112
„Es muß besser werden!“ Aby und Max Warburg im Dialog über Hamburgs geistige Zahlungsfähigkeit von Karen Michels

„Es muß besser werden!“ - uni-hamburg.de · Warburg-Literatur wichtige neue Aspekte hinzu. Und es darf als ein be-sonderer Glücksfall betrachtet werden, dass sich Karen Michels

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • „Es muß besser werden!“

    Aby und Max Warburg im Dialog

    über Hamburgs geistige Zahlungsfähigkeit

    von Karen Michels

  • Gefördert von der Böttcher-Stiftung

    Den Familien gewidmet, die durch ihre hochherzigen Stiftungen vor108 Jahren die Gründung der Hamburgischen WissenschaftlichenStiftung ermöglicht und den Grundstein dafür gelegt haben, dass dieStiftung auch heute noch Forschung, Lehre und Bildung fördern kann.

    Mäzene für Wissenschaft

    hg. von Ekkehard Nümann

    Inhalt

    Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 31. Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 42. Der Familien- und Firmengründer Georg Friedrich Vorwerk . . S. 63. Zur Kindheit und Jugend der Vorwerk-Brüder . . . . . . . . . . . . S. 154. Eine Reise von Augustus Friedrich nach Nordamerika und Kuba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 235. Die Firmen in Chile und Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 286. Friedrich, Adolph und deren Ehefrauen in den Erinnerungen dreier Enkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 447. „Villa Josepha“ und „Haupthaus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 548. Gustav Adolph als Bau- und Gartengestalter . . . . . . . . . . . . . S. 609. Entwicklungen nach dem Tod der Brüder . . . . . . . . . . . . . . . S. 6710. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 7011. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 7212. Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. 74

  • | 3 |

    Inhalt

    Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102. Was willst Du mit Kunstgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143. Lehr- und Wanderjahre: „Es muß besser werden!“ . . . . . . . . . . . . . . 224. Wie man sich in Hamburg eine Existenz aufbaut . . . . . . . . . . . . . . . 335. Die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung oder Kaufleute als „Ducatenmännchen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566. 1918: „Unser Krieg“ und „die Judenfrage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687. Neues Denken: Was hat man aus dem Krieg gelernt? . . . . . . . . . . . . 758. Überzeugte Europäer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819. Max Warburg verabschiedet sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9610. Zum Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9811. Anhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100Stammtafel (Auszug) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100Aby und Max Warburgs Lebensdaten im Überblick . . . . . . . . . . . . . . 10212. Quellen, Literatur und Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10413. Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

  • | 4 |

    Vorwort des Herausgebers

    Im Jahr 2007 feierte die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung ihr 100-jähriges Jubiläum. Der vorliegende siebzehnte Band ist Teil der zu diesemAnlass ins Leben gerufenen Schriftenreihe „Mäzene für Wissenschaft“. Inihr wird die Geschichte der Stiftung dargestellt; außerdem werden Stifter-persönlichkeiten und Kuratoriumsmitglieder in Einzelbänden gewürdigt.

    Die Absicht, diese Reihe herauszugeben, entspricht dem dankbaren Gefühlden Personen gegenüber, die vor mehr als 100 Jahren den Mut hatten, dieStiftung zur Förderung der Wissenschaften in Hamburg zu gründen underreichten, dass Hamburg eine Universität erhielt. Verknüpft damit ist dieHoffnung und Erwartung, dass nachfolgende Generationen sich hieran ein

    Beispiel nehmen mögen.

    Dieser Hoffnung hat die Böttcher-Stiftung in hochherziger Weise entspro-chen, wofür wir ihr zu großem Dank verpflichtet sind.

    Ekkehard Nümann

  • | 5 |

    Vorwort

    Aby und Max Warburg, Hanseaten im besten Sinne des Wortes, haben aufihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern Herausragendes geleistet: Aby, der ältereder beiden Brüder, hat der Kunstgeschichtsforschung eine neue Richtunggewiesen, die bis zum heutigen Tag nichts an Aktualität und Durchschlags-kraft eingebüßt hat, während Max nicht minder bedeutend für das Bank-wesen und Wirtschaftsleben seiner Zeit war. Seine Leistungen in der spä-ten Kaiserzeit, in den Jahren des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer

    Republik sind vielfach analysiert und gewürdigt worden.

    Gemeinsam strebten beide eine Symbiose zwischen dem merkantilen unddem geistigen Hamburg an, wie es Aby 1909 ausdrückte. Dieses Zusam-mengehen von Geld und Geist hat, wie man weiß, bemerkenswerte Früchtegetragen, auch zugunsten der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung.1906 spendeten Moritz Warburg und seine Söhne 250.000 Mark, eine statt-liche Summe, die dabei half, die Stiftung, die die Einrichtung einer Uni-versität vorbereiten sollte, zu etablieren. Was Aby Warburg an Finanzmit-teln für seine Forschungsambitionen vom Bankhaus M. M. Warburg, alsovon seinen Brüdern, zur Verfügung gestellt bekam, war ganz außerordent-lich. Kein Wunder, dass Max die Bibliothek seines Bruders als Zweigstelledes Bankhauses charakterisierte, die sich „kosmischen statt irdischen Auf-gaben“ widmete. Das Zusammenführen von Geld und Geist hat in derStadtrepublik Hamburg bekanntlich eine lange Tradition, die bis in unsere Zeit anhält. Man denke nur an Jan Philipp Reemtsma und sein

    Hamburger Institut für Sozialforschung.

    Dies ist ein Erzählstrang des ungemein gehaltvollen und berührenden Bu-ches. Ein weiterer gilt dem Judentum, in das Aby und Max hineingeborenwurden. Es geht um das Auf und Ab bei der Assimilierung und die gesell-schaftliche Akzeptanz ihrer religiösen Wurzeln, um die immer wieder auf-lebende Verzweiflung über das Verhalten ihrer christlichen Landsleute unddie beständige Hoffnung auf eine Besserung des christlich-jüdischen Zu-sammenlebens. Karen Michels resümiert dazu: „Ihre so unterschiedlichen

  • | 6 |

    Lehr- und Wanderjahre ergaben in der Rückschau dennoch eine ähnlicheGeschichte: Sie erzählt vom Wunsch, dazugehören zu dürfen, und von derbitteren Erkenntnis, dass dies, allen gesetzlichen Gleichstellungsmaßnah-men zum Trotz, nur partiell, nur momentweise gelingen konnte. Diese Er-fahrung wird beider Leben bis ans Ende prägen, und sie wird sowohl Abyals auch Max dazu animieren, auf immer neue und sehr persönliche Weise

    Wege der Integration zu suchen.“

    „Wenn mehr Bücher gelesen würden, so würden weniger geschrieben wer-den“, hat uns Aby Warburg ins Stammbuch geschrieben. Wie dem auchsei: Dieses Buch musste geschrieben werden. Es fügt der umfangreichenWarburg-Literatur wichtige neue Aspekte hinzu. Und es darf als ein be-sonderer Glücksfall betrachtet werden, dass sich Karen Michels des Themasangenommen hat, die sich bereits in mehreren Büchern und Aufsätzen in-tensiv mit Aby Warburg, seinem epochalen wissenschaftlichen Denken unddessen Wirkung beschäftigt hat. Ihre Einschätzung der Person Aby War-burgs, dieses Leuchtturms der Kunstgeschichtsforschung, der bis heute un-vermindert hell strahlt, hat die Autorin 2010 in folgender Weise trefflichzusammengefasst: „Aby Warburg – eine der anregendsten Figuren der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, weitblickend, Grenzen sprengend,Horizont erweiternd, leidenschaftlich, jemand, der Wissenschaft mit hoher Emotion betrieb und den Mut zur Subjektivität und Partei-

    nahme hatte.“

    Seine nach Seitenzahl schmale Dissertation über Botticellis „Geburt derVenus“ und „Frühling“ (1892, erschienen 1893), die in unseren Tagen alsGründungsurkunde einer gänzlich neuen Richtung kunstgeschichtlicherForschung im Antiquariatshandel staunenswerte Preise erzielt, hat das „Lesen“ von Bildern revolutioniert. Die interdisziplinär vorgehende Kunst-wissenschaft war geboren, die Kunst von der „Abschnürung der eigentli-chen Lebenskräfte“ befreit. Und zugleich war es der Beginn einer Bücher-sammlung, die sich schrittweise zu der einzigartigen Kunstwissenschaft-

    lichen Bibliothek Warburg (K. B. W.) entfaltete.

    Aby und Max Warburg waren zwei herausragende Söhne Hamburgs, ei-ner Stadt, zu der sich beide Zeit ihres Lebens hingezogen und der sie sichverpflichtet fühlten. Das Buch von Karen Michels gibt tiefe Einblicke indas Leben, Fühlen und die Wirkmächtigkeit der beiden Brüder, deren sounterschiedliche, aber auch gleichgestimmte Biographien eindrucksvollmiteinander verzahnt werden. Die Lektüre fesselt, bewegt und bietet

    vielerlei Neues, was den Leser mit großer Dankbarkeit erfüllt.

  • Die Böttcher-Stiftung hat die alleinige Finanzierung dieses Bandes gerneübernommen. Ihr Gründer, Johann Max Böttcher (1920–2014), hätte ge-wiss das Buch mit größter Aufmerksamkeit und Anteilnahme gelesen, ha-ben doch seine eigenen jüdischen Wurzeln ihn in den Schreckensjahren1933–1945 in mancherlei Bedrängnisse gebracht. Der Vorstand der Bött-cher-Stiftung wird sich auch weiterhin den Anliegen der Hamburgischen

    Wissenschaftlichen Stiftung gegenüber aufgeschlossen zeigen.

    Der Verfasser dieser Zeilen ist stolz darauf, mit zwei Adepten von Aby Warburg, die diesen noch persönlich in der K. B. W. in der Heilwigstra-ße 116 erlebt haben, in freundschaftlichem Kontakt gewesen zu sein: René Drommert und Hermann Vogts. Und zum Schluss darf vielleichtauch noch erwähnt werden, dass der Unterzeichnende mit der auf S. 37erwähnten Helene von Hornbostel (1840–1914) verwandtschaftlich

    verbunden ist.

    Wilhelm Hornbostel

    | 7 |

  • | 8 |

  • | 9 |

    Aby und Max (ca. 1895)

  • | 10 |

    Einleitung

    [1]

    „Es muß besser werden“, schreibt Aby War-burg 1889 seiner Mutter in einem Brief. Wasmuss besser werden? Mit der Antwort aufdiese Frage beginnt der rote Faden, derdurch dieses Buch führt. Besser werdenmuss das Verhältnis zwischen christlichenDeutschen und jüdischen Deutschen. DerDreiundzwanzigjährige hatte es gerade zumersten Mal erlebt, dass man ihn in der Öf-fentlichkeit als Jude identifizierte – undseine Verunsicherung war groß. Früher alsandere erkennt und beobachtet er die wach-sende Bedrohung. Die Frage, wie ein fried-liches Zusammenleben zwischen Christenund Juden aussehen könnte, wird zu seinemLebensthema werden. Es ist, wie wir heutewissen, ein existenzielles Thema. Er teilt esvor allem mit seinem Bruder Max. ···································································Die Gegensätze zwischen Aby und Maxkonnten nicht größer sein: Der eine hattebraune, der andere blaue Augen. Der einewar intellektuell, der andere Zahlenmensch.Der eine galt als schwierig und cholerisch,der andere als leichtfüßig und charmant.Aby begründete eine Bibliothek als For-schungsinstitut, Max übernahm die famili-eneigene Bank. Und doch gab es, so die Be-obachtung, die diesem Buch zugrunde liegt,im Leben von Aby und Max Warburg auf-fällig viel Gemeinsames. Aby und Max ver-brachten, das zeigen nicht zuletzt die im

    Londoner Archiv erhaltenen mehr als tau-send Briefe, ihr Leben in einem beständigenDialog. Dies lag sicher in einer herzlichenbrüderlichen Zuneigung und dem traditio-nellen jüdischen Familienzusammenhalt be-gründet. Hinzu kam jedoch eine seltsameVerschränkung, die Abys Verzicht auf dieNachfolge im familieneigenen Bankhausmit sich brachte. Es ist ein mehr als deutli-cher Fingerzeig, dass die Lebenserinnerun-gen Max Warburgs dort, wo von der eige-nen Kindheit und Jugend die Rede ist,zunächst den älteren Bruder beschreiben.„Aby, geboren am 13. Juni 1866, gestorbenam 29. Oktober 1929, hätte in das Bankhauseintreten und später Teilhaber werden sol-len, wie es der Tradition der Firma ent-sprach. Er hat es aber abgelehnt, Bankier zuwerden und studierte Kunstgeschichte anden Universitäten Straßburg und Bonn.Eine Reise in die Vereinigten Staaten schlosssich an, und sie ist zum entscheidenden Er-eignis seines Lebens geworden. Fünf Jahrelang hat er dann leitend am DeutschenKunsthistorischen Institut zu Florenz mit-gearbeitet und sich schließlich in Hamburgals Privatgelehrter niedergelassen. Berufun-gen an verschiedene Universitäten lehnte erab. (…) Als ich 12 Jahre alt war, machte mirAby den Vorschlag, daß ich ihm sein Erst-geburtsrecht abkaufen solle; nicht etwa füreine Linsensuppe, sondern gegen meine

  • | 11 |

    Verpflichtung, ihm immer seine Bücheran-schaffungen zu bezahlen. Ich war ein Kind,und der Vorschlag erschien mir ausgezeich-net: das Geschäft vom Vater würde doch ge-wiß genug abwerfen, um mich Schiller,Goethe und vielleicht auch noch Klopstockkaufen zu lassen. Wir haben den Pakt feier-lich mit einem Händedruck besiegelt. Die-ser Vertrag war wohl der leichtsinnigste mei-nes Lebens; freilich habe ich ihn niebereut.“1 Nicht ohne Hintersinn spielt Maxauf das „Linsengericht“ an, mit dem im Al-ten Testament der ältere und dümmere Bru-der Esau sein Erstgeburtsrecht auf den jün-geren Jakob übertrug. Die von Abygeforderte Gegengabe, auf den ersten undkindlichen Blick so harmlos wie ein TellerSuppe, erwies sich im Laufe eines Lebens alsein finanziell herausforderndes Projekt –aber eben auch als eine existenzielle Not-wendigkeit. ···································································Wie gelingt Assimilation? Jeder der Brüderwird zeitlebens nach einer sowohl individu-ellen als auch gesamtgesellschaftlichen Ant-wort auf diese Frage suchen. Die Kulturwis-senschaftliche Bibliothek Warburg war indieser Hinsicht eine Konstruktion, die ei-nem zunehmend national und völkisch ori-entierten Deutschland ein alternativesDenk- und Lebensmodell vor Augen stelle.Sie war, so sagt ihr Begründer selbst, „keinRaum für die Allüren eines reichen Man-nes“, sondern ein „Instrument für Jeder-mann, geschaffen aus dem Gefühl der geis-tigen Notlage Deutschlands vor etwa 25 Jah-ren u.s.w.“.2 Den (überwiegend jüdischen)Mitarbeitern und Studierenden gilt sie inden zwanziger und dreißiger Jahren, in An-spielung ausgerechnet auf das Wort Luthersvon der „festen Burg“, als „feste Warburg“.Von der „K.B.W.“ sollten Impulse nicht al-

    lein für die Wissenschaft, sondern für einengesellschaftlichen Wandel kommen. Diesgeht nicht zuletzt hervor aus den Worten,mit denen sich Aby gegen Ende seines Le-bens bei seinem Bruder Max bedankt: „Ichwerde es Dir und dem Vater nie vergessen –und habe Euch das öfter wiederholt – daßIhr, als ich bei Euch Unterstützung imKampf gegen den deutschen Herrlichkeits-exhibitionismus unter staatlichem Schutzverlangte, Ihr dem unoffiziellen, vereinzel-ten und unbewiesenen Zerebralmenscheneinen moralisch blanko, wirtschaftlich statt-lichen Kredit gewährt habt.“3···································································Der Kampf gegen den Nationalismus undgegen den Herrschaftsanspruch der „deut-schen Rasse“ bildete das Aby Warburgs kul-turwissenschaftliche Arbeit speisende, vonMax verstandene und mitgetragene Leitmo-tiv. Die griechische Kultur bot das Modell:Es ist das ihr zumindest zugeschriebene ver-nunftgeleitete Denken, das gegen Irrationa-lität, Barbarentum und Aberglauben einGleichgewicht bieten kann. „Athen mußimmer wieder neu aus Oraibi [von Aby be-suchtes Dorf der Hopi-Indianer in NewMexico, KM] erobert werden.“ Dem Natio-nalismus das zivilisatorische Potential desHumanismus entgegenzusetzen, ist das Ziel.Max unterstützt dieses Projekt und vor al-lem dieses Ziel. Als Verkörperung der Vitaactiva versucht er jedoch, auf wirtschaftspo-litischem Terrain eigene Wege zu finden.Zunächst vertraut er, wie so viele, auf die In-tegrationskraft des Kaiserreiches. Nach des-sen Untergang und der Katastrophe des Ers-ten Weltkrieges dagegen wandelt Max sichzu einem überzeugten, frühen Europäer.Gleichzeitig erscheint ihm nun die wissen-schaftliche Analyse historischer und gegen-wärtiger Phänomene von weitaus größerer

  • | 12 |

    Aby und Max als „Buchstabe V“ aus dem 1909 gezeichneten „Fanö-Abc“ von Mary Warburg

  • Bedeutung als früher. Wie sein Bruder legter in den frühen zwanziger Jahren denGrundstein für eine wissenschaftliche Ein-richtung, das Institut für Auswärtige Politik.Es wird zum ersten Friedensforschungsinsti-tut überhaupt. Und mehr denn je versuchter – etwa mit der Gründung des Übersee-Clubs – das merkantile und das geistigeHamburg zusammenzubringen und damiteine neue Plattform jenseits aller Rasse- undReligionsdifferenzen zu etablieren.···································································Eines der von beiden Brüdern, wenn auchmit durchaus unterschiedlichen Akzenten,gemeinsam verfolgten Ziele war die Grün-dung einer Universität in Hamburg. In derFrage der Einrichtung der „höchsten Formeiner geistigen Werkstatt, einer forschendenund lehrenden Hochschule“ ging es, soschrieb Aby schon 1909, um nichts wenigerals um „Hamburgs geistige Zahlungsfähig-keit“.4 Dass die Familie Warburg für dieseUniversität in großem Stil Geld stiftete, be-deutete auch, dass sie sich zum ersten Malmit erheblichen Mitteln für eine Institutionengagierte, die keinen jüdischen Hinter-grund hatte. Was waren die Gründe? Per-sönlich bot das Eintreten für eine Hoch-schule in Hamburg Aby wie Max dieMöglichkeit, sich an einem patriotischen,zukunftsweisenden Projekt zu beteiligen, indem rassische und konfessionelle Unter-

    schiede keine Rolle spielten. Zugleich be-deutete der Einsatz für die Wissenschaft inHamburg die Förderung der Fähigkeit, ob-jektiv und historisch zu denken. Undschließlich erhoffte man sich von der Uni-versität einer weltoffenen Handelsstadt Im-pulse, die dem anderswo gepflegten Natio-nalismus und „Klerikalismus“ ein neuesModell entgegensetzten. In der spezifischen,realitätsbezogenen und zugleich freieren At-mosphäre des durch eine starke Kaufmann-schaft geprägten „Tors zur Welt“ ließ sich,so die Hoffnung beider Brüder, ein neuesDenken begründen, das echte Assimilationmöglich machte. ···································································Was hat das alles heute noch mit uns zutun? In diesem Buch geht es um den Um-gang mit Minderheiten und damit einemheute in Europa mehr als brisanten Pro-blem. Aby und Max Warburg entwickelnfür dieses Problem Lösungsvorschläge. Siesind, das hat die Geschichte gezeigt, tra-gisch gescheitert. Aber, so die Hoffnung derAutorin, sie sind es doch wert, im Hinblickauf unsere gegenwärtige Situation noch ein-mal aus der Nähe betrachtet zu werden. ···································································Für vielfältige Anregungen und Hilfestel-lungen danke ich sehr herzlich EkkehardNümann, Johannes Gerhardt und EckartKrause.

    | 13 |

    ··············································································································································1 Warburg, Aufzeichnungen, S. 5 f. 2 Max Warburg, Erinnerungen von Max Warburg an Aby Warburg, o. D., wohl Dezember 1929 (Archiv des

    Londoner Warburg Institute, im Folgenden WIA, III.134.1.6.). 3 Zitiert nach: Schoell-Glass, Warburg, S. 167. 4 Warburg, Pflichten, S. 305.··············································································································································

  • | 14 |

    Am 13. Juni 1866 wird dem Ehepaar Char-lotte und Moritz Warburg ein Sohn gebo-ren. In die Geburtsurkunde trägt man imGedenken an den zehn Jahre zuvor verstor-benen Großvater den ungewöhnlichen Vor-namen Aby – nicht Abraham – ein; er istwohl als dessen anglisierte, dynamisch klin-gende Variante zu verstehen. Der zweite

    Name, den auch die noch folgenden vierBrüder tragen werden, ist der des Vaters,Moritz. Abys Vater Moritz ist 28, als sein ers-ter Sohn zur Welt kommt. Zusammen mitseinem älteren Bruder Siegmund führt erdas familieneigene Bankhaus. EigentlicherChef der Firma M. M. (Moses Marcus)Warburg jedoch ist die Mutter der beiden,

    Was willst Du mit Kunstgeschichte?

    [2]

    Das Wohnhaus von Sara Warburg in der Rothenbaumchaussee 49

  • | 15 |

    Sara. Sie ist als ebenso erfolgreiche wie ener-gische Matriarchin in die Geschichte einge-gangen, die sich weder von Geschäftspart-nern noch von den eigenen Söhnen je hatdie Butter vom Brot nehmen lassen; auchihr Mann „stand unter dem Pantoffel“. Saraleitet nicht nur die Bank, sondern ist auch,wie es sich für Juden gehört, im Vorstandzahlreicher Wohltätigkeitseinrichtungen aktiv. Das repräsentative Haus Rothen-baumchaussee 49, das sie 1865 bezogen hat-te, existiert nicht mehr; zwei der schönen,mit antikisierenden Ranken geschmücktenschmiedeeisernen Fenstergitter aber fügteihr ältester Enkel Aby in die Treppenwangenseines 1925 errichteten BibliotheksgebäudesHeilwigstraße 116 ein, wo sie noch heute zubewundern sind.···································································1864 hatte Moritz Warburg Charlotte Op-

    penheim aus Frankfurt geheiratet. Sie ent-stammte einer besonders frommen jüdi-schen, ebenfalls wohlhabenden und sehr ge-bildeten Familie. Ihr Vater Nathan handelteerfolgreich mit Edelsteinen, Perlen und An-tiquitäten, und er sprach, so die Legende,dreizehn Sprachen: kein Wunder, dass auchdie Tochter Charlotte zeitlebens ein aktivesInteresse an Kunst und Kultur an den Tagund somit vielleicht auch das Fundamentfür ähnlich gelagerte Passionen ihres ältestenSohnes legte. Charlotte schrieb Gedichte,veröffentlichte Erzählungen in der Frank-furter Zeitung und entfaltete eine so zielstre-bige Persönlichkeit, dass die gefürchteteSara in ihrer Schwiegertochter eine echteGeistesverwandte erkannte.5 Sparsam, jaspartanisch in der Lebensführung, nahm siegrundsätzlich nur auf ungepolsterten Stüh-len Platz und tat alles, um vor den Kindernden erheblichen familiären Reichtum zuverbergen.6···································································Fast auf den Tag genau ein Jahr nach AbysGeburt, am 5. Juni 1867, erblickt ein weite-rer Sohn das Licht der Welt, der den NamenMax M. (für Moritz) erhält. Noch fünf wei-tere Kinder folgten: 1868 Paul M., 1871 Fe-lix M., 1873 Olga und 1879 die ZwillingeFritz M. und Louise. Bereits im Geburtsjahrvon Max hatte die Bank das Haus Ferdi-nandstraße 75 erwerben können; es wurdezur Keimzelle des heute noch bestehenden,1912–13 vom Rathausbaumeister MartinHaller neu errichteten Geschäftsgebäudes.Privat lebt man, versorgt von einigem Per-sonal, im Grindelhof 1a und damit in demspäter als „Klein-Jerusalem“ bekanntenGrindelviertel. Mit dem Erwerb eines groß-zügigen Hauses am Mittelweg 17/EckeJohnsallee dokumentiert Moritz Warburg1871 den sozialen Aufstieg der Familie. Der

    Treppenwange, Gebäude der Kulturwissenschaft-lichen Bibliothek, Heilwigstraße 116

  • | 16 |

    Umzug bedeutet zugleich einen großenSchritt in Richtung Assimilation. Erleich-tert hatte ihn die Auflösung der engen Ver-bindung von Staat und lutherischer Kirchein der Hamburger Verfassung. Dem Druckdes Senates nachgebend, lockerte danachauch die Israelitische Gemeinde ihre Vor-schriften: Sie spaltete sich in Orthodoxe undReformjuden und stellte es seit 1867 jedemfrei, sich einem der beiden Verbände anzu-schließen oder auch nicht. Juden waren nungleichberechtigte Hamburger Staatsbürger.So kam es, dass sich hier, in den an der Au-ßenalster gelegenen, im 19. Jahrhundert neuerschlossenen Vierteln Rotherbaum undHarvestehude, die Bevölkerungsgruppen zumischen begannen. Etwa ein Fünftel derBewohner war jüdischen Ursprungs.

    ···································································Die Familie von Moritz’ Bruder Siegmund,die zunächst über den Geschäftsräumen inder Ferdinandstraße lebt, bezieht etwagleichzeitig eine herrschaftliche Villa amAlsterufer 18. Siegmund hatte mit der ausKiew stammenden Theofilia beziehungs-weise Théophilie Rosenberg eine schwerrei-che kosmopolitische Frau geheiratet, die derFamilie multinationale „byzantinische Ver-bindungen“ einbrachte.7 Sie pflegt einenaristokratischen, französisch geprägten Le-bensstil, was bei den hanseatischen Reeders-Gattinnen nicht gut ankommt. Siegmundwird Vorsteher der jüdischen Gemeindeund richtet sich im Hause eine kleine Pri-vat-Synagoge ein. Wenn er in ihr morgensseinen religiösen Pflichten nachgeht, ist er

    Charlotte und Moritz Warburg mit Kindern und Verwandten, links außen Max, rechts außen Aby

  • bereits für den Ausritt gekleidet. Rivalitätenzwischen den Schwägerinnen Charlotte undThéophilie – die eine frankophil-internatio-nal, die andere preußisch-national gesinnt –und die permanenten Auseinandersetzun-gen zwischen den beiden unter ein gemein-sames geschäftliches Dach gezwungenenBrüdern spalten den Clan von nun an in ei-nen „Alsterufer“- und einen „Mittelweg“-Zweig. Während die Familie von Siegmundeine gesellschaftliche Position in der „jüdi-schen Aristokratie“ (Max Warburg) an-strebt, legen die „Mittelweg-Warburgs“ stetsmehr Wert auf die „Einzelleistung“ ihrerMitglieder.8 Diese Idee der „Einzelleistung“wird in der so ähnlichen Weltanschauungbeider Warburg-Brüder einen zentralen Platzeinnehmen. ···································································

    Selbstverständlich beachtet man auchim Hause Moritz Warburg die jüdischenBräuche. Gekocht wird streng koscher. DieJungen lernen hebräisch und begleiten ihrenVater, wenn auch sehr ungern und mit ste-tig abnehmender Regelmäßigkeit, in die Sy-nagoge: „In einem Haus am Mittelweg warin einer Etage ein Raum als Synagoge einge-richtet, sehr hässlich, mit schlechter Luft.“9

    Sie können Moritz dabei beobachten, wie eram Samstag auf seine Zigarre verzichtet,weil man am Sabbat erst nach Sonnenunter-gang Feuer machen darf. Und sie wachsenmit der Überzeugung auf, dass man andeream eigenen Wohlstand selbstverständlichpartizipieren lässt, dass Wohltätigkeit ein in-tegraler Bestanteil des eigenen Lebensstilssein müsse: Schon die Kinder werden ange-halten, gemäß dem jüdischen Gebot, ein

    | 17 |

    Wohnhaus der Familie Moritz Warburg im Mittelweg 17, Ecke Johnsallee

  • | 18 |

    Zehntel ihrer Ersparnisse für wohltätigeZwecke in die Spardose zu stecken.10 Moritzhat ein Waisenhaus begründet, unterstütztmit namhaften Beträgen das auf eine Stif-tung Salomon Heines zurückgehende Israe-litische Krankenhaus sowie die Talmud ToraSchule. Seiner Energie und Großzügigkeitist auch der Bau der großen, 1906 fertig ge-stellten Synagoge am Grindelhof zuzu-schreiben, zu der auch Felix Warburg grö-ßere Summen beisteuert; diese sogenannte„Bornplatzsynagoge“ wurde in der Reichs-pogromnacht 1938 verwüstet und 1939 abge-rissen.

    ···································································Unter diesem Aspekt ist es ungewöhnlich,dass Charlotte ein christliches Kindermäd-chen beschäftigt: Franziska Jahns. Sie war ineinem Waisenhaus aufgewachsen und of-fenbar in der Lage, selbst nicht empfangeneZuwendung den Warburg-Kindern in ho-hem Maße zuteil werden zu lassen. Mit 17eingestellt, lernt sie sogar etwas hebräisch,um mit den Kindern Gebete sprechen zukönnen. Wie ein 1895 entstandenes Famili-enfoto zeigt, ist sie selbstverständlich in denKreis der Warburgs integriert. „Mit derZeit“, so erinnert sich Max Warburg, „nahm

    Die Familie Warburg (1895), obere Reihe zweite von links: Franziska Jahns

  • sie gewissermaßen die Stellung einer älterenSchwester bei uns ein, wenn auch ihre Zu-rückhaltung und Bescheidenheit sie immerals Gouvernante erscheinen ließ. In ihrer lie-bevollen Weise war sie der gute Geist imHause, der ausgleichend wirkte, der aberauch seinen Ordnungssinn auf uns zu über-tragen verstand. Als wir dann später – sie-ben verheiratete Kinder sowie einundzwan-zig Enkelkinder – im Sommer bei denEltern auf dem Kösterberg wohnten, lebteFranziska noch und blieb auch hier der un-entbehrliche gute Geist.“11 Noch Jahrzehntenach ihrem Tod erinnert sich Aby an ihrenGeburtstag: Franziska Jahns sei eine „protes-tantische Caritas“ gewesen, die der „geld-magnatischen Lebensführung“ der Familiedas Ideal der Bescheidenheit entgegenhielt,„womit sie bei meiner einfachen seligenMutter harmonierte“.12···································································Nach außen hin sind sie ein „Siebenge-stirn“, aber innerhalb der Familie herrscht,wie unter Geschwistern üblich, ein perma-nenter Konkurrenzdruck. Besonders Abyund Max entwickeln sich sehr unterschied-lich: Während der Ältere mit seinen dunkel-braunen Augen und seiner kleinen, zur Fül-ligkeit neigenden Statur der Mutter gleicht,kommt der blauäugige, groß gewachseneMax nach dem Vater. Von diesem – dernoch in späteren Jahren als lässiger Dandydurchgehen kann – hat er ein gewinnendesAussehen und, so ist überliefert, einen be-trächtlichen Charme geerbt, der ihm schonin jungen Jahren das Leben leichter macht.Schließlich müssen sich beide Brüder, nach-dem sie in die Vorschule des Johanneumseingeschult worden waren, in einer Umge-bung behaupten, in der sie als Juden zurMinderheit gehören. Aby dagegen gilt alssprunghaft und schwierig. Nachdem er als

    Kind eine Typhuserkrankung nur knappüberlebt hat, wird er auf Anraten der Ärzteso geschont, dass er tyrannische und chole-rische Charakterzüge entwickelt. Er ist jäh-zornig, aber auch witzig, ein brillanterSchauspieler und Stimmenimitator. Wenigsportlich veranlagt, entwickelt er sich zu ei-ner Leseratte. Und obwohl in den Naturwis-senschaften völlig unbegabt, kann er eineKlasse überspringen. Beide Jungen besu-chen das – wie für Kaufmannssöhne üblich– Realgymnasium des Johanneums amSteintorplatz. Aby, der sich ja, wie erwähnt,im Alter von dreizehn gegen ein Leben alsBankier entschieden hat, schreibt sich fürein weiteres, ergänzendes Schuljahr auf demhumanistischen Zweig des Johanneums ein.Er nimmt Privatstunden in Griechisch undLatein und besteht 1886 auch das altsprach-liche Abitur. Ganz anders Max: „Ich bin im-mer ein schlechter Schüler gewesen undtrug mich keineswegs mit der Absicht, michdem Abiturientenexamen auszusetzen. Alsich in der Unterprima war, legte ich meinemVater nahe, mich doch lieber aus der Schulezu nehmen – was habe es für einen Sinn zustudieren, da ich doch in die Firma eintre-ten werde. Mein Vater aber erklärte, dassseine Söhne eine abgeschlossene Bildunghaben müssten. ‚Das hättest Du mir frühersagen müssen‘, antwortete ich, ‚ich habe inden letzten drei Jahren so gut wie nichts ge-arbeitet.‘ Es war die reine Wahrheit; vonmeinem 16. bis zu meinem 18. Lebensjahrhabe ich wirklich viel mehr geflirtet als ge-lernt. (…) Wie ich zuguterletzt das Examenbestanden habe, ist mir noch heute unbe-greiflich.“13 Im gleichen Jahr wie sein ältererBruder hat auch er es dann geschafft. Be-rauscht vom eigenen Aufholerfolg, erwägtMax, nun lieber doch Chemie zu studieren– was ihm der geschockte Vater nur müh-

    | 19 |

  • | 20 |

    sam wieder ausreden kann. Abys Berufszieldagegen steht fest: Archäologe. ···································································Es ist heute kaum noch nachvollziehbar,welchen tiefgreifenden Schock Abys früherEntschluss, die Leitung des Bankhauses sei-nem jüngeren Bruder zu überlassen, der ge-samten Familie versetzte. Warum diese hef-tige Reaktion? Kam es nicht öfters vor, dassSöhne sich der Familientradition widersetz-ten, und konnte man nicht bereits damalssehen, dass sich Max tatsächlich sehr vielmehr für das Bankgeschäft eignete? Ja – undwenn er, wie Großmutter Oppenheim essich dringlich wünschte, sich für ein Lebenals Rabbi entschieden hätte, wäre er mit sei-

    nem Entschluss auf Verständnis gestoßen.Als aber auch das vehement abgelehntwurde, war die gesamte Familie alarmiert:„Die Familie hat alles getan, damit er nichtKunstgeschichte studierte. Er sollte wenigs-tens indirekt Geld verdienen. Arzt, Chemi-ker [werden]. Selbst wenn er nach Frankfurtkam, hat ihn jedes einzelne Mitglied der Fa-milie nochmals bearbeitet: ‚Was willst Dumit Kunstgeschichte‘?“14 Abys Liebe abergehörte eben jenen Objekten, die für Judenjahrhundertelang tabu gewesen waren, bild-lichen Darstellungen. Und sie gehörte geis-teswissenschaftlichen Fragestellungen, ge-hörte der Antike als Epoche, auch Lessingsberühmter Schrift „Laokoon oder über die

    Aby (links außen) im Kreise seiner Mitabiturienten am Johanneum (1886)

  • Grenzen der Mahlerey und der Poesie“. Wereine solche Passion zum Beruf machte,wählte nicht nur „Brotlosigkeit“, sondernbrach auch aus einem jahrhundertealten er-folgreichen System und letztendlich einemschützenden Kokon aus. Seit dem Mittelal-ter hatten die Berufseinschränkungen für

    Juden dazu geführt, dass sie sich auf wenigeTätigkeiten konzentrierten – auf das ausdem Geldverleih erwachsene Bankgeschäft,auf die Medizin. Archäologie, überhaupt dieBeschäftigung mit Kunstwerken und damitauch Bildern, gehörte keinesfalls dazu.

    | 21 |

    ··············································································································································15 Chernow, Die Warburgs, S. 46 f.16 Roeck, Warburg, S. 14.17 Chernow, Die Warburgs, S. 33.18 Max Warburg, Erinnerungen von Max Warburg an Aby Warburg, o. D., wohl Dezember 1929 (WIA,

    III.134.1.6.). 19 Ebd.10 Chernow, Die Warburgs, S. 46.11 Max Warburg, Aufzeichnungen, S. 9.12 Tagebuch der K.B.W., 18. Juli 1929: Warburg, Tagebuch, S. 472.13 Max Warburg, Aufzeichnungen, S. 9 f.14 Max Warburg, Erinnerungen von Max Warburg an Aby Warburg, o. D., wohl Dezember 1929 (WIA,

    III.134.1.6.). ··············································································································································

  • | 22 |

    Beide Söhne verlassen unmittelbar nachEnde der Schulzeit das Haus. Ihre so unter-schiedlichen Lehr- und Wanderjahre erge-ben in der Rückschau dennoch eine ähnli-che Geschichte: Sie erzählt vom Wunschdazugehören zu dürfen und von der bitterenErkenntnis, dass dies, allen gesetzlichenGleichstellungsmaßnahmen zum Trotz, nurpartiell, nur momentweise gelingen konnte.Diese Erfahrung wird beider Leben bis ansEnde prägen, und sie wird sowohl Aby alsauch Max dazu animieren, auf immer neueund sehr persönliche Weise Wege der Inte-gration zu suchen. In manchen Lebenspha-sen verlaufen diese Wege parallel, in ande-ren kreuzen sie sich oder bilden einengemeinsamen Strang. Ihren Ausgangspunktaber nehmen sie in jenen Jahren, die die bei-den Brüder erstmals fern vom Elternhausund – teilweise – der schützenden Umge-bung jüdischer Netzwerke verbringen. ···································································Aby beginnt an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn das Studiumder Archäologie und Kunstgeschichte. Bonnwar seit Mitte des 19. Jahrhunderts Ausbil-dungsort der preußischen Prinzen und an-derer Angehöriger der Aristokratie; es galtals „feudal“. „Hoffentlich“, schreibt MoritzWarburg, „wird unser lieber Aby jetzt denrichtigen Weg weitergehen und in kindli-cher Liebe so fortleben, wie er es in seinem

    elterlichen Hause gesehen und gehörthat“.15 Der Vater hofft vergeblich: Schon zuBeginn seiner Studienzeit trifft der damalszweiundzwanzigjährige Sohn die folgen-schwere Entscheidung, nicht weiter koscherzu essen. Bei „Rothschild“, einem ständigenjüdischen Mittagstisch, schmeckt es ihmnicht, und Alternativen sind rar. „Jüdischefromme Familien giebt es nach Dr. Unger 10hier, von denen jedoch keine einen ständi-gen Gast versorgen würde.“ Das Themascheint schon länger Gegenstand intensiverErörterungen mit den Eltern zu sein, denender dahinter steckende grundsätzliche Los-lösungsprozess ihres Ältesten vom Juden-tum Angst macht. Aby antwortet seinerMutter im Januar 1887 ausführlich auf dies-bezügliche Einwände: „Was Du mir, liebsteMama, von dem schreibst, was mit dem An-dersessen wegfallen würde, so muß ich Dirbemerken, daß Du mir Unrecht thust. Daßich Jude bin, schäme ich mich ganz und gar-nicht, sondern suche im Gegenteil den An-deren zu zeigen, daß Vertreter meiner Artwohl geeignet sind, sich nach Maßgabe ih-rer Begabung als nützliche Glieder in dieKette der heutigen Cultur- und Staatsent-wicklung einzufügen“.16···································································„Einfügen“ ist das Stichwort. Voller Be-geisterung taucht Aby ein in die Welt derStudenten – in die Welt der echten Männer.

    [3]

    Lehr- und Wanderjahre:„Es muss besser werden!“

  • Er bewegt sich in einem Kreis HamburgerStudenten, die offensichtlich die Gepflo-genheiten einer studentischen Verbindungangenommen haben, in der man sich mit„Lieber Leibfuchs“ anredet.17 Ein Gruppen-foto aus dem Wintersemester 1887/88 zeigtihn in dieser Gruppe, zu der unter anderemJohannes Sieveking, Georg Melchior (der äl-tere Bruder des Juristen Carl Melchior, der1902 in die Warburg-Bank eintreten und1911 ihr Generalbevollmächtigter werdensollte), John Hertz, Wilhelm Kiesselbach,Paul Ruben gehörten; auch Harry GrafKessler schließt sich „dem Kreis“ zeitweisean. Das Besondere: Im Hamburger Kreisspielt, anders als sonst in Studentenverbin-dungen, die Konfession keine erkennbareRolle – seine Mitglieder entstammen so-wohl jüdischen als auch konservativ-protes-tantischen Elternhäusern. „Hamburg unddie Herkunft aus der Oberschicht der Stadtfungierte als gemeinsamer Nenner des Mit-einanders, der einen gefährlichen, feindse-ligen Antisemitismus nicht aufkommenließ.“18„14. Mai: Bier, Sekt (Stiftungsfest),Bowle“, notiert er im Tagebuch. „15. Mai:Katerstimmung.“19 Der Wein fließt in Strö-men, Wurstwaren und Butter werden vonder Mutter, Zigarren in Hunderter-Gebin-den vom Vater nach Bonn geschickt und zü-gig konsumiert. Gründlich studiert man dieLokale in Bonn und der näheren Umge-bung. Noch heute wirkt das VergnügenAbys bei der Schilderung von Ausflügen aufden Petersberg, nach „Altenaar“ [Altenahr,KM], nach Beuel zum Billardspielen anste-ckend. Seine Formulierungskunst ist schondamals ausgeprägt. Besonders imponiertdem Hamburger der rheinische Karneval:„Den Carneval habe ich gründlich mitge-macht“, schreibt er seiner Mutter Ende Feb-ruar 1887. „Was das heißt, davon macht man

    sich im schwerblütigen Norden überhauptkeine Vorstellung. Wenn so ein braver Ham-burger Philister, im wohligen Gefühl seinerpolizeilich beglaubigten Tugendhaftigkeit,plötzlich hier in den Carnevalsstrudel ver-setzt würde, ihm schlügen die Haare überdem Kopf zusammen und seine Händestünden ihm zu Berge (…). Sonntag warenwir … in Köln und zwar als 5 Schornstein-feger, die zusammen an einer zusammenleg-baren Leiter herumschleppten und exercier-ten; wir sahen sehr komisch aus: ganzschwarz, bis über den Kopf durch die Ka-puze verhüllt, nach der Größe sortiert, …mit weißen Glaces und Halbmaske“.20 Aufder anderen Seite wird den Eltern immerschmerzlicher bewusst, wie sehr sich ihr äl-tester Sohn immer mehr vom Judentumentfernt: Als die Eltern anfragen, ob er zumLaubhüttenfest nach Hause kommenwerde, lehnt er ab.21 Die Mutter gibt nichtso schnell auf und hält ihm vor, dass der Va-ter sich noch nicht damit abgefunden habe,bei seinen Söhnen alles verloren zu sehen,woran sein Herz hänge: „Er hat Dir – fürseine Grundsätze – schon weitgehende Con-cessionen gemacht und wird, wie ich vo-raussehe, auch bei Max und Paul stellen-weise nachzugeben sich gewöhnen müssen.Während ich mehr mit den Verhältnissenrechne, die Umstände und Persönlichkeitenin Betracht ziehe, vollzieht sich bei Papa nurunter wahrhaftem Kummer und vielfachenAufregungen alles, was in dieser Beziehungnachgeben heißt.“22 Aby lässt sich nicht er-weichen – sein Weg wird aus dem Judentumhinausführen. Immerhin – die Ferien ver-bringt man gemeinsam in Ostende.···································································Während Aby das Studentenleben in vol-len Zügen genießt und gleichzeitig immerglücklicher wird mit der Wahl seiner beiden

    | 23 |

  • | 24 |

    Fächer Kunstgeschichte und Archäologie,überlegt Max, ob ein Bankier nicht „derMenschheit nützen kann, ohne sie auszu-pumpen, ob er nicht den Vorteil der Weltauch zu seinem Vorteil machen kann“.23

    Was aus heutiger Sicht wie ein naiv-roman-tischer Jugendtraum klingt, wird sich zu ei-nem Lebensthema entwickeln. Max War-burg hört lebenslang nicht auf, über dieFrage nachzudenken, wie er das Gemein-wohl nach Kräften befördern könne, und erfindet seine ganz persönliche Antwort aufdiese Frage. Zunächst aber erlernt er dasBankgeschäft von der Pike auf. Zwei Jahrelang, während derer er bei den GroßelternOppenheim wohnte, geht er beim Frankfur-ter Bankhaus J. Dreyfus & Co. in dieLehre.24 Danach folgt die erste Auslandssta-tion: Sechs Monate arbeitete er beim Bank-haus Wertheim & Gompertz in Amster-dam. „In dieser Stellung hatte ich meinenersten geschäftlichen Erfolg: ich konnte derFirma M. M. Warburg & Co. die Korres-pondentenstellung der NiederländischenBank im Ausland sichern“, erinnert sichMax. „Im übrigen gewährte mir Holland dieGelegenheit, die Kunstgalerien gründlichkennen zu lernen. Nie mehr habe ich einMuseum so aufmerksam studiert wie dasRijksmuseum und das Mauritshuis.“25···································································Im Oktober 1888 aber beginnt ein anderesLeben: Max tritt voller Begeisterung seinenMilitärdienst an – freiwillig, denn er ist aufdem linken Ohr fast taub, was er verheim-lichte. Er wählt das III. Bayerische Che-vauxleger-Regiment in München: Warumausgerechnet München? Max strebt denRang eines Reserveoffiziers an. Das Reserve-offizierspatent stellt im deutschen Kaiser-reich ein wichtiges Statussymbol dar. Es istdie „Eintrittskarte in die militärische und

    adlige Welt der deutschen Führungsschich-ten“ und Ausweis der Elitezugehörigkeit.26

    Voraussetzung ist zunächst, dass man sichals Einjährig-Freiwilliger meldet, sein Mili-tärjahr selbst finanziert und sich im Manö-ver bewährt. Danach kann man durch Zu-wahl in den Kreis der Offiziere aufgenom-men werden. Juden bleibt dies jedoch in derRegel verwehrt. Trotz aller Proteste des„Central-Vereins deutscher Staatsbürger jü-dischen Glaubens“ vor dem Reichstag undimmer wieder aufflammender öffentlicherDiskussionen existiert die militärisch-gesell-schaftliche Diskriminierung im deutschenKaiserreich fort. Nur in Bayern hatte es ganzvereinzelte Ausnahmefälle gegeben. Maxfühlt sich ausgesprochen wohl in seinemKavallerie-Regiment. Er lebt auf großemFuß, „gibt ein Schweinegeld aus“, wie seinjüngerer Bruder Fritz kolportiert,27 undidentifiziert sich völlig mit der von Diszip-lin und Corpsgeist geprägten Welt. Wie seinBruder Aby im Kreis der Studenten, erlebter hier zum ersten Mal, dass die Leistung desEinzelnen, nicht die Zugehörigkeit zu einerReligionsgemeinschaft oder gar Rasse, zählt.Nach einem Jahr ist er Vizefeldwebel und –als einer von dreien unter siebzehn „Einjäh-rigen“ – Offiziersaspirant. Er entwickeltstarke patriotische Gefühle, will, wie vieleJuden damals, vor allem ein guter Deut-scher sein. In einem sechzehn Seiten langenBrief legt der Zweiundzwanzigjährige demVater einen neuen Lebensplan dar: Er willBerufsoffizier werden. Die Firma, die Fami-lientradition, das „gemachte Nest“ treten inden Hintergrund gegenüber der tiefenSehnsucht nach Akzeptanz. Vater Moritz istentsetzt. Er antwortet kurz, aber prägnantund den Sohn mit einem einzigen Wort anseine Wurzeln und die gesellschaftliche Rea-lität erinnernd: „Mein lieber Max, me-

  • schugge. Dein Dich liebender Vater.28 Mo-ritz sollte recht behalten: Max wird gegenden (nichtjüdischen) Enkel eines Ministersmit gleichen Ambitionen ausgetauscht. DerTraum von der Karriere beim Militär ist aus-geträumt. In seinen Lebenserinnerungenüberspielt er seine Verletztheit mit zwei dür-ren Sätzen: „Eine Anwandlung, die aktiveOffizierskarriere einzuschlagen, wies mein

    Vater rundweg ab. Ich lernte bald einsehen,wie recht er damit hatte.“29 Moritz aktiviertseine internationalen Verbindungen undlenkt die Schritte des Sohnes auf vertrautes,internationales Territorium zurück: Er ver-schafft ihm für das Jahr 1890 eine Beschäf-tigung als Sekretär bei der Banque ImpérialeOttomane in Paris. ···································································

    | 25 |

    Max bei der Kavallerie (1888 oder 1889)

  • | 26 |

    Es kann kein Zufall sein, dass Aby zur glei-chen Zeit sehr ähnliche Erfahrungen macht.Zuvor aber geht er mit einer neunköpfigenStudentengruppe unter Anleitung des Bres-lauer Ordinarius August Schmarsow fürzwei Monate nach Florenz. Aus Schmarsowsim Palazzo Ferroni und in seiner Wohnungabgehaltenen Lehrveranstaltungen erwächstdas bis heute bestehende renommierteKunsthistorische Institut in Florenz. 1897wird es in der Privatwohnung des LeipzigerProfessors Heinrich Brockhaus, den manzum ersten Direktor ernannt hatte, eröffnet.Aby führt in Florenz Ende 1888 den Vater ei-nes Bonner Kommilitonen, den angesehe-nen Hamburger Kaufmann und SenatorAdolph Ferdinand Hertz und dessen Toch-ter Mary durch die Uffizien. Aby und Maryfinden sich mehr als sympathisch – und be-ginnen einen intensiven Briefwechsel. ZumWintersemester 1889/90 wechselt Aby an dieUniversität Straßburg. Sie war nach demDeutsch-Französischen Krieg und der An-nexion Elsass-Lothringens durch das Deut-sche Reich 1872 als „Kaiser-Wilhelm-Uni-versität“ neu gegründet worden mit demerklärten politischen Ziel, ein „Bollwerk desdeutschen Geistes“ zu errichten – galt den-noch als modern und vergleichsweise libe-ral.30 Hier in Straßburg wird er offenbarzum ersten Mal mit offenem Antisemitis-mus konfrontiert. Mehrmals am Tag hört er,wie er der Mutter in einem Brief vom 25.November 1889 berichtet, auf der Straßehinter seinem Rücken: „Desch ischt e Jud“,was ihm schmerzlich bewußt macht, dasssein Aussehen „einen sehr ausgesprochenorientalischen Anstrich“ haben muss. DieFolge sei, dass man sich „ganz mit sich selbstauseinanderzusetzen“ habe. „Dabei wirdman freilich nicht lebensfreudiger.“ Denn,so konstatiert er in kluger Selbstbeobach-

    tung: „Mich beherrscht doch noch immerdieser – eigentlich jämmerliche – Wunsch,unter stillschweigender Anerkennung allerMenschen mit denen ich zu thun habe,meine Wege (in ehrlicher Arbeit, wie ichweiß) zu gehen. Finde ich doch nun aufSchritt und Tritt, daß unser mit Recht so be-liebtes deutsches Volk sich, mit obrigkeitli-cher Erlaubnis jetzt so recht darin gefällt, je-den Juden zuerst einmal als einen fremdenEindringling von zweifelhaften Manierenanzusehen, so bin ich deprimiert. (…) DieVerhandlungen in der Commission desReichstags sind auch nicht erfreulich: Magimmerhin keine offizielle Bestimmung be-stehen, daß Juden nicht zu Reserveoffizierengemacht werden: man hat doch alles eher alsden guten Willen, den Einzelnen anzuer-kennen; nur das wäre doch wirklich der ein-zige Weg, praktisch ein gesellschaftlichesDurchdringen anzubahnen: man merktdoch an allem, daß man es mit Parvenus desNationalgefühls zu thun hat, die sich ihrerselbst noch nicht sicher sind: ‚Es muß bes-ser werden!’“31···································································Es berührt auch heute noch, wie offen derdreiundzwanzigjährige Aby seiner Mutterdas Herz ausschüttet. Er fühlt sich ausge-grenzt. Wie hat es der 1922 ermordete Wal-ther Rathenau formuliert: „In den Jugend-jahren eines jeden deutschen Juden gibt eseinen schmerzlichen Augenblick, an den ersich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ers-ten Male voll bewußt wird, daß er als Bür-ger zweiter Klasse in die Welt getreten istund keine Tüchtigkeit und kein Verdienstihn aus dieser Lage befreien kann.“32 Es ist,vor allem im Rückblick, eine tragische Si-tuation. Aby wird daraus, wie wir noch se-hen werden, sein Lebensthema entwickeln:„Mir kommt oft der Gedanke, mich später

  • praktisch der Lösung der Judenfrage zuzu-wenden: hat man das Recht, sich vom Le-ben fernzuhalten?“ Der Vater antwortet mitdem Hinweis, glücklicherweise gäbe es „hierbei uns in Hamburg keinen Boden für der-artige Gemeinheiten“.33···································································Charlotte Schoell-Glass hat beschrie-ben, wie hinter allen professionellen undkulturpolitischen Aktivitäten Abys diesereine Gedanke als roter Faden immer wiederaufblitzt: die „Judenfrage“. Zu ihrer Lösungwird Aby ein ganzes wissenschaftliches Ge-bäude errichten, an dessen Fassaden dieWorte „Nachleben der Antike“ und „Mne-mosyne“ zu lesen sind; im Inneren aber wirder mit großer Intensität versuchen, denKeim zu einer neuen Geisteshaltung zu ent-wickeln. Es wird ihm dabei nicht nur umdas eigene Ich, um eine Suche nach der ei-genen Identität, sondern um eine allge-meine, gesellschaftliche Perspektive gehen.Sein Interesse gilt der – an keine historischeEpoche gebundene – Frage, wie man primi-tiven Instinkten eine zivilisatorische Kraftentgegensetzen kann, die diese im Zaumhält. Die Metapher vom „Denkraum derBesonnenheit“ wird eine seiner Antwortenauf diese Frage sein. Zunächst aber schließtAby in Straßburg bei Hubert Janitschekseine Ausbildung ab. Seine 1892 eingereichteDissertation befasst sich mit Botticellis be-rühmten Gemälden „Die Geburt der Ve-nus“ und „Frühling“. Sie gelten ihm als Kar-dinalbeispiele für die neue Erkenntnis, dassdie Künstler der Renaissance bei ihrer Wie-derbelebung der Antike nicht etwa nach„edler Einfalt und stiller Größe“, sondernim Gegenteil nach heftigen Emotionen ge-sucht haben. Die Frage, welche Aspekte derAntike ausgewählt werden, wenn man sieJahrhunderte später zitiert und variiert, wird

    zum Kernthema seiner wissenschaftlichenArbeit werden. ···································································Doch noch ein zweiter Aspekt verleiht die-ser frühen Studie Warburgs historische Be-deutung: Während der Arbeit macht er, aufden Spuren Jacob Burckhardts, die Entde-ckung, dass er weiter kommt in der Inter-pretation von Kunstwerken, wenn er dieUmstände ihrer Entstehung genau kennt.Aby ist Hamburger, ist Kaufmannssohn.Der Sinn fürs Praktische, für die Realien desLebens ist ihm in die Wiege gelegt. Mit die-sem Sinn erkennt er, dass Kunst nicht derGegensatz zum Alltag, nicht eine an dieWürdeformel des Museums gebundeneAusnahmeerscheinung ist. Dass er ausge-rechnet in Florenz zu dieser Überzeugungkommt, ist kein Zufall: Die Stadt war, ganzähnlich wie die Freie und Hansestadt Ham-burg, die meiste Zeit ihrer Geschichte eineStadtrepublik. Kaufleute wie die Medicihatten große Vermögen gemacht, und sie in-vestierten großzügig in Bauten, Gemäldeund Skulpturen. Reine Repräsentation istallerdings nicht ihre Sache. Auch die Inves-tition in Kunst muss irgendwie gewinnbrin-gend sein. Diese neue, aus einer spezifischhanseatischen Disposition entwickelte Fra-gestellung bringt Aby zu einem entscheiden-den neuen Ansatz: „Was hat die Kunst mitdem wirklichen Leben zu tun?“ wird von nunan die Frage sein, die ihn umtreibt. Anstattsich auf Künstlerviten und Museumskata-loge zu beschränken, untersucht er die Rech-nungsbücher, Medizinschriften, Beschrei-bungen von Theateraufführungen und Um-zügen sowie Horoskope der Zeit. Und erwird damit überwältigende Forschungser-folge erzielen. ···································································Öfters war es in den letzten Jahren zu Be-

    | 27 |

  • | 28 |

    suchen Abys bei der Familie von Mary Hertzin der Ernst Merck-Str. 28 gekommen. Diezahlreichen Briefe, die seit ihrem erstenKennenlernen gewechselt wurden, gebenAufschluss über eine sich stetig intensivie-rende Liebe, die auch vom geistigen Aus-tausch lebte. Selbst künstlerisch tätig,nimmt Mary intensiv teil an seiner Arbeit,fühlt sich sogar für seine Karriere verant-wortlich. Am 26. September 1892 verlobensich beide heimlich, und die damals sechs-undzwanzigjährige Mary berichtet Abykurze Zeit darauf, dass sie seinen Ring im-mer trüge – aber aufpassen müsse, dass ihnniemand sähe. Beide leiden unter der vor-läufigen Aussichtslosigkeit dieser Bezie-hung, was Abys Gemüt eher verdunkelt. Im-mer wieder zögert er, einmal löst er dieVerlobung sogar wieder. Mary aber gibt mitdem Hinweis auf ihr unbeirrbares Gottver-trauen und ihre Geduld immer aufs Neuedie Richtung an.34 Für die Väter der beiden,vor allem aber für Moritz Warburg, kommteine Legalisierung gar nicht in Frage – nie-mand aus der Familie Warburg hatte bishereinen Nicht-Juden oder eine Nicht-Jüdingeheiratet. Anders verhält es sich mit MarysFamilie, die eigentlich ebenfalls jüdischenUrsprungs ist. Marys als Überseekaufmannund Reeder überaus erfolgreicher GroßvaterAdolph Jacob Hertz hatte sich 1822 luthe-risch taufen lassen:35 ein Umstand, der aberjetzt nicht als Argument in die Waagschalegeworfen werden kann. Im Gegenteil unter-nimmt man offenbar alles, um die einmalerrungene gesellschaftliche Position als ge-achtetes Mitglied des hanseatischen Bürger-tums nicht wieder zu gefährden. Marys Va-ter Adolph Ferdinand war seit 1872 Senatorund bekleidete zahlreiche Ehrenämter undPositionen – unter anderem war er Präsesder Commerzdeputation, Handelsrichter,

    Mitglied der Seemannskasse, der Auswan-dererdeputation und der Bürgerschaft. ···································································Dass Aby nach der Promotion zunächsteinmal in Berlin beginnt, Medizin zu studie-ren (mit Schwerpunkt Psychologie), mageine Konzession an die Familie sein. Aberdieses Studium ist nur ein Intermezzo. ImNovember 1892 erreicht ihn der Einberu-fungsbefehl. Aby leistet seinen Militärdienstals „Einjähriger“ nicht in Bayern, sondernbeim 1. Badischen Feldartillerieregiment Nr.14 in Karlsruhe ab. Eine Flut ausgesprochenunterhaltsamer, vor allem an die „LiebeMutting“ gerichteter Briefe erreicht die Fa-milie in Hamburg, die ausführlich von denQualen und Mühen eines jungen Intellek-tuellen berichten, der plötzlich körperlichgefordert ist. Vor allem das Reiten bereitetdem nur 1,60 Meter großen Aby gewaltigeProbleme; mit seinen kurzen „Stengeln“kommt er kaum aufs Pferd und fällt an denersten beiden Tagen sechsmal herunter;Mitteilungen an die Eltern unterschreibt ermit „Kurzbein“.36 Den Unteroffizieren hälter Vorträge über Kunstgeschichte, die ihmdafür den Dienst erleichtern.37 Wie Max ge-nießt aber auch Aby letztlich das Aufgehenin einer Welt, in der das tägliche Leben vonmännlicher Disziplin geprägt ist. Auch erwird – obwohl gegen Widerstände, die auchantisemitische Untertöne tragen – zum Un-teroffizier befördert; vom Reserveoffizieraber kann gar keine Rede sein. Am 1. No-vember 1893 wird er entlassen, und wie beiseinem jüngeren Bruder schließt sich einelängere Periode im Ausland an. Sie sollte, mitUnterbrechungen, rund zehn Jahre dauern. ···································································Max genießt seine Wanderjahre. Zwei auf-schlussreiche Anekdoten aus jener Zeit cha-rakterisieren seine damaligen Lebensum-

  • stände, aber auch seinen Status als Kron-prinz auf das Schönste. Sie sind zu Famili-enlegenden geworden. Die erste ähnelt einerOpernszene aus „La Bohème“: Vater Moritzlässt ihm, was die Höhe des Budgets für deneigenen Lebensunterhalt betrifft, im Prinzipfreie Hand. „Allmonatlich aber gab ich beiweitem mehr aus als ich erhalten hatte. Ichschämte mich dann, nochmals zur Bank zugehen. Ich hatte eine zweite Wohnung imQuartier Latin, zusammen mit dem mit mirbefreundeten Maler Horsfall. Dort lebte ichalso während der Tage der Leere sehr einfach– aber darum nicht weniger glücklich –, bis

    | 29 |

    Aby (rechts) beim Militärdienst (1892 oder 1893)

    am Ende des Monats mein Budget wiederausgeglichen war. Daraufhin kehrte ichprompt in die üppige Wohnung Rue de Té-héran zurück, wo mich der übers ganze Ge-sicht strahlende Diener wie den verlorenenSohn bewillkommnete.“38 Im folgendenJahr volontiert Max bei N. M. Rothschild &Sons in London. Fast jedes Wochenendeaber reist er, seinem Ruf als Womanizer alleEhre machend, nach Paris, um am Montag-mittag wieder bei Rothschilds zu erschei-nen. Hiervon handelt die zweite Geschichte:„Ein Hamburger Freund berichtete meinemVater, er habe mich in Paris getroffen, vor-

  • | 30 |

    Bankhaus M.M. Warburg & Co. in der Ferdinandstraße 75

  • züglich aussehend und in glänzender Laune.Mein Vater schüttelte den Kopf: ‚Das mußein Doppelgänger gewesen sein, denn meinSohn ist in London. Der andere aber warvon seiner Behauptung nicht abzubringenund wettete schließlich mit meinem Vaterum zwanzig Mark. Der Vater forderte michauf, ihm eine Bestätigung zu schicken, da-mit er seine zwanzig Mark einkassierenkönne. Mir blieb nichts übrig, als ihm zuschreiben, daß ich ‚zur Erledigung dringen-der Angelegenheiten‘ an dem betreffendenTage in Paris gewesen war. Seine Antwortließ nicht auf sich warten: Ich überlasse esDir, ob Du in London oder in Hamburg le-ben willst; tertium non datur.“ Eine dritte

    Möglichkeit gab es nicht – Max gewöhntesich in London ein. Krönender Abschlussder Ausbildung sollte eine Weltreise sein, dieMax zusammen mit seinem Freund PaulKohn-Speyer unternehmen wollte. Die bei-den kannten sich aus London, wo Kohn-Speyer Seniorteilhaber der Firma Brandeis,Goldschmidt & Co., eines bedeutendenMetallhandelshauses, war. Mitten aus denVorbereitungen heraus muss die Reise je-doch abgesagt werden: Der Vater brauchtdringend Unterstützung in der Bank. 1892kehrt Max nach Hamburg zurück, um end-gültig ins das Geschäft einzutreten. UndBruder Paul geht an seiner Stelle auf Welt-reise.

    | 31 |

    ··············································································································································15 Zitiert nach: Roeck, Warburg, S. 22.16 Beides zitiert nach: Schoell-Glass, Warburg, S. 235 f., vgl. auch ebd., S. 53 ff. 17 Vgl. Biester, Beruf, vor allem S. 56 ff. 18 Ebd., S. 58.19 Zitiert nach: Roeck, Warburg, S.37.20 Vgl. ebd., S. 28 ff. 21 Ebd., S. 58.22 Zitiert nach: Ebd.23 Zitiert nach: Hoffmann, Warburg, S. 24.24 1939 wurde J. Dreyfus & Co. durch das Bankhaus Merck Finck & Co. „arisiert“; das Baseler Stammhaus

    der Firma besteht noch heute unter „Dreyfus Söhne & Cie. Aktiengesellschaft, Banquiers“.25 Warburg, Aufzeichnungen, S. 11.26 Hoffmann, Warburg, S. 26.27 Ebd.28 Zitiert nach: Chernow, Die Warburgs, S. 60.29 Warburg, Aufzeichnungen, S. 11.30 Roeck, Warburg, S. 66.31 Zitiert nach: Schoell-Glass, Warburg, S. 254 f.32 Rathenau, Staat, S. 188 f. 33 Zitiert nach: Chernow, Die Warburgs, S. 90.34 Roeck, Warburg, S. 31; Mary Hertz an Aby Warburg. 26. August 1892: WIA, FC.35 Hertz, Hertz, S. 708 f.36 Vgl. Roeck, Warburg, S. 81 ff. 37 Max Warburg, Erinnerungen von Max Warburg an Aby Warburg, o. D., wohl Dezember 1929 (WIA,

    III.134.1.6.). 38 Warburg, Aufzeichnungen, S. 12 f.··············································································································································

  • | 32 |

    Max als junger Teilhaber der Bank

  • Zwei Krisen hat Max gleich zu Beginn sei-ner Tätigkeit als Prokurist in der Firma zubewältigen: Die in St. Petersburg ansässigeBank der Familie de Günzburg – über sei-nen Onkel Siegmund mit ihnen verwandt –ist in Schwierigkeiten geraten. Der risikobe-reite Junior gewinnt seinen vorsichtigerenVater und andere Finanziers dafür, das Hauszu stützen. Die Sache geht gut aus – Jahrespäter wird das Darlehen zurückgezahlt. DieAktion verschafft ihm in der Finanzwelt ei-nen exzellenten Ruf. Dann bricht im August1892 in Hamburg die Cholera aus. Währendin Altona durch das Sandfiltrierwerk aufdem Kösterberg das Trinkwasser sauber unddie Bevölkerung praktisch verschont bleibt,sterben in der Hansestadt etwa 8.000 Men-schen. Pausenlos fahren Wagen mit Särgendurch die Straßen, die Angestellten erhaltenzunächst pro Kopf und Tag zwei FlaschenHennessy Cognac, den sie statt des verun-reinigten Trinkwassers zu sich nehmen. Einpaar Tage später dürfen sie ganz zu Hausebleiben. Der Hafen ist gesperrt. Unterstütztdurch zwei Freiwillige arbeitet Max vonmorgens sieben bis Mitternacht im Ge-schäft: „Ich hatte das sichere Gefühl, immunzu sein.“39 – 1893 kommt Bruder Paul vonder Weltreise zurück und wird ebenfalls Pro-kurist, während Max zum Teilhaber auf-rückt. In den folgenden Jahren arbeitet er

    ununterbrochen. Er will die Bank nachoben bringen, und er will in der hanseati-schen Gesellschaft eine Rolle spielen. ···································································Zunächst geht auch er 1896, völlig über-arbeitet, auf eine lange Reise nach Übersee;sein Ziel ist Afrika. Er trifft den Präsidentender Südafrikanischen Republik Paul (Ohm)Krueger und besichtigt in Swasiland Zinn-minen. Bei der Heimkehr gibt es eine ange-nehme Überraschung: Auf Ausritten hatteMax in einer Gegend, in der die Hambur-ger Familien schon lange ihre Sommersitzehaben – in Blankenese –, ein zauberhaftesGrundstück entdeckt: wenn, dann dieses!Vater Moritz ist grundsätzlich bereit. Aberder geforderte Preis erscheint ihm viel zuhoch. Als einige Jahre später der damaligeBesitzer seine Frau mit einem Liebhaberdort in flagranti erwischt, gibt er den altenSommersitz günstig ab. 1896 erwirbt MoritzWarburg den „Kösterberg“ – vor allem, umim Sommer seine inzwischen weit verstreuteFamilie dort um sich zu scharen. Die Rech-nung wird aufgehen. Und Max hat endlichsein Landhaus. Als man ihm mit 30 Jahrenjedoch die Möglichkeit bietet, in den Senateinzutreten, rät Moritz traurig ab, das seinichts für Juden, so seine Reaktion, manwürde Max nicht als ebenbürtig ansehen.40···································································

    Wie man sich in Hamburg eine Existenz aufbaut

    [4]

    | 33 |

  • | 34 |

    Was tun nach abgeschlossener Disserta-tion? Die Frage kann damals so ratlosmachen wie heute. Aby ergreift im Septem-ber 1895 die Gelegenheit, die Welt jenseitsder europäischen Kultur kennenzulernen.Er reist zur Hochzeit seines Bruders Paul mit Nina Loeb nach New York – ihr ausDeutschland stammender Vater SalomonLoeb ist ein schwerreicher Geschäftsmannund Bankier. Nachdem er den gesellschaft-lichen Teil hinter sich gebracht hat, fährt ernach Washington weiter, besucht dort dieSmithsonian Institution und bricht dann inden Westen auf, um die Rituale der Pueblo-Indianer zu studieren. Aus akademisch-kunsthistorischer Perspektive ist diese Reiseeine höchst originelle Idee, ein ungeheurerSchritt heraus aus dem eng begrenzten Ter-

    ritorium der europäischen „Hochkultur“. Indem Milieu aber, in dem Aby aufgewachsenist, ist es völlig normal, sich bei außereuro-päischen Handelspartnern den Wind umdie Nase wehen zu lassen. Der Aufenthalt inÜbersee, in Südamerika oder Asien gehörtbis heute ganz selbstverständlich zur Ausbil-dung hanseatischer Kaufmannssöhne. Eineständige wachsende ethnografische Samm-lung bildet seit der Mitte des 19. Jahrhun-derts die weitreichenden Handelsbeziehun-gen Hamburgs auch auf der Objektebeneab. Diese Sammlung ist unter dem Namen„Culturhistorisches Museum“ 1871–1878 injenem Gymnasium untergebracht, das Abyzur gleichen Zeit besucht.···································································Abys Forschungsergebnisse sind unter der

    Familie Warburg auf dem Kösterberg

  • | 35 |

    Überschrift „Schlangenritual“ inzwischenvielfach publiziert und kommentiert wor-den. Nach seiner Rückkehr hält er im Laufdes Jahres 1897 zwei Vorträge in Hamburgund einen in Berlin über „Eine Reise durchdas Gebiet der Pueblo-Indianer in Neu-Me-xiko und Arizona“, einen in der Gesellschaftzur Förderung der Amateur-Photographie,den zweiten im „Amerikanistenclub“. ···································································Danach zieht es Aby erst einmal zurücknach Florenz, wo er die Archive kennt, woer seine Forschungen fortsetzen und auswei-ten kann, wo er die Sprache inzwischenziemlich gut beherrscht und wo er – kleinund dunkel – überhaupt nicht auffällt. Er iststolz, wenn man ihn für einen Italiener hältund lebt, wie einst mit Max ausgemacht,von den regelmäßig aus Hamburg eintref-fenden Wechseln, deren Höhe immer malwieder mit dem Vater verhandelt werdenmuss. Aby sei rücksichtslos und immer zuüppig gewesen, so Bruder Max in der Rück-schau, vor allem in Bücherankäufen, er habeaus dem Vater immer größere Summen he-rausgepresst.41 Für Literatur – auch kostbareQuellenwerke – gibt Aby so viel Geld aus,dass die Familie verständnislos den Kopfschüttelt und sich fragt, ob er das alles läse– aber darauf kommt es nicht an: Die Bü-cher sind nicht mehr nur Arbeitsmaterial,sondern sie bilden einen Organismus eige-ner Art. Doch obwohl man Abys Leiden-schaft nicht teilt und nicht recht versteht,nimmt die Familie – vor allem Bruder Max– an allem Anteil. In den gemeinsamenSommerferien erläutert Aby ihm seine Pro-jekte. ···································································Im April 1897 trifft endlich der ersehnteBrief ein: Marys Bruder John kann berich-ten, sein Vater sei mit der Verbindung ein-

    verstanden unter der Bedingung, dass beideParteien ihre Religionszugehörigkeit behiel-ten.42 Mary war inzwischen gelegentlich beiden Geschwistern Abys eingeladen gewesen;wenn bei einer solchen Gelegenheit aberVater Moritz unerwartet das Haus betrat,musste sie sich vor ihm verstecken. Nichtnur in Fragen der Religion, sondern auch inder Mentalität stellt man Unterschiede zwi-schen beiden Familien fest, so Max: „Das El-ternhaus Hertz war puritanisch, der einzigeLuxus die rote Weinflasche. Alle Gänge ka-men auf einmal auf den Tisch, aus Angst vorder Indiskretion der Dienstboten. Es wardas, was wir ungemütlich nennen als Stil.“43

    – Nun findet zunächst die offizielle Verlo-bung und im Oktober 1897 – nach neun

    Aby in Adirondack (1895)

  • | 36 |

    konfliktreichen Jahren – die Hochzeit statt.Die Trauung erfolgt auf dem Landhaus derFamilie Hertz außerhalb Hamburgs statt,die Eltern des Bräutigams bleiben ihr fern –sie treffen das junge Paar aber unmittelbardanach in Wiesbaden, wohin sie sich zu ei-nem Kuraufenthalt begeben hatten. MaxWarburg erinnert sich an diese Zeit als eine„zweite schwere Auseinandersetzung“ Abys

    mit seinem Vater: „Mein Vater betrachteteeine Mischehe als ein Unglück und so muss-te die Heirat gegen seinen Willen stattfin-den. Die Eltern wohnten der Hochzeit nichtbei. Die Aufregung in Hamburg war natür-lich eine grosse, nur wir Geschwister Paul,Nina [die Schwägerin, KM], Olga und ichwaren als Vertreter der Familie bei SenatorHertz und Frau. Kurz nach der Hochzeit

    Humiskatchina-Tanz in Oraibi (1895)

  • söhnten sich die Eltern dank des mildern-den Einflusses der Mutter mit Aby wiederaus und die Schwiegertochter Mary wurdevon da an wie nur irgendeine Tochter vonden Eltern verehrt und geliebt.“44···································································Am 25. Dezember 1897 verlobt sich auchMax – mit der sechs Jahre jüngeren AliceMagnus. Sie ist eine Freundin der Familie,speziell seiner Schwester Olga. Vater Moritzwird erleichtert gewesen sein, denn wäh-rend sein ältester Sohn mit den Familientra-ditionen bricht, verbleibt Max wenigstensäußerlich in dem Rahmen, den ihm seineHerkunft vorgezeichnet hat. Alice ist Jüdin.Ihr Vater, ein Pelzhändler, war früh gestor-ben. Zurückgeblieben waren seine aus Russ-land stammende Frau Lola und neun Kin-der. Die Familie war verwandt mit PiusWarburg in Altona, dem Erben des AltonaerBankhauses W. S. Warburg. Pius spielte impolitischen und gesellschaftlichen Leben Al-tonas eine große Rolle. Er führte ein großesHaus an der Palmaille, wo unter anderemJohannes Brahms und Hans Christian An-dersen zu Gast waren, er war Mäzen und einengagierter Kunstsammler. Mit Anfang zwan-zig geht Alice für drei Jahre zu ihrer Tante,der Opernsängerin Helene von Hornbostel,nach Wien. Sie besucht Mal- und Zeichen-klassen (später wird man ihre Porträtkunstrühmen) und taucht ein in das so viel glanz-vollere Leben der vom kaiserlichen Hof ge-prägten Metropole. Obwohl eigentlich allespasst, erregt die Verbindung doch einigesErstaunen, denn Alice ist mittellos. Wäh-rend Max’ jüngerer Bruder mit der NewYorkerin Nina Loeb in den internationalenGeldadel eingeheiratet hatte, wählte Maxdie sprichwörtliche „arme Verwandte“, diezudem seiner charmanten Leichtlebigkeitein streng-betuliches, diszipliniertes Wesen

    entgegensetzt. Die Liebe eben – am Tagnach der Verlobung schreibt er Alice einenBrief, der mit den Worten „Für immer DeinDein Dein Max“ schließt.45 Drei Monatespäter wird im Hotel „Königlicher Hof“ inder Altonaer Bahnhofstraße eine überausglanzvolle Hochzeit gefeiert: Ein zehngängi-ges Menü, begleitet von sieben Weinen, of-feriert von Kaviar bis Foie Gras alles, was gutund teuer ist. Die Hochzeitsreise führt dasjunge Paar, das in Paris standesgemäß im„Ritz“ absteigt, bis nach Sizilien. Nach ihrerRückkehr beziehen Max und Alice (im Fa-milienkreis „Malice“ genannt) zunächst einkleineres Haus nicht weit vom Mittelwegentfernt, in der Magdalenenstraße 68. Aliceentwickelt gesellschaftlichen Ehrgeiz, ihreDîners sind legendär. 1898 wird das hun-dertjährige Bestehen von M. M. Warburg &Co. gefeiert. Zum Jubiläum gründet dieFirma für ihre 53 Angestellten einen Sozial-fonds. ···································································Noch von Florenz aus macht sich Aby 1899in Hamburg einen Namen mit Veranstal-tungen im Rahmen des breitgefächerten„Allgemeinen Vorlesungswesens“: Aus dem„Akademischen Gymnasium“ erwachsenund seit 1837 offiziell benannt, hatte sich mitdem „Vorlesungswesen“ eine vor-universi-täre Einrichtung etabliert. Es vereinigte ver-schiedene wissenschaftliche Institute wieden Botanischen Garten, die Sternwarte,das Chemische Staatslaboratorium, dasPhysikalische Staatslaboratorium, das Labo-ratorium für Warenkunde, das Institut fürSchiffs- und Tropenkrankheiten; 1908 wirddas Kolonialinstitut hinzukommen. DieDirektoren dieser Einrichtungen waren zuöffentlichen Vorlesungen verpflichtet. Zu-sammen mit den für das „Vorlesungswesen“berufenen Dozenten bildeten sie einen

    | 37 |

  • | 38 |

    Moritz Warburg und seine vier Söhne

    Paul (links), Aby und Max, darüber Felix

  • | 39 |

  • | 40 |

    Aby und Mary (1897)

  • | 41 |

    „Professorenkonvent.“ Der lockere Verbundbot nicht nur Laien, sondern auch speziel-len Berufskreisen wie unter anderem Phar-mazeuten, Verwaltungs- und Zollbeamtenund selbstverständlich Kaufleuten Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. 1895 be-schloss Werner von Melle, damals Mitglieddes Präsidiums der Oberschulbehörde (undspäter Zweiter sowie Erster Bürgermeisterder Hansestadt), die Neuordnung des „All-gemeinen Vorlesungswesens“. Dieses prä-sentierte seitdem ein akademischen An-spruch mit pragmatischem Nutzen verbin-dendes Tableau, in dem sich Aby eine aktiveRolle vorstellen kann. Immer wieder denkter in den Jahren nach seiner Promotion da-rüber nach, wie diese Rolle aussehenkönnte. Und regelmäßig diskutiert er dieseFrage mit Bruder Max. ···································································Zunächst bietet er im Wintersemester

    1899 im Hörsaal A des Johanneums an dreiTagen Vorträge über Leonardo da Vinci an.Ihre Manuskripte haben sich, sorgfältig vonMary abgeschrieben und auf beinahe jederSeite rechts oben mit dem fürsorglichenHinweis „langsam!“ versehen, im Archiv desLondoner Warburg Institute erhalten. DieLeonardo-Veranstaltungen finden ein über-raschendes Echo: Schon eine halbe Stundevor Beginn der Vorlesung, so berichtet diePresse am Tag darauf, ist der etwa 200 Per-sonen fassende Hörsaal so überfüllt, dassman in die Aula umziehen muss.46 EinenSondertermin bietet er in der Kunsthalle an,wo er seinem Publikum anhand der dortverwahrten Zeichnungen und Kupferstichedie Begegnung mit Originalen ermöglicht. Die gewünschte feste Anstellung in Ham-burg, etwa in der Kunsthalle, ergibt sich ausdieser Aktivität zwar nicht: Aby hatte Kunst-hallendirektor Alfred Lichtwark schon frü-

    Aby und Mary in Florenz (ca. 1900)

  • | 42 |

    Max, Alice und Sohn Erich (1900)

  • | 43 |

    her zu verstehen gegeben, dass seinen „reintheoretischen Forschungen“ in Italien das„Gegengewicht praktischer Bethätigung imeigenen Land“ fehle.47 Daraufhin bietet die-ser ihm eine Stelle als Assistent des Direk-tors an. Eine solche untergeordnete Tätig-keit ist jedoch mit Abys eigenständigenwissenschaftlichen Ambitionen nicht kom-patibel. Der damals Vierunddreißigjährigeschlägt Lichtwark im Gegenzug vor, ihn mitder Neuordnung und Publikation derHandzeichnungen und Kupferstiche zu be-trauen – auch, damit er in einem freierenBeschäftigungsverhältnis seine FlorentinerStudien weiterführen kann.48 Leider liegtweder den Entscheidungsträgern – derKommission für die Verwaltung der Kunst-halle – noch dem Direktor selbst etwas ander Beschäftigung eines weiteren Wissen-schaftlers – und schon gar nichts an einerkostspieligen Publikation. Die Pläne zer-schlagen sich im Herbst 1900. Auch zweiBesuche an der Kieler Universität, um sichdort als Privatdozent vorzustellen, bleibenohne Ergebnis.49 Dennoch erwirbt Aby mitdiesen und anderen Vorträgen in den fol-genden Jahren von Florenz aus in seinerHeimatstadt eine Reputation, die ihm dievollständige Wiedereingliederung in denhanseatischen Kosmos später erleichternwird.50···································································Am 15. April 1900 bringt Alice Warburg ei-nen Sohn zur Welt, er erhält den NamenErich Moritz. Ein Stammhalter ist da, allesscheint perfekt zu laufen für Max und seineFrau. Die Firma prosperiert – was nicht zu-letzt den inzwischen weitgespannten Fami-lienbanden zu verdanken ist. 1900 kann dieBank Reichsschatzanweisungen in Höhevon 80 Millionen Mark in den USA platzie-ren. Was den erfolgreichen Bankier jedoch

    tatsächlich belastet zu diesem Zeitpunkt,vertraut er einem Brief an, den er an seinendrei Monate alten Sohn richtet und den die-ser Jahrzehnte später in einem dicken Leder-band entdecken wird:51 „Warum ich Dir ge-rade solches schreibe, wo Du noch nichtdrei Monate alt bist? Weil gerade jetzt umDich herum in der Welt Selbsttäuschungund Lüge ihr Spiel treiben: Der Kaiser sen-det seine Truppen nach China, wo seineMissionäre den Glauben der Liebe verkün-den sollten und schwört Rache für die Er-mordung seines Gesandten in Peking. DerCzar, welcher die Friedensconferenz imHaag einberufen, begeht Treubruch gegendie Finnländer. Engländer und Buren betenzum gleichen protestantischen Gott der Ge-rechtigkeit, daß er ihnen Waffenglück gebeund töten sich in christlicher Liebe. Wirsind in einer Zeit des historischen Rück-schritts: Chauvinismus und Religionsfana-tismus regieren die Welt; da muß jeder Ein-zelne sich stärken, um nicht angesteckt zuwerden und dazu beitragen, daß diese trau-rige Wellenbewegung nur eine kurze sei.Schon wankt die Rechtsprechung (in Frank-reich: Fall Dreyfus, in Deutschland: Fall Ri-tualmord Konitz), da heißt es Kräfte sam-meln, Rückgrat haben: d’rum trinke fix:Milch, Milch und nochmals Milch, dannwird die Harmonie, die ich Dir wünsche,weil sie der Welt fehlt, nicht ausbleiben!“52···································································In dieser eigentlich leichthändig-humorvollformulierten Lebensanweisung ist die Ma-xime „Sich selbst Durchringen zur Selbster-kenntnis, und selbst schaffen durch seineigenes Ich“ von zentraler Bedeutung. Sieerinnert an Aby Warburgs Wort von der„Leistung des Einzelnen“, an der jedes Indi-viduum gemessen werden solle. Es ist ebennicht mehr die Fortsetzung einer Familien-

  • tradition, die Existenz innerhalb des (jüdi-schen) Schutzraumes, die Aby wie auch MaxRückhalt gibt. Beide glauben an die Mög-lichkeit, sich als deutsche Juden durch indi-viduelle Leistung eine neue Identität er-schaffen zu können. Hier, ganz im Privaten,lässt Max erkennen, dass seine Position nochlange nicht gefestigt ist, dass er noch immeraus einer Defensive heraus agiert, derschmerzliche Erfahrungen vorausgehen.Sorgen macht ihm sowohl die außenpoliti-sche als auch die innenpolitische Lage. InFrankreich ist es die bekannte Dreyfus-Af-färe, in Deutschland der „Ritualmord Ko-nitz“, der Max – wie viele andere Juden –beunruhigt. Ritualmord – das Wort wecktauch heute noch ungute Assoziationen. Waswar geschehen? Im westpreußischen NestKonitz, etwa 130 Kilometer südlich vonDanzig gelegen, war am 11. März 1900 aufeinem noch gefrorenen See ein junger Mann

    tot aufgefunden worden. Seine Gliedmaßenhatte man säuberlich abgetrennt, die Wir-belsäule durchgetrennt. Sofort fiel der Ver-dacht auf den ortsansässigen jüdischenSchächer. In der Presse kam das böse Wortvom „Ritualmord“ auf, womit eine seit demMittelalter immer wieder zur Diffamierungder jüdischen Bevölkerung verwendeteGräuellegende neue Nahrung erhielt. In derganzen Region wuchs sich daraufhin antise-mitische Propaganda zu regelrechten Pogro-men aus. Juden mussten um ihr Lebenfürchten, die Konitzer Synagoge brannteaus, die Situation eskalierte und war nurnoch durch fünfhundert preußische Solda-ten unter Kontrolle zu bringen, die in demkleinen Ort Stellung bezogen. Bis heute istder Mörder unbekannt. – Die Konitzer Vor-fälle und ihre propagandistische Aus-schlachtung versetzen selbst dem grundsätz-lich optimistischen Max einen Stoß. Sie

    | 44 |

    Die „Arche“ auf dem Kösterberg

  • | 45 |

    führen dem damals Vierunddreißigjährigendeutlich vor Augen, dass unter der Deckeder Zivilisation noch immer atavistischeund destruktive Kräfte von ungeahntemAusmaß aktiv sind. Auch das Christentumals „Religion der Liebe“, so schlussfolgertMax, mache die Welt nicht zu einem besse-ren Ort. Angesichts dieser fast physische Di-mensionen annehmenden Bedrohungen istes vielleicht kein Zufall, dass man das alteHolzhaus auf dem Kösterberg-Grundstück„Arche“ nennt. ···································································Das Wiederaufflackern uralter VorbehalteJuden gegenüber wird in den Gesprächender Brüder häufig Thema gewesen sein:Auch in den Aufzeichnungen von Aby hatder „Fall Konitz“ Spuren hinterlassen. Aufeinem von ihm selbst mit den Angaben„Konitz“ und „1900“ versehenen Blatt Pa-pier entwirft er einen Text, der durch vieleAusstreichungen und Verbesserungen nurschwer im Zusammenhang lesbar ist; viel-leicht war er als Entwurf für einen Leserbriefgedacht. Das Blatt dokumentiert einenDenkprozess, in dem Aby Warburg um einepersönliche Stellungnahme zu den „Ritual-mord“-Vorwürfen ringt.53 Er fühlt sich zudieser Stellungnahme berufen, so schreibter, weil er bis zu seinem fünfzehnten Lebens-jahr ein gläubiger Anhänger der Orthodoxiegewesen sei, sich dann „unter schweren in-neren und äußeren Kämpfen losgemacht“habe, um sich als Privatgelehrter der moder-nen Wissenschaft zu widmen. „Das schwers-te für einen christlich denkenden Deut-schen ist vielleicht, seinem primären In-stinkte nicht Folge zu leisten (…). Das istgerade der Augenblick, wo sich die Überle-genheit der echten Ruhe zeigen sollte“.54

    Aby geht das Problem psychologisch an. Erversucht sich hineinzuversetzen in jene Bür-

    ger, die in der jüdischen Bevölkerung nochimmer ein fremdes Element sehen, daseinem nicht geheuer ist. Bereits hier setzt ergegen die irrationalen „primären Instinkte“ein Konzept, das er später einprägsam mitdem Schlagwort „Denkraum der Besonnen-heit“ betiteln wird. ···································································Gegen die Bedrohung von außen hilft Ar-beit. Aby sitzt mit Frau und Tochter Ma-rietta in Florenz und baut seine Bibliothekaus. Seine halbherzigen Versuche, im quasivon ihm mitbegründeten, zunächst privatenKunsthistorischen Institut irgendwie Fuß zufassen (heute ist es ein Max-Planck-Insti-tut), hatten nicht den gewünschten Erfolggebracht – was auch an seiner damals schonschwierigen, manchmal zwanghafte Zügeaufweisenden Persönlichkeit gelegen habenmag. Zudem sitzt seit 1897 Heinrich Brock-haus auf dem Direktorenposten, den Abyüberhaupt nicht schätzt. Für das Biblio-theksprojekt benötigt er mehr Mittel. Schonim Juni 1900 deutet er in einem Brief anMax die Idee an, „meine Bibliothek demGeschäft, der Firma geradezu auf ’s Contozu setzen. (…) Ich bin eigentlich ein Narr,daß ich nicht mehr darauf bestehe, daß derKapitalismus auch Denkarbeit auf breites-ter, nur ihm möglicher Basis leisten kann.“55

    Immer wieder erläutert er in Briefen demVater und Bruder Max, dass sie ihn „alspraktische und weitsichtige Kaufleute di-rekt zur Rücksichtslosigkeit in Anschaffun-gen encouragieren“ müssten.56···································································Zur gleichen Zeit arbeitet Aby über einFresko des Malers Domenico Ghirlandaioin der Kirche Santa Trinità.57 Es ist etwa 1483entstanden und handelt von der Lebensge-schichte des Hl. Franziskus. Mitten in die-ser Heiligenvita erscheinen – überraschend

  • | 46 |

    groß und unübersehbar – weltliche Perso-nen auf der Bildfläche. Es sind der Stifter desFreskos, der florentinische Kaufmann Fran-cesco Sassetti sowie der mächtige Lorenzode’ Medici mit seinen Söhnen. Die Frage,wie dieses „unmotivierte[s] Eindringen desweltlichen Elementes“ in die sakrale Sphärezu erklären sei, versucht Aby mit Hilfe neuerVerfahren zu beantworten. Er zieht „Hilfs-mittel aller Art, Schriftstücke, Medaillen,Bilder, Skulpturen“ und ganz gezielt dasneue Medium der Fotografie heran undkann so die Entstehungsbedingungen desWerks klären. Ausdrücklich unter Berufungauf Jacob Burckhardt und dessen bahnbre-chende Arbeiten zur italienischen Renais-

    sance gelingt es Aby in seinem im Novem-ber 1901 fertig gestellten, 1902 veröffentlich-ten Text, dem Leser einen Einblick nicht nurin die Kunst, sondern in das Leben einer ge-samten Epoche zu vermitteln.58 Neue Be-deutung erhält vor allem der Auftraggeber.Die pragmatische Frage nach dem, der dasGeld gibt – und der aus seiner Investition ei-nen wenn auch nur ideellen Gewinn ziehenmöchte, liegt einem hamburgischen Kauf-mannssohn nahe: „Es ist eine der Grund-thatsachen der Kultur der florentinischenFrührenaissance, dass Kunstwerke dem ver-ständnisvollen gemeinschaftlichen Zusam-menwirken zwischen Auftraggebern undKünstlern ihre Entstehung verdanken, also

    Aby, Mary und Tochter Marietta in Florenz (ca. 1900)

  • von vornherein gewissermaßen als Aus-gleichserzeugnisse zwischen Besteller undausführendem Meister anzusehen sind.“59

    Sicher hat Aby sein Thema auch mit einemSeitenblick auf die heimatliche Szenerie aus-gewählt. Florenz als „Geburtsstätte moder-ner selbstbewusster städtisch-kaufmänni-scher Kultur“ scheint nicht allzu weit vonHamburg entfernt zu sein. Und auch mitFrancesco Sassetti bewegt sich Aby auf ver-trautem Gelände. Als „Geschäftsteilhaberder Mediceischen Firma in Lyon“ mit der

    schwierigen Aufgabe betraut, „die zerrütte-ten Verhältnisse der Mediceischen Bank inLyon zu ordnen“,60 entstammt er einem Mi-lieu, das Aby sehr vertraut ist. Sein hier zu-tage tretendes spezielles Erkenntnisinteresse– den „stilistischen Zusammenhang zwi-schen bürgerlicher und künstlerischer Kul-tur“61 darzustellen – macht unabhängig. Esweist über die Grenzen der herkömmlichen,auf die ästhetische „Hochkultur“ konzen-trierten Kunstgeschichte weit hinaus. Manbraucht keinen Leonardo, keinen Michelan-

    | 47 |

    Aby am Schreibtisch in Florenz (ca. 1900)

  • | 48 |

    gelo, nicht einmal Ghirlandaio, um dieseZusammenhänge zu untersuchen – es genü-gen die Glasfenster in der Lüneburger Rats-laube. Abys heute als revolutionär gefeierteNeuausrichtung der wissenschaftlichen Per-spektive ist auf jede historische und jede to-pografische Situation übertragbar – und sielässt dem um seine Karriere ringenden „Pri-vatgelehrten“ die Freiheit, sich auch aufheimatlichem Boden zu betätigen, wennsich die italienischen Optionen zerschlagensollten. Ganz ist die Verbindung nach Ham-burg ohnehin nie abgerissen: Die Sommer-monate verbringt die junge Familie regelmä-ßig im Norden, vor allem – heuschnupfen-bedingt – auf Helgoland. ·····························································