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Bleue Äd|cr ^rilling WOCHENENDE Samsug/Sonnug, 1O./1 I.Oktober 1987 Nr. 235 85 Couturemodelle, der Perlen und Diamanten in kostbaren Fas- sungen. Esmeralda lächelte. Niemand hatte ihr davon erzählt. Sie lächelte noch immer, als ich aufgehört hatte zu sprechen. Dann nahm sie die dunkle Brille ab, und ich sah in ein Paar blicklose Augen. Jom Bach Unterwegs notiert Galerie Alaska Wir fliegen nach Westen, um im Osten anzukommen. Pa- ris-Seoul. Die Polarroute. Nach sechs Stunden Atlantik breitet sich eine gleissende Ebene unter uns aus. Das Grauweiss des ver- eisten Nordmeeres vereint sich mit dem makellosen Blau des Himmels. Kompaktgefrorenes in endloser Eintönigkeit. Kein farbiger Strich mehr, wie er auf der ozeanen Wellenweite gele- gentlich Kunde von einem einsamen Schiff gab; nirgends ein Dorf, keine menschliche Spur. Totale in toter Tristesse, wie ge- schaffen, um die Langeweile solch interkontinentalen Luft- sprunges zu illustrieren. Die grelle Fernsicht zwingt zum Blin- zeln. Allmählich schieben sich Wandlungen in den Blick, der, von vier Triebwerken beschleunigt, mit neunhundert Kilometern pro Stunde über die Weite schweift. Einzelheiten werden erkenn- bar, Schattierungen, Zeichen. Aus dem erstarrten Meer steigt unter Gletscherlast liegendes Land auf: Alaska. Das «Inflight»- Magazin vermag nicht länger zu fesseln; der Krimi aus dem Handgepäck verliert an Reiz. Wirklich erregendes Schauspiel findet da draussen, da unten statt. Was in der erdverbundenen Durchquerung das Abenteuer einer Expedition wäre, ein Vor- stoss mit Schlittenhunden, Muskeln, Kompass, Pelzen, das wird für den Überflieger zum entrückten Anschauungsobjekt. Keine Turbulenz stört die Aussicht; wolkenlos das Firmament; so strahlend rein, als stünde nirgends auf dieser Erde ein rauchen- der Schlot. Das kristallklare Licht lässt Distanzen schrumpfen. Ich schaue. Dort hat ein gigantischer Meissel eine monumen- tale Plastik aus Felsgestein in die Landschaft geschlagen. Dane- ben malte ein geheimnisvoller Pinsel, Flussläufen folgend, die Bandmuster griechischer Vasen in den Grund. Mit kilometerlan- gen Linealen sind Striche übers Eis gezogen, die sich in fernen Parallelen verlieren oder als Schachbrett zusammenfügen. Dann wieder ist das Eis wie feinstes Porzellan von spinnenneztartigen Krakelüren durchzogen. Kurven, Kratzer, Kreise in einem ei- genartigen Geflecht mäandrierender Wasserwege. Silbern schim- mernde Seen leuchten als Aquarelle aus der Tiefe. Was Künst- lern aller Epochen herausforderndes Ideal war, scheint eingelöst zu sein: als seien die Werke für die Ewigkeit geschaffen, so fügt sich in dieser Perspektive ein Alaska-Ausschnitt an den anderen. Das ovale Fenster wird zum Wechselrahmen zeitloser Kunst, der Flug eine Vernissage, das Flugzeug eine Galerie; und es mangelt an keiner Zugabe, den ästhetischen Genuss zu steigern. Die Stewardess serviert asiatisch lächelnd gekühlten Champagner. Im Kopfhörer ertönt Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 D-Dur. Ich höre. Lyrische Schmeichelei wird von dramatischem Fu- rioso hinweggefegt, ein spannungsgeladener Bezug zu jenem ei- sigen Schweigen dort unten. Kaum klingt sinfonisch e Idylle an, folgt ihr ein Wechsel in Moll. Das ist Pathos von grandioser Wucht. Son et turniere. Der Schauer Mahlerscher Masslosigkeit mischt sich in die Graphiken düsterer Dimensionen. Kein Rot, kein Grün, kein Gelb, nur zarteste Zwischentöne im schwarz- weissen Kontrast. Zuweilen schimmert ein Gipfel cremig leicht in Flamingorosa. Die schrägstehende Sonne zeichnet die ver- schneiten Runzeln der guten alten Erde mit scharfem Schlag- schattenstift nach. Flussschleifen graben rätselhafte Chiffren in den Boden, eine vieldeutige Botschaft aus Urzeiten vermittelnd. Ich suche nach einem Titel für diese Bilder in der Galerie Alas- ka. Der Tag vor der Schöpfung? Oder der danach? Rüdiger Sieben Mögliche Geschichten Braves Julchen Zuerst die Ballettschuhe - die hasst Julia am allermeisten - mit diesen preziösen rosaroten Schnürbändern, den auserlesenen Weichledersohlen: die müssen als erste weg. Artig und fleissig ist es, dazu überdurchschnittlich begabt, das kleine Julchen, das zielstrebige n Schrittes den Pausenhof durchquert mit seiner Mappe und dem schweren Geigenkasten. Es geht allein, wie immer, bahnt sich stumm den Weg an Grup- pen tuschelnder Mädchen vorbei, macht einen Bogen um die raufenden Buben und wirft einen flüchtigen Blick zurück auf die grosse runde Uhr über dem Eingang des Schulgebäudes: Julchen hat keine Zeit, Julchen hat nie Zeit, immer muss es nach der Schule zur Entfaltung seiner mannigfachen Talente noch irgend- welche Kurse oder Stunden besuchen. Ballett am Montag und Freitag, Zeichnen am Dienstag, Geige am Donnerstag; nur der Mittwoch wäre frei, aber am Mittwoch übt es für die nächsten Stunden. Folgt das kostbare Ballettkleid aus schönem himmelblauem Satin, das gleich vom ersten Wirbel in die Tiefe gesogen wird. Aus Julchen wird etwas werden, soviel steht fest. Das Zeug zu einer Ballerina hat es: aber auch mit Bogen oder Pinsel kann Julchen es ganz schön weit bringen, wenn es nur regelmässig und intensiv übt und die Begeisterung nicht nachlässt. Doch Jul- chen ist ein vernünftiges Kind, sieht in seinem frühen Alter schon ein, wie gut es ist, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Während seine Kameraden nach der Schule zusammen noch in Schaufen- ster gucken, ein Plattengeschäft oder McDonald aufsuchen, läuft es auf geradestem Weg in seinen Spezialunterricht, bildet sich weiter, macht Fortschritte. Julchen ist von Natur schon den rich- tigen Dingen zugetan, liest lieber den «Grünen Heinrich» als Comics und mag die «Zauberflöte» über alles; Rockstars kennt es schon gar nicht. Nächste Opfer werden der Zeichenblock mit den Skizzen von Teekannen, Tischen und Stühlen in komplizierten Perspektiven und die Malstifte: lauter bunte Stäbchen, die geruhsam davon- schwimmen. Heute aber, statt für die Geigenstunde vom Schulhof nach rechts abzubiegen, schlägt Julchen einen neuen Weg ein; es läuft rheinwärts, steigt bei der Schifflände die Treppen hinab zum Wasser und setzt sich unter den Brückenpfeiler, wo abends Lie- bespaare zusammen sind, setzt sich eben um die Zeit, da die Gei- genstunde angefangen hätte. Es riecht nach Tang und Chemika- lien. Das Wasser, abstossend trüb, strömt laut rauschend unter der feuchten Wölbung der Brücke vorbei. Zuletzt lässt Julia Geige samt Kasten ins Wasser gleiten. Als das schwarze schwimmende Ding, das sie plötzlich an den Sarg eines Säuglings erinnert, gegen den Pfeiler prallt und ihren Blik- ken entschwindet, hat Julia aufgehört, das artige, fleissige und überdurchschnittlich begabte Julchen zu sein. Auf dem Heimweg will sie ihr Tramgeld für ein Coca im McDonald's ausgeben und sich im nächsten Plattengeschäft endlich auch einmal Madonna anhören, nach der die ganze Klasse verrückt ist. Alexandra Lavizzari Skurrile Geschichten Das Hin und das Her Ein Hin und ein Her gingen einmal zusammen spazieren. Es war ein schöner warmer Tag, und sie gingen durch eine Kasta- nienallee. Sie taten sehr hübsch parlieren, und das gemeinsame Spazieren gefiel ihnen gut. Doch nach einer halben Stunde sagte das Hin: «Ich will nach Hin und nicht nach Her und sonst nir- gendwo hin.» Und das Her sagte: «Und ich will nach Her und nicht nach Hin, sonst will ich nirgendwo hin.» Und die Wege der beiden trennten sich nach sehr kurzer Zeit. Frilz sauter Rätsel Rätsel Rätsel Ratsei Rabe! Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel Rätse l Rätsel Rätselrezept Nr. 52 Keine Sorgen wegen Xidur Ein Wildschwein unter den Arm geklemmt, die Hälse zweier Wildgänse mit den Zähnen fest- haltend und einen Bären über der Schulter, strebt Odgal 2 seinem Heim, dem Obermeile- mer Pfahlbaudorf, zu. Draussen im See wirft Grossvater Odgal I vom Einbaum die Fisch- netze aus, und Mutter Mimoma sehen wir auf dem Pfahlrost vor einer Hütte sitzend Odgal 3 ihre pralle Brust darbieten, während sie mit der rechten Hand Honigkuchen für den Kleinen knetet; Kinder waren schon damals Schleck- mäuler. So, oder meinetwegen auch einige Nuancen weniger romantisch, stellte man sich vor 100 Jahren das Leben jungstein- zeitlicher Pfahlbauer vor, und nicht anders wurde es in vielen Gedichten, Erzählungen, Romanen und Bildern dargestellt. Man könnte eine dieser Darstellungen noch ergänzen und hinten auf dem Pfahlrost vor untergehender Sonne Grossmutter Urkla mit der Wollspindel in der Hand und vorne rechts die mit einem Fell bekleidete hübsche Siguna zeigen. Aber was ist denn mit Siguna los? Sie hat ja ganz verweinte Augen! Eben hat sie der Grossmutter Urkla ihren ersten Ehekrach anvertraut: Kla- man, ihr Heissgeliebter, hatte wütend das Essen hingeworfen, etwas von «mickrigem Frass» gemurmelt und war dann aus der Hütte gerannt. Dabei h a t t e sich Siguna solche Mühe gegeben. Auf ein Häufchen mit etwas saurem Met und Mohnöl angerich- teten Feldsalat hatte sie noch warm drei Streifen Rehkitzenmark gelegt. Genau so, wie sie es im Kochkurs bei Agnambe gelernt hatte. Gestern schon hatte Klaman ein böses Gesicht gemacht, als sie ihm ein mit Fischrogen garniertes Emmerplätzchen ge- reicht hatte. In zwei Bissen hatte er die Köstlichkeit hinunterge- schluckt und dabei nicht einmal bemerkt, dass Siguna das Plätz- chen nach dem neuesten Rezept von Agnambe mit feingeschnit- tenem Ampfer gewürzt hatte. Oh, Siguna wusste ganz genau, wo Klaman dann hingegan- gen war. Zum Nachbardorf war er hinübergerudert, zu Xidur, der grünäugigen Hexe. Sicher hatte er sich dort mit einem fetten Auerochsengnagi vollgestopft, wenn nicht gar Schlimmeres ge- tan. «Die Männer wollen eben immer dasselbe», hatte ihr Gross- mutter Urkla statt eines Trostes gesagt. «Sie wollen eine kräftige Suppe, ein warmes Bett» - Siguna war leicht errötet - «und ein aufmerksames Ohr, wenn sie von ihren Heldentaten erzählen! Wenn du Klaman das alles gibst, brauchst du dir wegen der Hexe Xidur keine Sorgen zu machen!» «Was für eine Suppe?» hatte Siguna noch gefragt. «Da gibt es viele», antwortete Grossmutter Urkla. «Zum Beispiel diese: Zieh zuerst in Fett einige Fleischwürfel an und köchle sie mit einem Schinkenbein eine Zeitlang in Wasser. Dann gibst du grobgeschnittenes Feldkorn, etwas feingeschnittene Rüebli und Sellerie bei. Würzen tust du mit wildem Thymian, Bärenklau und Apfelessig. Wenn alles gar ist, gibst du gekochte, in Streifen geschnittene Randen - deine Tante sagt dem rote Bete - hinzu. Bevor du die Suppe aufträgst, kannst du noch etwas sauer ge- wordenen Rahm unterrühren. Das ist eine Suppe, die es schon lange gibt und noch lange geben wird.» Urkla hatte recht. Diese Suppe gibt es heute noch. Sie ist eine der vielen sauren Suppen, die bis ins letzte Jahrhundert hinein in ganz Europa üblich waren. Heute ist unsere Suppe nur noch im Osten populär, im Westen ist sie fast nur noch auf den Speise- karten exklusiver Restaurants zu finden. Wie heisst sie? Rene Simmen PS: Was vielleicht noch interessieren könnte: Wie hat Siguna das Süppchen gekocht? Die Tontöpfe der damaligen Zeit konn- ten nur bei niedriger Hitze (650 bis 700 Grad) gebrannt werden, waren porös, und bestenfalls liess sich mit ihne n auf offenem Feuer mit Vorsicht ein Brei köcheln. Siguna könnte die Suppe so gekocht haben, wie Funde bei Yverdon vermuten lassen. Die dort in Mengen aufgefundenen, von Hitze gespaltenen Steine dürften - in Kochgruben, ausgehöhlte Baumstämme und Töpfe gelegt - dazu gedient haben, Fleisch und andere Speisen zu garen. Eine Methode, die zum Teil noch heute aus nostalgischen Gründen auf Südseeinseln praktiziert wird. Lifträtsel «Übel» Das Parterrewort Übel ist nach oben links und rechts in je acht Etagewörter zu verwandeln: Schrägziffer - sovielten Buch- staben des unteren Wortes streichen. Schrägstrich - Restbuch- staben des unteren Wortes mehr oder weniger umstellen. Waag- rechtstrich = 1 Restbuchstabe des unteren Wortes für die Bil- dung des oberen. Punkt 1 neuen Buchstaben einsetzen. Senk- rechtstrich - Buchstabe darunter für die Bildung der Schlusslö- sung. H- 4 V6£ schenaffe, 6. afrikanische Hauptstadt, 7. kleines Hagelkorn, 8. Berichtigung. Rechts: 1. Weisswal, 2. deutscher Theaterleiter und Regisseur ( 3. Südosteuropäer, 4. Männername, 5. europäische Hauptstadt, 6. rheinpfälzisches Adelsgeschlecht, 7. astronomi- scher Begriff, 8. deutsches Bundesland. Schlusslösung: Die Buchstaben unter den Senkrechtstrichen, etagenweise von links nach rechts und von 8 bis 1 aneinanderge- reiht, nennen fünf Ball- und Kugelspieler. Homonym Nr. 73 Im Lauf des Lebens fällt es eher schwer. Erlittner Schaden hindert uns daran. Doch schadet seiner eignen Seele, wer zu klug geworden nicht mehr dieses kann. Der Pfarrer aber tut es mit Genuss und lieber, als er zum Begräbnis spricht, obwohl er aus Erfahrung wissen muss: zum seligen Frieden führt es meistens nicht. Irene Miline Additionsrätsel Nr. 52 REGEN + S CHN E HERBST Wohl dem. der bei solchem Wetter Sonne im Herzen hat und im warmen Stübchen gerne rechnet! Wer also die Buchstaben durch die richti- gen Zahlen ersetzt - wie im- mer darf eine bestimmte Zahl nur einen Buchstaben vertre- ten und die Null nirgends zu- vorderst stehen - erhält eine korrekte Addition. Phihrilhmos Links: 1. Ersatzspieler im Film, 2. deutscher Landschaftsma- ler (1740-1799), 3. sagenhafter Sänger des Königs Richard Lö- wenherz, 4. französischer Schriftsteller (1866-1944), 5. Men- ( Losungen aller Rätsel in der nächsten *Wochenende»-Ausgabe) Rätsellösungen Kreuzworträtsel Nr. 365 Waagrecht: 1 Anstandsregel, 13 Lauge, 14 Puder, 16 (La)ub, 18 crescendo, 20 S(ei)l, 21 S(a)rd(e), 23 San, 24 kti, 25 Haar, 26 Herde, 28 (Wild)bret, 29 (Kap)aun, 30 beliebt, 32 Erz(eugen), 33 Enkelin, 35 Reibung, 37 Gral, 38 nroZ, 39 Dressur, 42 Edelgas, 44 -ieb, 45 enigmas, 47 arc(hiver), 48 (Macht)gier, 49 Gneis, 50 inch, 51 unt(adelig), 53 (Le)nin (Anals Nin), 55 (Rin)ghe(ft), 56 (Bei)ne, 57 Verslehre, 61 Ei, 62 l'aria, 63 Norma, 65 Handels- zweige. Senkrecht: 2 NL, 3 sac, 4 Turm(uhr), 5 -age, 6 Nesseln, 7 Spender, 8 run, 9 Edda, 10 geo-, 1 1 (unt)er, 12 Aushändigung, 15 blitzgescheit, 17 Braun-, 19 cari, 20 (Isaac) Stern, 22 Dankgebet, 24 Kreuzgang, 26 Heilung, 27 ebendas, 30 Blase, 31 tires, 34 (Ob)ers, 36 boL, 40 Reine, 41 Rinnsal, 42 Eminenz, 43 Arche, 46 (Biber)geil, 52 Herd (Dreh), 54 erre, 57 van, 58 -rie, 59 how, 60 EMI, 62 La(dung), 64 (N)ag(el). ;S Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.1987

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BleueÄd|cr ^rilling WOCHENENDE Samsug/Sonnug, 1O./1 I.Oktober 1987 Nr. 235 85

Couturemodelle, der Perlen und Diamanten in kostbaren Fas-sungen. Esmeralda lächelte. Niemand hatte ihr davon erzählt.Sie lächelte noch immer, als ich aufgehört hatte zu sprechen.

Dann nahm sie die dunkle Brille ab, und ich sah in ein Paarblicklose Augen.

Jom Bach

Unterwegs notiert

Galerie AlaskaWir fliegen nach Westen, um im Osten anzukommen. Pa-

ris-Seoul. Die Polarroute. Nach sechs Stunden Atlantik breitetsich eine gleissende Ebene unter uns aus. Das Grauweiss des ver-eisten Nordmeeres vereint sich mit dem makellosen Blau desHimmels. Kompaktgefrorenes in endloser Eintönigkeit. Keinfarbiger Strich mehr, wie er auf der ozeanen Wellenweite gele-gentlich Kunde von einem einsamen Schiff gab; nirgends einDorf, keine menschliche Spur. Totale in toter Tristesse, wie ge-schaffen, um die Langeweile solch interkontinentalen Luft-sprunges zu illustrieren. Die grelle Fernsicht zwingt zum Blin-zeln. Allmählich schieben sich Wandlungen in den Blick, der,

von vier Triebwerken beschleunigt, mit neunhundert Kilometernpro Stunde über die Weite schweift. Einzelheiten werden erkenn-bar, Schattierungen, Zeichen. Aus dem erstarrten Meer steigt

unter Gletscherlast liegendes Land auf: Alaska. Das «Inflight»-Magazin vermag nicht länger zu fesseln; der Krimi aus demHandgepäck verliert an Reiz. Wirklich erregendes Schauspiel

findet da draussen, da unten statt. Was in der erdverbundenenDurchquerung das Abenteuer einer Expedition wäre, ein Vor-stoss mit Schlittenhunden, Muskeln, Kompass, Pelzen, das wirdfür den Überflieger zum entrückten Anschauungsobjekt. KeineTurbulenz stört die Aussicht; wolkenlos das Firmament; so

strahlend rein, als stünde nirgends auf dieser Erde ein rauchen-der Schlot. Das kristallklare Licht lässt Distanzen schrumpfen.

Ich schaue. Dort hat ein gigantischer Meissel eine monumen-tale Plastik aus Felsgestein in die Landschaft geschlagen. Dane-ben malte ein geheimnisvoller Pinsel, Flussläufen folgend, dieBandmuster griechischer Vasen in den Grund. Mit kilometerlan-gen Linealen sind Striche übers Eis gezogen, die sich in fernenParallelen verlieren oder als Schachbrett zusammenfügen. Dannwieder ist das Eis wie feinstes Porzellan von spinnenneztartigen

Krakelüren durchzogen. Kurven, Kratzer, Kreise in einem ei-genartigen Geflecht mäandrierender Wasserwege. Silbern schim-mernde Seen leuchten als Aquarelle aus der Tiefe. Was Künst-lern aller Epochen herausforderndes Ideal war, scheint eingelöst

zu sein: als seien die Werke für die Ewigkeit geschaffen, so fügt

sich in dieser Perspektive ein Alaska-Ausschnitt an den anderen.Das ovale Fenster wird zum Wechselrahmen zeitloser Kunst, derFlug eine Vernissage, das Flugzeug eine Galerie; und es mangelt

an keiner Zugabe, den ästhetischen Genuss zu steigern. DieStewardess serviert asiatisch lächelnd gekühlten Champagner.

Im Kopfhörer ertönt Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 D-Dur.Ich höre. Lyrische Schmeichelei wird von dramatischem Fu-

rioso hinweggefegt, ein spannungsgeladener Bezug zu jenem ei-sigen Schweigen dort unten. Kaum klingt sinfonische Idylle an,folgt ihr ein Wechsel in Moll. Das ist Pathos von grandioser

Wucht. Son et turniere. Der Schauer Mahlerscher Masslosigkeit

mischt sich in die Graphiken düsterer Dimensionen. Kein Rot,kein Grün, kein Gelb, nur zarteste Zwischentöne im schwarz-weissen Kontrast. Zuweilen schimmert ein Gipfel cremig leichtin Flamingorosa. Die schrägstehende Sonne zeichnet die ver-schneiten Runzeln der guten alten Erde mit scharfem Schlag-

schattenstift nach. Flussschleifen graben rätselhafte Chiffren inden Boden, eine vieldeutige Botschaft aus Urzeiten vermittelnd.Ich suche nach einem Titel für diese Bilder in der Galerie Alas-ka. Der Tag vor der Schöpfung? Oder der danach?

Rüdiger Sieben

Mögliche Geschichten

Braves JulchenZuerst die Ballettschuhe - die hasst Julia am allermeisten -

mit diesen preziösen rosaroten Schnürbändern, den auserlesenenWeichledersohlen: die müssen als erste weg.

Artig und fleissig ist es, dazu überdurchschnittlich begabt,

das kleine Julchen, das zielstrebigen Schrittes den Pausenhofdurchquert mit seiner Mappe und dem schweren Geigenkasten.

Es geht allein, wie immer, bahnt sich stumm den Weg an Grup-pen tuschelnder Mädchen vorbei, macht einen Bogen um dieraufenden Buben und wirft einen flüchtigen Blick zurück auf diegrosse runde Uhr über dem Eingang des Schulgebäudes: Julchenhat keine Zeit, Julchen hat nie Zeit, immer muss es nach derSchule zur Entfaltung seiner mannigfachen Talente noch irgend-

welche Kurse oder Stunden besuchen. Ballett am Montag undFreitag, Zeichnen am Dienstag, Geige am Donnerstag; nur derMittwoch wäre frei, aber am Mittwoch übt es für die nächstenStunden.

Folgt das kostbare Ballettkleid aus schönem himmelblauemSatin, das gleich vom ersten Wirbel in die Tiefe gesogen wird.

Aus Julchen wird etwas werden, soviel steht fest. Das Zeug zueiner Ballerina hat es: aber auch mit Bogen oder Pinsel kann

Julchen es ganz schön weit bringen, wenn es nur regelmässig

und intensiv übt und die Begeisterung nicht nachlässt. Doch Jul-chen ist ein vernünftiges Kind, sieht in seinem frühen Alterschon ein, wie gut es ist, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Währendseine Kameraden nach der Schule zusammen noch in Schaufen-ster gucken, ein Plattengeschäft oder McDonald aufsuchen, läuftes auf geradestem Weg in seinen Spezialunterricht, bildet sichweiter, macht Fortschritte. Julchen ist von Natur schon den rich-tigen Dingen zugetan, liest lieber den «Grünen Heinrich» alsComics und mag die «Zauberflöte» über alles; Rockstars kenntes schon gar nicht.

Nächste Opfer werden der Zeichenblock mit den Skizzen vonTeekannen, Tischen und Stühlen in komplizierten Perspektiven

und die Malstifte: lauter bunte Stäbchen, die geruhsam davon-schwimmen.

Heute aber, statt für die Geigenstunde vom Schulhof nachrechts abzubiegen, schlägt Julchen einen neuen Weg ein; es läuftrheinwärts, steigt bei der Schifflände die Treppen hinab zumWasser und setzt sich unter den Brückenpfeiler, wo abends Lie-bespaare zusammen sind, setzt sich eben um die Zeit, da die Gei-genstunde angefangen hätte. Es riecht nach Tang und Chemika-lien. Das Wasser, abstossend trüb, strömt laut rauschend unterder feuchten Wölbung der Brücke vorbei.

Zuletzt lässt Julia Geige samt Kasten ins Wasser gleiten. Alsdas schwarze schwimmende Ding, das sie plötzlich an den Sarg

eines Säuglings erinnert, gegen den Pfeiler prallt und ihren Blik-ken entschwindet, hat Julia aufgehört, das artige, fleissige undüberdurchschnittlich begabte Julchen zu sein. Auf dem Heimweg

will sie ihr Tramgeld für ein Coca im McDonald's ausgeben undsich im nächsten Plattengeschäft endlich auch einmal Madonnaanhören, nach der die ganze Klasse verrückt ist.

Alexandra Lavizzari

Skurrile Geschichten

Das Hin und das HerEin Hin und ein Her gingen einmal zusammen spazieren. Es

war ein schöner warmer Tag, und sie gingen durch eine Kasta-nienallee. Sie taten sehr hübsch parlieren, und das gemeinsameSpazieren gefiel ihnen gut. Doch nach einer halben Stunde sagte

das Hin: «Ich will nach Hin und nicht nach Her und sonst nir-gendwo hin.» Und das Her sagte: «Und ich will nach Her undnicht nach Hin, sonst will ich nirgendwo hin.» Und die Wege

der beiden trennten sich nach sehr kurzer Zeit. Frilz sauter

Rätsel Rätsel Rätsel Ratsei Rabe! Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel Rätsel

Rätselrezept Nr. 52

Keine Sorgen wegen XidurEin Wildschwein unter den Arm geklemmt, dieHälse zweier Wildgänse mit den Zähnen fest-haltend und einen Bären über der Schulter,strebt Odgal 2 seinem Heim, dem Obermeile-mer Pfahlbaudorf, zu. Draussen im See wirftGrossvater Odgal I vom Einbaum die Fisch-netze aus, und Mutter Mimoma sehen wir aufdem Pfahlrost vor einer Hütte sitzend Odgal 3

ihre pralle Brust darbieten, während sie mit derrechten Hand Honigkuchen für den Kleinenknetet; Kinder waren schon damals Schleck-

mäuler. So, oder meinetwegen auch einige Nuancen wenigerromantisch, stellte man sich vor 100 Jahren das Leben jungstein-

zeitlicher Pfahlbauer vor, und nicht anders wurde es in vielenGedichten, Erzählungen, Romanen und Bildern dargestellt.

Man könnte eine dieser Darstellungen noch ergänzen undhinten auf dem Pfahlrost vor untergehender Sonne GrossmutterUrkla mit der Wollspindel in der Hand und vorne rechts die miteinem Fell bekleidete hübsche Siguna zeigen. Aber was ist dennmit Siguna los? Sie hat ja ganz verweinte Augen! Eben hat sieder Grossmutter Urkla ihren ersten Ehekrach anvertraut: Kla-man, ihr Heissgeliebter, hatte wütend das Essen hingeworfen,

etwas von «mickrigem Frass» gemurmelt und war dann aus derHütte gerannt. Dabei h a t te sich Siguna solche Mühe gegeben.

Auf ein Häufchen mit etwas saurem Met und Mohnöl angerich-

teten Feldsalat hatte sie noch warm drei Streifen Rehkitzenmarkgelegt. Genau so, wie sie es im Kochkurs bei Agnambe gelernt

hatte. Gestern schon hatte Klaman ein böses Gesicht gemacht,

als sie ihm ein mit Fischrogen garniertes Emmerplätzchen ge-

reicht hatte. In zwei Bissen hatte er die Köstlichkeit hinunterge-

schluckt und dabei nicht einmal bemerkt, dass Siguna das Plätz-chen nach dem neuesten Rezept von Agnambe mit feingeschnit-

tenem Ampfer gewürzt hatte.Oh, Siguna wusste ganz genau, wo Klaman dann hingegan-

gen war. Zum Nachbardorf war er hinübergerudert, zu Xidur,der grünäugigen Hexe. Sicher hatte er sich dort mit einem fettenAuerochsengnagi vollgestopft, wenn nicht gar Schlimmeres ge-

tan.

«Die Männer wollen eben immer dasselbe», hatte ihr Gross-mutter Urkla statt eines Trostes gesagt. «Sie wollen eine kräftigeSuppe, ein warmes Bett» - Siguna war leicht errötet - «und einaufmerksames Ohr, wenn sie von ihren Heldentaten erzählen!Wenn du Klaman das alles gibst, brauchst du dir wegen derHexe Xidur keine Sorgen zu machen!»

«Was für eine Suppe?» hatte Siguna noch gefragt. «Da gibt

es viele», antwortete Grossmutter Urkla. «Zum Beispiel diese:Zieh zuerst in Fett einige Fleischwürfel an und köchle sie miteinem Schinkenbein eine Zeitlang in Wasser. Dann gibst dugrobgeschnittenes Feldkorn, etwas feingeschnittene Rüebli undSellerie bei. Würzen tust du mit wildem Thymian, Bärenklauund Apfelessig. Wenn alles gar ist, gibst du gekochte, in Streifengeschnittene Randen - deine Tante sagt dem rote Bete - hinzu.Bevor du die Suppe aufträgst, kannst du noch etwas sauer ge-

wordenen Rahm unterrühren. Das ist eine Suppe, die es schonlange gibt und noch lange geben wird.»

Urkla hatte recht. Diese Suppe gibt es heute noch. Sie ist eineder vielen sauren Suppen, die bis ins letzte Jahrhundert hinein inganz Europa üblich waren. Heute ist unsere Suppe nur noch imOsten populär, im Westen ist sie fast nur noch auf den Speise-

karten exklusiver Restaurants zu finden. Wie heisst sie?

Rene Simmen

PS: Was vielleicht noch interessieren könnte: Wie hat Siguna

das Süppchen gekocht? Die Tontöpfe der damaligen Zeit konn-ten nur bei niedriger Hitze (650 bis 700 Grad) gebrannt werden,waren porös, und bestenfalls liess sich mit i h n en auf offenemFeuer mit Vorsicht ein Brei köcheln. Siguna könnte die Suppe sogekocht haben, wie Funde bei Yverdon vermuten lassen. Diedort in Mengen aufgefundenen, von Hitze gespaltenen Steinedürften - in Kochgruben, ausgehöhlte Baumstämme und Töpfegelegt - dazu gedient haben, Fleisch und andere Speisen zugaren. Eine Methode, die zum Teil noch heute aus nostalgischen

Gründen auf Südseeinseln praktiziert wird.

Lifträtsel «Übel»Das Parterrewort Übel ist nach oben links und rechts in je

acht Etagewörter zu verwandeln: Schrägziffer - sovielten Buch-staben des unteren Wortes streichen. Schrägstrich - Restbuch-staben des unteren Wortes mehr oder weniger umstellen. Waag-

rechtstrich = 1 Restbuchstabe des unteren Wortes für die Bil-dung des oberen. Punkt 1 neuen Buchstaben einsetzen. Senk-rechtstrich - Buchstabe darunter für die Bildung der Schlusslö-sung.

H- 4V6£

schenaffe, 6. afrikanische Hauptstadt, 7. kleines Hagelkorn,8. Berichtigung.

Rechts: 1. Weisswal, 2. deutscher Theaterleiter und Regisseur( 3. Südosteuropäer, 4. Männername, 5. europäischeHauptstadt, 6. rheinpfälzisches Adelsgeschlecht, 7. astronomi-scher Begriff, 8. deutsches Bundesland.

Schlusslösung: Die Buchstaben unter den Senkrechtstrichen,etagenweise von links nach rechts und von 8 bis 1

aneinanderge-reiht, nennen fünf Ball- und Kugelspieler.

Homonym Nr. 73

Im Lauf des Lebens fällt es eher schwer.Erlittner Schaden hindert uns daran.Doch schadet seiner eignen Seele, werzu klug geworden nicht mehr dieses kann.Der Pfarrer aber tut es mit Genussund lieber, als er zum Begräbnis spricht,obwohl er aus Erfahrung wissen muss:zum seligen Frieden führt es meistens nicht.

Irene Miline

Additionsrätsel Nr. 52

REGEN

+ S CHN E

HERBST

Wohl dem. der bei solchemWetter Sonne im Herzen hatund im warmen Stübchengerne rechnet! Wer also dieBuchstaben durch die richti-gen Zahlen ersetzt - wie im-mer darf eine bestimmte Zahlnur einen Buchstaben vertre-ten und die Null nirgends zu-vorderst stehen - erhält einekorrekte Addition. Phihrilhmos

Links: 1. Ersatzspieler im Film, 2. deutscher Landschaftsma-ler (1740-1799), 3. sagenhafter Sänger des Königs Richard Lö-wenherz, 4. französischer Schriftsteller (1866-1944), 5. Men-

( Losungen aller Rätsel in der nächsten *Wochenende»-Ausgabe)

Rätsellösungen

Kreuzworträtsel Nr. 365Waagrecht:

1Anstandsregel, 13 Lauge, 14 Puder, 16 (La)ub,

18 crescendo, 20 S(ei)l, 21 S(a)rd(e), 23 San, 24 kti, 25 Haar, 26Herde, 28 (Wild)bret, 29 (Kap)aun, 30 beliebt, 32 Erz(eugen), 33Enkelin, 35 Reibung, 37 Gral, 38 nroZ, 39 Dressur, 42 Edelgas,

44 -ieb, 45 enigmas, 47 arc(hiver), 48 (Macht)gier, 49 Gneis, 50inch, 51 unt(adelig), 53 (Le)nin (Anals Nin), 55 (Rin)ghe(ft), 56(Bei)ne, 57 Verslehre, 61 Ei, 62 l'aria, 63 Norma, 65 Handels-zweige.

Senkrecht: 2 NL, 3 sac, 4 Turm(uhr), 5 -age, 6 Nesseln, 7Spender, 8 run, 9 Edda, 10 geo-, 1 1

(unt)er, 12 Aushändigung, 15blitzgescheit, 17 Braun-, 19 cari, 20 (Isaac) Stern, 22 Dankgebet,

24 Kreuzgang, 26 Heilung, 27 ebendas, 30 Blase, 31 tires, 34(Ob)ers, 36 boL, 40 Reine, 41 Rinnsal, 42 Eminenz, 43 Arche, 46(Biber)geil, 52 Herd (Dreh), 54 erre, 57 van, 58 -rie, 59 how, 60EMI, 62 La(dung), 64 (N)ag(el).

;S

Neue Zürcher Zeitung vom 10.10.1987