezogen veränderbar begriffen werden. Das Wesen einer zur Organisation
gewordenen Verstetigung ist so nicht mehr nur normierte Qualität, juristische
Leistungsgarantie, transparente Rationalität und effiziente Routinisierung, sondern vor
allem die Anpassungsleistung an sich permanent verändernde Umwelten und
Innenwelten der Organisation.
Die betriebswirtschaftlich inspirierten Konzepte der Neuen Steuerung, die von
Sozialarbeit und Sozialadministration Accountability, Wirksamkeitsnachweise und
Effizienz verlangen und Instrumenten wie dem Fach- und Finanzcontrolling zum
Einzug in die helfende Profession verholfen haben.
Das Konzept des „Sozialen Kapitals“, das neben der ökonomischen, der rechtlichen und
der professionellen Dimension vor allem die lange vernachlässigte Dimension der
ressourcenschweren sozialen Wechselbeziehungen zwischen Menschen in den
Mittelpunkt stellt. Obgleich sich Soziales Kapital zwar weitgehend der rechtlichen
Garantie und der ökonomischen Kalkulierbarkeit entzieht, wird ihm enorme
wohlfahrtsstaatliche Bedeutung zugesprochen und es werden Wege zu seiner
systematischen Akkumulation gesucht (vgl. das beispielreiche Kapitel zu Sozialem
Kapital in: Coleman 1991, 398-417; Putnam 2000; Budde/Früchtel 2005a).
Das Empowerment, das Menschen Raum und Mut verschafft, ihre eigenen
Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte zu entdecken,
einzusetzen und den Wert selbst erarbeiteter oder solidarisch erkämpfter Lösungen
schätzen zu lernen. Insbesondere das Stärkemodell hat in der Fallarbeit wesentlichen
Einfluss auf sozialraumorientierte Arbeit im Einzelfall (Saleebey 1992; Rapp 1998;
Herriger 2002).
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3.2 Handlungsfelder: Das SONI-Schema
„Every social worker is involved as a change agent (someone who assists in promoting
positive changes) in working with individuals, groups, families, organizations, and the
larger community. The amount of time spent at these levels varies from worker to
worker. But every worker will, at times, be assigned and expected to function
effectively at all these levels and therefore needs training in all of them. (…) The
worker must perform a wide range of tasks related to the provision and management of
direct service, the development of social policy and the facilitation of social change”
(Zastrow 1996, S. 580). Die sechs theoretischen Wurzeln stecken sozusagen die Felder
ab, auf denen Sozialraumorientierung agiert. Aus der Reichweite der Wurzeln wird
noch einmal deutlich, was eingangs schon behauptet wurde: Sozialraumorientierung ist
ein Mehrebenenansatz.
Dazu liegen innerhalb der Theoriediskussion über Sozialraumorientierung inzwischen
verschiedene Systematisierungen vor, die im Vergleich ziemlich uneinheitlich
daherkommen. Das mag seinen Grund darin haben, dass Sozialraumorientierung den
Doppelcharakter von Handlungskonzept auf technischer, operativer und strategischer
Ebene und Raumkonzept (des Lebensraums von Einzelnen und dessen
Überschneidungen mit anderen sowie des Steuerungs- bzw. Planungsraums) in sich
trägt. Insofern gibt es sozusagen eine geographische Raum-Dimension und eine
operative Handlungs-Dimension, die in manchen der unten stichpunktartig erfassten
Systematisierungen miteinander verbunden sind.
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Focus: Handlung Focus: Raum
Treeß 2006, S. 138ff
Hinte 2005a Hamberger / Peters 2006, S. 24ff
Schröer 2005, S. 30ff Riege/ Schu-bert 2002,S.38
Ebene des politisch-rechtlich-ökonomischen Systems
Geographische Ebene: Individuelle Sozialräume als Bezugspunkt für professionelles Handeln
Adressaten: Qualifizierung prof. Handelns; pass-genaue Hilfen, Nieder-schwelligkeit und Prävention; Betreuungskontinuität; Ressourcenorientierung; Partizipation
Ebene der Haltung: SRO als professionelles Arbeitsprinzip
Administra-tionsräume
Institutionell-administratives Teilsystem
Steuerungsebene: Administrativer Sozialraum als Bezugsgröße für die Konzentration von professionellen Ressourcen
Organisation: Qualifizierung von Verfahren, Team als Reflexionsort, Kooperation zwischen öff. u. freinen Trägern; institutionelle Vernetzung; sozialräuml. Jugendhilfeplanung
Planungsebene: Sozialraum als Bezugspunkt von Sozial- und Stadtplanung
Organisa-tionsräume
Lebensweltebene der Interaktion
Methodische Ebene des aktivierenden beruflichen Handelns auf Augenhöhe
Infrastrukturpolitik: Tragfähige Infrastruktur, Sozialraum als Bezugspunkt; kooperative Steuerung; sozialräumliche Finanzierung, Integration
Handlungsebene der Lösungs- und Ressourcenorientierung und Beteiligung
Aktionsräume: Beziehungen u. Interaktion
Individual-ebene
Finanzierungstechnische Ebene des Sozialraum-budgets, zur Unterstützung fachlicher durch betriebswirt-schaftliche Logik
Strukturebene: Dezentralisierung und Regionalisierung
Subjektive Lebens-welten
Instrumentelle Ebene der Kooperation öf-fentlicher und freier Träger: Kontraktman-agement und Sozialraumbudget
Wir schlagen ein Mehrebenemodell vor, das zuerst konsequent nach Handlungsfeldern
systematisiert und den Raumbezug danach in jedem Handlungsfeld herstellt.
Sozialstruktur meint den gesellschaftlichen Kontext (schwerpunktmäßig auf
kommunaler Ebene): Die örtliche Auslegung des Sozialrechtes, die sozialstaatliche
„Philosophie“ der kommunalen Sozialpolitik, Normalitätsvorstellungen und
Normalbiographien, die öffentliche Meinung, Werte, Normen und Traditionen. Die
sozialarbeiterische Intervention auf der sozialstrukturell-sozialpolitischen Ebene
unterstützt Kommunen beim Lösen sozialer Probleme, bei der Aufstellung fachlicher
Entwicklungsziele für die Soziale Arbeit, bei der Sozialpolitik- und
Programmentwicklung. Dabei spielt die Thematisierung ungleicher Verteilungen von
Einfluss, Besitz und Entwicklungschancen eine ausschlaggebende Rolle, geht es doch
um die Gestaltung sozialen Wandels im Sinne sozialer Gerechtigkeitsideale, die immer
in Spannung mit selbstbezogenen Eigeninteressen aller Akteure im Sozialen Raum
stehen. Diese Interventionsaufgaben setzen Wissen über soziale Probleme, Sozialpolitik,
wirtschaftliche Zusammenhänge und über Konzepte sozialer Gerechtigkeit voraus –
Themen, die auf die Tradition der Gemeinwesenarbeit und auf die politische Dimension
der Lebensweltorientierung verweisen. Sozialarbeiterinnen haben auf der Ebene
Sozialstruktur das Rollenbündel „Sozialplaner“, „Lobbyist“ und „Aktivist“ zu
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bewältigen. Sie beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung und Meinung und die
Gestaltung von Visionen.
Sozialarbeit verwirklicht sich stets in Organisationen, die wiederum Teil eines
organisierten Arbeitsfeldes sind, das so genannte Hilfesystem oder „service delivery
system“. Das sind die Einrichtungen und Dienste sowie die dahinter stehenden freien
Träger und die zuständigen öffentlichen Verwaltungen. Im Handlungsfeld
„Organisation“ bezieht sich die sozialarbeiterische Intervention auf
Organisationsstrukturen, interne Prozesse bzw. Routinen, Ziele, Unternehmenspolitik,
professionelles Selbstverständnis, Ausstattung sowie das Zusammenspiel funktional
unterschiedlicher, aufeinander bezogener Organisationen, insbesondere im Hinblick auf
Finanzierung, Finanzcontrolling und kooperative Zielentwicklung. Aufgrund des
institutionell arbeitsteiligen Charakters ist nicht immer alles überall möglich.
Sozialraumorientierung bestimmt Qualität aber daran, gegebene organisatorische
Ordnungen von den Bedürfnissen und dem Willen der Adressaten her in Frage zu
stellen, um zur Lebenswelt passende Lösungen erwirken zu können. Durch den Einfluss
des Neuen Steuerungsmodells beschäftigt sich Sozialraumorientierung auch mit
betriebswirtschaftlichen Fragestellungen und der Gestaltung von fachdienlichen
Organisationen, was Effizienz, Zuständigkeiten, Binnenstrukturen, Austausch- und
Kooperationsbeziehungen betrifft. Das Handlungsfeld „Organisation“ ist
gewissermaßen das Selbstreflexivwerden des Hilfesystems und das institutionalisierte
Selbstmisstrauen in Bezug auf die Vorannahmen, blinde Flecken und den Eigennutz der
eigenen Ansätze. Sozialarbeiter haben hier das Rollenbündel „Organisations-
entwickler“ und „Evaluator“ kompetent zu besetzen.
In der Sozialraumorientierung geht es weiterhin um Potenziale des Sozialen Kapitals,
die in Netzwerken stecken. Den Sozialen Raum kann man sich als Netz vorstellen,
dessen Knotenpunkte die einzelnen Menschen und Organisationen symbolisieren,
während die Verbindungsmaschen die Beziehungen zwischen ihnen sind, die als
Förderbänder gedacht werden können, auf denen die vielfältigsten Austauschprozesse
ablaufen und unter der Hand die Integration der Individuen in die Gesellschaft erfolgt.
In der Netzwerkarbeit geht es um vorhandene oder herstellbare Beziehungen des
Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn,
Bewohnern, Fachkräften und Organisationen der Sozialen Arbeit genauso wie um
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Beziehungen zu den Sektoren Wirtschaft und Industrie. Netzwerkarbeit stellt
fallunspezifisch Beziehungen und Koalitionen zwischen unterschiedlichen Gruppen und
Einzelnen her, die entweder durch ihr Zusammenschlusspotential stark machen, was in
der Empowermentbewegung eine zentrale Rolle spielt, oder durch neue Verbindungen
neue, bislang nicht zugängliche Räume für Menschen eröffnen. Das Rollenbündel von
Sozialarbeitern kann man mit „Ressourcenmobilisierer“ und „Netzwerker“ beschreiben.
Das Handlungsfeld „Individuum“ bezieht sich vorwiegend auf die Fallarbeit. Darunter
verstehen wir die Arbeit mit einzelnen Hilfesuchenden, mit Familien, mit kleinen
Gruppen, mit einzelnen Anwohnern, Teilnehmern, Volunteers oder Haushalten.
Fallarbeit ist professionelles Handeln, das Veränderungen herbeiführt, indem
Adressaten und Fachkräfte gemeinsam Ziele und Pläne erarbeiten. Fallarbeit baut auf
dem Wissen und den Erfahrungen von Adressat und Fachkraft auf. Sie beschäftigt sich
mit der Veränderung von Verhaltensmustern und mit der Veränderung der auf dieses
Verhalten wirkenden Umweltfaktoren. Sie zielt darauf, Kompetenzen und Spielräume
von Menschen zu vergrößern sowie deren Zugang zu Ressourcen zu erweitern.
Ansatzpunkte von Fallarbeit sind einerseits die subjektiven Lebensstile, Weltsichten,
Erfahrungen, Befürchtungen, Erwartungen, die individuelle Ausstattung mit Ressourcen,
die Lebenslage, das soziale Netzwerk des Einzelnen, das Problem aus der Perspektive
des Betroffenen und der gefühlte Problemdruck sowie andererseits das relevante
Hilfesystem. Durch den Einfluss von Stärkemodell und Expertenkritik favorisiert
Sozialraumorientierung auf der individuellen Ebene einen selbstreflexiven
Handlungsmodus, der sich – wenn nötig experten- und bürokratiekritisch, aber stets
fachdienlich - am Willen und an den Interessen von Adressaten orientiert mit der
fachlichen Intention: “more appreciation, more expression, more functional use of the
latent inner resources of the individual“ (Carl Rogers zit.n. DuBois/Miley 2005, S. 231).
„Perspektivwechsler“ um Stärken sehen zu können, wo der Alltagsverstand
hauptsächlich Probleme sieht, und „Anwalt des Willens der Betroffenen“ ist das
Rollenset im Handlungsfeld „Individuum“.
„The crux of social work practice involves viewing a problem situation in terms of the
person-in-environment conceptuaization and being willing and able to intervene at
several different levels if necessary, while assuming any number of roles.” (Zastrow
1996, S. 581)) Die folgende Darstellung illustriert die professionellen Anforderngen, die
im Konzept der Sozialraumorientierung für Sozialarbeiter stecken.
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
14
IO
NS
SONI-Schema
Rolle von Sozialarbeitern
Strategie / Funktion Herausforderungen / Dilemmata / Spannungsfeld
Sozial-struktur
Sozialplaner Lobbyist Aktivist
Sozialpolitisches Wissensmanagement Soziale Aktion
Markt Staat Sozialstaatliche Funktionsprobleme Soziale Gerechtigkeit
Organisa-tion
Organisations-entwickler Evaluator
Organisationsentwicklung und Sozialmanagement
Exklusion Inklusion Organisationsroutine Flexibilität Effizienz sozialer Dienste
Netzwerk Ressourcen-mobilisierer Netzwerker
Fallunspezifische Arbeit Profinetzwerke
Aktivierung externe Ressourcenzufuhr Effiziente Vernetzung Vernetzung l’art pour l’art
Indivi-duum
Perspektivwechsler Anwalt
Orientierung am Willlen, an den Stärken
Aktivierung professionelle Hilfe Hilfe Kontrolle
Im Chinesischen bedeutet das Zeichen „ “ Umzäunung oder etwas räumlich
Definiertes. Verfeinert man das Zeichen, lassen sich andere Worte ableiten.
Wenn man z. B. eine Aufteilung einfügt entsteht das Zeichen für Feld „ “.
Wir benutzen dieses Zeichen als graphische Symbolisierung der mittlerweile
zum Fachjargon gehörenden Alliteration „vom Fall zum Feld“ (Hinte/Litges/Springer
2000). Dabei markiert die horizontale Trennlinie die von Habermas eingeführte
Lebenswelt-System-Differenzierung. Habermas schlägt vor, „die Gesellschaft
gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren“ (Habermas 1981b, S. 183).
Lebenswelt versteht er als Konglomerat aus sozialer Herkunft, Gruppenzugehörigkeiten
und Umfeld. Viele Wissensbestände und Ressourcen resultieren aus dieser quasi
naturwüchsigen Einbettung. Die Lebenswelt leistet Sozialintegration sowie
Reproduktion und Sozialisation, damit die Menschen tragfähige Identitäten
herausbilden können und die Möglichkeit haben, sich an kulturellen Überlieferungen
und Werten zu orientieren. Lebenswelt ist kommunikatives Gewohnheitshandeln, das
sich an Verständigung und Einverständnis ausrichtet. Systeme dagegen können als
Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verstanden werden: Teilsysteme
übernehmen spezifische Funktionen für die Gesellschaft wie das Wirtschaftssystem, das
Bildungssystem, das Rechtssystem oder das Medizinsystem und handeln innerhalb ihrer
Grenzen nach einer für das jeweilige Funktionssystem typischen Logik. Die Bürger sind
auf diese Systemleistungen angewiesen, machen aber in ihren Interaktionen mit diesen
Funktionssystemen (zum Beispiel in Krankenhäusern, in der Interaktion zwischen Arzt
und Patient) die Erfahrung, dass dort Zweckrationalität und strategische
Erfolgsorientierung das Handeln bestimmen. Habermas prognostiziert, dass moderne
Gesellschaften durch Ausdifferenzierung eines hochkomplexen marktwirtschaftlichen
Systems traditionelle Formen von Solidarität zerstören, da das Wirtschaftssystem keine
Werte hervorbringen kann, die Solidarität sichern könnten. Soziale Arbeit ist Teil der
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
15
Systeme, allerdings mit der Spezialfunktion der Vermittlung zwischen System und
Lebenswelt, indem sie einerseits die Fehlfunktionen des Systems durch Identifizierung
von systemischen Dysfunktionen, durch die operative Umsetzung sozialer Gerechtigkeit
und durch Inklusionsleistungen korrigiert, andererseits indem sie notwendige Eingriffe
systemischer Imperative in die Lebenswelt (Kontrollfunktion) kommunikativ vermittelt
und durch die Lebenswelt beeinflussbar macht. Soziale Arbeit agiert als Profession am
Schnittpunkt von System und Lebenswelt. Sie wird über Geld und Recht gesteuert.
Rationalität, professionelle Qualitätsstandards, Einbindung in bürokratische,
rechtmäßige Organisationen mit geregelten Verfahren und hierarchischen
Entscheidungswegen, Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung und professionelle
Distanz kennzeichnen den „Systemcharakter“ der Sozialen Arbeit. Typisch für die
sozialarbeiterische Intervention sind aber auch die sog. „helfende Beziehung“,
Alltagsnähe, Ganzheitlichkeit und Nichtstandardisierbarkeit (s. den Abschnitt zur
Lebensweltorientierung). Die Lebenswelt, mit der es Soziale Arbeit zu tun hat, wird
gesteuert über Kommunikation, Traditionen, Werte, Beziehungen, unaufgeklärte
Meinungen, zwischenmenschliche Akzeptanz und Nähe, individuelle Eigensinnigkeiten
und Lebensstile. Sozialarbeiter müssen anschlussfähig an die Lebenswelt handeln, um
ihren beruflichen Vermittlungsauftrag erfolgreich zu erfüllen. Sozialraumorientierung
thematisiert und bearbeitet folglich die Bedingungen des Hilfesystems genauso wie die
Bedingungen von Betroffenen und ihrer Netzwerke.
Individuum
Organisation
Netzwerk
Sozialstruktur SystemFocus: Bedingungen des Hilfesystems
LebensweltFocus: Betroffene und deren Umfeld
Soziale Arbeit zwischen System und Lebenswelt
Markenzeichen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit ist, dass sie ihre Planungen,
Interventionen, Projekte und Evaluationen stets in jedem dieser Felder betreibt. Je nach
Arbeitsfeld und Handlungszusammenhang liegt natürlich ein anderer Einstieg vor.
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
16
Qualitätsmerkmal ist zum Beispiel, ob es Fachkräfte schaffen, ihre Einzelfallarbeit vor
dem Hintergrund organisatorischer oder sozialstruktureller Einflussfaktoren zu
reflektieren und daraus handlungsleitende Konsequenzen zu ziehen. Oder ob es gelingt,
die Ressourcen des Sozialen Raums für die Fallarbeit so zu erschließen, dass sich
daraus integrative Lösungen entwickeln lassen. In der Stadtteilarbeit verlangt der
Mehrfelderansatz zum Beispiel, strukturell bedingte Problemlagen zu Themen von
Stadtteil-Netzwerken zu machen sowie gleichermaßen Verbindungen zwischen
Fähigkeiten von Bewohnern und Möglichkeiten von Organisationen zu schaffen.
Graphisch lässt sich das einmal als eine Art Weitwinkelobjektiv darstellen (linke
Abbildung, wobei der Startpunkt je nach Arbeitsfeld ein anderer ist) oder als
Methodenmix, der Handlungsstrategien aus verschiedenen Feldern kombiniert (rechte
Abbildung).
IOS
Vom Fall zur Sozialpolitik
Vom
Fal
l zu
Sozia
lpla
nung
und
Org
anisa
tions
entw
icklu
ng
Konzeptioneller Blickwinkel der SRO: Vom Fall zum Feld
Vom Fall zur fallunspezifischen ArbeitN
Reiht man die jeweils ersten Buchstaben der sich aus den theoretischen Wurzeln
ergebenden Handlungsfelder aneinander, ergibt sich das Akronym SONI.
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
17
Handlungsfelder Raumdimension
Sozialstruktur als Thematisierungsebene von Ungleichheit und ungleichen Verteilungen von Einfluss, Besitz und diesbezüglichen Veränderungschancen
Ungleichheitsräume mit Tendenz zur sozialen Schließung (Inklusion/Exklusion), die sich in Milieus, Subkulturen, Segregation, Besetzung von Macht- und Schlüsselfunktionen und Infrastrukturausstattung zeigen.
Organisation als organisatorischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und fachlicher Rahmen, in dem sich professionelle Sozialarbeit materialisiert
Portale von Organisationen, die den Nutzwertfür Bürger und deren Einflusschancen aufOrganisationshandeln definieren undExklusion bestimmen.
Raumbezogene Kooperation von Organisationen, raumbezogenes Ressourcenwissen der Organisation
Netzwerke als vorhandene oder herstellbare Beziehungen des Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn, Bewohnern, Betroffenen, Mitarbeitern
Netzwerk- und Aktionsräume: innerhalb von Quartieren
Individuen als Interessen-, Ressourcen- und Nachfrageträger
Wirkzone: Der von Menschen je individuell definierte Raum, der räumliche Interaktions- und Teilhabechancen absteckt
Nun fügen wir diesen beiden Dimensionen die spezifischen Ziele hinzu, die der
sozialräumliche Ansatz favorisiert. Wir erreichen dies zuerst durch eine Kontrastierung
mit klassischer Sozialarbeit und danach anhand einer Systematisierung von
Wissensbeständen der Sozialraumorientierung.
3.3 Die spezifische Perspektive
Die folgende Gegenüberstellung wurde in Anlehnung an Talcott Parsons Idee der
Pattern Variables gefertigt. Sie verdeutlicht die jeweils spezifische Perspektive bzw.
Handlungsorientierung der Sozialraumorientierung in den Feldern des SONI-Schemas.
Die bewusst polarisierende Gegenüberstellung unterschlägt natürlich um der
Pointierung willen Graubereiche und Überlappungen. Auch handelt es sich nicht
durchgängig um konkurrierende Sichten. Manchmal wurde durch die
Sozialraumorientierung nur die bisherige Klienten- oder Hilfevorstellung erweitert,
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
18
wodurch zwar eine Relativierung, aber nicht notwendigerweise eine Antithese zum
Bestehenden entsteht2.
Idealtypische Musterperspektiven
SONI-Schema Klassische Perspektiven Sozialraumperspektiven
Sozial-struktur
Individualisierung Individualisierender sozialrechtlicher Ausgleich gesellschaftlicher Benachteiligungsstrukturen bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer strukturellen Ursachen
Strukturbezug Thematisierung struktureller Ursachen von Problemen und Ungleichheiten mit solidarisierenden Verfahren, die die Kontrolle von gesellschaftlichen Ressourcen durch benachteiligte Gruppen erhöhen
Funktionale Differenzierung und Standardisierung Effektivitätssteigerung durch spezialisierte Fachdienste, vorgehaltene Angebotsstrukturen, standardisierte Arbeitsvollzüge (Versäulung) und mitarbeiterbezogene Qualifizierung
Regionale Flexibilisierung und Inklusion Effektivitätssteigerung durch individuell maßgeschneiderte Lösungen aus einer Hand: Prinzip der lernenden Organisation mit situationsspezifischen und dynamischen Arbeitsvollzügen und gesamtorganisationsbezogene Qualifizierung
Problemzuständigkeit durch zentrale hierarchische Fachdienst-Organisation und Problem-Portale
Sozialraum-Verantwortung durch dezentrale Regional-Organisation mit Entscheidungsdelegation und Bürger-Portale sowie Brückeninstanzen und -funktionen
Ergänzung der Regelsysteme durch Spezialeinrichtungen
Steigerung des Inklusionspotenzials von Regelsystemen
Orga-nisa-tion
Steuerung durch: Wettbewerb zwischen NGOs um Fälle und Projekte
einrichtungsbezogene Arbeitszusammenhänge
inputbezogene Fall- oder Projektfinanzierung kein Wettbewerb für GOs
Primat von Amtsautorität Rechtmäßig vordefinierte Leistungen
Steuerung durch: Wettbewerb zwischen Regionen um gute Ergebnisse
einrichtungsübergreifende Arbeitszusammenhänge
ergebnisbezogene Raumfinanzierung mit Fachcontrolling raumbezogenen kooperativen Diskurs zwischen GOs und NGOs
Primat von Fachautorität Rechtmäßig komponierte Leistungen
Fallbezug Probleme und Lösungen liegen beim einzelnen Menschen. „Falsche“ Umwelten sind Risikofaktoren.
Feldbezug Ressourcen des Sozialen Raums werden für Projekte und Lösungen nutzbar gemacht, um Integrationschancen zu erhöhen
Netz-werk
Geregelte Zielgruppenzuständigkeit und darauf bezogene Verweisungspraxis
Zielgruppen-, bereichs- und einrichtungsübergreifende Vernetzung
2 Vgl. dazu die ähnlichen Gegenüberstellungen von Rosenbauer (zit. nach Hamberger / Peters 2006, S. 14), und Langhanky et al. 2004, S. 55
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
19
Bedarfsmodell der Hilfeleistung Behandlungen aufgrund von Bedarfsfeststellungen mittels leistungsgesetzanaloger Diagnosen Hilfe durch Experten für Adressaten (Anstatt-Handeln): Versorgung, Förderung/Erziehung, Kontrolle
Stärkemodell der Aneignung Aushandlungen auf Augenhöhe zwischen Betroffenen und Fachkräften Wille (Eigeninitiative), Stärken (Selbsthilfekräfte) und Ressourcen der Adressaten sind zentrale Elemente der Lösung – auch in Kontrollkontexten
Psychologisches und pädagogisches Wissen bilden die Handlungsgrundlage von Experteninterventionen zur Behebung definierter individueller Auffälligkeiten
Wissen um komplexe Verursachungs-zusammenhänge (SONI) bildet die Handlungsgrundlage für ein gemeinsames Handeln mit Adressaten (Co-Produktion) zur Aneignung von Positionen, Räumen, Kompetenzen und Kontrolle. Problemverursachende und –stabilisierende Faktoren des Hilfesystems werden thematisiert.
Indivi-duum
Technisches Professionalitätsverständnis Reflexives Professionalitätsverständnis
3.4 Systematisierung von Wissensbeständen
Zur Verfeinerung des bereits eingeführten SONI-Schemas fügen wir nun zu den
Handlungsfeldern der Sozialraumorientierung die entsprechenden Wissensbestände bei.
Dazu werden - angelehnt an Staub-Bernasconi (Staub-Bernasconi 1986, S. 22) - die
Felder „Sozialstruktur“, „Organisation“, „Netzwerk“ und „Individuum“ jeweils mit
Wissenselementen verschränkt, die ein sozialarbeiterisches Handlungsmodell
bereitstellen muss:
• Gegenstandswissen stellt die Frage, was überhaupt beobachtet werden soll. Hier
werden die Schlüsselfragen aufgeworfen, die durch sozialraumorientierte
Sozialarbeit bearbeitet werden sollen.
• Wertewissen klärt, was woraufhin verändert werden soll. Hier geht es um
Visionen, Ziele und präferierte Prozesse der Veränderung.
• Erklärungswissen beantwortet die Frage, warum etwas problematisch ist bzw.
als problematisch gilt. Es beleuchtet Entstehungsursachen und Faktoren
möglicher Veränderung. Hier werden vorzugsweise Erklärungskonzepte der
Sozialen Arbeit angewandt.
• Verfahrenwissen sind Methoden und Techniken, mit denen Veränderungen
bewerkstelligt werden können.
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
20
Schlüsselfragen und Ziele der Sozialraumorientierung geordnet nach den
Handlungsfeldern des SONI-Schemas lauten wie folgt:
Handlungs-felder des
SONI-Schemas
Schlüsselfragen und Aufmerksamkeitsrichtung der SRO Ziele der SRO
Sozial-struktur
• Welche strukturell bedingten Ungleichheiten sind im lokalen Raum auszumachen?
• Welche Instanzen haben die Möglichkeit, diese Ungleichheiten zu verändern?
• Welche Interessengegensätze herrschen bei solchen Veränderungsprozessen?
• Sozialen Ausgleich schaffen • Bemächtigung von Adressaten in
kommunalpolitischen Prozessen • Inklusion in das politische und
ökonomische System herstellen • Strukturelle, nicht stigmatisierende
Erklärungen und Lösungen für soziale Probleme entwickeln
Organi-sation
• Wie sieht die organisierte Aufgabenverteilung (Zuständigkeiten und Spezialisierungen) bei der Bearbeitung sozialer Probleme aus?
• Welche historischen, politischen, juristischen, ökonomischen Faktoren sind ausschlaggebend für diese Aufgabenverteilung und welche fachlichen, sozialen und ökonomischen Effekte entstehen daraus?
• Welchen Einfluss haben Bürger und Betroffene auf den Aufbau und die Prozesse von Organisationen?
• Normalisierungseffekte des Organisationshandelns für Adressaten erhöhen
• Fähigkeit von Organisationen steigern, Problemlösungen an der Lebenswelt zu orientieren
• Inklusionspotentiale von Regelsystemen steigern
Netzwerk
• Welche Netzwerke mit welchen Problemlösungspotenzialen prägen das lokale Gemeinwesen?
• Wie knüpfen Profisysteme an diese Problemlösungspotenziale an?
• Wie lassen sich bislang ungenutzte Problemlösungsreserven mobilisieren?
• Organisationen öffnen für bestehende Netzwerkpotentiale
• Neue Vernetzungen schaffen • Netzwerke in ihrer sozialen
Integrationsfunktion und als Instanzen kooperativer Demokratie stärken
Individuum
• Welche Verhaltensweisen und Situationen lassen Menschen zu Klienten Sozialer Arbeit werden?
• Welche politischen, rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Faktoren prägen diese Definitionsprozesse?
• Welche Problemlösungspotenziale werden dadurch auf- bzw. abgedeckt?
• Welchen Einfluss haben Bürger und Betroffene auf die Entwicklung von Lösungen?
• Kontexte für Stärken schaffen • Betroffenenmacht steigern: den
rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Rahmen für den Willen von Betroffenen nutzen
• Aneignung von neuen Räumen ermöglichen
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
21
Verbindet man das SONI-Schema zudem mit Erklärungskonzepten und
Methoden der Sozialraumorientierung ergibt sich die folgende Matrix:
Handlungs-felder des
SONI-Schemas
Erklärungskonzepte der Sozialen Arbeit, die in der SRO wesentlich sind
Methoden (Techniken und Verfahren) der SRO (Fieldbook)
Sozial-struktur
Die Diskussion sozialer Gerechtigkeit Sozialarbeiterisches Wissensmanage-
ment zur Aufdeckung struktureller Benachteiligung
Schatzkarten statt Bedarfspläne für Stadtteile
Das Prinzip „Einmischung“ Empowermentansatz Die Kapitalabflussthese des lokalen
Ökonomieansatzes
Wissensmanagement, Problemmuster-Erstellung, Lobbying
Öffentliche Aktionsformen (Leserbriefe, Unterschriftenlisten, Straßentheater, Direktkontakte, Demonstration, Storytelling, Kommunikationsguerilla, kontrollierte Regelverletzung, Publikation, Tagung, Streitgespräch)
Nutzen von Beteiligungsrechten (Bürgerversammlung, Anhörungen, Bürgerantrag, Beiräte, Bürgerbegehren)
Aktivierung (Aktivierende Befragung, Community Organizing, Gruppen organisieren)
Organi-sation
Das „Portal-Konzept“ für soziale Einrichtungen
Flexibilisierungskonzept Sozialräumliche Organisations- und
Finanzierungsmodelle Brückenfunktionen von
Organisationen Kooperative Steuerung zwischen
öffentlichen und freien Trägern Stärkung schwacher Interessen im
Organisationshandeln
Portaltechniken (Fremdbilderkundung, Zielgruppen-Sampling)
Innovationsmanagement (Potenzialanalyse, Teamorganisation, Denkorganisation, Bestimmung der Aufmerksamkeitsrichtung, Perspektivwechsler, Ideenkonferenz, provokative Operation)
Index for Inclusion Beschwerdemanagement Steuerungstechniken (Controlling, Sozialraumbudget-
Kalkulation)
Netzwerk
Sozialkapitalmodell Netzwerktheorie Vernetzungskonzepte von sozialen
Organisationen
Stadtteilerkundung (Kinderbeobachtung, Kinderinterviews, Autofotografie, Cliquenraster, Cliquenportrait, subjektive Landkarten, Weitwinkelscan, Nadelmethode)
Profi-Vernetzung (Netzwerkarbeit im Quartiermanagement, Fremdbilderkundung)
Fallunspezifische Arbeit (aktivierende Beratung, Organisationen gewinnen, Sozialraumprojekte, One-to-Ones, Kompetenzkartierung und Ressourcenkartei)
Individuum
Stärkemodell Salutogenesemodell These der erlernten Hilflosigkeit Blaming the victim effect Self fulfilling prophecy Theorie des Willens Konzept der Lebensweltorientierung
Eco-Maps und Genogramme Ressourcencheck Arbeit mit dem Willen Heimspiele organisieren Verwandtschaftsrat
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
22
3.5 Schnittmenge: Lebensweltorientierung
Sozialraumorientierung versucht fachliche Forderungen umzusetzen, die bereits im
Konzept der Lebensweltorientierung aufgestellt worden waren. Dabei muss die
„philosophische Offenheit“, die das Konzept der Lebensweltorientierung so attraktiv für
vielerlei Vereinnahmungen gemacht hat, präzisiert und auf methodische Formeln
gebracht werden, die für sich alleine genommen wieder zu eng und zu einfach wirken
können, aber eben auch deutlich machen, dass nicht alles das Etikett
„sozialraumorientiert“ tragen darf. Im Folgenden ordnen wir die Maximen der
Lebensweltorientierung in die vier Handlungsfelder des SONI-Schemas der
Sozialraumorientierung ein, um die Verbindungen zwischen den beiden Ansätzen
deutlich zu machen. Zudem trägt die Reformulierung der SONI-Felder in der Sprache
der Lebensweltorientierung noch einmal zu deren Präzisierung und Verdeutlichung bei.
Das Konzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch verbindet die Frage nach
den Dimensionen heutiger Lebensverhältnisse mit der nach der Konstruktion einer
zeitgemäßen Sozialen Arbeit. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Aspekte: Einmal
bestärkt Lebensweltorientierung das Projekt sozialer Gerechtigkeit, die sich u. a. in
einem leistungsfähigen Sozialstaat manifestieren muss, gerade in wirtschaftlichen
Rezessionen. Lebensweltorientierung ist damit eine professionelle Gegenposition zur
neumodern gewordenen Betonung von Selbstverantwortlichkeit.
Andererseits ist die Lebensweltorientierung eine selbstreflexiv kritische Betrachtung der
gesetzlich geregelten, institutionell strukturierten und professionell verantworteten
Sozialen Arbeit. Lebensweltorientierung zeigt, wie die Eigensinnigkeit der Lebenswelt
immer in Gefahr ist, durch institutionelle und professionelle Systemlogiken
kolonialisiert zu werden. Lebensweltorientierung konstruiert ein Spannungsverhältnis
zwischen „System“ und „Lebenswelt“, dessen reflektierte methodische Bearbeitung
konstitutiv für moderne Sozialarbeit sein muss.
Lebensweltorientierung ist nach Thiersch eine Doppelstrategie, da sowohl die Situation
und Möglichkeiten des Einzelnen als auch deren sozio-ökonomische und politische
Bedingtheit professionell bearbeitet werden. Insofern fällt die Zuordnung zum Feld
„Sozialstruktur“ leicht. Hierfür sprechen die Strukturmaxime der „Prävention“ im
Hinblick auf gerechte Lebensverhältnisse und eine belastbare soziale Infrastruktur, die
Strukturmaxime der „Partizipation“ aller Bevölkerungsgruppen am
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
23
gesellschaftspolitischen Diskurs, die Thematisierung und Moralisierung sozialer
Probleme und die Forderung einer effektiven Jugendhilfe- und Sozialplanung.
Handlungsfeld „Organisation“: Lebensverhältnisse von Menschen werden von
Professionellen „immer schon durch den Facettenblick institutioneller Ordnungen und
professioneller Arbeitsformen gesehen“ (Thiersch 2000, S. 18). Die Strukturmaxime der
„Alltagsorientierung“ setzt dem die Forderung der Ganzheitlichkeit und der Präsenz von
Hilfe im Alltag gegenüber. Lebensweltorientierung grenzt sich ab gegen eine hoch
spezialisierte, arbeitsteilig profilierte Expertenherrschaft und problematisiert die
Verkarstung von gesetzlichen Regelungen, von Sozialverwaltungen und von freien
Trägern. Die Strukturmaxime „Partizipation“ fordert Mitbestimmung von Betroffenen
sowie weitgehende Einspruchs- und Beschwerderechte. „Integration“ als Maxime
arbeitet der Ausgrenzung und der Stigmatisierung von Verschiedenheit entgegen und
die „Dezentralisierung“ fordert Verantwortung vor Ort, damit unterschiedliche auf den
jeweiligen Sozialen Raum passende Lösungen möglich werden.
Im Handlungsfeld „Netzwerk“ bleibt die Lebensweltorientierung auf einer glaubhaften,
aber ziemlichen vagen Stufe der Postulate. Hier sind sicherlich die Einflüsse aus der
Gemeinwesenarbeit auf die Sozialraumorientierung als prägender zu betrachten:
Lebensweltorientierte Soziale Arbeit „insistiert auf der Stärkung der erfahrenen
Lebensräume und sozialen Bezüge mit den in ihnen liegenden Möglichkeiten und
Ressourcen“ (Grunwald/Thiersch 2001, S. 1137) und „inszeniert soziale Beziehungen in
der Nachbarschaft, (…) unter Menschen, die in die gleichen Probleme involviert sind;
sie arrangiert Räume, Situationen und Gelegenheiten (…); sie engagiert sich (…) in
sozialen Netzen, auch im Stadtteil, in der Region.“ (Thiersch 2000, S. 27)
Im Handlungsfeld „Individuum“ betont die Lebensweltorientierung stets die
grundsätzlich autonome Zuständigkeit aller Menschen für ihren eigenen Alltag,
unabhängig von deren Unterstützungsbedürftigkeit. Die individuelle Lebenswelt wird
als „Gegenwelt zu gesellschaftlichen Enteignungsprozessen gesehen, als Ort
eigensinniger und zu respektierender Lebensarrangements“ (Grunwald/Thiersch 2001, S.
1139). Sie ist die „Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem, von gesellschaftlich
geprägten Strukturen und subjektiv bestimmten Handlungsmustern“ (ebd.). Die
Lebenswelt ist professionell immer in ihrer Doppelsinnigkeit zu begreifen, als
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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sicherheitsgebende und identitätsstiftende Ressource und Routine und gleichermaßen
auch als borniert, einengende oder ausgrenzende Welt (ebd., S. 1140). „Formen
abweichenden Verhaltens werden als Ergebnis der Anstrengung gesehen, in den
gegebenen Verhältnissen zurecht zu kommen und müssen darin respektiert werden auch
wenn seine Ergebnisse unglücklich sind.“ (ebd., S. 1139) Die „Dialektik des
Gelingenden und Einschränkenden“ (ebd.) ist konstitutiv für die sozialarbeiterische
Betrachtung und resultiert in der Intervention in einer Spannung von Respekt und
Destruktion: „Respekt vor der Eigensinnigkeit von Lebenswelt, die durchgesetzt werden
muss gegen Traditionen Sozialer Arbeit, die (…) Anpassung an allgemeingültige
Normen“ oder fürsorgliche Belagerung praktizieren, und „Destruktion eben dieser
Eigensinnigkeit im Namen ihrer freieren Möglichkeiten, Destruktion als Provokation zu
den Möglichkeiten eines gelingenderen Alltags“ (ebd., S. 1143). Die Balance zwischen
Sich-Einlassen und Verstehen auf der einen Seite sowie Aufdecken, Problematisieren,
Provozieren und Strukturieren auf der anderen Seite ist immer wieder prekär. Deswegen
ist Hilfeplanung als Gegensatz zur Expertendiagnose ein Aushandlungsprozess, der
damit beginnen muss, Betroffene in Positionen zu bringen, wo sie gleichberechtigt
verhandeln können (ebd., S. 1144).
Tabellarische Zusammenstellung
Handlungsfelder des SONI-Schemas
Maximen der Lebensweltorientierung nach Thiersch
Sozialstruktur: Thematisierung von Ungleichheit und ungleichen Verteilungen von Einfluss, Besitz und diesbezüglichen Veränderungschancen
• Strukturmaxime „Prävention“ • Ziele der sozialen Gerechtigkeit, der Verringerung von materieller
Ungleichheit und Ungleichheit von Bildung, Zugang, Information, Gesundheit
• Forderung einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur • Strukturmaxime „Partizipation“ am gesellschaftspolitischen Diskurs • Thematisierung und Moralisierung sozialer Probleme • Forderung einer effektiven Jugendhilfe- und Sozialplanung
Organisation als organisatorischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und fachlicher Rahmen, in dem sich professionelle Sozialarbeit materialisiert
• Strukturmaxime „Alltagsorientierung“ Ganzheitlichkeit und die Präsenz von Hilfe im Alltag.
• Abgrenzung gegen spezialisierte, arbeitsteilig profilierte Expertenherrschaft, stattdessen „Strategie der Einmischung“
• Problematisierung der Versäulung von gesetzlichen Regelungen, von Sozialverwaltungen und von freien Trägern
• Strukturmaxime „Partizipation“ Mitbestimmung , Einspruchs- und Beschwerderechte
• Strukturmaxime „Integration“ Verhinderung von Ausgrenzung und Anerkennung von Unterschiedlichkeit
• Strukturmaxime „Dezentralisierung“ Verantwortung vor Ort, sozialraumkompatible Arrangements
Netzwerke als • Forderung der Stärkung von Lebensräumen, sozialen Bezügen,
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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vorhandene oder herstellbare Beziehungen des Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn, Bewohnern, Betroffenen, Mitarbeitern
sozialen Netzen, Selbsthilfegruppen, Quartieren • Betonung der Ressourcen und Gelegenheiten des Sozialen Raumes
Individuen als Interessen, Ressourcen- und Nachfrageträger
• Autonome Zuständigkeit aller Menschen für ihren eigenen Alltag • Lebenswelt als Ort eigensinniger und zu respektierender
Lebensarrangements • Doppelsinnigkeit von Lebenswelt: Ressource und Fessel • Abweichendes Verhalten als Lösungsversuch • Professionelle Spannung von Respekt und Destruktion im
sozialarbeiterischen Handeln • Berücksichtigung der strukturellen Bedingungen individueller Notlagen • Hilfeplanung als Bemächtigungs- und Aushandlungsprozess
3.6 Schnittmenge: Stadtteilarbeit
Sozialraumorientierung steht in der Tradition der Gemeinwesenarbeit. Das erklärt,
warum es der Sozialraumorientierung darum geht, Strukturen und nicht Menschen zu
verändern und zur Aktivierung, Selbstorganisation und Bemächtigung von Bürgern und
Adressaten Sozialer Arbeit beizutragen. Besonders der Ansatz der Stadtteilarbeit, für
den das Essener Institut für Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und Beratung (www.uni-
essen.de/issab) steht, brachte wertvolle Impulse für die Sozialraumorientierung, die sich
in den Begriffen „vom Fall zum Feld“, „fallunspezifische Arbeit“, „Sozialraumbudget“,
und „Orientierung am Willen“ in der Fachdiskussion niedergeschlagen haben. Insofern
können die Arbeiten des ISSAB als eine wesentliche Referenzlinie der
Sozialraumorientierung gelten. Gerade die einzelfallbezogenen und hoch
professionalisierten Erziehungshilfen haben von Wolfgang Hintes pointierten
Provokationen, die oft den Finger in die Wunden des Hilfesystems legen, profitieren
können, durch die Erweiterung ihrer Aufmerksamkeit in Richtung Sozialraum und die
Stärkung der Adressaten im Hilfeplanungsprozess (vgl. etwa Hinte 1991, 1993, 1997,
2002).
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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Fünf methodische Prinzipien bilden quasi das Leitbild der Essener Schule (ursprünglich
in Hinte/Karas (1989), Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel (2001): und ausführlich in
Hinte/Treeß 2006, S. 45ff):
1. Orientierung an den Interessen und am Willen
2. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe
3. Nutzung der Ressourcen der Menschen und des Sozialraums
4. Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz
5. Kooperation und Koordination
Bevor wir ins Detail gehen, ist zu betonen, dass es sich gerade bei den ersten drei
Prinzipien um methodische Handlungsmaximen in der direkten Arbeit mit einzelnen
Adressaten(gruppen) handelt. Sie erfahren eine Verkehrung ins Gegenteil, wenn man sie
als sozialpolitische Maximen missbraucht. Eigeninitiative, Selbsthilfe und die sich im
Willen ausdrückende Eigenkraft können niemals Ersatz für gerechten sozialstaatlichen
Ausgleich sein. „Sozialraumorientierung zielt nicht auf Fürsorge, sondern auf die
Herstellung von Gerechtigkeit durch staatlich garantierte Unterstützung eigener
Aktivität in selbst bestimmten Lebenszusammenhängen. Es geht nicht darum, die
Gestrauchelten, vom Pech Verfolgten oder anderweitig Benachteiligten „wieder
aufzurichten“, sondern darum, Arrangements zu schaffen, in denen auch Menschen in
prekären Lebensverhältnissen unter gezielter und sorgfältig angesetzter öffentlicher
Unterstützung möglichst aus eigener Kraft ihr Leben leben können. Dies ist eine
sozialpädagogische, methodisch-konzeptionelle Sichtweise, die in keiner Weise den
Anspruch des Einzelnen auf sozialstaatliche Leistungen schwächt. Sozialpolitisch gilt es,
leistungsgesetzliche Ansprüche zu verteidigen und – wenn nötig – auszuweiten;
sozialpädagogisch bedarf es im Rahmen der Erfüllung solcher Leistungsansprüche
einer professionellen Haltung, aus der heraus die Leistungsberechtigten als Subjekte in
ihren aktiven, gestaltenden Anteilen gestärkt und herausgefordert werden.“ (Hinte /
Treeß 2006, S. 58)
Orientierung an den Interessen und am Willen
„Die Fachkräfte denken nicht darüber nach, was die Menschen in einem Wohnquartier
interessieren könnte, sondern fragen sie direkt nach deren Interessen und Bedürfnissen.
Ansatz der Arbeit ist immer der Wille bzw. die Betroffenheit einzelner Menschen oder
Gruppierungen.“ (Hinte/ Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 77)
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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„Was regt Sie auf? Was wollen Sie ändern? Wie wollen Sie es machen, wie genau?
Wann werden Sie anfangen?“ Das sind Fragen, die kennzeichnend sind für die
„Orientierung an den Interessen und am Willen“. In Kurzform: Die Betroffenen - das
können Bewohner von Stadtteilen oder Adressaten von Einzelfallhilfe sein - definieren
den Bedarf und nicht die Experten. Sie legen fest, was sie wollen und werden nicht
darauf festgelegt, was sie brauchen. Die Betroffenen steuern den Prozess der
Hilfeerbringung, weil Sie selbst mit anpacken und es ihr Wille ist, der „die Leuchtfeuer
setzt“ (Hinte/Tress 2006, S. 47).
Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe
„Die Fachkräfte tun möglichst nichts ohne und vermeiden Aktionen für die Leute.
Vielmehr denken sie mit ihnen darüber nach, was diese selbst zur Verbesserung ihrer
Situation tun können und wenden sich erst in späteren Stadien mit betreuenden und
programmorientierten Angeboten an die
Wohnbevölkerung.“ (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 77)
Sozialstaatliche Leistungen können ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie
anschlussfähig sind an die Eigenkraft der Menschen, denen sie helfen sollen, weil sie zu
deren Alltag passen müssen und weil sie der Würde der Menschen zuträglich sein
müssen. Hilfe, die nur gibt und nichts erwartet, raubt den Menschen ihren Stolz. Wer
dagegen aus eigenen Kräften etwas erreicht, entwickelt Selbstwertgefühl, Kraft und
Hoffnung. Gute Sozialarbeit „hilft“ dadurch, dass sie die Betroffenen zu den
ausschlaggebenden Akteuren im Prozess macht, oder wie Alinsky es zutreffend
formuliert hat: „To give people help, while denying them a significant part in the action,
contributes nothing to the development of the individual. In the deepest sense, it is not
giving but taking - taking their identity.” (Alinsky 1972, S. 123)
Nutzung der Ressourcen der Menschen und des Sozialraums
„Sozialraumorientierte Ansätze richten ihr Augenmerk immer auf die Stärken der
Menschen, die sich oft sogar in den vermeintlichen Defiziten abbilden. (…) Räume,
Nachbarschaften, Plätze, Natur, Straßen, aber auch die vorhandene Unternehmens- und
Dienstleistungsstruktur im Quartier und darüber hinaus sind bedeutsame Ressourcen,
die man nutzen und durch kluge Vernetzung effektivieren
kann.“ (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 78)
Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen
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Menschen und Soziale Räume verfügen über Ressourcen und Möglichkeiten, von denen
das professionelle Hilfesystem oftmals überhaupt nichts weiß, auf deren Nutzung zu
verzichten aber bestenfalls ineffiziente Ressourcenverschwendung ist. Die
Selbstbezogenheit von Einrichtungen und Diensten, die sich nicht mit den Ressourcen
ihrer Klienten und Stadtteile auskennen, führt zur primären Nutzung standardisierter
professioneller Hilfeformen und zur sich selbst bestätigenden Überzeugung, dass in der
Lebenswelt „nichts zu holen ist“. Schlimmstenfalls geschieht eine passiv und abhängig
machende Kolonialisierung durch eine selbstreferentielle Hilfeindustrie. Die
Anwendung sozialstaatlich garantierter psychosozialer Hilfeleistungen muss die ihnen
innewohnende Paradoxie genauestens reflektieren: Auf nachhaltige Selbsthilfe zielende
Hilfeprozesse werden erst durch anspruchsbegründende Defizit-Diagnosen möglich.
Gleiches gilt für Stadtteile, die erst durch die Auszeichnung „sozialer Brennpunkt“ in
den „Genuss“ von Geldern zu Strukturentwicklung kommen. Die Vorstellung, dass
Defizite durch externe Ressourcenzufuhr behoben werden können, funktioniert bei
monetären sozialstaatlichen Transferleistungen und bei Dienstleistungen (z. B. manche
medizinische), deren Wirkung mit Alltag und Persönlichkeit der Kunden wenig zu tun
haben. Wenn sich jedoch Dienstleistungen auf den Alltag, auf die sozialen Bezüge und
auf die Persönlichkeit von Menschen beziehen, hängt die Wirksamkeit in fundamentaler
Weise von deren Eigenkraft, Lebensroutinen, Willen und Netzwerken ab. Eine schlichte
Übertragung kurativer oder substitutiver Modelle hingegen verursacht Nebenfolgen, die
gewünschte Wirkungen ins Gegenteil verkehren können.
Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz
Das Ideal sozialräumlicher Arbeit ist nicht die „Behandlung“ der „zur Zielgruppe
degradierte(n) Randgruppe“ (Hinte/Tress 2006, S. 72). In Stadtteilprojekten sucht man
nach Kristallisationspunkten für gebietsbezogene Aktivitäten, an denen sich alle Bürger
beteiligen können. In der sozialräumlichen Jugendarbeit geht es um die Ermöglichung
von Mehrfachnutzung und Aneignung öffentlicher Räume durch Kinder und
Jugendliche und um die Aktivität von Jugendeinrichtungen im Sozialen Raum
außerhalb der eigenen Immobilie. Sozialraumorientierte Hilfen zur Erziehung
favorisieren Lösungsarrangements für Kinder, Jugendliche und Familien, die nicht in
Spezialsettings aussondern, sondern das Potential von Regeleinrichtungen für inklusive
Hilfeleistungen nutzen. Solche Ziele sind mit den Mitteln, Zuständigkeiten und
Ressourcen des engeren sozialen Bereiches allein nicht zu erreichen, vielmehr braucht
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man die Mitwirkung von Sektoren wie Schulpolitik, Wohnungsbau, Stadtplanung,
Wirtschaftförderung und Beschäftigungspolitik. Obgleich sozialräumliche Soziale
Arbeit immer mit individuellen und stadtteilbezogenen Notlagen befasst sein wird,
reduziert sie sich nicht auf eine spezialisierte Feuerwehrfunktion, sondern konzipiert
ihre Intervention immer auch als Kooperations- und Einmischungsstrategie in andere
Ressorts, die mitunter wesentlich mehr zu Problemlösungen beitragen können als die
Soziale Arbeit selbst. In jedem Einzelfall und jedem Einzelprojekt muss auf den durch
feinteilige sozialstaatliche Regelungen und funktionale Differenzierung erzwungenen
Facettenblick der sozialen Dienste und Einrichtungen ein Weitwinkelobjektiv
aufgeschraubt werden, um integrative und strukturelle Lösungswege in den Blick zu
bekommen.
Kooperation und Koordination
„Über vielfältige Foren (,Vernetzung’) werden im Wohnquartier tätige bzw. dafür
zuständige (professionelle und ehrenamtliche) Akteure aus verschiedenen Bereichen
angeregt, Kooperationen bezogen auf Einzelfälle, Gruppierungen und Aktionen
abzusprechen und gemeinsame Projekte zu entwickeln und
durchzuführen.“ (Hinte/Treeß 2006, S. 76)
Die kontexterweiternde sozialräumliche Arbeitsweise (s.o.) erfordert vielgestaltige
Kooperationen mit unterschiedlichsten Organisationen und Zusammenschlüssen, die
über die Zusammenarbeit sozialpädagogischer Fachkräfte hinausgeht und andere
Professionen, Verwaltungsressorts, Wirtschaft, vor allem aber auch den Bereich der
Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Initiativen und die nicht organisierten Bürger
im Stadtteil einschließt. Vernetzung ist dabei kein Selbstzweck, sondern muss sich an
ihren Ergebnissen messen lassen, für die Verbesserung der Lebensqualität im Stadtteil,
die Partizipation der Bürger, die Bereicherung von Diensten durch Ressourcen des
Sozialen Raums und die Generierung von maßgeschneiderten Lösungsarrangements in
der Fallarbeit.
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