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Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen 1 Frank Früchtel, Gudrun Cyprian, Wolfgang Budde Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen 1 Vorwort 2 Sozialer Raum und Soziale Arbeit 2.1 Punks in C.stadt 2.2 Dimensionen des Sozialen Raums in der Sozialen Arbeit 3 Sozialraumorientierung 3.1 Sozialraumorientierung als integrierender Ansatz 3.2 Handlungsfelder: Das SONI-Schema 3.3 Die spezifische Perspektive 3.4 Systematisierung von Wissensbeständen 3.5 Schnittmenge: Lebensweltorientierung 3.6 Schnittmenge: Stadtteilarbeit 1 Vorwort Nach zehn Jahren sozialraumorientierter Arbeit herrscht in der Fachwelt noch kein Einvernehmen darüber, was Sozialraumorientierung genau ist. Die Anzahl der Sammelbände wächst stetig, zusammenfassende Systematisierungen in Theorie oder Methodik sind allerdings Mangelware. Es ist wie bei allen Trends: Wer innovativ wirken will, benutzt das Etikett, ob es passt oder nicht, der Kern des Ansatzes verschwimmt und der wachrüttelnde Impuls verpufft. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung entstand die Idee, diese Lehrbücher zu schreiben. Die Rückmeldungen zu unserem E-learning-Kurs „Sozialer Raum

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Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

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Frank Früchtel, Gudrun Cyprian, Wolfgang Budde Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

1 Vorwort

2 Sozialer Raum und Soziale Arbeit

2.1 Punks in C.stadt

2.2 Dimensionen des Sozialen Raums in der Sozialen Arbeit

3 Sozialraumorientierung

3.1 Sozialraumorientierung als integrierender Ansatz

3.2 Handlungsfelder: Das SONI-Schema

3.3 Die spezifische Perspektive

3.4 Systematisierung von Wissensbeständen

3.5 Schnittmenge: Lebensweltorientierung

3.6 Schnittmenge: Stadtteilarbeit

1 Vorwort Nach zehn Jahren sozialraumorientierter Arbeit herrscht in der Fachwelt noch

kein Einvernehmen darüber, was Sozialraumorientierung genau ist. Die Anzahl

der Sammelbände wächst stetig, zusammenfassende Systematisierungen in

Theorie oder Methodik sind allerdings Mangelware. Es ist wie bei allen Trends:

Wer innovativ wirken will, benutzt das Etikett, ob es passt oder nicht, der Kern

des Ansatzes verschwimmt und der wachrüttelnde Impuls verpufft. Vor dem

Hintergrund dieser Beobachtung entstand die Idee, diese Lehrbücher zu

schreiben. Die Rückmeldungen zu unserem E-learning-Kurs „Sozialer Raum

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und Soziale Arbeit“, den wir für die virtuelle Hochschule Bayerns (vhb)

entwickelt haben, verstärkten den Wunsch, dieses Thema als systematische

Einführung zu erschließen und dabei auch einen Überblick über die konkreten

Verfahrensweisen und Methoden „im Feld“ zu geben.

Sozialraumorientierung hebt die klassische Abgrenzung von Fallarbeit,

Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit auf und integriert die Arbeitsformen der

Sozialen Arbeit zu einem mehrschichtigen Ansatz. Die Frage „Was ist der

Fall?“ wird so neu beantwortet: Die dominante Beschränkung auf das

Individuelle wird aufgegeben und die Relation von Menschen im Sozialen Raum

an die Stelle des klassischen Falls gesetzt. Der „Fall“ ist dann der

kommunalpolitische Verteilungsdiskurs, die Funktionalität des Hilfesystems, die

Potenziale von Stadtteilen, die Ressourcen von Netzwerken und auch, aber

eben nicht mehr nur eine Lebensgeschichte. Das ist der Kern.

Die Verbindung von Fall, Feld, Organisation und Struktur eröffnet einen

mehrdimensionalen Sozialen Raum, den wir nicht nur theoretisch sondern auch

methodisch begehbar machen wollten. Das Textbook klärt im Wesentlichen,

was warum zu tun ist, und das Fieldbook, wie es getan werden kann.

An den beiden Büchern haben eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen

mitgewirkt, mit denen wir seit Jahren zusammenarbeiten. Wir danken ihnen für

Erfahrungen und Fallbeispiele, die sie mit uns diskutiert haben und die es uns

möglich gemacht haben, Sozialraumorientierung im sozialarbeiterischen Alltag

darzustellen. Unser Dank gilt auch Monika Kühner, Schwester Franziska, Cindy

Bochnia und Andreas Schubert für die kritische Durchsicht und das Layout der

Texte. Der VS Verlag war uns ein angenehmer Partner, vor allem unsere

Lektorin, Frau Laux, hat den Weg dieser beiden Bücher sehr hilfreich begleitet.

Wolfgang Budde, Gudrun Cyprian, Frank Früchtel

Bamberg und Singapur, Januar 2007

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2 Sozialer Raum und Soziale Arbeit

2.1 Punks in C.stadt

2.2 Dimensionen des Sozialen Raums in der Sozialen Arbeit

Welche Ebenen des Sozialen Raums müssen in der Sozialen Arbeit unterschieden werden? Die Rede vom Sozialraum stellt die Konstruiertheit des Raumes in den Mittelpunkt und macht ihn damit zum Produkt sozialer Prozesse (Genaueres dazu im Kapitel „Sozialer Raum“ am Ende des Buches). Je nachdem, auf welche sozialen Prozesse man sich bezieht, gelangt man in unterschiedliche Räume. Je nachdem, welche Akteure mit ihren jeweils unterschiedlichen Aufmerksamkeiten beobachten, werden unterschiedliche Räume gesehen. Diese Differenzen entsprechen gewohnheitsmäßig geprägten Wahrnehmungsschemata und aktuellen Interessenlagen. Verschiedene Wahrnehmungs- und Handlungsebenen des sozialen Raums können im einführenden Fall der „Punks“ auf der Brücke entdeckt werden; die Sozialarbeiter in dieser Fallgeschichte haben sie genutzt. Geht man vom Individuum aus, so kommt man zu subjektiven Wirkzonen, gemacht aus subjektiver Bedeutung, erfahrener sozialer Teilhabe und dem Aktionsfeld individueller Stärken und Kompetenzen. Der Mittelpunkt dieses Raumes ist die eigene Person. Seine Orte und Gegenden haben immer eine Bedeutung, die auf den jeweiligen Raumkonstrukteur bezogen ist. „Der konkrete Raum ist ein anderer; je nach dem Wesen, dessen Raum er ist, und je nach dem Leben, das sich in ihm vollzieht. Er verändert sich mit dem Menschen, der sich in ihm verhält, verändert sich mit der Aktualität bestimmter Einstellungen und Gerichtetheiten, die - mehr oder weniger augenblicklich - das ganze Selbst beherrschen.“ (Bollnow 2004, S. 21) Solche Räume trägt der Einzelne mit sich herum wie eine Schnecke ihr Haus. Die Wirkzone als die räumliche Dimension der Lebenswelt beeinflusst Interaktions- und Teilhabechancen. Wichtig sind Netzwerke, Verwandtschaften, Nachbarschaften, Organisationen und Orte, wo sich Vernetzungen kristallisieren. Einzelne beurteilen den Sozialraum als Wohnort, Interaktionsraum und Infrastruktur für den Alltag, aber auch in seinen symbolischen Qualitäten als Heimat, Möglichkeitsspielraum und Identitätsvermittler. An der individuellen Wirkzone wird Integration und Segregation deutlich, auch wenn sie andernorts „erzeugt“ wird. So existiert die Wirkzone nicht im „leeren Raum“, sondern wird beeinflusst von Verkehrswegen, Mietpreisen, kommunalen Ordnungen, infrastruktureller Ausstattung u.v.a. Die Punks auf der Brücke sind auf den ersten Blick eine Gruppe von ähnlich gestylten und befremdlich agierenden Jugendlichen. Die Gruppe nutzt die individuellen Unterschiede: Poldi spielt beim „Schnorren“ bewusst mit seiner österreichischen Herkunft. Seine gezielt eingesetzte charmant-schnoddrige Sprache weicht die angesprochenen Touristen oftmals erfolgreich auf. Poldis witzige Sätze scheinen angenehme Erinnerungen an das Urlaubsland Österreich und die Stadt Wien zu wecken. Die Begegnung mit ihm wird nicht in erster Linie als „Anmache“, sondern als amüsante Situation eingeschätzt, und die Touristen zücken den Geldbeutel oder geben

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zumindest eine ebenfalls heitere Bemerkung zurück. Die Streetworker nehmen die Gruppe und die Einzelnen in gleicher Weise ernst. Sie registrieren zum Beispiel schnell die unterschiedlichen sozialen Räume der Mädchen und der Jungen: Die Mädchen kommen meistens erst am Nachmittag auf die Brücke, am Vormittag scheinen sie als selbstverständlichen Alltag die Schule und den Schulbesuch zu akzeptieren. Für die männlichen Jugendlichen ist die Brücke wohl eher „Wohnzimmer“ und „Hof“ geworden, und dennoch haben auch sie sich unterschiedliche soziale Räume erschlossen: Jan als anerkannte Autorität in der Gruppe darf am stärksten das Geschehen auf der Brücke steuern. Er kann von seinem „Stammplatz“, auf der Brüstung sitzend, „von hinten“ durch knappe Kommentare und Anweisungen eingreifen. Er hat aber auch durch seine Kontakte über die Szene hinaus eine andere soziale Topografie im Kopf als seine Freunde. „Die da oben“ – Politiker, Chefs, Profis – sind für ihn nicht so weit entfernt wie für die anderen Punks. Die Streetworker nutzen mit ihrer Empfehlung einer ersten Plakataktion diese Spannung zwischen Gruppe und individueller Person: Die bedrohlich wirkende Clique auf der Brücke, die in der Wahrnehmung der Bürger provokant viel Raum besetzt, wird durch die einzelnen Poster in unterschiedliche Personen aufgelöst. Jeder in der Clique bekommt ein eigenes Gesicht, eine ganz eigene Biografie, individuelle Wünsche und unverwechselbare Kompetenzen.

Es gibt auffällige Überlappungen an Orten, die für viele bedeutungsvoll sind (vgl. Schütters „Analyse der sozialen Räume der Wäscher von Banaras“, 2005, S. 181ff). Sich dort auszukennen und präsent zu sein kann für Sozialarbeiter wichtig sein. Konstruktionsprinzip dieser „Überlappungs-Räume“ ist soziale Nähe, und Sozialraum ist damit das Ergebnis von Vernetzung und Abgrenzung. ‚Menschen situieren sich durch ein System von Wegen, das durch die Beziehung zwischen ihnen entsteht’, sagt Sartre. Indem man an den Freund in Singapur denkt, entwirft man, was man die Straße nach Singapur nennen könnte. Nachbarschaften sind Räume, die durch Beziehungen entstehen. So dehnen sich z.B. Spielmöglichkeiten von Kindern plötzlich auf viele Gärten und Wohnzimmer aus. Das beachtlichste Potenzial dieser Netzwerk-Räume steckt in der Möglichkeit zur gemeinsamen Aktion: Menschen schließen sich zusammen und eignen sich die Straße während des Straßenfestes an, Verbindungen zwischen Mietern machen aus einzelnen Parteien wirkungsvolle Gruppen. Den sozialen Raum von Netzwerken kann man einmal konzipieren als die Verbindungen zwischen Individuen und als die Potenziale, welche in diesen Verbindungen stecken. Bildhaft sähe das dann aus wie durch Tunnel verbundene Hohlräume. Außerhalb dieser Knotenpunkte ist kein Raum aus der Perspektive des jeweiligen Netzwerkes. Andererseits lässt sich der Sozialraum eines Netzwerkes auch als Aneignungs- oder Enteignungsprozess verstehen: Wenn es einer Clique von Jugendlichen z.B. gelingt, ein Jugendzentrum zu „übernehmen“, oder wenn eine Gruppe alleinerziehender Mütter einen kooperationsunwilligen Pfarrer durch humorvolle Kontaktanzeigen dazu bringt, doch einen Teil des Gemeindehauses abzutreten, oder wenn es eine Gruppe von Punks schafft, über die beherzte Vertretung ihrer Anliegen den Stadtrat von einem elastischen Umgang mit den engen Regelungen einer Freiflächennutzungssatzung abzubringen und so ihren angestammten Treffpunkt in der Fußgängerzone erhalten kann. Die Fallschilderung enthält viele Beispiele dafür, wie die Clique, die ja selbst ein Netz von Austauschbeziehungen darstellt, ihre Beziehungen nutzt – zur Erleichterung des Alltags ebenso wie für die Erreichung strategischer Ziele. Aber auch die Professionellen erweitern ihre eigenen Handlungsspielräume konsequent durch

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Netzwerkarbeit: Sie nutzen das institutionalisierte Netzwerk des formalisierten Arbeitskreises der kommunalen Jugendarbeiter. Hier laufen ständig Informations- und Abstimmungsprozesse zwischen den Sozialarbeitern vom Jugendamt, den Jugendzentren und -treffs, den Streetworkern, den Mitarbeitern des Spielmobils usw. Für das große offensive jugendpolitische Projekt „C.stadt hat eine junges Gesicht“ aktivieren die Sozialarbeiter Beziehungen zu Institutionen und Einflusszonen, die nicht gerade zu den alltäglichen Eckpunkten der Jugendarbeit zählen. Zugunsten der gemeinsamen Vision werden ganz neue, bisher „ungedachte“ Brücken geschlagen. Rückt man die Binnenstruktur und die Austauschbeziehungen von Organisationen ins Zentrum der Betrachtung, öffnen sich Räume, z.B. durch die Portale, mit denen Organisationen Zugänge gestalten bzw. behindern. Wann, wo, für wen und für was man offen ist, wird nicht nur durch Zuständigkeiten und professionelle Spezialisierungen markiert, sondern auch über die Gestaltung des Zugangs zu den Leistungen. Hierbei können sich Organisationen um die lebensweltnahe Platzierung ihrer Angebote bemühen, und sie können die Zugänge - unter Nutzung der Hilfeerfahrungen ihrer Adressaten - gemeinsam mit diesen konstruieren. Sozialräume entstehen also für Organisationen, wenn sich die Organisationen für Themen, Bedürfnisse und Zugänge zuständig machen oder sie eben ausfiltern. So fragte einmal ein Mitarbeiter einer heilpädagogischen Tagesgruppe, wo denn das Berggebiet sei (eine eher lebensweltliche Bezeichnung des Stadtteils, in deren Mitte die Einrichtung lag) und machte deutlich, dass der Sozialraum hier auf die Gruppenstruktur reduziert wurde. Welche Adressaten welche Erwartungen an eine Organisation haben dürfen, sind Faktoren, die Organisation als sozialen Raum beschreibbar machen. Im Fall der Punks dauerte es seine Zeit, bis sich eine Institution für die Punks auf der Brücke zuständig fühlte. Bei einem neuen sozialen Problem in der Stadt ist die präzise Adressierung von Spezialisten schwierig: Welche Merkmale bestimmen Zuständigkeit und Zugang – die räumliche Lage der Brücke, das Alter der Punks, die soziale Zusammensetzung, ihr Verhalten im Urteil welcher Beobachter, die Folgen ihres Aufenthalts auf der Brücke für Touristen, Ladenbesitzer, Hundebesitzer, ältere Bürger, Kinder usw. oder der mehr oder weniger zufällige Erstkontakt zu irgendwelchen Profis? Für das weitere Schicksal der Punks auf der Brücke war entscheidend, dass durch die Vermittlung von Sozialarbeitern die Stadt den Jugendlichen einen Auftritt im Jugendhilfeausschuss eingeräumt hat. Zuständigkeiten von Verwaltungen sind auch verantwortlich für die administrative Zergliederung von kommunalen Gebieten. Es entstehen Steuerungs- und Planungsräume, die quasi das Gegenstück zur inhaltlichen Spezialisierung der Verwaltungen bilden und zum „integrierenden Element für eine Vielzahl kommunaler Sektoren werden können.“ (Hinte 2005, S. 549) Solche sozialen Planungs- und Steuerungsräume können die „klassischen Steuerungsdimensionen Fall, Immobilie oder Abteilung“ sozialräumlich ergänzen (ebd. S. 549). Raum ist hier in erster Linie Macht- und Entscheidungsraum, Gestaltungs- und Interventionsraum. Auch die Austauschbeziehung zwischen öffentlichen und freien Trägern lassen sich sozialräumlich organisieren und dadurch effektivieren. Wenn beispielsweise ein Mittelstadtjugendamt seine Fälle nicht mehr auf 30 verschiedene Erziehungshilfeträger verteilt, sondern mit wenigen raumverantwortlichen Trägern zusammenarbeitet, entwickeln sich die Möglichkeiten der Einflussnahme des öffentlichen Trägers von einer Exit- zu einer Exit- und Voice-Steuerung (vgl. Hirschmann 1974).

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Schließlich werden Gebiete auch durch das Vorhandensein von Organisationen als spezielle Räume geprägt. Eine gute Ausstattung mit sozialer Infrastruktur, mit Geschäften und Kneipen gibt einem Sozialraum eine andere Prägung als eine triste Industrie- oder Wohnsilokonzentration. Organisationen prägen Sozialräume und sind gleichermaßen ihre gebietsrelevanten Schatztruhen. Es macht einen Unterschied für die sozialräumliche Arbeit in Zuffenhausen, dass Porsche dort produziert. Genauso kann eine Schule für die lokale Ökonomie etwas tun, indem sie ihren laufenden Unterhaltsbedarf in ihrem Stadtteil einkauft. Soziale Arbeit ist effektiver, wenn sie vor Ort über eine solche Schatztruhen-Perspektive und -Kartei verfügt. Für Geschäfte, Kirchen, Verbände oder Soziale Organisationen ist der Sozialraum das Einzugsgebiet für Kunden, Arbeitnehmer, Mitglieder oder Zielgruppen. Das benachbarte Jugendzentrum erweist sich im Fall der Punks als ein besonders ertragreicher Teil der jugendarbeiterischen „Schatztruhe“: ein gut ausgestattetes Fotolabor, Besucher, die sich vom großen Plakatierungs-Projekt begeistern lassen, Mitarbeiter, die ihre Qualifikationen für die Sponsorensuche und die Projektorganisation einbringen, ein Büro als „Schaltzentrale“ usw. Ein Konzept, das die Verteilung von Macht und Besitz als Koordinaten des Raumes begreift, entwirft Bourdieu, der die Objektivität der Sozialstruktur (die sich z.B. in Statistiken zu Einkommensverteilung, Bildungsniveaus, Erwerbsbeteiligung, sozialen Milieus etc. niederschlägt) im Verhältnis zur Subjektivität der mentalen Strukturen zu analysieren versucht (Bourdieu 1991a). Der soziale Raum besteht für ihn aus der relationalen Anordnung von Menschen und Gruppen im permanenten Verteilungskampf (Löw 2001, S. 181). Die Situation der Akteure, z.B. herrschend oder abhängig, wird bestimmt durch ihre Position im sozialen Raum, den Bourdieu wie ein Spielfeld beschreibt: Stärke und die Spielstrategien der Personen hängen ab vom ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapital (Bourdieu 1983, S. 183), welches sie und andere besitzen. Der physische Raum ist verobjektivierter sozialer Raum, nämlich das Ergebnis des Verteilungskampfes unterschiedlicher Akteure mit unterschiedlichen Chancen der Aneignung (vgl. Bourdieu, 1991b, S. 29): „Es ist der Habitus, der das Habitat macht.“ (ebd. S. 32) In den „Feinen Unterschieden“ beschreibt Bourdieu (1991a) minutiös, wie durch Verteilung und Kumulation von kulturellem, ökonomischem und symbolischem Kapital Räume entstehen, die von unterschiedlichen Milieus beherrscht werden. Solche Ungleichheitsräume tendieren zur sozialen Schließung. Man kommt dort, wo man nicht hingehört, schwer rein und von dort, wo man ist, nicht einfach weg. Geographische Nähe korreliert mit sozialer Nähe, weil letztere erstere schafft. Wir fühlen uns in den Straßen daheim bzw. sicher, deren soziales Leben dem unserer Straße ähnelt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es räumliche Konzentrationen von ähnlichen Lebensstilen gibt. „Das System räumlicher Gliederungen erstreckt sich über die verschiedenen Schichten der Sozialwelt“ (Schütz / Luckmann 1979, S. 68); und geographische Nähe und Distanz repräsentieren auch Vertrautheit bzw. Fremdheit. Soziale Differenzierung hat Auswirkung auf geographische Gliederung, und diese wiederum macht soziale Differenzierung erfahrbar. ‚Räumliche Strukturen sind soziale bzw. gesellschaftliche Strukturen’, folgern Schütz und Luckmann in ihrem Klassiker „Strukturen der Lebenswelt“. Wenn die Achsen des physikalischen Raums Länge,

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Breite und Höhe sind, dann ist der Soziale Raum aus dieser Verteilungsperspektive aufgespannt zwischen Macht, Besitz, Bildung und Status1. In unserem vorangestellten Fall lässt sich die sozialstrukturelle Ebene mehrfach aufspüren. Das zentrale Gut im sozialräumlichen Verteilungskampf ist dabei im kostbaren weltkulturerblich geschützten öffentlichen Raum der Stadt der Platz auf der Brücke. Dürfen die Punks einfach nahezu täglich dort ihr Lager aufschlagen, sehen, sitzen, trinken, reden, betteln? Die allseits vertrauten Straßenmusikanten wechseln wenigstens ihre Standorte und erscheinen trotz oftmals ebenfalls auffälliger Kleidung viel weniger fremd und anstößig. Der Staat setzt seine Machtmittel ein, z.B. Recht. Die Vorschrift in der „Freiflächennutzungssatzung“ - „auf öffentlichen Plätzen und Straßen ist der Verzehr von Alkohol im Sitzen verboten“- soll vor allem wohnungslose Menschen von ihren Treffpunkten vertreiben. „Sie werden so zum ständigen Umrunden der Parkbänke genötigt, wenn sie eine Bierflasche in der Hand haben“ – so ein Sozialarbeiter aus einer „Wärmestube“. Diese Regel soll jetzt auf die Punks angewandt werden. Der Einsatz von Videokameras und Polizeipräsenz zählen zu den Überwachungsstrategien. In unserem Fall greifen sie immer nur kurzfristig, „situativ“: In kurzer Zeit sind die Jugendlichen zurück oder wechseln geschmeidig zwischen benachbarten Plätzen. Mit einer Art „Duldung“ erreichen die Jugendlichen nach ihrem Auftritt im Jugendhilfeausschuss einen entscheidenden rechtlichen und symbolischen Vorteil. Ein weiterer sozialräumlicher Verteilungskampf verlagert sich auf die Ebene der kommunalen Jugendpolitik. Hier geht es um die Verteilung der knappen Güter „öffentliche Aufmerksamkeit“ und „politischer Handlungsbedarf“. Die Jugendarbeiter setzen auf Sichtbarmachung der jugendlichen Bewohner der Stadt, gehen mit ihrer Plakatierungsaktion in die Konkurrenz mit den üblichen kommerziellen Werbeträgern. Die Stadtreklame muss viele gut platzierte Plakatwände der Stadt „freikaufen“ und die Jugendlichen mischen sich selbst in die Auswahl und Gestaltung ihres öffentlichen Gesichts ein. Bewusst werden von den Plakatwänden nicht nur „einheimische“ Gesichter lächeln, vielmehr werden alle ethnischen und subkulturellen Zugehörigkeiten der jungen Einwohner„ins Bild gesetzt“. Die am Projekt beteiligten Jugendlichen haben eine gewichtige Stimme bei allen Entscheidungen. Und die Aktionen parallel zur Plakatierung machen die Verteilungsprozesse der besonders knappen Güter transparent: von Ausbildungsplätzen, Arbeitsplätzen, Freizeiträumen, positiver medialer Aufmerksamkeit usw. für Jugendliche. Vielleicht gelingt es, die Position der Jugendlichen in der Stadt zu stärken und sie zu einem wichtigen Akteur im politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Geschehen zu machen.

1 Vergleiche dazu auch die systematische Zusammenstellung der Schichtung Sozialer Räume

inklusive der dazugehörigen Methoden der Sozialraumanalyse in Riege / Schubert 2002, S. 37 -

42).

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3 Sozialraumorientierung

3.1 Sozialraumorientierung als integrierender Ansatz

Charakteristisch für Sozialraumorientierung ist die Verbindung unterschiedlicher

sozialarbeiterischer Handlungskonzepte (vgl. Budde/Früchtel 2005b). Damit sind

Ansätze gemeint, die …

… auf verschiedenen Ebenen liegen: strategische Steuerung von Politik und Top-

Management, operative Leitung, professionelles Alltagsgeschäft,

… aus verschiedenen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit stammen: Fallarbeit und

Gemeinwesenarbeit,

… verschiedene Maximen der Sozialen Arbeit betonen wie beispielsweise

betriebswirtschaftliche Effizienz, soziale Gerechtigkeit, lernende Organisation;

… aus verschiedenen theoretischen Traditionen Sozialer Arbeit kommen:

Lebensweltorientierung, Empowermentansatz, Neue Steuerung, etc.

Sozialraumorientierung ist somit ein integrierender mehrdimensionaler Arbeitsansatz,

der immer entsprechendes Mehrebenenhandeln der Sozialarbeiter erforderlich und

möglich macht. Im Einzelnen sind die folgenden Konzepte als theoretischer

Hintergrund sozialraumorientierter Sozialer Arbeit zu verstehen:

Das Konzept der Lebensweltorientierung, das Betroffene immer als erfahren und

prinzipiell kompetent in ihrem aus Bewältigung und Scheitern zusammengesetzten

Alltag sieht. Ziel ist der gelingendere Alltag, durch Emanzipation aus bislang

praktizierter Routine oder durch höhere Verfügbarkeit bislang strukturell vorenthaltener

Ressourcen. Methodisch ist der fachliche, organisatorische und juristische Rahmen auf

den Alltag der Betroffenen hin zu orientieren, und es sind integrative Lösungen wo

immer möglich zu installieren. Die ethische Maxime professioneller Sozialarbeit ist die

reflexive Thematisierung von Expertenmacht und ihr Beitrag zur Vergrößerung sozialer

Gerechtigkeit (vgl. die systematische Zusammenfassung von Grunwald/Thiersch 2001).

Das Arbeitsprinzip der Gemeinwesenarbeit, welches Betroffene nicht als einzelne

Bedarfsträger, Leistungsberechtigte, Kranke oder Hilfesuchende versteht, sondern ganz

grundsätzlich eine Mensch-in-Umwelt-Perspektive favorisiert. Menschen sind

mitbestimmt von sozialen, ökonomischen, kulturellen, administrativen Verhältnissen

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und können – wenn es gelingt, individualisierende Problemerklärungen zu überwinden

und Betroffenenkooperation zu schaffen – auf diese Verhältnisse einwirken (vgl. dazu

die Zusammenstellung von wesentlichen Aufsätzen zur GWA in Hinte 2001).

Das Konzept der Organisationsentwicklung, wonach Organisationen und Verwaltungen

primär als Ergebnisse sozialen Handelns und damit sinnbezogen konstruiert und

zielbezogen veränderbar begriffen werden. Das Wesen einer zur Organisation

gewordenen Verstetigung ist so nicht mehr nur normierte Qualität, juristische

Leistungsgarantie, transparente Rationalität und effiziente Routinisierung, sondern vor

allem die Anpassungsleistung an sich permanent verändernde Umwelten und

Innenwelten der Organisation.

Die betriebswirtschaftlich inspirierten Konzepte der Neuen Steuerung, die von

Sozialarbeit und Sozialadministration Accountability, Wirksamkeitsnachweise und

Effizienz verlangen und Instrumenten wie dem Fach- und Finanzcontrolling zum

Einzug in die helfende Profession verholfen haben.

Das Konzept des „Sozialen Kapitals“, das neben der ökonomischen, der rechtlichen und

der professionellen Dimension vor allem die lange vernachlässigte Dimension der

ressourcenschweren sozialen Wechselbeziehungen zwischen Menschen in den

Mittelpunkt stellt. Obgleich sich Soziales Kapital zwar weitgehend der rechtlichen

Garantie und der ökonomischen Kalkulierbarkeit entzieht, wird ihm enorme

wohlfahrtsstaatliche Bedeutung zugesprochen und es werden Wege zu seiner

systematischen Akkumulation gesucht (vgl. das beispielreiche Kapitel zu Sozialem

Kapital in: Coleman 1991, 398-417; Putnam 2000; Budde/Früchtel 2005a).

Das Empowerment, das Menschen Raum und Mut verschafft, ihre eigenen

Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Kräfte zu entdecken,

einzusetzen und den Wert selbst erarbeiteter oder solidarisch erkämpfter Lösungen

schätzen zu lernen. Insbesondere das Stärkemodell hat in der Fallarbeit wesentlichen

Einfluss auf sozialraumorientierte Arbeit im Einzelfall (Saleebey 1992; Rapp 1998;

Herriger 2002).

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3.2 Handlungsfelder: Das SONI-Schema

„Every social worker is involved as a change agent (someone who assists in promoting

positive changes) in working with individuals, groups, families, organizations, and the

larger community. The amount of time spent at these levels varies from worker to

worker. But every worker will, at times, be assigned and expected to function

effectively at all these levels and therefore needs training in all of them. (…) The

worker must perform a wide range of tasks related to the provision and management of

direct service, the development of social policy and the facilitation of social change”

(Zastrow 1996, S. 580). Die sechs theoretischen Wurzeln stecken sozusagen die Felder

ab, auf denen Sozialraumorientierung agiert. Aus der Reichweite der Wurzeln wird

noch einmal deutlich, was eingangs schon behauptet wurde: Sozialraumorientierung ist

ein Mehrebenenansatz.

Dazu liegen innerhalb der Theoriediskussion über Sozialraumorientierung inzwischen

verschiedene Systematisierungen vor, die im Vergleich ziemlich uneinheitlich

daherkommen. Das mag seinen Grund darin haben, dass Sozialraumorientierung den

Doppelcharakter von Handlungskonzept auf technischer, operativer und strategischer

Ebene und Raumkonzept (des Lebensraums von Einzelnen und dessen

Überschneidungen mit anderen sowie des Steuerungs- bzw. Planungsraums) in sich

trägt. Insofern gibt es sozusagen eine geographische Raum-Dimension und eine

operative Handlungs-Dimension, die in manchen der unten stichpunktartig erfassten

Systematisierungen miteinander verbunden sind.

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Focus: Handlung Focus: Raum

Treeß 2006, S. 138ff

Hinte 2005a Hamberger / Peters 2006, S. 24ff

Schröer 2005, S. 30ff Riege/ Schu-bert 2002,S.38

Ebene des politisch-rechtlich-ökonomischen Systems

Geographische Ebene: Individuelle Sozialräume als Bezugspunkt für professionelles Handeln

Adressaten: Qualifizierung prof. Handelns; pass-genaue Hilfen, Nieder-schwelligkeit und Prävention; Betreuungskontinuität; Ressourcenorientierung; Partizipation

Ebene der Haltung: SRO als professionelles Arbeitsprinzip

Administra-tionsräume

Institutionell-administratives Teilsystem

Steuerungsebene: Administrativer Sozialraum als Bezugsgröße für die Konzentration von professionellen Ressourcen

Organisation: Qualifizierung von Verfahren, Team als Reflexionsort, Kooperation zwischen öff. u. freinen Trägern; institutionelle Vernetzung; sozialräuml. Jugendhilfeplanung

Planungsebene: Sozialraum als Bezugspunkt von Sozial- und Stadtplanung

Organisa-tionsräume

Lebensweltebene der Interaktion

Methodische Ebene des aktivierenden beruflichen Handelns auf Augenhöhe

Infrastrukturpolitik: Tragfähige Infrastruktur, Sozialraum als Bezugspunkt; kooperative Steuerung; sozialräumliche Finanzierung, Integration

Handlungsebene der Lösungs- und Ressourcenorientierung und Beteiligung

Aktionsräume: Beziehungen u. Interaktion

Individual-ebene

Finanzierungstechnische Ebene des Sozialraum-budgets, zur Unterstützung fachlicher durch betriebswirt-schaftliche Logik

Strukturebene: Dezentralisierung und Regionalisierung

Subjektive Lebens-welten

Instrumentelle Ebene der Kooperation öf-fentlicher und freier Träger: Kontraktman-agement und Sozialraumbudget

Wir schlagen ein Mehrebenemodell vor, das zuerst konsequent nach Handlungsfeldern

systematisiert und den Raumbezug danach in jedem Handlungsfeld herstellt.

Sozialstruktur meint den gesellschaftlichen Kontext (schwerpunktmäßig auf

kommunaler Ebene): Die örtliche Auslegung des Sozialrechtes, die sozialstaatliche

„Philosophie“ der kommunalen Sozialpolitik, Normalitätsvorstellungen und

Normalbiographien, die öffentliche Meinung, Werte, Normen und Traditionen. Die

sozialarbeiterische Intervention auf der sozialstrukturell-sozialpolitischen Ebene

unterstützt Kommunen beim Lösen sozialer Probleme, bei der Aufstellung fachlicher

Entwicklungsziele für die Soziale Arbeit, bei der Sozialpolitik- und

Programmentwicklung. Dabei spielt die Thematisierung ungleicher Verteilungen von

Einfluss, Besitz und Entwicklungschancen eine ausschlaggebende Rolle, geht es doch

um die Gestaltung sozialen Wandels im Sinne sozialer Gerechtigkeitsideale, die immer

in Spannung mit selbstbezogenen Eigeninteressen aller Akteure im Sozialen Raum

stehen. Diese Interventionsaufgaben setzen Wissen über soziale Probleme, Sozialpolitik,

wirtschaftliche Zusammenhänge und über Konzepte sozialer Gerechtigkeit voraus –

Themen, die auf die Tradition der Gemeinwesenarbeit und auf die politische Dimension

der Lebensweltorientierung verweisen. Sozialarbeiterinnen haben auf der Ebene

Sozialstruktur das Rollenbündel „Sozialplaner“, „Lobbyist“ und „Aktivist“ zu

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bewältigen. Sie beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung und Meinung und die

Gestaltung von Visionen.

Sozialarbeit verwirklicht sich stets in Organisationen, die wiederum Teil eines

organisierten Arbeitsfeldes sind, das so genannte Hilfesystem oder „service delivery

system“. Das sind die Einrichtungen und Dienste sowie die dahinter stehenden freien

Träger und die zuständigen öffentlichen Verwaltungen. Im Handlungsfeld

„Organisation“ bezieht sich die sozialarbeiterische Intervention auf

Organisationsstrukturen, interne Prozesse bzw. Routinen, Ziele, Unternehmenspolitik,

professionelles Selbstverständnis, Ausstattung sowie das Zusammenspiel funktional

unterschiedlicher, aufeinander bezogener Organisationen, insbesondere im Hinblick auf

Finanzierung, Finanzcontrolling und kooperative Zielentwicklung. Aufgrund des

institutionell arbeitsteiligen Charakters ist nicht immer alles überall möglich.

Sozialraumorientierung bestimmt Qualität aber daran, gegebene organisatorische

Ordnungen von den Bedürfnissen und dem Willen der Adressaten her in Frage zu

stellen, um zur Lebenswelt passende Lösungen erwirken zu können. Durch den Einfluss

des Neuen Steuerungsmodells beschäftigt sich Sozialraumorientierung auch mit

betriebswirtschaftlichen Fragestellungen und der Gestaltung von fachdienlichen

Organisationen, was Effizienz, Zuständigkeiten, Binnenstrukturen, Austausch- und

Kooperationsbeziehungen betrifft. Das Handlungsfeld „Organisation“ ist

gewissermaßen das Selbstreflexivwerden des Hilfesystems und das institutionalisierte

Selbstmisstrauen in Bezug auf die Vorannahmen, blinde Flecken und den Eigennutz der

eigenen Ansätze. Sozialarbeiter haben hier das Rollenbündel „Organisations-

entwickler“ und „Evaluator“ kompetent zu besetzen.

In der Sozialraumorientierung geht es weiterhin um Potenziale des Sozialen Kapitals,

die in Netzwerken stecken. Den Sozialen Raum kann man sich als Netz vorstellen,

dessen Knotenpunkte die einzelnen Menschen und Organisationen symbolisieren,

während die Verbindungsmaschen die Beziehungen zwischen ihnen sind, die als

Förderbänder gedacht werden können, auf denen die vielfältigsten Austauschprozesse

ablaufen und unter der Hand die Integration der Individuen in die Gesellschaft erfolgt.

In der Netzwerkarbeit geht es um vorhandene oder herstellbare Beziehungen des

Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn,

Bewohnern, Fachkräften und Organisationen der Sozialen Arbeit genauso wie um

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Beziehungen zu den Sektoren Wirtschaft und Industrie. Netzwerkarbeit stellt

fallunspezifisch Beziehungen und Koalitionen zwischen unterschiedlichen Gruppen und

Einzelnen her, die entweder durch ihr Zusammenschlusspotential stark machen, was in

der Empowermentbewegung eine zentrale Rolle spielt, oder durch neue Verbindungen

neue, bislang nicht zugängliche Räume für Menschen eröffnen. Das Rollenbündel von

Sozialarbeitern kann man mit „Ressourcenmobilisierer“ und „Netzwerker“ beschreiben.

Das Handlungsfeld „Individuum“ bezieht sich vorwiegend auf die Fallarbeit. Darunter

verstehen wir die Arbeit mit einzelnen Hilfesuchenden, mit Familien, mit kleinen

Gruppen, mit einzelnen Anwohnern, Teilnehmern, Volunteers oder Haushalten.

Fallarbeit ist professionelles Handeln, das Veränderungen herbeiführt, indem

Adressaten und Fachkräfte gemeinsam Ziele und Pläne erarbeiten. Fallarbeit baut auf

dem Wissen und den Erfahrungen von Adressat und Fachkraft auf. Sie beschäftigt sich

mit der Veränderung von Verhaltensmustern und mit der Veränderung der auf dieses

Verhalten wirkenden Umweltfaktoren. Sie zielt darauf, Kompetenzen und Spielräume

von Menschen zu vergrößern sowie deren Zugang zu Ressourcen zu erweitern.

Ansatzpunkte von Fallarbeit sind einerseits die subjektiven Lebensstile, Weltsichten,

Erfahrungen, Befürchtungen, Erwartungen, die individuelle Ausstattung mit Ressourcen,

die Lebenslage, das soziale Netzwerk des Einzelnen, das Problem aus der Perspektive

des Betroffenen und der gefühlte Problemdruck sowie andererseits das relevante

Hilfesystem. Durch den Einfluss von Stärkemodell und Expertenkritik favorisiert

Sozialraumorientierung auf der individuellen Ebene einen selbstreflexiven

Handlungsmodus, der sich – wenn nötig experten- und bürokratiekritisch, aber stets

fachdienlich - am Willen und an den Interessen von Adressaten orientiert mit der

fachlichen Intention: “more appreciation, more expression, more functional use of the

latent inner resources of the individual“ (Carl Rogers zit.n. DuBois/Miley 2005, S. 231).

„Perspektivwechsler“ um Stärken sehen zu können, wo der Alltagsverstand

hauptsächlich Probleme sieht, und „Anwalt des Willens der Betroffenen“ ist das

Rollenset im Handlungsfeld „Individuum“.

„The crux of social work practice involves viewing a problem situation in terms of the

person-in-environment conceptuaization and being willing and able to intervene at

several different levels if necessary, while assuming any number of roles.” (Zastrow

1996, S. 581)) Die folgende Darstellung illustriert die professionellen Anforderngen, die

im Konzept der Sozialraumorientierung für Sozialarbeiter stecken.

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

14

IO

NS

SONI-Schema

Rolle von Sozialarbeitern

Strategie / Funktion Herausforderungen / Dilemmata / Spannungsfeld

Sozial-struktur

Sozialplaner Lobbyist Aktivist

Sozialpolitisches Wissensmanagement Soziale Aktion

Markt Staat Sozialstaatliche Funktionsprobleme Soziale Gerechtigkeit

Organisa-tion

Organisations-entwickler Evaluator

Organisationsentwicklung und Sozialmanagement

Exklusion Inklusion Organisationsroutine Flexibilität Effizienz sozialer Dienste

Netzwerk Ressourcen-mobilisierer Netzwerker

Fallunspezifische Arbeit Profinetzwerke

Aktivierung externe Ressourcenzufuhr Effiziente Vernetzung Vernetzung l’art pour l’art

Indivi-duum

Perspektivwechsler Anwalt

Orientierung am Willlen, an den Stärken

Aktivierung professionelle Hilfe Hilfe Kontrolle

Im Chinesischen bedeutet das Zeichen „ “ Umzäunung oder etwas räumlich

Definiertes. Verfeinert man das Zeichen, lassen sich andere Worte ableiten.

Wenn man z. B. eine Aufteilung einfügt entsteht das Zeichen für Feld „ “.

Wir benutzen dieses Zeichen als graphische Symbolisierung der mittlerweile

zum Fachjargon gehörenden Alliteration „vom Fall zum Feld“ (Hinte/Litges/Springer

2000). Dabei markiert die horizontale Trennlinie die von Habermas eingeführte

Lebenswelt-System-Differenzierung. Habermas schlägt vor, „die Gesellschaft

gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren“ (Habermas 1981b, S. 183).

Lebenswelt versteht er als Konglomerat aus sozialer Herkunft, Gruppenzugehörigkeiten

und Umfeld. Viele Wissensbestände und Ressourcen resultieren aus dieser quasi

naturwüchsigen Einbettung. Die Lebenswelt leistet Sozialintegration sowie

Reproduktion und Sozialisation, damit die Menschen tragfähige Identitäten

herausbilden können und die Möglichkeit haben, sich an kulturellen Überlieferungen

und Werten zu orientieren. Lebenswelt ist kommunikatives Gewohnheitshandeln, das

sich an Verständigung und Einverständnis ausrichtet. Systeme dagegen können als

Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verstanden werden: Teilsysteme

übernehmen spezifische Funktionen für die Gesellschaft wie das Wirtschaftssystem, das

Bildungssystem, das Rechtssystem oder das Medizinsystem und handeln innerhalb ihrer

Grenzen nach einer für das jeweilige Funktionssystem typischen Logik. Die Bürger sind

auf diese Systemleistungen angewiesen, machen aber in ihren Interaktionen mit diesen

Funktionssystemen (zum Beispiel in Krankenhäusern, in der Interaktion zwischen Arzt

und Patient) die Erfahrung, dass dort Zweckrationalität und strategische

Erfolgsorientierung das Handeln bestimmen. Habermas prognostiziert, dass moderne

Gesellschaften durch Ausdifferenzierung eines hochkomplexen marktwirtschaftlichen

Systems traditionelle Formen von Solidarität zerstören, da das Wirtschaftssystem keine

Werte hervorbringen kann, die Solidarität sichern könnten. Soziale Arbeit ist Teil der

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

15

Systeme, allerdings mit der Spezialfunktion der Vermittlung zwischen System und

Lebenswelt, indem sie einerseits die Fehlfunktionen des Systems durch Identifizierung

von systemischen Dysfunktionen, durch die operative Umsetzung sozialer Gerechtigkeit

und durch Inklusionsleistungen korrigiert, andererseits indem sie notwendige Eingriffe

systemischer Imperative in die Lebenswelt (Kontrollfunktion) kommunikativ vermittelt

und durch die Lebenswelt beeinflussbar macht. Soziale Arbeit agiert als Profession am

Schnittpunkt von System und Lebenswelt. Sie wird über Geld und Recht gesteuert.

Rationalität, professionelle Qualitätsstandards, Einbindung in bürokratische,

rechtmäßige Organisationen mit geregelten Verfahren und hierarchischen

Entscheidungswegen, Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung und professionelle

Distanz kennzeichnen den „Systemcharakter“ der Sozialen Arbeit. Typisch für die

sozialarbeiterische Intervention sind aber auch die sog. „helfende Beziehung“,

Alltagsnähe, Ganzheitlichkeit und Nichtstandardisierbarkeit (s. den Abschnitt zur

Lebensweltorientierung). Die Lebenswelt, mit der es Soziale Arbeit zu tun hat, wird

gesteuert über Kommunikation, Traditionen, Werte, Beziehungen, unaufgeklärte

Meinungen, zwischenmenschliche Akzeptanz und Nähe, individuelle Eigensinnigkeiten

und Lebensstile. Sozialarbeiter müssen anschlussfähig an die Lebenswelt handeln, um

ihren beruflichen Vermittlungsauftrag erfolgreich zu erfüllen. Sozialraumorientierung

thematisiert und bearbeitet folglich die Bedingungen des Hilfesystems genauso wie die

Bedingungen von Betroffenen und ihrer Netzwerke.

Individuum

Organisation

Netzwerk

Sozialstruktur SystemFocus: Bedingungen des Hilfesystems

LebensweltFocus: Betroffene und deren Umfeld

Soziale Arbeit zwischen System und Lebenswelt

Markenzeichen sozialraumorientierter Sozialer Arbeit ist, dass sie ihre Planungen,

Interventionen, Projekte und Evaluationen stets in jedem dieser Felder betreibt. Je nach

Arbeitsfeld und Handlungszusammenhang liegt natürlich ein anderer Einstieg vor.

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

16

Qualitätsmerkmal ist zum Beispiel, ob es Fachkräfte schaffen, ihre Einzelfallarbeit vor

dem Hintergrund organisatorischer oder sozialstruktureller Einflussfaktoren zu

reflektieren und daraus handlungsleitende Konsequenzen zu ziehen. Oder ob es gelingt,

die Ressourcen des Sozialen Raums für die Fallarbeit so zu erschließen, dass sich

daraus integrative Lösungen entwickeln lassen. In der Stadtteilarbeit verlangt der

Mehrfelderansatz zum Beispiel, strukturell bedingte Problemlagen zu Themen von

Stadtteil-Netzwerken zu machen sowie gleichermaßen Verbindungen zwischen

Fähigkeiten von Bewohnern und Möglichkeiten von Organisationen zu schaffen.

Graphisch lässt sich das einmal als eine Art Weitwinkelobjektiv darstellen (linke

Abbildung, wobei der Startpunkt je nach Arbeitsfeld ein anderer ist) oder als

Methodenmix, der Handlungsstrategien aus verschiedenen Feldern kombiniert (rechte

Abbildung).

IOS

Vom Fall zur Sozialpolitik

Vom

Fal

l zu

Sozia

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und

Org

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tions

entw

icklu

ng

Konzeptioneller Blickwinkel der SRO: Vom Fall zum Feld

Vom Fall zur fallunspezifischen ArbeitN

Reiht man die jeweils ersten Buchstaben der sich aus den theoretischen Wurzeln

ergebenden Handlungsfelder aneinander, ergibt sich das Akronym SONI.

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

17

Handlungsfelder Raumdimension

Sozialstruktur als Thematisierungsebene von Ungleichheit und ungleichen Verteilungen von Einfluss, Besitz und diesbezüglichen Veränderungschancen

Ungleichheitsräume mit Tendenz zur sozialen Schließung (Inklusion/Exklusion), die sich in Milieus, Subkulturen, Segregation, Besetzung von Macht- und Schlüsselfunktionen und Infrastrukturausstattung zeigen.

Organisation als organisatorischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und fachlicher Rahmen, in dem sich professionelle Sozialarbeit materialisiert

Portale von Organisationen, die den Nutzwertfür Bürger und deren Einflusschancen aufOrganisationshandeln definieren undExklusion bestimmen.

Raumbezogene Kooperation von Organisationen, raumbezogenes Ressourcenwissen der Organisation

Netzwerke als vorhandene oder herstellbare Beziehungen des Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn, Bewohnern, Betroffenen, Mitarbeitern

Netzwerk- und Aktionsräume: innerhalb von Quartieren

Individuen als Interessen-, Ressourcen- und Nachfrageträger

Wirkzone: Der von Menschen je individuell definierte Raum, der räumliche Interaktions- und Teilhabechancen absteckt

Nun fügen wir diesen beiden Dimensionen die spezifischen Ziele hinzu, die der

sozialräumliche Ansatz favorisiert. Wir erreichen dies zuerst durch eine Kontrastierung

mit klassischer Sozialarbeit und danach anhand einer Systematisierung von

Wissensbeständen der Sozialraumorientierung.

3.3 Die spezifische Perspektive

Die folgende Gegenüberstellung wurde in Anlehnung an Talcott Parsons Idee der

Pattern Variables gefertigt. Sie verdeutlicht die jeweils spezifische Perspektive bzw.

Handlungsorientierung der Sozialraumorientierung in den Feldern des SONI-Schemas.

Die bewusst polarisierende Gegenüberstellung unterschlägt natürlich um der

Pointierung willen Graubereiche und Überlappungen. Auch handelt es sich nicht

durchgängig um konkurrierende Sichten. Manchmal wurde durch die

Sozialraumorientierung nur die bisherige Klienten- oder Hilfevorstellung erweitert,

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

18

wodurch zwar eine Relativierung, aber nicht notwendigerweise eine Antithese zum

Bestehenden entsteht2.

Idealtypische Musterperspektiven

SONI-Schema Klassische Perspektiven Sozialraumperspektiven

Sozial-struktur

Individualisierung Individualisierender sozialrechtlicher Ausgleich gesellschaftlicher Benachteiligungsstrukturen bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer strukturellen Ursachen

Strukturbezug Thematisierung struktureller Ursachen von Problemen und Ungleichheiten mit solidarisierenden Verfahren, die die Kontrolle von gesellschaftlichen Ressourcen durch benachteiligte Gruppen erhöhen

Funktionale Differenzierung und Standardisierung Effektivitätssteigerung durch spezialisierte Fachdienste, vorgehaltene Angebotsstrukturen, standardisierte Arbeitsvollzüge (Versäulung) und mitarbeiterbezogene Qualifizierung

Regionale Flexibilisierung und Inklusion Effektivitätssteigerung durch individuell maßgeschneiderte Lösungen aus einer Hand: Prinzip der lernenden Organisation mit situationsspezifischen und dynamischen Arbeitsvollzügen und gesamtorganisationsbezogene Qualifizierung

Problemzuständigkeit durch zentrale hierarchische Fachdienst-Organisation und Problem-Portale

Sozialraum-Verantwortung durch dezentrale Regional-Organisation mit Entscheidungsdelegation und Bürger-Portale sowie Brückeninstanzen und -funktionen

Ergänzung der Regelsysteme durch Spezialeinrichtungen

Steigerung des Inklusionspotenzials von Regelsystemen

Orga-nisa-tion

Steuerung durch: Wettbewerb zwischen NGOs um Fälle und Projekte

einrichtungsbezogene Arbeitszusammenhänge

inputbezogene Fall- oder Projektfinanzierung kein Wettbewerb für GOs

Primat von Amtsautorität Rechtmäßig vordefinierte Leistungen

Steuerung durch: Wettbewerb zwischen Regionen um gute Ergebnisse

einrichtungsübergreifende Arbeitszusammenhänge

ergebnisbezogene Raumfinanzierung mit Fachcontrolling raumbezogenen kooperativen Diskurs zwischen GOs und NGOs

Primat von Fachautorität Rechtmäßig komponierte Leistungen

Fallbezug Probleme und Lösungen liegen beim einzelnen Menschen. „Falsche“ Umwelten sind Risikofaktoren.

Feldbezug Ressourcen des Sozialen Raums werden für Projekte und Lösungen nutzbar gemacht, um Integrationschancen zu erhöhen

Netz-werk

Geregelte Zielgruppenzuständigkeit und darauf bezogene Verweisungspraxis

Zielgruppen-, bereichs- und einrichtungsübergreifende Vernetzung

2 Vgl. dazu die ähnlichen Gegenüberstellungen von Rosenbauer (zit. nach Hamberger / Peters 2006, S. 14), und Langhanky et al. 2004, S. 55

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

19

Bedarfsmodell der Hilfeleistung Behandlungen aufgrund von Bedarfsfeststellungen mittels leistungsgesetzanaloger Diagnosen Hilfe durch Experten für Adressaten (Anstatt-Handeln): Versorgung, Förderung/Erziehung, Kontrolle

Stärkemodell der Aneignung Aushandlungen auf Augenhöhe zwischen Betroffenen und Fachkräften Wille (Eigeninitiative), Stärken (Selbsthilfekräfte) und Ressourcen der Adressaten sind zentrale Elemente der Lösung – auch in Kontrollkontexten

Psychologisches und pädagogisches Wissen bilden die Handlungsgrundlage von Experteninterventionen zur Behebung definierter individueller Auffälligkeiten

Wissen um komplexe Verursachungs-zusammenhänge (SONI) bildet die Handlungsgrundlage für ein gemeinsames Handeln mit Adressaten (Co-Produktion) zur Aneignung von Positionen, Räumen, Kompetenzen und Kontrolle. Problemverursachende und –stabilisierende Faktoren des Hilfesystems werden thematisiert.

Indivi-duum

Technisches Professionalitätsverständnis Reflexives Professionalitätsverständnis

3.4 Systematisierung von Wissensbeständen

Zur Verfeinerung des bereits eingeführten SONI-Schemas fügen wir nun zu den

Handlungsfeldern der Sozialraumorientierung die entsprechenden Wissensbestände bei.

Dazu werden - angelehnt an Staub-Bernasconi (Staub-Bernasconi 1986, S. 22) - die

Felder „Sozialstruktur“, „Organisation“, „Netzwerk“ und „Individuum“ jeweils mit

Wissenselementen verschränkt, die ein sozialarbeiterisches Handlungsmodell

bereitstellen muss:

• Gegenstandswissen stellt die Frage, was überhaupt beobachtet werden soll. Hier

werden die Schlüsselfragen aufgeworfen, die durch sozialraumorientierte

Sozialarbeit bearbeitet werden sollen.

• Wertewissen klärt, was woraufhin verändert werden soll. Hier geht es um

Visionen, Ziele und präferierte Prozesse der Veränderung.

• Erklärungswissen beantwortet die Frage, warum etwas problematisch ist bzw.

als problematisch gilt. Es beleuchtet Entstehungsursachen und Faktoren

möglicher Veränderung. Hier werden vorzugsweise Erklärungskonzepte der

Sozialen Arbeit angewandt.

• Verfahrenwissen sind Methoden und Techniken, mit denen Veränderungen

bewerkstelligt werden können.

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

20

Schlüsselfragen und Ziele der Sozialraumorientierung geordnet nach den

Handlungsfeldern des SONI-Schemas lauten wie folgt:

Handlungs-felder des

SONI-Schemas

Schlüsselfragen und Aufmerksamkeitsrichtung der SRO Ziele der SRO

Sozial-struktur

• Welche strukturell bedingten Ungleichheiten sind im lokalen Raum auszumachen?

• Welche Instanzen haben die Möglichkeit, diese Ungleichheiten zu verändern?

• Welche Interessengegensätze herrschen bei solchen Veränderungsprozessen?

• Sozialen Ausgleich schaffen • Bemächtigung von Adressaten in

kommunalpolitischen Prozessen • Inklusion in das politische und

ökonomische System herstellen • Strukturelle, nicht stigmatisierende

Erklärungen und Lösungen für soziale Probleme entwickeln

Organi-sation

• Wie sieht die organisierte Aufgabenverteilung (Zuständigkeiten und Spezialisierungen) bei der Bearbeitung sozialer Probleme aus?

• Welche historischen, politischen, juristischen, ökonomischen Faktoren sind ausschlaggebend für diese Aufgabenverteilung und welche fachlichen, sozialen und ökonomischen Effekte entstehen daraus?

• Welchen Einfluss haben Bürger und Betroffene auf den Aufbau und die Prozesse von Organisationen?

• Normalisierungseffekte des Organisationshandelns für Adressaten erhöhen

• Fähigkeit von Organisationen steigern, Problemlösungen an der Lebenswelt zu orientieren

• Inklusionspotentiale von Regelsystemen steigern

Netzwerk

• Welche Netzwerke mit welchen Problemlösungspotenzialen prägen das lokale Gemeinwesen?

• Wie knüpfen Profisysteme an diese Problemlösungspotenziale an?

• Wie lassen sich bislang ungenutzte Problemlösungsreserven mobilisieren?

• Organisationen öffnen für bestehende Netzwerkpotentiale

• Neue Vernetzungen schaffen • Netzwerke in ihrer sozialen

Integrationsfunktion und als Instanzen kooperativer Demokratie stärken

Individuum

• Welche Verhaltensweisen und Situationen lassen Menschen zu Klienten Sozialer Arbeit werden?

• Welche politischen, rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Faktoren prägen diese Definitionsprozesse?

• Welche Problemlösungspotenziale werden dadurch auf- bzw. abgedeckt?

• Welchen Einfluss haben Bürger und Betroffene auf die Entwicklung von Lösungen?

• Kontexte für Stärken schaffen • Betroffenenmacht steigern: den

rechtlichen, fachlichen und ökonomischen Rahmen für den Willen von Betroffenen nutzen

• Aneignung von neuen Räumen ermöglichen

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

21

Verbindet man das SONI-Schema zudem mit Erklärungskonzepten und

Methoden der Sozialraumorientierung ergibt sich die folgende Matrix:

Handlungs-felder des

SONI-Schemas

Erklärungskonzepte der Sozialen Arbeit, die in der SRO wesentlich sind

Methoden (Techniken und Verfahren) der SRO (Fieldbook)

Sozial-struktur

Die Diskussion sozialer Gerechtigkeit Sozialarbeiterisches Wissensmanage-

ment zur Aufdeckung struktureller Benachteiligung

Schatzkarten statt Bedarfspläne für Stadtteile

Das Prinzip „Einmischung“ Empowermentansatz Die Kapitalabflussthese des lokalen

Ökonomieansatzes

Wissensmanagement, Problemmuster-Erstellung, Lobbying

Öffentliche Aktionsformen (Leserbriefe, Unterschriftenlisten, Straßentheater, Direktkontakte, Demonstration, Storytelling, Kommunikationsguerilla, kontrollierte Regelverletzung, Publikation, Tagung, Streitgespräch)

Nutzen von Beteiligungsrechten (Bürgerversammlung, Anhörungen, Bürgerantrag, Beiräte, Bürgerbegehren)

Aktivierung (Aktivierende Befragung, Community Organizing, Gruppen organisieren)

Organi-sation

Das „Portal-Konzept“ für soziale Einrichtungen

Flexibilisierungskonzept Sozialräumliche Organisations- und

Finanzierungsmodelle Brückenfunktionen von

Organisationen Kooperative Steuerung zwischen

öffentlichen und freien Trägern Stärkung schwacher Interessen im

Organisationshandeln

Portaltechniken (Fremdbilderkundung, Zielgruppen-Sampling)

Innovationsmanagement (Potenzialanalyse, Teamorganisation, Denkorganisation, Bestimmung der Aufmerksamkeitsrichtung, Perspektivwechsler, Ideenkonferenz, provokative Operation)

Index for Inclusion Beschwerdemanagement Steuerungstechniken (Controlling, Sozialraumbudget-

Kalkulation)

Netzwerk

Sozialkapitalmodell Netzwerktheorie Vernetzungskonzepte von sozialen

Organisationen

Stadtteilerkundung (Kinderbeobachtung, Kinderinterviews, Autofotografie, Cliquenraster, Cliquenportrait, subjektive Landkarten, Weitwinkelscan, Nadelmethode)

Profi-Vernetzung (Netzwerkarbeit im Quartiermanagement, Fremdbilderkundung)

Fallunspezifische Arbeit (aktivierende Beratung, Organisationen gewinnen, Sozialraumprojekte, One-to-Ones, Kompetenzkartierung und Ressourcenkartei)

Individuum

Stärkemodell Salutogenesemodell These der erlernten Hilflosigkeit Blaming the victim effect Self fulfilling prophecy Theorie des Willens Konzept der Lebensweltorientierung

Eco-Maps und Genogramme Ressourcencheck Arbeit mit dem Willen Heimspiele organisieren Verwandtschaftsrat

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

22

3.5 Schnittmenge: Lebensweltorientierung

Sozialraumorientierung versucht fachliche Forderungen umzusetzen, die bereits im

Konzept der Lebensweltorientierung aufgestellt worden waren. Dabei muss die

„philosophische Offenheit“, die das Konzept der Lebensweltorientierung so attraktiv für

vielerlei Vereinnahmungen gemacht hat, präzisiert und auf methodische Formeln

gebracht werden, die für sich alleine genommen wieder zu eng und zu einfach wirken

können, aber eben auch deutlich machen, dass nicht alles das Etikett

„sozialraumorientiert“ tragen darf. Im Folgenden ordnen wir die Maximen der

Lebensweltorientierung in die vier Handlungsfelder des SONI-Schemas der

Sozialraumorientierung ein, um die Verbindungen zwischen den beiden Ansätzen

deutlich zu machen. Zudem trägt die Reformulierung der SONI-Felder in der Sprache

der Lebensweltorientierung noch einmal zu deren Präzisierung und Verdeutlichung bei.

Das Konzept der Lebensweltorientierung von Hans Thiersch verbindet die Frage nach

den Dimensionen heutiger Lebensverhältnisse mit der nach der Konstruktion einer

zeitgemäßen Sozialen Arbeit. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Aspekte: Einmal

bestärkt Lebensweltorientierung das Projekt sozialer Gerechtigkeit, die sich u. a. in

einem leistungsfähigen Sozialstaat manifestieren muss, gerade in wirtschaftlichen

Rezessionen. Lebensweltorientierung ist damit eine professionelle Gegenposition zur

neumodern gewordenen Betonung von Selbstverantwortlichkeit.

Andererseits ist die Lebensweltorientierung eine selbstreflexiv kritische Betrachtung der

gesetzlich geregelten, institutionell strukturierten und professionell verantworteten

Sozialen Arbeit. Lebensweltorientierung zeigt, wie die Eigensinnigkeit der Lebenswelt

immer in Gefahr ist, durch institutionelle und professionelle Systemlogiken

kolonialisiert zu werden. Lebensweltorientierung konstruiert ein Spannungsverhältnis

zwischen „System“ und „Lebenswelt“, dessen reflektierte methodische Bearbeitung

konstitutiv für moderne Sozialarbeit sein muss.

Lebensweltorientierung ist nach Thiersch eine Doppelstrategie, da sowohl die Situation

und Möglichkeiten des Einzelnen als auch deren sozio-ökonomische und politische

Bedingtheit professionell bearbeitet werden. Insofern fällt die Zuordnung zum Feld

„Sozialstruktur“ leicht. Hierfür sprechen die Strukturmaxime der „Prävention“ im

Hinblick auf gerechte Lebensverhältnisse und eine belastbare soziale Infrastruktur, die

Strukturmaxime der „Partizipation“ aller Bevölkerungsgruppen am

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

23

gesellschaftspolitischen Diskurs, die Thematisierung und Moralisierung sozialer

Probleme und die Forderung einer effektiven Jugendhilfe- und Sozialplanung.

Handlungsfeld „Organisation“: Lebensverhältnisse von Menschen werden von

Professionellen „immer schon durch den Facettenblick institutioneller Ordnungen und

professioneller Arbeitsformen gesehen“ (Thiersch 2000, S. 18). Die Strukturmaxime der

„Alltagsorientierung“ setzt dem die Forderung der Ganzheitlichkeit und der Präsenz von

Hilfe im Alltag gegenüber. Lebensweltorientierung grenzt sich ab gegen eine hoch

spezialisierte, arbeitsteilig profilierte Expertenherrschaft und problematisiert die

Verkarstung von gesetzlichen Regelungen, von Sozialverwaltungen und von freien

Trägern. Die Strukturmaxime „Partizipation“ fordert Mitbestimmung von Betroffenen

sowie weitgehende Einspruchs- und Beschwerderechte. „Integration“ als Maxime

arbeitet der Ausgrenzung und der Stigmatisierung von Verschiedenheit entgegen und

die „Dezentralisierung“ fordert Verantwortung vor Ort, damit unterschiedliche auf den

jeweiligen Sozialen Raum passende Lösungen möglich werden.

Im Handlungsfeld „Netzwerk“ bleibt die Lebensweltorientierung auf einer glaubhaften,

aber ziemlichen vagen Stufe der Postulate. Hier sind sicherlich die Einflüsse aus der

Gemeinwesenarbeit auf die Sozialraumorientierung als prägender zu betrachten:

Lebensweltorientierte Soziale Arbeit „insistiert auf der Stärkung der erfahrenen

Lebensräume und sozialen Bezüge mit den in ihnen liegenden Möglichkeiten und

Ressourcen“ (Grunwald/Thiersch 2001, S. 1137) und „inszeniert soziale Beziehungen in

der Nachbarschaft, (…) unter Menschen, die in die gleichen Probleme involviert sind;

sie arrangiert Räume, Situationen und Gelegenheiten (…); sie engagiert sich (…) in

sozialen Netzen, auch im Stadtteil, in der Region.“ (Thiersch 2000, S. 27)

Im Handlungsfeld „Individuum“ betont die Lebensweltorientierung stets die

grundsätzlich autonome Zuständigkeit aller Menschen für ihren eigenen Alltag,

unabhängig von deren Unterstützungsbedürftigkeit. Die individuelle Lebenswelt wird

als „Gegenwelt zu gesellschaftlichen Enteignungsprozessen gesehen, als Ort

eigensinniger und zu respektierender Lebensarrangements“ (Grunwald/Thiersch 2001, S.

1139). Sie ist die „Schnittstelle von Objektivem und Subjektivem, von gesellschaftlich

geprägten Strukturen und subjektiv bestimmten Handlungsmustern“ (ebd.). Die

Lebenswelt ist professionell immer in ihrer Doppelsinnigkeit zu begreifen, als

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

24

sicherheitsgebende und identitätsstiftende Ressource und Routine und gleichermaßen

auch als borniert, einengende oder ausgrenzende Welt (ebd., S. 1140). „Formen

abweichenden Verhaltens werden als Ergebnis der Anstrengung gesehen, in den

gegebenen Verhältnissen zurecht zu kommen und müssen darin respektiert werden auch

wenn seine Ergebnisse unglücklich sind.“ (ebd., S. 1139) Die „Dialektik des

Gelingenden und Einschränkenden“ (ebd.) ist konstitutiv für die sozialarbeiterische

Betrachtung und resultiert in der Intervention in einer Spannung von Respekt und

Destruktion: „Respekt vor der Eigensinnigkeit von Lebenswelt, die durchgesetzt werden

muss gegen Traditionen Sozialer Arbeit, die (…) Anpassung an allgemeingültige

Normen“ oder fürsorgliche Belagerung praktizieren, und „Destruktion eben dieser

Eigensinnigkeit im Namen ihrer freieren Möglichkeiten, Destruktion als Provokation zu

den Möglichkeiten eines gelingenderen Alltags“ (ebd., S. 1143). Die Balance zwischen

Sich-Einlassen und Verstehen auf der einen Seite sowie Aufdecken, Problematisieren,

Provozieren und Strukturieren auf der anderen Seite ist immer wieder prekär. Deswegen

ist Hilfeplanung als Gegensatz zur Expertendiagnose ein Aushandlungsprozess, der

damit beginnen muss, Betroffene in Positionen zu bringen, wo sie gleichberechtigt

verhandeln können (ebd., S. 1144).

Tabellarische Zusammenstellung

Handlungsfelder des SONI-Schemas

Maximen der Lebensweltorientierung nach Thiersch

Sozialstruktur: Thematisierung von Ungleichheit und ungleichen Verteilungen von Einfluss, Besitz und diesbezüglichen Veränderungschancen

• Strukturmaxime „Prävention“ • Ziele der sozialen Gerechtigkeit, der Verringerung von materieller

Ungleichheit und Ungleichheit von Bildung, Zugang, Information, Gesundheit

• Forderung einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur • Strukturmaxime „Partizipation“ am gesellschaftspolitischen Diskurs • Thematisierung und Moralisierung sozialer Probleme • Forderung einer effektiven Jugendhilfe- und Sozialplanung

Organisation als organisatorischer, rechtlicher, wirtschaftlicher und fachlicher Rahmen, in dem sich professionelle Sozialarbeit materialisiert

• Strukturmaxime „Alltagsorientierung“ Ganzheitlichkeit und die Präsenz von Hilfe im Alltag.

• Abgrenzung gegen spezialisierte, arbeitsteilig profilierte Expertenherrschaft, stattdessen „Strategie der Einmischung“

• Problematisierung der Versäulung von gesetzlichen Regelungen, von Sozialverwaltungen und von freien Trägern

• Strukturmaxime „Partizipation“ Mitbestimmung , Einspruchs- und Beschwerderechte

• Strukturmaxime „Integration“ Verhinderung von Ausgrenzung und Anerkennung von Unterschiedlichkeit

• Strukturmaxime „Dezentralisierung“ Verantwortung vor Ort, sozialraumkompatible Arrangements

Netzwerke als • Forderung der Stärkung von Lebensräumen, sozialen Bezügen,

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

25

vorhandene oder herstellbare Beziehungen des Austausches, der Kooperation, des Vertrauens, der Solidarität zwischen Nachbarn, Bewohnern, Betroffenen, Mitarbeitern

sozialen Netzen, Selbsthilfegruppen, Quartieren • Betonung der Ressourcen und Gelegenheiten des Sozialen Raumes

Individuen als Interessen, Ressourcen- und Nachfrageträger

• Autonome Zuständigkeit aller Menschen für ihren eigenen Alltag • Lebenswelt als Ort eigensinniger und zu respektierender

Lebensarrangements • Doppelsinnigkeit von Lebenswelt: Ressource und Fessel • Abweichendes Verhalten als Lösungsversuch • Professionelle Spannung von Respekt und Destruktion im

sozialarbeiterischen Handeln • Berücksichtigung der strukturellen Bedingungen individueller Notlagen • Hilfeplanung als Bemächtigungs- und Aushandlungsprozess

3.6 Schnittmenge: Stadtteilarbeit

Sozialraumorientierung steht in der Tradition der Gemeinwesenarbeit. Das erklärt,

warum es der Sozialraumorientierung darum geht, Strukturen und nicht Menschen zu

verändern und zur Aktivierung, Selbstorganisation und Bemächtigung von Bürgern und

Adressaten Sozialer Arbeit beizutragen. Besonders der Ansatz der Stadtteilarbeit, für

den das Essener Institut für Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und Beratung (www.uni-

essen.de/issab) steht, brachte wertvolle Impulse für die Sozialraumorientierung, die sich

in den Begriffen „vom Fall zum Feld“, „fallunspezifische Arbeit“, „Sozialraumbudget“,

und „Orientierung am Willen“ in der Fachdiskussion niedergeschlagen haben. Insofern

können die Arbeiten des ISSAB als eine wesentliche Referenzlinie der

Sozialraumorientierung gelten. Gerade die einzelfallbezogenen und hoch

professionalisierten Erziehungshilfen haben von Wolfgang Hintes pointierten

Provokationen, die oft den Finger in die Wunden des Hilfesystems legen, profitieren

können, durch die Erweiterung ihrer Aufmerksamkeit in Richtung Sozialraum und die

Stärkung der Adressaten im Hilfeplanungsprozess (vgl. etwa Hinte 1991, 1993, 1997,

2002).

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

26

Fünf methodische Prinzipien bilden quasi das Leitbild der Essener Schule (ursprünglich

in Hinte/Karas (1989), Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel (2001): und ausführlich in

Hinte/Treeß 2006, S. 45ff):

1. Orientierung an den Interessen und am Willen

2. Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe

3. Nutzung der Ressourcen der Menschen und des Sozialraums

4. Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz

5. Kooperation und Koordination

Bevor wir ins Detail gehen, ist zu betonen, dass es sich gerade bei den ersten drei

Prinzipien um methodische Handlungsmaximen in der direkten Arbeit mit einzelnen

Adressaten(gruppen) handelt. Sie erfahren eine Verkehrung ins Gegenteil, wenn man sie

als sozialpolitische Maximen missbraucht. Eigeninitiative, Selbsthilfe und die sich im

Willen ausdrückende Eigenkraft können niemals Ersatz für gerechten sozialstaatlichen

Ausgleich sein. „Sozialraumorientierung zielt nicht auf Fürsorge, sondern auf die

Herstellung von Gerechtigkeit durch staatlich garantierte Unterstützung eigener

Aktivität in selbst bestimmten Lebenszusammenhängen. Es geht nicht darum, die

Gestrauchelten, vom Pech Verfolgten oder anderweitig Benachteiligten „wieder

aufzurichten“, sondern darum, Arrangements zu schaffen, in denen auch Menschen in

prekären Lebensverhältnissen unter gezielter und sorgfältig angesetzter öffentlicher

Unterstützung möglichst aus eigener Kraft ihr Leben leben können. Dies ist eine

sozialpädagogische, methodisch-konzeptionelle Sichtweise, die in keiner Weise den

Anspruch des Einzelnen auf sozialstaatliche Leistungen schwächt. Sozialpolitisch gilt es,

leistungsgesetzliche Ansprüche zu verteidigen und – wenn nötig – auszuweiten;

sozialpädagogisch bedarf es im Rahmen der Erfüllung solcher Leistungsansprüche

einer professionellen Haltung, aus der heraus die Leistungsberechtigten als Subjekte in

ihren aktiven, gestaltenden Anteilen gestärkt und herausgefordert werden.“ (Hinte /

Treeß 2006, S. 58)

Orientierung an den Interessen und am Willen

„Die Fachkräfte denken nicht darüber nach, was die Menschen in einem Wohnquartier

interessieren könnte, sondern fragen sie direkt nach deren Interessen und Bedürfnissen.

Ansatz der Arbeit ist immer der Wille bzw. die Betroffenheit einzelner Menschen oder

Gruppierungen.“ (Hinte/ Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 77)

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

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„Was regt Sie auf? Was wollen Sie ändern? Wie wollen Sie es machen, wie genau?

Wann werden Sie anfangen?“ Das sind Fragen, die kennzeichnend sind für die

„Orientierung an den Interessen und am Willen“. In Kurzform: Die Betroffenen - das

können Bewohner von Stadtteilen oder Adressaten von Einzelfallhilfe sein - definieren

den Bedarf und nicht die Experten. Sie legen fest, was sie wollen und werden nicht

darauf festgelegt, was sie brauchen. Die Betroffenen steuern den Prozess der

Hilfeerbringung, weil Sie selbst mit anpacken und es ihr Wille ist, der „die Leuchtfeuer

setzt“ (Hinte/Tress 2006, S. 47).

Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe

„Die Fachkräfte tun möglichst nichts ohne und vermeiden Aktionen für die Leute.

Vielmehr denken sie mit ihnen darüber nach, was diese selbst zur Verbesserung ihrer

Situation tun können und wenden sich erst in späteren Stadien mit betreuenden und

programmorientierten Angeboten an die

Wohnbevölkerung.“ (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 77)

Sozialstaatliche Leistungen können ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn sie

anschlussfähig sind an die Eigenkraft der Menschen, denen sie helfen sollen, weil sie zu

deren Alltag passen müssen und weil sie der Würde der Menschen zuträglich sein

müssen. Hilfe, die nur gibt und nichts erwartet, raubt den Menschen ihren Stolz. Wer

dagegen aus eigenen Kräften etwas erreicht, entwickelt Selbstwertgefühl, Kraft und

Hoffnung. Gute Sozialarbeit „hilft“ dadurch, dass sie die Betroffenen zu den

ausschlaggebenden Akteuren im Prozess macht, oder wie Alinsky es zutreffend

formuliert hat: „To give people help, while denying them a significant part in the action,

contributes nothing to the development of the individual. In the deepest sense, it is not

giving but taking - taking their identity.” (Alinsky 1972, S. 123)

Nutzung der Ressourcen der Menschen und des Sozialraums

„Sozialraumorientierte Ansätze richten ihr Augenmerk immer auf die Stärken der

Menschen, die sich oft sogar in den vermeintlichen Defiziten abbilden. (…) Räume,

Nachbarschaften, Plätze, Natur, Straßen, aber auch die vorhandene Unternehmens- und

Dienstleistungsstruktur im Quartier und darüber hinaus sind bedeutsame Ressourcen,

die man nutzen und durch kluge Vernetzung effektivieren

kann.“ (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2001, S. 78)

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

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Menschen und Soziale Räume verfügen über Ressourcen und Möglichkeiten, von denen

das professionelle Hilfesystem oftmals überhaupt nichts weiß, auf deren Nutzung zu

verzichten aber bestenfalls ineffiziente Ressourcenverschwendung ist. Die

Selbstbezogenheit von Einrichtungen und Diensten, die sich nicht mit den Ressourcen

ihrer Klienten und Stadtteile auskennen, führt zur primären Nutzung standardisierter

professioneller Hilfeformen und zur sich selbst bestätigenden Überzeugung, dass in der

Lebenswelt „nichts zu holen ist“. Schlimmstenfalls geschieht eine passiv und abhängig

machende Kolonialisierung durch eine selbstreferentielle Hilfeindustrie. Die

Anwendung sozialstaatlich garantierter psychosozialer Hilfeleistungen muss die ihnen

innewohnende Paradoxie genauestens reflektieren: Auf nachhaltige Selbsthilfe zielende

Hilfeprozesse werden erst durch anspruchsbegründende Defizit-Diagnosen möglich.

Gleiches gilt für Stadtteile, die erst durch die Auszeichnung „sozialer Brennpunkt“ in

den „Genuss“ von Geldern zu Strukturentwicklung kommen. Die Vorstellung, dass

Defizite durch externe Ressourcenzufuhr behoben werden können, funktioniert bei

monetären sozialstaatlichen Transferleistungen und bei Dienstleistungen (z. B. manche

medizinische), deren Wirkung mit Alltag und Persönlichkeit der Kunden wenig zu tun

haben. Wenn sich jedoch Dienstleistungen auf den Alltag, auf die sozialen Bezüge und

auf die Persönlichkeit von Menschen beziehen, hängt die Wirksamkeit in fundamentaler

Weise von deren Eigenkraft, Lebensroutinen, Willen und Netzwerken ab. Eine schlichte

Übertragung kurativer oder substitutiver Modelle hingegen verursacht Nebenfolgen, die

gewünschte Wirkungen ins Gegenteil verkehren können.

Zielgruppen- und bereichsübergreifender Ansatz

Das Ideal sozialräumlicher Arbeit ist nicht die „Behandlung“ der „zur Zielgruppe

degradierte(n) Randgruppe“ (Hinte/Tress 2006, S. 72). In Stadtteilprojekten sucht man

nach Kristallisationspunkten für gebietsbezogene Aktivitäten, an denen sich alle Bürger

beteiligen können. In der sozialräumlichen Jugendarbeit geht es um die Ermöglichung

von Mehrfachnutzung und Aneignung öffentlicher Räume durch Kinder und

Jugendliche und um die Aktivität von Jugendeinrichtungen im Sozialen Raum

außerhalb der eigenen Immobilie. Sozialraumorientierte Hilfen zur Erziehung

favorisieren Lösungsarrangements für Kinder, Jugendliche und Familien, die nicht in

Spezialsettings aussondern, sondern das Potential von Regeleinrichtungen für inklusive

Hilfeleistungen nutzen. Solche Ziele sind mit den Mitteln, Zuständigkeiten und

Ressourcen des engeren sozialen Bereiches allein nicht zu erreichen, vielmehr braucht

Früchtel/Cyprian/Budde: Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen

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man die Mitwirkung von Sektoren wie Schulpolitik, Wohnungsbau, Stadtplanung,

Wirtschaftförderung und Beschäftigungspolitik. Obgleich sozialräumliche Soziale

Arbeit immer mit individuellen und stadtteilbezogenen Notlagen befasst sein wird,

reduziert sie sich nicht auf eine spezialisierte Feuerwehrfunktion, sondern konzipiert

ihre Intervention immer auch als Kooperations- und Einmischungsstrategie in andere

Ressorts, die mitunter wesentlich mehr zu Problemlösungen beitragen können als die

Soziale Arbeit selbst. In jedem Einzelfall und jedem Einzelprojekt muss auf den durch

feinteilige sozialstaatliche Regelungen und funktionale Differenzierung erzwungenen

Facettenblick der sozialen Dienste und Einrichtungen ein Weitwinkelobjektiv

aufgeschraubt werden, um integrative und strukturelle Lösungswege in den Blick zu

bekommen.

Kooperation und Koordination

„Über vielfältige Foren (,Vernetzung’) werden im Wohnquartier tätige bzw. dafür

zuständige (professionelle und ehrenamtliche) Akteure aus verschiedenen Bereichen

angeregt, Kooperationen bezogen auf Einzelfälle, Gruppierungen und Aktionen

abzusprechen und gemeinsame Projekte zu entwickeln und

durchzuführen.“ (Hinte/Treeß 2006, S. 76)

Die kontexterweiternde sozialräumliche Arbeitsweise (s.o.) erfordert vielgestaltige

Kooperationen mit unterschiedlichsten Organisationen und Zusammenschlüssen, die

über die Zusammenarbeit sozialpädagogischer Fachkräfte hinausgeht und andere

Professionen, Verwaltungsressorts, Wirtschaft, vor allem aber auch den Bereich der

Vereine, Verbände, Kirchengemeinden, Initiativen und die nicht organisierten Bürger

im Stadtteil einschließt. Vernetzung ist dabei kein Selbstzweck, sondern muss sich an

ihren Ergebnissen messen lassen, für die Verbesserung der Lebensqualität im Stadtteil,

die Partizipation der Bürger, die Bereicherung von Diensten durch Ressourcen des

Sozialen Raums und die Generierung von maßgeschneiderten Lösungsarrangements in

der Fallarbeit.