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Analysis III Vorlesung im Wintersemester 2003/04 Daniel Hug 12. Februar 2004

Analysis III - uni-due.dehm0045/ANIII/SkriptA3.pdf · Kapitel 0 Ruck- und Ausblick¨ Ein großer Teil der Vorlesungen ¨uber Analysis I und II befaßt sich mit Begriffen wie Konver-genz,

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Analysis III

Vorlesung im Wintersemester 2003/04

Daniel Hug

12. Februar 2004

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Inhaltsverzeichnis

0 Ruck- und Ausblick 1

1 Das Lebesgue-Integral 51.1 Einfuhrung und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.2 Der Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141.3 Konvergenzsatze und Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201.4 Transformation von Gebietsintegralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

2 Allgemeine Maß- und Integrationstheorie 472.1 Mengensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522.2 Mengenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582.3 Konstruktion und Fortsetzung von Maßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642.4 Spezielle Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722.5 Meßbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842.6 Integration und Konvergenzsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 872.7 Produktmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962.8 Signierte Maße und der Satz von Radon-Nikodym . . . . . . . . . . . . . . . . 1052.9 Konvergenz auf Maßraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

3 Geometrische Integrationstheorie 1213.1 Kurven und Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1213.2 Flachen, Flachenintegrale und Integralsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283.3 Multilineare Algebra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343.4 Differentialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1413.5 Integration von Differentialformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1493.6 Differenzierbare Untermannigfaltigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1573.7 Der Satz von Stokes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Literaturverzeichnis 173

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Kapitel 0

Ruck- und Ausblick

Ein großer Teil der Vorlesungen uber Analysis I und II befaßt sich mit Begriffen wie Konver-genz, Stetigkeit und Differenzierbarkeit. Dabei wird der Rahmen schrittweise erweitert. AmAnfang steht das Studium von Konzepten in R, dann betrachtet man den euklidischen RaumRn, und schließlich werden Verallgemeinerungen in metrischen bzw. topologischen Raumenuntersucht. Die Integralrechnung wurde in den Vorlesungen uber Analysis I und II nur kurzbehandelt. Zur Verfugung steht lediglich der Riemannsche Integralbegriff fur stetige Funktio-nen, die auf R erklart sind.Ziel der Vorlesung ist der Auf- und Ausbau einer Integrations- und Maßtheorie, die fur Anfor-derungen in verschiedenen Gebieten der Mathematik ausreichend ist. Insbesondere zu nennensind hierbei die

• Stochastik, die entscheidende Impulse fur die Entwicklung einer allgemeinen Maß- undIntegrationstheorie gegeben hat;

• Analysis (Funktionalanalysis; Partielle Differentialgleichungen);

• Geometrie;

• Numerik;

• Physik.

Im folgenden Abschnitt wird knapp skizziert, wie sich der Riemannsche Integralbegriff aufden Rn verallgemeinern laßt. Dabei geben wir keine Beweise an, sondern stellen lediglich diewesentlichen Ideen vor. Es wird sich dabei zeigen, daß einige Eigenschaften, die fur einenIntegralbegriff wunschenswert sind, erfullt sind, andere dagegen nicht. Dies ist das Motiv furdie Entwicklung eines anderen Integrationskonzepts, welches leistungsfahiger ist.

In Kapitel 1 werden wir deshalb mit dem systematischen Aufbau einer LebesgueschenIntegrationstheorie im Rn beginnen. Bei einer solchen Theorie steht noch die Integration vonFunktionen im Vordergrund. Inhalte bzw. Volumina von Mengen ergeben sich als Integralevon speziellen Funktionen. Allerdings spielen die Inhalte/Maße der Grundmengen auch schoneine wichtige Rolle.

In Kapitel 2 wird dann eine allgemeine Maßtheorie entwickelt, welche nicht mehr an deneuklidischen Rahmen gebunden ist. Daran schließt sich in einem zweiten Schritt eineIntegrationstheorie an.

Schließlich rucken in Kapitel 3 geometrische Sichtweisen wieder in den Vordergrund. Hiersollen klassische Integralsatze der Vektoranalysis mit Hilfe von Differentialformen verallge-meinert werden.

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2 KAPITEL 0. RUCK- UND AUSBLICK

Riemann-Integral. Unser genereller Rahmen ist zunachst der euklidische Raum Rn mitSkalarprodukt 〈·, ·〉 und Norm ‖ · ‖. Wir benotigen einige Begriffe wie Intervall, Partition,Unter- und Obersumme, die entsprechende Definitionen aus Analysis I und II in naheliegenderWeise verallgemeinern.

Definitionen. Seien a, b ∈ Rn mit ai < bi fur 1 ≤ i ≤ n. Dann heißt

[a, b) := x ∈ Rn : ai ≤ xi < bi fur 1 ≤ i ≤ n

ein Intervall. Fur ein Intervall I = [a, b) ⊂ Rn heißt

µ(I) :=n∏i=1

(bi − ai)

das Maß (der Inhalt, das Volumen) von I und

δ(I) := sup‖x− y‖ : x, y ∈ I

der Durchmesser von I. Ist I ein Intervall und P = I1, . . . , Im eine Menge von Intervallen,so heißt P eine Partition von I, falls Ii ∩ Ij = ∅ fur i 6= j und

I = I1 ∪ · · · ∪ Im

gilt. Schließlich bezeichnet

δ(P) := maxδ(Ii) : i = 1, . . . ,m

die Norm (den Feinheitsgrad) der Partition P = I1, . . . , Im eines Intervalls I.

Offenbar wird bei der Zerlegung eines Intervalls in disjunkte Teile kleineren Durchmessersstark Gebrauch gemacht von der euklidischen Struktur des Rn.

Sei nun I ⊂ Rn ein Intervall, f : I → R eine beschrankte Funktion auf einem Intervall I undP = I1, . . . , Im eine Partition von I. Dann erklaren wir die folgenden Begriffe und Großen:

(a)mk(f) := inff(x) : x ∈ Ik, Mk(f) := supf(x) : x ∈ Ik

(b) Untersumme von f bez. P:

SP(f) :=m∑k=1

mk(f)µ(Ik),

Obersumme von f bez. P:

SP(f) :=m∑k=1

Mk(f)µ(Ik).

(c) Ist ξk ∈ Ik fur k = 1, . . . ,m und ξ = (ξ1, . . . , ξm) (Stutztupel), so heißt

SP(f, ξ) :=m∑k=1

f(ξk)µ(Ik)

Riemannsche Summe von f bez. P und ξ.Offenbar gilt

SP(f) ≤ SP(f, ξ) ≤ SP(f).

(d) Unteres Riemann-Darboux-Integral von f :∫I

f(x) dx := supSP(f) : P ist eine Partition

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Oberes Riemann-Darboux-Integral von f :∫If(x) dx := infSP (f) : P ist eine Partition.

Definition. Eine beschrankte Funktion f : I → R auf einem Intervall I ⊂ Rn heißt Riemann-Darboux-integrierbar, falls ∫

I

f(x) dx =∫If(x) dx =:

∫If(x) dx

gilt.

Definition. Eine beschrankte Funktion f : I → R auf einem Intervall I ⊂ Rn heißt Riemann-integrierbar, falls es eine Zahl S(f) ∈ R gibt, derart daß zu jedem ε > 0 ein δ > 0 existiert, sodaß fur jede Partition P von I mit δ(P ) < δ und fur jedes zugehorige Stutztupel ξ

|SP(f, ξ)− S(f)| < ε

erfullt ist.

Man kann im Fall der Existenz von S(f), d.h. der Riemann-Integrierbarkeit der Funktion fauch

lim‖δ(P)‖→0

SP(f, ξ) = S(f)

schreiben, da S(f) offenbar eindeutig bestimmt ist. Die hier zu betrachtende Art derKonvergenz kann mit Hilfe des Begriffs eines Netzes prazisiert werden.

Es stellt sich jetzt sofort eine Reihe von Fragen:

1. Wie ist das Verhaltnis von Riemann-Darboux- und Riemann-Integrierbarkeit?

Die Antwort ist leicht formulierbar, die Begriffe erweisen sich als aquivalent.

Satz 0.0.1. Sei f : I → R eine beschrankte Funktion auf einem Intervall I ⊂ Rn.Genau dann ist f Riemann-Darboux-integrierbar, wenn f Riemann-integrierbar ist. Indiesem Fall gilt

S(f) =∫If(x) dx.

Dies ist insbesondere angenehm fur Berechnungen und Abschatzungen.

2. Welche Funktionen sind Riemann-integrierbar?

Man sieht leicht, daß die ”lokale Schwankung“ einer Funktion ein Hinderungsgrund furderen Integrierbarkeit sein konnte. Stetige Funktionen uber Rn sind stets Riemann-integrierbar, ebenso monotone Funktionen uber R. Allgemeiner gilt der folgende Satz.

Satz 0.0.2. Eine beschrankte Funktion f : I → R auf einem Intervall I ⊂ Rn istgenau dann Riemann-integrierbar, wenn die Menge der Unstetigkeitsstellen von f eineNullmenge (d.h. klein) ist.

Der Begriff einer Nullmenge wird noch prazisiert werden. Zwar ist diese Funktionenklas-se schon recht groß, sie ist aber bei weitem nicht ausreichend. Insbesondere kann mandie Funktionswerte einer stetigen Funktion nicht an abzahlbar vielen Stellen abandern,ohne dabei eventuell ihre Integrierbarkeit zu zerstoren, obwohl abzahlbare Teilmengenvon Rn stets Nullmengen (im obigen Sinn) sind. Beispiel: Dirichlet-Sprungfunktion.

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4 KAPITEL 0. RUCK- UND AUSBLICK

3. Eigenschaften und Berechnung von Riemann-Integralen.

• Sei R die Menge der auf einem Intervall des Rn definierten Riemann-integrierbarenFunktionen. Zunachst ist das Riemann-Integral, aufgefaßt als Abbildung S : R →R, f 7→ S(f), ein monotones lineares Funktional. Außerdem ist es translationsin-variant. Auf der Menge der stetigen Funktionen mit kompaktem Trager gibt es bisauf Normierung nur ein solches Funktional. Eine solche axiomatische Charakteri-sierung findet man z.B. bei Forster, Analysis III. Spater werden wir allgemeinereAussagen kennenlernen.

• Schon ware es, wenn man die Berechnung eines Riemann-Integrals rekur-siv/sukzessiv auf die Berechnung von eindimensionalen Integralen zuruckfuhrenkonnte. Sei etwa n = 2, I = [a1, b1)× [a2, b2) und f : I → R Riemann-integrierbar.Die Gleichung ∫

If(x) dx =

∫ b1

a1

(∫ b2

a2

f(x1, x2) dx2

)dx1

ist leider im allgemeinen fur Riemann-integrierbare Funktionen nicht gultig. Furdie Gultigkeit der Gleichung muß zusatzlich vorausgesetzt werden, daß fur allex1 ∈ [a1, b1) die Funktion f(x1, ·) auf [a2, b2) Riemann-integrierbar ist. Hier zeigtsich die begrenzte Zweckmaßigkeit des Riemann-Integrals. Ein allgemeines Prinzip(Cavalieri), das die iterative Berechnung von mehrdimensionalen Integralen gestat-tet, ist seit der Antike bekannt und findet eine allgemeine Formulierung im Satz vonFubini, den wir ebenfalls spater im Rahmen der Lebesgueschen Integrationstheoriebesprechen werden.

• Schließlich ist eine Verallgemeinerung der eindimensionalen Substitutionsregel aufFunktionen im Rn ein entscheidendes Instrument in vielen Anwendungen (z.B.Wechsel des Koordinatensystems). Eine solche Transformationsformel werden wirin Kapitel 1 kennenlernen.

• Konvergenzsatze. Sei nun fi : I → R Riemann-integrierbar (i ∈ N) und f : I → R.Es gelte fi → f fur i → ∞ in einem moglichst schwachen Sinn. Man konnte etwadie punktweise Konvergenz der Funktionen fordern. Gilt dann∫

Ifi(x) dx→

∫If(x) dx ?

Im Rahmen der Riemannschen Integrationstheorie kann auf diese Frage keine be-friedigende Antwort gegeben werden. In der Lebesgueschen Integrationstheorie istin einem gewissen Sinn die Definition des Integrals gerade so gemacht, daß Kon-vergenzsatze allgemeiner Art gultig sind. In der Riemannschen Integrationstheoriezeigt sich dagegen erneut, dass insbesondere die Klasse der Riemann-integrierbarenFunktionen zu klein ist.

Beispiel. Sei (rj)j∈N eine Abzahlung der rationalen Zahlen in [0, 1]. Definiere

fj(x) :=

1, x ∈ r1, . . . , rj,0, x ∈ [0, 1] \ r1, . . . , rj,

und

f(x) :=

1, x ∈ Q ∩ [0, 1],0, x ∈ [0, 1] \Q.

Dann gilt punktweise fj(x) → f(x) fur j → ∞ und x ∈ [0, 1], aber f ist nichtRiemann-integrierbar. Andererseits gilt∫

[0,1]fj(x) dx = 0

fur alle j ∈ N.14.10.2003

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Kapitel 1

Das Lebesgue-Integral

In diesem Kapitel wird die Lebesguesche Integrationstheorie im Rn entwickelt. Dies kannzugleich als Vorbereitung einer allgemeinen Maß- und Integrationstheorie verstanden werden.

1.1 Einfuhrung und Eigenschaften

Zuachst wird das Integral von einfachen Funktionen (Treppenfunktionen) erklart. Mit Hilfedieser Treppenfunktion werden dann allgemeinere Funktionen (Oberfunktionen) in einemschwachen Sinn approximiert. Das Integral einer Oberfunktion soll schließlich als Limes derIntegrale von approximierenden Treppenfunktionen definiert werden. In einem letzten Schrittwird dann der Vektorraum der Differenzen von Oberfunktionen gebildet.

Intervalle und deren Maß wurden schon in Kapitel 0 definiert.

Definition. Fur A ⊂ Rn ist die Indikatorfunktion 1A : Rn → R von A erklart durch

1A(x) :=

1, x ∈ A,0, x ∈ Rn \A.

Fur die Indikatorfunktion der Menge A schreibt man manchmal χA anstelle von 1A.

Definition. Eine Treppenfunktion auf Rn ist eine Funktion ϕ : Rn → R der Form

ϕ = c11A1 + · · ·+ ck1Ak

mit k ∈ N, Intervallen A1, . . . , Ak ⊂ Rn und c1, . . . , ck ∈ R.

Man sieht leicht, daß die Treppenfunktionen mit den kanonischen Verknupfungen einenreellen Vektorraum bilden; er wird mit T (Rn) bezeichnet.

Fur ϕ ∈ T (Rn) soll jetzt das Integral∫ϕ erklart werden. Naheliegend ware, fur

ϕ = c11A1 + · · ·+ ck1Ak∈ T (Rn)

(mit cj ∈ R und Intervallen Aj ⊂ Rn) zu setzen∫ϕ :=

k∑j=1

cjµ(Aj).

Tatsachlich ergibt sich dies zwangslaufig, wenn das Integral ein lineares Funktional sein sollund

∫1A = µ(A) fur alle Intervalle A ⊂ Rn gefordert wird. Die folgenden beiden Hilfsaussagen

sollen zeigen, daß eine solche Definition moglich, d.h. von der speziellen Darstellung von ϕunabhangig ist.

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6 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Lemma 1.1.1. Sei A1, . . . , Ak eine Menge von Intervallen im Rn. Dann gibt es ein SystemI1, . . . , Im von paarweise disjunkten Intervallen im Rn derart, daß jedes Aq Vereinigungvon geeigneten Intervallen des Systems ist, d.h. fur q = 1, . . . , k gibt es eine IndexmengeJ(q) ⊂ 1, . . . ,m mit

Aq =⋃

r∈J(q)

Ir.

Beweis. Durch Zeichnen in der Vorlesung, fur n = 2 in den Prasenzubungen, allgemein alsUbungsaufgabe.

In der Situation des Lemmas sagt man, das System I1, . . . , Im sei eine dem SystemA1, . . . , Ak untergeordnete Zerlegung.

Wir benotigen noch eine zweite sehr plausible Hilfsaussage.

Lemma 1.1.2. Sei I ⊂ Rn ein Intervall und I1, . . . , Im eine Menge von paarweise disjunk-ten Intervallen mit I = I1 ∪ · · · ∪ Im. Dann gilt

µ(I) =m∑j=1

µ(Ij).

Beweis. Durch vollstandige Induktion uber m. Eine Anleitung gibt es in den Prasenzubungenund in der Vorlesung. Details sind eine Ubungsaufgabe.

Sei jetzt ϕ ∈ T (Rn) mit Darstellungen

ϕ = a11A1 + · · ·+ ar1Ar = b11B1 + · · ·+ bs1Bs .

Sei I1, . . . , Im eine der Menge A1, . . . , Ar, B1, . . . , Bs untergeordnete Zerlegung (vgl. Lem-ma 1.1.1). Zunachst gilt fur i = 1, . . . , r

Ai =⋃

Ik⊂Ai

Ik.

Setzt man fur k ∈ 1, . . . ,m und i ∈ 1, . . . , r

γik :=ai, Ik ⊂ Ai,0, sonst,

so folgt mit Hilfe von Lemma 1.1.2

r∑i=1

aiµ(Ai) =r∑i=1

ai∑Ik⊂Ai

µ(Ik)

=r∑i=1

m∑k=1

γikµ(Ik)

=m∑k=1

(r∑i=1

γik

)µ(Ik). (1.1.1)

In gleicher Weise folgt aus1Ai =

∑Ik⊂Ai

1Ik

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1.1. EINFUHRUNG UND EIGENSCHAFTEN 7

die Beziehung

ϕ =r∑i=1

ai1Ai =r∑i=1

ai∑Ik⊂Ai

1Ik =m∑k=1

(r∑i=1

γik

)1Ik . (1.1.2)

Fur x ∈ Ik gilt also

ϕIk := ϕ(x) =r∑i=1

γik. (1.1.3)

Aus (1.1.1) und (1.1.3) schließt man

r∑i=1

aiµ(Ai) =m∑k=1

ϕIkµ(Ik).

Analog ergibt sich auchs∑j=1

bjµ(Bj) =m∑k=1

ϕIkµ(Ik).

Wir konnen also die folgende Definition vornehmen.

Definition. Das Integral der Treppenfunktion

ϕ = c11A1 + · · ·+ ck1Ak∈ T (Rn)

ist erklart durch ∫ϕ :=

k∑j=1

cjµ(Aj).

Ein Funktional f : T (Rn) → R heißt monoton (wachsend), falls fur ϕ,ψ ∈ T (Rn) mit ϕ ≥ ψstets f(ϕ) ≥ f(ψ) folgt.

Satz 1.1.3. Die Abbildung

T (Rn) → R, ϕ 7→∫ϕ

ist ein monotones lineares Funktional.

Beweis. Die Linearitat folgt direkt aus der Definition. Fur den Nachweis der Monotonie genugtes offenbar, zu zeigen, daß aus ϕ ≥ 0 stets

∫ϕ ≥ 0 folgt fur ϕ ∈ T (Rn). Zu ϕ ∈ T (Rn) gibt

es eine Darstellung der Form (1.1.2), d.h.

ϕ =m∑j=1

cj1Ij

mit cj ∈ R und paarweise disjunkten Intervallen I1, . . . , Im. Aus ϕ ≥ 0 folgt somit c1, . . . , cm ≥0. Also gilt ∫

ϕ =m∑j=1

cjµ(Ij) ≥ 0.

Jetzt soll die Klasse der integrierbaren Funktionen erweitert werden. Hierzu betrachtet manFunktionen, die sich durch Treppenfunktionen in einem geeigneten Sinn approximieren lassen.Der Konvergenzbegriff, auf den sich die Approximation bezieht, sollte moglichst schwach sein,um zu einer großen Funktionenklasse zu fuhren. Es zeigt sich, daß man selbst die punktweiseKonvergenz abschwachen und ”kleine“ Ausnahmemengen, auf denen keine Konvergenz vorlie-gen muß, zulassen kann. Was ”klein“ in diesem Zusammenhang heißt, wird durch den Begriffder Nullmenge prazisiert.

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8 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Definition. Eine Menge M ⊂ Rn heißt Nullmenge, wenn zu jedem ε > 0 eine Folge (Ik)k∈Nvon Intervallen in Rn existiert mit

M ⊂⋃k∈N

Ik und∑k∈N

µ(Ik) < ε.

Beispiele. Jede abzahlbare Menge (Punkte mit rationalen Koordinaten etwa), affine Un-terraume des Rn der Dimension m < n; Graphen stetiger Funktionen; Cantorsches Diskonti-nuum; Teilmengen von Nullmengen.

Satz 1.1.4. Abzahlbare Vereinigungen von Nullmengen sind Nullmengen.

Beweis. Sei Mj ⊂ Rn fur j ∈ N eine Nullmenge und M =⋃j∈NMj . Sei ε > 0 gegeben. Zu

j ∈ N gibt es, da Mj eine Nullmenge ist, eine Folge (Ijk)k∈N von Intervallen in Rn mit

Mj ⊂⋃k∈N

Ijk und∑k∈N

µ(Ijk) <ε

2j.

Es folgtM ⊂

⋃j∈N

⋃k∈N

Ijk und∑j∈N

∑k∈N

µ(Ijk) <∑j∈N

ε

2j≤ ε.

Die Behauptung folgt, da (Ijk)j,k∈N zu einer Folge angeordnet werden kann und da dieDoppelsumme nicht von der Reihenfolge der Summanden abhangt.

Sprechweise. Sei E eine Eigenschaft, die ein Punkt des Rn haben kann oder auch nicht.Dann sagt man, die Eigenschaft E gilt fast uberall bzw. fur fast alle x ∈ Rn, falls

x ∈ Rn : x hat nicht die Eigenschaft E

eine Nullmenge ist. Sind z.B. fi, f : Rn → R (i ∈ N) Funktionen, so konvergiert (fi)i∈N fastuberall gegen f ,

limi→∞

fi = f fast uberall,

wenn es eine Nullmenge A ⊂ Rn gibt mit

limi→∞

fi(x) = f(x) fur alle x ∈ Rn \A.

Wir erweitern als nachstes die Klasse der Funktionen, fur die ein Integral erklart werden sollund fuhren dazu eine neue Funktionenklasse ein.

Definition. Die Funktion f : Rn → R heißt Oberfunktion, wenn es eine monoton wachsendeFolge (ϕi)i∈N von Treppenfunktionen gibt mit den Eigenschaften

(a) limi→∞ ϕi = f fast uberall,

(b) die Folge (∫ϕi)i∈N ist beschrankt (also konvergent).

Jede solche Funktionenfolge heißt eine erzeugende Folge der Funktion f . Die Menge derOberfunktionen auf Rn wird mit O(Rn) bezeichnet.

Unser Ziel ist, fur f ∈ O(Rn) das Integral∫f mit Hilfe einer erzeugenden Folge (ϕi)i∈N zu f

durch ∫f := lim

i→∞

∫ϕi

zu erklaren. Um die Wohldefiniertheit einer solchen Festlegung nachzuweisen, benotigen wirdie folgenden beiden Hilfsaussagen.

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1.1. EINFUHRUNG UND EIGENSCHAFTEN 9

Lemma 1.1.5. Sei (ϕi)i∈N eine monoton abnehmende Folge nichtnegativer Treppenfunktio-nen mit limi→∞ ϕi = 0 fast uberall. Dann gilt

limi→∞

∫ϕi = 0.

Beweis. Die Voraussetzungen ergeben:

• Es gibt ein Intervall I ⊂ Rn und ein b > 0, so daß fur alle i ∈ N gilt:

ϕi(x) = 0 fur x ∈ Rn \ I und ϕi(x) ≤ b fur x ∈ Rn.

• Es gibt eine Nullmenge A ⊂ Rn mit

limi→∞

ϕi(x) = 0 fur alle x ∈ Rn \A.

• Fur jedes i ∈ N ist die Menge Bi aller Punkte, in denen ϕi unstetig ist, eine Nullmenge.

Dann ist auchC := A ∪

⋃i∈N

Bi

eine Nullmenge.16.10.2003

Sei nun ε > 0 vorgegeben. Dann gibt es eine Folge (Ik)k∈N von Intervallen mit

C ⊂⋃k∈N

I0k und

∑k∈N

µ(Ik) <ε

b+ µ(I)=: ε′.

Hierbei ist I0k der offene Kern von Ik. Sei x ∈ I \C. Wegen ϕi(x) → 0 fur i→∞ gibt es eine

Zahl N(x) ∈ N mit ϕN(x)(x) < ε′. Da ϕN(x)(·) an der Stelle x stetig ist, gibt es ein IntervallJx mit x ∈ J0

x und ϕN(x)(y) < ε′ fur y ∈ Jx. Wegen der Monotonie der Folge (ϕi)i∈N gilt dannfur i ≥ N(x)

ϕi(y) ≤ ε′ fur y ∈ Jx.

Das System I0k : k ∈ N ∪ J0

x : x ∈ I \C ist eine offene Uberdeckung von I. Da I kompaktist, gibt es endlich viele paarweise verschiedene Zahlen k1, . . . , kp ∈ N und endlich viele Punktex1, . . . , xq ∈ I \ C mit

I ⊂ Ik1 ∪ · · · ∪ Ikp ∪ Jx1 ∪ · · · ∪ Jxq .

Setze N := maxN(x1), . . . , N(xq). Fur i ≥ N gilt somit

ϕi(y) ≤ ε′ fur alle y ∈q⋃j=1

Jxj .

Mit

U := I ∩p⋃j=1

Ikjund V := I ∩

q⋃j=1

Jxj

erhalt man fur i ≥ Nϕi ≤ b · 1U + ε′ · 1V ∈ T (Rn).

Hieraus folgt mit den Eigenschaften des Integrals∫ϕi ≤ b

∫1U + ε′

∫1V . (1.1.4)

Wegen 1U ≤∑p

j=1 1Ikjist∫1U ≤

∫ p∑j=1

1Ikj=

p∑j=1

µ(Ikj) ≤

∑k∈N

µ(Ik) < ε′. (1.1.5)

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10 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Aus V ⊂ I folgt 1V ≤ 1I , und damit ∫1V ≤ µ(I). (1.1.6)

Insgesamt ergeben (1.1.4) – (1.1.6)∫ϕi ≤ b · ε′ + ε′ · µ(I) = ε.

Wegen∫ϕi ≥ 0 zeigt dies die Behauptung.

Im nachsten Hilfssatz wird die folgende Notation verwendet.

Bezeichnung. Fur f : Rn → R sei

f+ := maxf, 0, f− := −minf, 0

der Positivteil bzw. der Negativteil von f . Es gilt

f = f+ − f− und |f | = f+ + f−.

Bemerkung. Aus ϕ ∈ T (Rn) folgt ϕ+, ϕ−, |ϕ| ∈ T (Rn).

Lemma 1.1.6. Seien f, g ∈ O(Rn) mit erzeugenden Folgen (ϕi)i∈N, (ψi)i∈N. Sei f ≥ g fastuberall. Dann ist

limi→∞

∫ϕi ≥ lim

i→∞

∫ψi.

Beweis. Sei k ∈ N fest. Die Folge (ψk − ϕi)i∈N ist monoton abnehmend und konvergiert fastuberall gegen ψk − f . Da (ψk)k∈N monoton wachsend ist und fast uberall gegen g konver-giert, ist ψk − f ≤ 0 fast uberall. Somit konvergiert die monoton abnehmende Folge vonTreppenfunktionen ((ψk − ϕi)+)i∈N fast uberall gegen 0. Aus Lemma 1.1.5 folgt so

limi→∞

∫(ψk − ϕi)+ = 0.

Nun ist fur alle i ∈ N ∫ψk −

∫ϕi =

∫(ψk − ϕi) ≤

∫(ψk − ϕi)+,

und damit ∫ψk ≤ lim

i→∞

∫ϕi.

Da k ∈ N beliebig war, folgt die Behauptung.

Ist also f ∈ O(Rn) mit erzeugenden Folgen (ϕi)i∈N, (ψi)i∈N, so gilt

limi→∞

∫ϕi = lim

i→∞

∫ψi ∈ R.

Daher ist die folgende Definition sinnvoll.

Definition. Sei f ∈ O(Rn). Dann ist das Integral von f erklart durch∫f := lim

i→∞

∫ϕi,

wobei (ϕi)i∈N eine erzeugende Folge fur f ist.

Das Integral behalt seine wesentlichen Eigenschaften fur Funktionen aus O(Rn).

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1.1. EINFUHRUNG UND EIGENSCHAFTEN 11

Satz 1.1.7. Fur f, g ∈ O(Rn), α ≥ 0 gilt f + g ∈ O(Rn), αf ∈ O(Rn) und∫(f + g) =

∫f +

∫g und

∫(αf) = α

∫f.

Ist f ≥ g, so ist∫f ≥

∫g.

Beweis. Seien (ϕi)i∈N bzw. (ψi)i∈N erzeugende Folgen fur f bzw. g. Dann ist (ϕi + ψi)i∈Nerzeugende Folge fur f + g, d.h. f + g ∈ O(Rn). Ferner gilt∫

(f + g) = limi→∞

∫(ϕi + ψi) = lim

i→∞

(∫ϕi +

∫ψi

)= lim

i→∞

∫ϕi + lim

i→∞

∫ψi

=∫f +

∫g.

Fur αf argumentiert man analog. Die Monotonie folgt aus Lemma 1.1.6.

Durch (O(Rn),+, ·) ist ein konvexer Kegel, aber noch kein Vektorraum gegeben. Dies belegtdas folgende Beispiel:

f(x) :=

1√x, x ∈ (0, 1],

0, sonst.

Man uberlegt sich leicht, daß f ∈ O(R) gilt. Offensichtlich ist aber −f /∈ O(R), da −f nichtvon unten durch Treppenfunktionen approximiert werden kann.

Um zu einem Vektorraum integrierbarer Funktionen zu kommen, soll fur f = g − h mitg, h ∈ O(Rn) ∫

f :=∫g −

∫h

gesetzt werden. Zum Nachweis der Wohldefiniertheit sei auch f = g − h mit g, h ∈ O(Rn).Dann gilt g + h = g + h und daher∫

g +∫h =

∫(g + h) =

∫(g + h) =

∫g +

∫h,

d.h. ∫g −

∫h =

∫g −

∫h.

Damit ist die folgende Definition sinnvoll.

Definition. Sei L1(Rn) die Menge aller Funktionen der Form f = g−h mit g, h ∈ O(Rn). DieElemente von L1(Rn) heißen Lebesgue-integrierbare (oder einfach integrierbare) Funktionenauf Rn. Fur f = g − h mit g, h ∈ O(Rn) ist das Integral von f definiert durch∫

f :=∫g −

∫h.

Offenbar ist L1(Rn) mit den kanonischen Verknupfungen ein reeller Vektorraum.

Satz 1.1.8. Die Abbildung

L1(Rn) → R, f 7→∫f

ist ein monotones lineares Funktional. Fur f ∈ L1(Rn) gilt |f | ∈ L1(Rn) und∣∣∣∣∫ f

∣∣∣∣ ≤ ∫ |f |.

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12 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Beweis. Der Nachweis der Linearitat und Monotonie ist eine Ubungsaufgabe.

Sei f ∈ L1(Rn) mit f = g−h und g, h ∈ O(Rn). Seien (ϕi)i∈N bzw. (ψi)i∈N erzeugende Folgenfur g bzw. h. Dann gilt

limi→∞

maxϕi, ψi = maxg, h fast uberall,

und (maxϕi, ψi)i∈N ist eine monoton wachsende Folge von Treppenfunktionen mit

maxϕi, ψi = ϕi + ψi −minϕi, ψi

≤ ϕi + ψi −minϕ1, ψ1,

also ∫maxϕi, ψi ≤

∫(ϕi + ψi −minϕ1, ψ1)

=∫ϕi +

∫ψi −

∫minϕ1, ψ1

fur i ∈ N. Die rechte Seite bleibt beschrankt, also ist maxg, h ∈ O(Rn). Analog folgtming, h ∈ O(Rn). Dies zeigt

|f | = maxg, h −ming, h ∈ L1(Rn).

Wegen f ≤ |f |, also∫f ≤

∫|f |, und −f ≤ |f |, also −

∫f =

∫(−f) ≤

∫|f |, erhalt man

|∫f | ≤

∫|f |.

In der Lebesgueschen Integrationstheorie konnen Nullmengen vernachlassigt werden. Eineprazisere Beschreibung gibt der nachste Satz.

Satz 1.1.9. Sei f1 ∈ L1(Rn) und f2 : Rn → R eine Funktion mit f1 = f2 fast uberall. Dannfolgt f2 ∈ L1(Rn) und ∫

f1 =∫f2.

Beweis. Sei f1 = g1 − h1 mit g1, h1 ∈ O(Rn). Setze g2 := g1 und h2 := h1 + f1 − f2. Dannist g2, h2 ∈ O(Rn). Ist namlich (ψi)i∈N eine erzeugende Folge fur h1, so wegen h2 = h1 fastuberall auch fur h2. Ferner gilt damit

∫h2 =

∫h1. Es gilt nun f2 = h1 + f1 − h2 = g1 − h2 =

g2 − h2 ∈ L1(Rn) und ∫f2 =

∫g2 −

∫h2 =

∫g1 −

∫h1 =

∫f1.

Beispiel. Die Funktion f : R → R mit

f(x) :=

1, x ∈ Q,0, x ∈ R \Q

stimmt fast uberall mit der Nullfunktion uberein. Sie ist daher integrierbar und∫f = 0.

Frage. Welche Mengen sind Lebesgue-integrierbar?

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1.1. EINFUHRUNG UND EIGENSCHAFTEN 13

Das vorangehende Beispiel zeigt, daß es Funktionen gibt, die Lebesgue-integrierbar, abernicht Riemann-integrierbar sind.

21.10.2003

Der nachste Satz zeigt, daß jede Riemann-integrierbare Funktion auch Lebesgue-integrierbarist; also ist letztere Funktionenklasse echt großer. Ein einfaches Kriterium zum Nachweis derLebesgue-Integrierbarkeit konnen wir im Moment nicht angeben. Haufig lassen sich aber diespater zu beweisenden Konvergenzsatze verwenden, um die Lebesgue-Integrierbarkeit einerkonkret gegebenen Funktion nachzuweisen.

Satz 1.1.10. Sei f : Rn → R eine beschrankte Funktion, die außerhalb eines passendenIntervalls I verschwindet. Die Menge der Punkte, in denen f unstetig ist, sei eine Nullmenge.Dann ist f ∈ L1(Rn).

Beweis. Fur i ∈ N wird das Intervall I in endlich viele disjunkte Intervalle J(i)1 , . . . , J

(i)ri

vom Durchmesser < 1/i zerlegt derart, daß das System J (i+1)1 , . . . , J

(i+1)ri+1 dem System

J (i)1 , . . . , J

(i)ri untergeordnet ist. Setze

ϕi(x) :=

inff(y) : y ∈ J (i)

k , falls x ∈ J (i)k ,

0, falls x ∈ Rn \ I.

Dann ist (ϕi)i∈N eine monoton wachsende Folge von Treppenfunktionen. Sei x ∈ I ein Punkt,in dem f stetig ist. Zu ε > 0 gibt es also ein δ > 0 mit f(y) ≥ f(x) − ε fur ‖y − x‖ < δ. Seii > 1/δ. Es gilt x ∈ J (i)

k fur ein k ∈ 1, . . . , ri. Wegen δ(J (i)k ) < 1/i < δ gilt ‖x− y‖ < δ fur

alle y ∈ J (i)k , also

f(x) ≥ ϕi(x) = inff(y) : y ∈ J (i)k ≥ f(x)− ε.

Dies zeigt limi→∞ ϕi(x) = f(x) fur alle x ∈ I, in denen f stetig ist. Fur x ∈ Rn \ I gilt dieseKonvergenz trivialerweise. Daher ist

limi→∞

ϕi = f fast uberall.

Da f beschrankt ist, gibt es eine Konstante b > 0 mit ϕi ≤ f ≤ b und daher∫ϕi ≤

∫b1I = bµ(I) <∞.

Dies zeigt f ∈ O(Rn) ⊂ L1(Rn).

Bemerkungen. (1) Satz 1.1.10 besagt gerade, daß jede Riemann-integrierbare Funktionauch Lebesgue-integrierbar (sogar eine Oberfunktion) ist. In gleicher Weise sieht man ein,daß sich eine Funktion f , die wie in Satz 1.1.10 gegeben ist, durch eine monoton fallendeFolge von Treppenfunktionen von oben (fast uberall) approximieren laßt.

(2) Sei A ⊂ Rn beschrankt. Genau dann ist 1A Riemann-integrierbar, wenn ∂A (derRand von A) eine Nullmenge ist. Ist dies gegeben, so nennt man A auch quadrierbar oderJordan-meßbar. Der Inhalt oder das Volumen von A im Sinn von Peano-Jordan ist gegebendurch

∫1A.

(3) Anstelle von∫f schreibt man auch∫f dµ,

∫f(x) dx oder

∫f(x) dµ(x) etc.

(4) Sei jetzt D ⊂ Rn und f : D → R. Dann heißt f integrierbar, falls die durch

f(x) :=f(x), x ∈ D,0, x ∈ Rn \D

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14 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

fortgesetzte Funktion f integrierbar ist. Man erklart∫Df :=

∫f

und fur A ⊂ D auch ∫Af :=

∫f1A,

falls f1A ∈ L1(Rn).

(5) Eine Funktion f wird als fast uberall auf Rn definiert bezeichnet, wenn es eine NullmengeA ⊂ Rn gibt, so daß f auf Rn\A definiert ist. In diesem Fall kann f durch beliebige Festlegungvon Funktionswerten auf A zu einer Funktion f auf Rn fortgesetzt werden. Die Integrierbarkeitund das Integral von f sind von der Wahl der Fortsetzung unabhangig. Die Funktion f heißtintegrierbar, falls f integrierbar ist; in diesem Fall setzt man

∫f :=

∫f .

1.2 Der Satz von Fubini

Bislang stehen noch keine effektiven Berechnungsverfahren fur mehrdimensionale Integralezur Verfugung. In diesem Abschnitt wird ein Satz bewiesen, der z.B. die sukzessive Be-rechnung des Integrals einer Funktion f : Rn → R durch schrittweise Berechnung von neindimensionalen Integralen gestattet.

Ein klassisches Prinzip, das nach Cavalieri benannt ist und auf die griechische Antike(Archimedes) zuruckgeht, ermoglicht etwa die Berechnung des Volumens einer Halbkugeldurch Vergleich mit einem entsprechenden Kreiszylinder, aus dem ein senkrechter Kreiskegelherausgebohrt wurde. Man beachte dabei, dass entsprechende Schnittflachen der beidenKorper, die parrallel zur Grundflache sind, jeweils gleichen Flacheninhalt haben. Eine praziseund allgemeine Formulierung des Cavalierischen Prinzips ist gerade durch den Satz vonFubini gegeben.

Die folgenden beiden Hilfssatze ergeben zusammen eine Charakterisierung von Nullmengenmit Hilfe von Folgen fast uberall konvergenter Treppenfunktionen. Der erste dieser Hilfssatzewird spater in Abschnitt 1.3 erheblich verallgemeinert werden.

Lemma 1.2.1. Sei (ϕi)i∈N eine monoton wachsende Folge von Treppenfunktionen auf Rn,und sei

(∫ϕi)i∈N beschrankt. Dann ist die Folge (ϕi)i∈N fast uberall konvergent.

Beweis. O.B.d.A. sei ϕi ≥ 0 fur i ∈ N (ersetze eventuell (ϕi)i∈N durch (ϕi − ϕ1)i∈N). NachVoraussetzung gibt es eine Zahl b > 0 mit

∫ϕi ≤ b fur alle i ∈ N. Sei A ⊂ Rn die Menge aller

x ∈ Rn, fur die (ϕi(x))i∈N divergiert. Sei ε > 0. Fur i ∈ N setze

Ai := x ∈ Rn : ϕi(x) ≥ b/ε.

Dann gilt A ⊂⋃i∈NAi. Wegen ϕi ∈ T (Rn) ist Ai darstellbar als Vereinigung von endlich vielen

paarweise disjunkten Intervallen, d.h. 1Ai ∈ T (Rn). Fur x ∈ Ai gilt ϕi(x) ≥ b/ε = bε−11Ai(x);wegen ϕi ≥ 0 ist also ϕi ≥ bε−11Ai und daher

b ≥∫ϕi ≥

b

ε

∫1Ai ,

d.h.∫

1Ai ≤ ε. Aus Ai ⊂ Ai+1 folgt

A ⊂⋃i∈N

Ai ⊂ A1 ∪⋃i∈N

(Ai+1 \Ai).

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1.2. DER SATZ VON FUBINI 15

Fur jedes i ∈ N kann man Ai+1 \ Ai als Vereinigung von endlich vielen paarweise disjunktenIntervallen darstellen, ebenso A1. Damit folgt

A ⊂⋃k∈N

Ik,

wobei (Ik)k∈N eine Folge paarweise disjunkter Intervalle ist. Fur jedes m ∈ N gibt es ein i ∈ Nmit

m⋃k=1

Ik ⊂ Ai,

wegen der paarweisen Disjunktheit der Intervalle also

m∑k=1

µ(Ik) =∫ m∑

k=1

1Ik ≤∫

1Ai ≤ ε.

Dies zeigt∞∑k=1

µ(Ik) ≤ ε.

Da ε > 0 beliebig war, ist A eine Nullmenge.

Lemma 1.2.2. Sei A ⊂ Rn eine Nullmenge. Dann gibt es eine monoton wachsende Folge(ϕi)i∈N von (nichtnegativen) Treppenfunktionen auf Rn derart, daß

(∫ϕi)i∈N konvergiert,

aber (ϕi(x))i∈N fur alle x ∈ A divergiert.

Beweis. Da A eine Nullmenge ist, gibt es zu jedem i ∈ N eine Folge (Iik)k∈N von Intervallenmit

A ⊂⋃k∈N

Iik und∑k∈N

µ(Iik) <12i.

Die Doppelfolge (Iik)i,k∈N laßt sich als Folge (Ir)r∈N schreiben. Fur m ∈ N sei

ϕm := 1I1 + · · ·+ 1Im .

Dann ist (ϕm)m∈N eine monoton wachsende Folge von Treppenfunktionen mit∫ϕm =

m∑r=1

µ(Ir) ≤∑i∈N

∑k∈N

µ(Iik) ≤∑i∈N

2−i = 1.

Die Folge (∫ϕm)m∈N ist also konvergent. Sei andererseits x ∈ A. Fur jedes i ∈ N ist x ∈⋃

k∈N Iik, d.h. x ∈ Iikifur ein ki ∈ N. Zu gegebenem j ∈ N gibt es ein m ∈ N mit

I1k1 , . . . , Ijkj∈ Ir : r = 1, . . . ,m.

Es folgt

ϕm(x) =m∑r=1

1Ir(x) ≥ j,

d.h. (ϕm(x))m∈N ist divergent.

Den Satz von Fubini formulieren wir zunachst nur fur n = 2.

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16 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Satz 1.2.3. Sei f ∈ L1(R2). Dann ist fur fast alle x ∈ R die durch

y 7→ f(x, y), y ∈ R

definierte Funktion integrierbar, die fast uberall auf R definierte Funktion

x 7→∫f(x, y) dy

ist integrierbar, und es gilt ∫f =

∫ (∫f(x, y) dy

)dx.

Beweis. Der Beweis erfolgt in mehreren Schritten. Die Vorgehensweise entspricht derschrittweisen Definition des Integrals.

(1) Sei f = 1I mit I = I1 × I2 und Intervallen I1, I2 ⊂ R. Es gilt fur alle x ∈ R

y 7→ f(x, y) = 1I1(x)1I2(y) ∈ T (Rn) ⊂ L1(R)

und ∫f(x, y) dy = µ(I2) · 1I1(x) ∈ T (Rn) ⊂ L1(R).

Es folgt ∫ (∫f(x, y) dy

)dx =

∫1I1(x)µ(I2) dx = µ(I1)µ(I2)

= µ(I) =∫f.

(2) Sei ϕ ∈ T (R2). Alle drei Teilbehauptungen folgen sofort aus (1) und der Linearitat desIntegrals.

Fur den dritten Schritt benotigen wir einen Hilfssatz.

Lemma 1.2.4. Sei A ⊂ R2 eine Nullmenge. Dann ist

Ax := y ∈ R : (x, y) ∈ A

fur fast alle x ∈ R eine Nullmenge.

Beweis. Sei A ⊂ R2 eine Nullmenge. Nach Lemma 1.2.2 gibt es eine monoton wachsende Folge(ϕi)i∈N in T (R2), so daß

(∫ϕi)i∈N konvergiert und (ϕi(x, y))i∈N fur alle (x, y) ∈ A divergiert.

Nachfolgend werden die unter (2) bewiesenen Aussagen verwendet. Setze

Φi(x) :=∫ϕi(x, y) dy, x ∈ R.

Dann ist (Φi)i∈N eine monoton wachsende Folge in T (R) und∫ϕi =

∫Φi

fur i ∈ N. Wegen Lemma 1.2.1 gibt es nun eine Nullmenge N1 ⊂ R, so daß (Φi(x))i∈N furx /∈ N1 konvergiert. Ist x /∈ N1, so konvergiert also(∫

ϕi(x, y) dy)i∈N

.

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1.2. DER SATZ VON FUBINI 17

Fur x /∈ N1 folgt durch eine weitere Anwendung von Lemma 1.2.1 die Existenz einer Null-menge N2(x) ⊂ R, so daß (ϕi(x, y))i∈N fur alle y /∈ N2(x) konvergiert.

Sei nun x /∈ N1 und y ∈ Ax. Dann ist (x, y) ∈ A, d.h. (ϕi(x, y))i∈N ist divergent, unddamit y ∈ N2(x). Fur fast alle x ∈ R gilt also Ax ⊂ N2(x).

23.10.2003

(3) Sei f ∈ O(R2). Sei (ϕi)i∈N eine erzeugende Folge zu f . Fur i ∈ N setzen wir

Φi(x) :=∫ϕi(x, y) dy fur x ∈ R, i ∈ N.

Somit ist (Φi)i∈N eine monoton wachsende Folge in T (R) mit∫Φi =

∫ϕi →

∫f fur i→∞.

Nach Lemma 1.2.1 gibt es eine Nullmenge N1 ⊂ R, so daß (Φi(x))i∈N fur x /∈ N1 konvergentist.

Sei A ⊂ R2 eine Nullmenge mit

limi→∞

ϕi(x, y) = f(x, y) fur (x, y) ∈ R2 \A. (1.2.7)

Sei N ′1 ⊂ R eine Nullmenge, so daß Ax ⊂ R eine Nullmenge ist fur x /∈ N ′

1. Dann ist auchN := N1 ∪N ′

1 eine Nullmenge, und fur x ∈ R \N gilt:

Ax ist Nullmenge und (Φi(x))i∈N ist konvergent.

Sei x ∈ R \N . Dann gilt (1.2.7) fur y /∈ Ax, d.h. fur fast alle y ∈ R, und

limi→∞

∫ϕi(x, y) dy = lim

i→∞Φi(x) existiert;

insbesondere ist (ϕi(x, ·))i∈N eine erzeugende Folge zu f(x, ·). Dies zeigt fur x /∈ N , d.h. furfast alle x ∈ R,

f(x, ·) ∈ O(R) und F (x) :=∫f(x, y) dy = lim

i→∞Φi(x). (1.2.8)

Fur x ∈ N ist F beliebig definiert. Dies wiederum zeigt

F ∈ O(R) und∫F = lim

i→∞

∫Φi =

∫f. (1.2.9)

(4) Sei f ∈ L1(R2). Dann gilt f = g−h mit g, h ∈ O(R2). Anwendung von (1.2.8) und (1.2.9)auf g, h liefert die Behauptung.

In gleicher Weise folgt fur f ∈ L1(R2), daß∫f =

∫ (∫f(x, y) dx

)dy

und die erforderlichen Integrierbarkeitsaussagen gelten.

Korollar 1.2.5. Fur f ∈ L1(R2) gilt∫ (∫f(x, y) dy

)dx =

∫ (∫f(x, y) dx

)dy.

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18 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Beispiel. Die Funktion f : R2 → R sei erklart durch

f(x, y) :=

y−2, 0 < x < y < 1,

−x−2, 0 < y < x < 1,0, sonst.

Dann folgt fur y ∈ (0, 1):∫ 1

0f(x, y) dx =

∫ y

0y−2 dx+

∫ 1

y−x−2 dx

=1y

+1x

∣∣∣∣1y

= 1,

also ∫ 1

0

(∫ 1

0f(x, y) dx

)dy =

∫ 1

01 dy = 1.

Ahnlich erhalt man fur x ∈ (0, 1):∫ 1

0f(x, y) dy =

∫ 1

xy−2 dy +

∫ x

0−x−2 dy

= −1y

∣∣∣∣1x

+ (−1)1x

= −1,

also ∫ 1

0

(∫ 1

0f(x, y) dy

)dx =

∫ 1

0(−1) dx = −1.

Dies impliziert insbesondere f /∈ L1(R2).

Der Satz von Fubini wird jetzt in allgemeinerer Form formuliert. Der Beweis erfordert nuroffensichtliche Anderungen gegenuber dem Fall n = 2, so daß wir diesen nicht aufzuschreibenbrauchen. Sei k ∈ 1, . . . , n − 1. Wir identifizieren Rn−k mit dem Unterraum des Rn, dervon den ersten n − k Vektoren der Standardbasis des Rn aufgespannt wird, analog Rk mitdem von den letzten k Basisvektoren aufgespannten Unterraum. Dann konnen wir Rn mitRn−k × Rk identifizieren. Die Elemente von Rn werden jetzt als Paare (x, y) geschrieben mitx ∈ Rn−k und y ∈ Rk.

Satz 1.2.6 (Fubini). Sei f ∈ L1(Rn). Dann ist fur fast alle x ∈ Rn−k die durch

y 7→ f(x, y), y ∈ Rk

definierte Funktion integrierbar, die fast uberall definierte Funktion

x 7→∫f(x, y) dy, x ∈ Rn−k

ist integrierbar, und es gilt∫f =

∫ (∫f(x, y) dy

)dx =

∫ (∫f(x, y) dx

)dy.

Bemerkungen. (1) Die Zerlegung des Rn kann auch bezuglich einer beliebigen Orthogo-nalbasis des Rn vorgenommen werden bzw. bezuglich zweier orthogonaler Unterraume desRn. Allerdings ist bis zu diesem Punkt noch nicht klar, daß der Wert des Integrals von derzugrundeliegenden Wahl der Orthonormalbasis unabhangig ist. Dies wird erst am Ende vonAbschnitt 1.3 und in allgemeinerer Form in Abschnitt 1.4 bewiesen.

(2) Eine wiederholte Anwendung des Satzes von Fubini fuhrt zu einer Moglichkeit, ein Integralim Rn als iteriertes Integral zu berechnen, z.B. in der folgenden Form:

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1.2. DER SATZ VON FUBINI 19

Korollar 1.2.7. Fur f ∈ L1(Rn) gilt∫f =

∫· · ·∫

︸ ︷︷ ︸n−mal

f(x1, . . . , xn) dx1 . . . dxn.

Im konkreten Fall konnen freilich andere Zerlegungen bzw. eine andere Integrationsreihenfol-ge nutzlich sein.

Schließlich kann man durch ein Beispiel zeigen, daß aus der Existenz der iterierten Integralefur eine gegebene Funktion und der Gultigkeit der Vertauschung der Integrationsreihenfolgenicht die Integrierbarkeit der Funktion folgt. Ein konkretes Beispiel hierfur wird spater ineiner Ubungsaufgabe diskutiert werden.

Anwendungsbeispiel. Berechnung des Kugelvolumens. Fur r > 0 sei

Br := x ∈ Rn : ‖x‖ ≤ r.

Das Volumen von Br ist definiert durch

µ(Br) :=∫

1Br .

Der Rand ∂Br von Br ist eine Nullmenge, da sich ∂Br als Vereinigung zweier Graphen uberRn−1 schreiben laßt. Also ist 1Br in der Tat integrierbar. Außerdem gilt fur jede Funktionf ∈ L1(Rn), daß auch τaf ∈ L1(Rn) erfullt ist fur a ∈ Rn, wobei (τaf)(x) := f(x + a) furx ∈ R, und ∫

f =∫τaf.

Dies folgt zunachst fur Intervalle nach Definition, fur Treppenfunktionen wegen der Linearitatdes Integrals, dann fur Oberfunktionen und schließlich fur beliebige integrierbare Funktionen,entsprechend dem Aufbau der Lebesgueschen Integrationstheorie. Daher andert sich das Maßeiner Menge bei Verschiebung der Menge nicht.

Setzeκ(n, r) := µ(Br), Br ⊂ Rn.

Wir verwenden den Satz von Fubini mit der Zerlegung Rn = Rn−1 × R. Dann folgt mitx ∈ Rn−1 und y ∈ R:

κ(n, r) =∫

1Br =∫ ∫

1Br(x, y) dx dy.

Fur festes y ∈ R und x = (x1, . . . , xn−1) gilt

1Br(x, y) = 1 ⇔ (x, y) ∈ Br ⇔ x21 + · · ·+ x2

n−1 + y2 ≤ r2,

also 1Br(x, y) = 1 fur |y| ≤ r und ‖x‖ ≤√r2 − y2, und 1Br(x, y) = 0 sonst. Es folgt∫

1Br(x, y) dx =κ(n− 1,

√r2 − y2), |y| ≤ r,

0, |y| > r,

und somit

κ(n, r) =∫ r

−rκ(n− 1,

√r2 − y2) dy. (1.2.10)

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20 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Mit κ(n) := κ(n, 1) folgt κ(n, r) = rnκ(n) fur r > 0 durch vollstandige Induktion nach n ∈ N.Fur n = 1 gilt namlich offenbar κ(1, r) = 2r. Induktionsschritt: (Substitution y = rz )

κ(n, r) =∫ r

−rκ(n− 1,

√r2 − y2) dy

=∫ r

−r

√r2 − y2

n−1κ(n− 1) dy

=∫ 1

−1rn√

1− z2n−1

κ(n− 1) dz

= rn∫ 1

−1κ(n− 1,

√1− z2) dz

= rnκ(n, 1) = rnκ(n).

Aus (1.2.10) folgert man nun mit der Substitution y = − cosϕ

κ(n)κ(n− 1)

=∫ 1

−1(1− y2)

n−12 dy

=∫ π

0sinn ϕdϕ = 2

∫ π/2

0sinn ϕdϕ

=

2(n− 1)(n− 3) · · · 3 · 1n(n− 2) · · · 4 · 2

π

2, n gerade,

2(n− 1)(n− 3) · · · 4 · 2n(n− 2) · · · 3 · 1

, n ungerade,

wobei im letzten Schritt partielle Integration verwendet wird, um eine Rekursionsgleichung inn fur das Integral abzuleiten. Beginnend mit κ(1) = 2 gelangt man jetzt mittels vollstandigerInduktion zu

κ(n) =

πk

k!, n = 2k, k ∈ N,

k!(2k + 1)!

22k+1πk, n = 2k + 1, k ∈ N0.

Mit Hilfe der Gammafunktion erhalt man die einheitliche Darstellung

κ(n) =π

n2

Γ(n2 + 1).

1.3 Konvergenzsatze und Anwendungen

Die Leistungsfahigkeit und gute Anwendbarkeit der Lebesgueschen Integrationstheorie beruhtwesentlich auf der Vertauschbarkeit der Integration mit gewissen Grenzubergangen. Entspre-chende Aussagen sollen in diesem Abschnitt bewiesen werden. Die zentralen Resultate sinddie Satze 1.3.3 und 1.3.6. Insbesondere enthalten diese Kriterien fur die Integrierbarkeit vonFunktionen.

Beispiel. In Lemma 1.2.1 wurde gezeigt: Sei (ϕi)i∈N eine monoton wachsende Folge in T (Rn)und

(∫ϕi)i∈N beschrankt. Dann existiert f(x) := limi→∞ ϕi(x) fur fast alle x ∈ Rn. Somit

ist f ∈ O(Rn) ⊂ L1(Rn) und ∫f =

∫ (limi→∞

ϕi

)= lim

i→∞

∫ϕi.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 21

Um diese Aussage auf Folgen integrierbarer Funktionen zu verallgemeinern, gehen wir wiederschrittweise vor.

Satz 1.3.1. Sei (fi)i∈N eine monoton wachsende Folge von Oberfunktionen, und sei(∫fi)i∈N

beschrankt. Dann konvergiert (fi)i∈N fast uberall gegen eine Funktion f ∈ O(Rn), und es gilt∫f = lim

i→∞

∫fi.

Beweis. Es gibt ein b > 0 mit∫fi ≤ b fur i ∈ N. Sei (ϕik)k∈N eine erzeugende Folge fur fi,

i ∈ N. Setzeϕm := maxϕik : 1 ≤ i, k ≤ m

Dann ist (ϕm)m∈N eine monoton wachsende Folge von Treppenfunktionen. Fur m ∈ N giltϕm ≤ fm fast uberall, d.h. ∫

ϕm ≤∫fm ≤ b.

Die Folge (ϕm)m∈N konvergiert aufgrund von Lemma 1.2.1 fast uberall gegen eine Funktionf ∈ O(Rn) und

limm→∞

∫ϕm =

∫f.

Nach Definition von ϕm gilt ϕim ≤ ϕm fur i ≤ m, d.h.

ϕi ≤ fi ≤ f fast uberall, i ∈ N.

Da andererseits ϕi → f fur i→∞ fast uberall gilt, folgt

limi→∞

fi = f fast uberall.

Wegen ∫ϕi ≤

∫fi ≤

∫f und lim

i→∞

∫ϕi =

∫f

erhalt man schließlichlimi→∞

∫fi =

∫f.

Satz 1.3.1 soll schließlich fur integrierbare Funktionen gezeigt werden. Hierfur wird ein Hilfs-satz benotigt. 28.10.2003

Lemma 1.3.2. Sei f ∈ L1(Rn) und ε > 0. Dann gibt es g, h ∈ O(Rn) mit f = g − h, h ≥ 0und

∫h < ε.

Beweis. Es gibt g1, h1 ∈ O(Rn) mit f = g1−h1. Sei (ϕi)i∈N eine erzeugende Folge fur h1, d.h.ϕi ≤ h1 fast uberall und

∫ϕi →

∫h1. Daher gibt es ein N ∈ N mit

0 ≤∫h1 −

∫ϕN < ε.

Setze h2 := h1−ϕN , g2 := g1−ϕN . Dann gilt f = g2−h2, h2, g2 ∈ O(Rn), h2 ≥ 0 fast uberallund

∫h2 < ε. Definiere h := h+

2 und g := f + h. Dann ist f = g− h, h ≥ 0 und g, h ∈ O(Rn),da h = h2 sowie g = g2 fast uberall. Insbesondere gilt∫

h =∫h+

2 =∫h2 < ε.

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22 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Satz 1.3.3 (von der monotonen Konvergenz). Sei (fi)i∈N eine monotone Folge inL1(Rn), und sei

(∫fi)i∈N beschrankt. Dann konvergiert die Folge (fi)i∈N fast uberall gegen

eine Funktion f ∈ L1(Rn), und es gilt∫f = lim

i→∞

∫fi.

Beweis. O.B.d.A. sei (fi)i∈N monoton wachsend (sonst betrachte (−fi)i∈N) und fi ≥ 0 (sonstgehe uber zu (fi − f1)i∈N). Setze a1 := f1 und ai := fi − fi−1, i ≥ 2. Dann ist ai ∈ L1(Rn),ai ≥ 0 und fi = a1 + · · ·+ ai fur i ∈ N. Nach Lemma 1.3.2 gibt es fur jedes i ∈ N Funktionenbi, ci ∈ O(Rn) mit ai = bi − ci, ci ≥ 0 (und somit bi = ai + ci ≥ 0) und

0 ≤∫ci ≤ 2−i.

Setze gi := b1 + · · ·+bi und hi := c1 + · · ·+ci, i ∈ N; dann gilt gi, hi ∈ O(Rn) und fi = gi−hi.Ferner sind die Folgen (gi)i∈N, (hi)i∈N monoton wachsend, und es gilt∫

hi <i∑

j=1

2−j < 1,∫gi =

∫fi +

∫hi.

Die Folgen(∫hi)i∈N,

(∫gi)i∈N sind also beschrankt. Satz 1.3.1 ergibt die Existenz von h, g ∈

O(Rn) mit hi → h und gi → g fast uberall fur i→∞. Also gilt fi → g − h =: f fast uberallfur i→∞ und f ∈ L1(Rn). Aus

limi→∞

∫gi =

∫g und lim

i→∞

∫hi =

∫h

folgt gerade

limi→∞

∫fi = lim

i→∞

∫(gi − hi) = lim

i→∞

∫gi − lim

i→∞

∫hi =

∫g −

∫h =

∫f.

Korollar 1.3.4. Ist f ∈ L1(Rn), f ≥ 0 fast uberall und∫f = 0, so gilt f = 0 fast uberall.

Beweis. O.B.d.A. ist f ≥ 0. Die Folge (i · f)i∈N ist monoton wachsend, i · f ∈ L1(Rn) fur allei ∈ N, und die Folge der Integrale

(∫(if)

)i∈N ist beschrankt. Nach Satz 1.3.3 konvergiert

(i · f)i∈N fast uberall. Dann muß aber f = 0 fast uberall erfullt sein.

Die folgende Aussage betrifft eine Situation, in der keine punktweise Konvergenz der Funk-tionenfolge vorzuliegen braucht. Einerseits ist diese Aussage oft nutzlich, um Abschatzungenherzuleiten, andererseits ist Satz 1.3.5 entscheidend fur den Beweis von Satz 1.3.6. Wir er-innern zuvor an die Definition des Limes inferior einer beschrankten Folge (ai)i∈N reellerZahlen:

lim infi→∞

ai := supi≥1

infaj : j ≥ i = limi→∞

infaj : j ≥ i.

Analog erklart man den Limes superior durch

lim supi→∞

ai := infi≥1

supaj : j ≥ i = limi→∞

supaj : j ≥ i.

Offenbar gilt stets

lim infi→∞

ai ≤ lim supi→∞

ai und lim infi→∞

(−ai) = − lim supi→∞

ai.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 23

Fur eine beschrankte Folge ist der Limes inferior der kleinste Haufungswert und der Limessuperior der großte Haufungswert der Folge. Bei der nachfolgenden Betrachtung werden dieauftretenden Folgen fast uberall beschrankt sein; dies wird im Beweis des Lemmas von Fatouunter anderem nachgewiesen.

Satz 1.3.5 (Lemma von Fatou). Sei (fi)i∈N eine Folge integrierbarer Funktionen. Es gebeeine Funktion g ∈ L1(Rn) und eine Zahl b ∈ R mit

fi ≥ g und∫fi ≤ b fur i ∈ N.

Dann gilt lim infi→∞ fi ∈ L1(Rn) und∫lim infi→∞

fi ≤ lim infi→∞

∫fi. (1.3.11)

Beweis. Setze

uk := inffk, fk+1, . . . ,

ukm := minfk, . . . , fk+m

fur k,m ∈ N (das Infimum existiert wegen fi ≥ g). Die Funktion ukm ist integrierbar, da furh1, h2 ∈ L1(Rn) gilt minh1, h2 = 1

2(h1 + h2 − |h1 − h2|) ∈ L1(Rn). Die Folge (ukm)m∈N istmonoton fallend und konvergiert gegen uk. Wegen g ≤ fi ist g ≤ ukm ≤ uk1, also∫

g ≤∫ukm ≤

∫uk1;

die Folge(∫ukm

)m∈N ist also beschrankt. Aus Satz 1.3.3 folgt uk ∈ L1(Rn). Nun ist (uk)k∈N

monoton wachsend, uk ≤ fk, und daher∫uk ≤

∫fk ≤ b.

Wieder aufgrund von Satz 1.3.3 konvergiert (uk)k∈N fast uberall gegen eine integrierbareFunktion f , wobei nach Definition

limk→∞

uk = lim infi→∞

fi

gilt. Dies zeigtlim infi→∞

fi = f fast uberall.

Die erneute Anwendung von Satz 1.3.3 zeigt jetzt∫f =

∫limk→∞

uk = limk→∞

∫uk = lim inf

k→∞

∫uk ≤ lim inf

k→∞

∫fk.

Beispiele zeigen, daß die Ungleichung (1.3.11) strikt sein kann (Ubung!).

Der nachste Satz wird haufig herangezogen, um die Vertauschbarkeit von Grenzwert undIntegral zu rechtfertigen.

Satz 1.3.6 (von der beschrankten Konvergenz, Satz von Lebesgue). Sei (fi)i∈N eineFolge integrierbarer Funktionen auf Rn. Es gelte limi→∞ fi = f fast uberall. Ferner existiereg ∈ L1(Rn), so daß |fi| ≤ g fast uberall fur alle i ∈ N erfullt ist. Dann folgt f ∈ L1(Rn), undes gilt ∫

f = limi→∞

∫fi.

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24 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Beweis. O.B.d.A. gelte limi→∞ fi = f und |fi| ≤ g fur i ∈ N uberall auf Rn (sonst setze manfi, f, g auf einer Nullmenge gleich Null). Insbesondere gilt lim infi→∞ fi = f und

−g ≤ fi sowie∫fi ≤

∫|fi| ≤

∫g.

Satz 1.3.5 zeigt f ∈ L1(Rn) und ∫f ≤ lim inf

i→∞

∫fi. (1.3.12)

Andererseits gilt auch lim infi→∞(−fi) = −f und

−g ≤ −fi sowie∫

(−fi) ≤∫|fi| ≤

∫g.

Daher erhalt man auch ∫(−f) ≤ lim inf

i→∞

∫(−fi) = − lim sup

i→∞

∫fi. (1.3.13)

Aus (1.3.12) und (1.3.13) folgt

lim supi→∞

∫fi ≤

∫f ≤ lim inf

i→∞

∫fi,

was die Behauptung beweist.

Beispiele. (1) Wir zeigen, daß f : R → R mit α < 1, r > 0 und

f(x) :=

|x|−α, x ∈ [−r, r] \ 0,0, sonst

integrierbar ist mit ∫f =

21− α

r1−α.

Sei hierzu fi := f · 1[− 1i, 1

i ]c . Dann ist (fi)i∈N eine monoton wachsende Folge integrierbarer

Funktionen mit fi → f fast uberall (uberall bis auf 0). Wir erhalten∫fi = 2

∫ r

1/ix−α dx =

21− α

[x1−α]r1/i =2

1− α

(r1−α −

(1i

)1−α).

Somit ist aufgrund von Satz 1.3.3 f ∈ L1(R) und∫f = lim

i→∞

∫fi =

21− α

r1−α.

(2) Die Funktion f : R → R mit β > 1 und

f(x) :=

x−β , x ≥ 1,0, sonst

ist integrierbar mit∫f = 1/(β − 1). Betrachte hierzu fi := f · 1[1,i), i ∈ N und wende wieder

Satz 1.3.3 an.

Anwendungen: A. Parameterabhangige Integrale.

Haufig sind Funktionen definiert durch Integrale der Gestalt

g(t) :=∫f(x, t) dx.

Hier soll beschrieben werden, welche Eigenschaften von g sich aus entsprechenden Eigenschaf-ten von f ableiten lassen.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 25

Satz 1.3.7. Sei U ⊂ Rm offen, a ∈ U und f : Rn × U → R, (x, t) 7→ f(x, t) eine Funktionmit folgenden Eigenschaften:

(a) Fur fast alle x ∈ Rn ist t 7→ f(x, t) stetig im Punkt a;

(b) Fur jedes t ∈ U ist x 7→ f(x, t) in L1(Rn);

(c) Es gibt ein F ∈ L1(Rn), so daß fur fast alle x ∈ Rn gilt

|f(x, t)| ≤ F (x) fur alle t ∈ U.

Dann ist durch g : U → R mit

g(t) :=∫f(x, t) dx

eine im Punkt a stetige Funktion erklart.

Beweis. Sei (tk)k∈N eine Folge in U mit limk→∞ tk = a. Setze

fk(x) := f(x, tk) und f∗(x) := f(x, a).

Wegen (a) giltlimk→∞

fk = f∗ fast uberall in Rn.

Wegen (b) ist fk ∈ L1(Rn) und g wohldefiniert. Die Voraussetzung der Majorisierung in Satz1.3.6 ist wegen (c) erfullt. Also folgt f∗ ∈ L1(Rn) und

limk→∞

g(tk) = limk→∞

∫fk(x) dx =

∫f∗(x) dx = g(a).

Als nachstes soll untersucht werden, unter welchen Bedingungen sich Differentiation undIntegration bei parameterabhangigen Integralen vertauschen lassen.

Satz 1.3.8. Sei I = (a, b), a < b und f : Rn × I → R, (x, t) 7→ f(x, t) eine Funktion mitfolgenden Eigenschaften:

(a) Fur fast alle x ∈ Rn ist t 7→ f(x, t) differenzierbar auf I;

(b) Fur jedes t ∈ I ist x 7→ f(x, t) in L1(Rn);

(c) Es gibt ein F ∈ L1(Rn), so daß fur fast alle x ∈ Rn gilt:∣∣∣∣∂f∂t (x, t)∣∣∣∣ ≤ F (x) fur alle t ∈ I.

Dann ist g : I → R mit

g(t) :=∫f(x, t) dx

auf I differenzierbar, fur jedes t ∈ I ist x 7→ ∂f∂t (x, t) in L1(Rn) und

g′(t) =∫∂f

∂t(x, t) dx.

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26 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Beweis. Sei t ∈ I und (tk)k∈N eine Folge in I mit limk→∞ tk = t. Zunachst gilt

g(tk)− g(t)tk − t

=∫f(x, tk)− f(x, t)

tk − tdx

Nach Voraussetzung hat man fur k →∞

f(x, tk)− f(x, t)tk − t

→ ∂f

∂t(x, t) fur fast alle x ∈ Rn.

Ferner gilt die Abschatzung∣∣∣∣f(x, tk)− f(x, t)tk − t

∣∣∣∣ = ∣∣∣∣∂f∂t (x, t∗k)∣∣∣∣ ≤ F (x)

fur fast alle x ∈ Rn, wobei t∗k zwischen t und tk liegt (Mittelwertsatz). Alle Aussagen desSatzes folgen dann wieder aus Satz 1.3.6.

Setzt man in Satz 1.3.8 (a) sogar die stetige Differenzierbarkeit von t 7→ f(x, t) auf I fur fastalle x ∈ Rn voraus, dann erhalt man g ∈ C1(I), d.h. g ist stetig differenzierbar.

30.10.2003

Beispiel. Wir betrachten zunachst

g(t) :=∫ ∞

0e−tx

sinxx

dx, t > 0.

Setzef(x, t) := e−tx

sinxx

, x ∈ R, t > 0,

wobei x 7→ sinxx an der Stelle x = 0 durch 1 (d.h. durch stetige Fortsetzung) definiert ist.

Sei t > 0 fest. Wir zeigen zunachst, daß g korrekt definiert ist. Aus dem Satz von der mono-tonen Konvergenz folgt

x 7→ e−tx1[0,∞)(x) ∈ L1(R).

Betrachte fur k ∈ N die Funktionen

x 7→ fk(x, t) := e−txsinxx

1[0,k](x) ∈ L1(R).

Wegen fk(·, t) → f(·, t) und|fk(x, t)| ≤ e−tx1[0,∞)(x)

folgt f(·, t) ∈ L1(R) aus dem Satz von der majorisierten Konvergenz. Eine weitere Anwendungdieses Satzes zeigt

limt→∞

g(t) = 0,

da fur t ≥ 1 gilt ∣∣∣∣e−tx sinxx

∣∣∣∣ ≤ e−x, x ∈ R.

Jetzt soll limt→0 g(t) bestimmt werden. Da wir in diesem Fall nicht einfach Integration undLimes vertauschen konnen, bedienen wir uns eines Kunstgriffs. Fur t > 0 zeigt eine Anwen-dung von Satz 1.3.8, wobei zu beachten ist, daß Differenzierbarkeit eine lokale Eigenschaftist,

g′(t) =∫ ∞

0

d

dt

(e−tx

sinxx

)dx = −

∫ ∞

0e−tx sinx dx = − 1

1 + t2,

wobei zuletzt noch zweimal partiell integriert wurde (Ubung!). Es gibt daher eine Konstantec mit

g(t) = −arctan (t) + c, t > 0.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 27

Wegenlimt→∞

arctan (t) =π

2ist c = π

2 , d.h. ∫ ∞

0e−tx

sinxx

dx =π

2− arctan(t), t > 0,

und daherlimt→0

g(t) = limt→0

−arctan (t) +

π

2

2.

Denselben Limes konnen wir auch noch auf eine andere Weise erhalten, indem wir ein unei-gentliches Integral betrachten. Setze dafur zunachst

I(a) :=∫ a

0

sinxx

dx, a > 0.

Fur 0 < a < b gilt

I(b)− I(a) =∫ b

a

sinxx

dx =[−cosx

x

]ba−∫ b

a

cosxx2

dx

und damit

|I(b)− I(a)| ≤ 2a

+∫ b

a

1x2dx ≤ 4

a. (1.3.14)

Das Cauchy-Kriterium zeigt also die Existenz des Limes

I := lima→∞

I(a). (1.3.15)

Man schreibt ublicherweiseI =

∫ ∞

0

sinxx

dx,

auch wenn der Integrand nicht Lebesgue-integrierbar ist. Gemeint ist damit der durch (1.3.15)erklarte Limes (uneigentliches Integral). Wir zeigen jetzt

I = limt→0

g(t) =π

2.

Sei dazu ε ∈ (0, 1). Setze a := 12/ε. Dann folgt aus (1.3.14) fur b→∞ die Abschatzung

|I − I(a)| ≤ 4a

3.

Mittels partieller Integration erhalt man ferner fur 0 < t < ε/(3a2) < 1 die Abschatzung∣∣∣∣g(t)− ∫ a

0e−tx

sinxx

dx

∣∣∣∣ =∣∣∣∣∫ ∞

a

(1xe−tx

)sinx dx

∣∣∣∣=

∣∣∣∣1ae−ta cos a−∫ ∞

a

cosxx2

e−tx dx−∫ ∞

a

1xte−tx dx

∣∣∣∣≤ 1

a+

1a

+1ae−ta ≤ 3

a<ε

3.

Mit der Dreiecksungleichung schatzt man schließlich wie folgt ab:

|I − g(t)| ≤ |I − I(a)|+∣∣∣∣I(a)− ∫ a

0e−tx

sinxx

dx

∣∣∣∣+ ∣∣∣∣∫ a

0e−tx

sinxx

dx− g(t)∣∣∣∣

≤ 23ε+

∣∣∣∣∫ a

0

sinxx

(1− e−tx) dx∣∣∣∣

≤ 23ε+

∫ a

0(1− e−tx) dx

=23ε+

1t(e−ta − 1 + at) ≤ 2

3ε+ a2t

<23ε+

13ε = ε.

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28 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Dies zeigt die restliche Behauptung. Die vorangehende Argumentation kann man teilweiseetwas abkurzen, indem man komplexwertige Funktionen verwendet.

B. Lebesgue-Maß und meßbare Mengen

Als eine weitere Anwendung der Konvergenzsatze konnen wir das Lebesgue-Maß behandeln.

Definition. Eine Menge A ⊂ Rn heißt meßbar, falls fur jedes Intervall I ⊂ Rn die Funktion1A∩I integrierbar ist. Die Menge der meßbaren Teilmengen des Rn wird mit M (oder genauermit M(Rn)) bezeichnet.

Beispiele meßbarer Mengen sind Vereinigungen von Intervallen und Nullmengen.

Fur A ⊂ Rn sei Ac := Rn \A das Komplement von A in Rn.

Satz 1.3.9. Fur das System M der meßbaren Teilmengen des Rn gilt:

(a) Rn ∈M,

(b) A ∈M⇒ Ac ∈M,

(c) Ai ∈M (i ∈ N) ⇒⋃i∈NAi ∈M.

Beweis. (a) ist klar.

(b) Sei A ∈M und I ⊂ Rn ein Intervall. Wegen

1Ac∩I = 1I − 1A∩I

und da L1(Rn) ein Vektorraum ist, folgt Ac ∈M.

(c) Sei Ai ∈M (i ∈ N) und I ⊂ Rn ein Intervall. Fur k ∈ N sei

fk := max1A1∩I , . . . ,1Ak∩I.

Es gilt fk ∈ L1(Rn), (fk)k∈N ist monoton wachsend und fk ≤ 1I , d.h.∫fk ≤ µ(I). Wegen

fk → f := 1(⋃

i∈N Ai)∩I

liefert der Satz von der monotonen Konvergenz f ∈ L1(Rn). Da I beliebig war, folgt⋃i∈NAi ∈M.

Jedes System M von Teilmengen des Rn, das (a), (b), (c) erfullt, heißt eine σ-Algebra in Rn.Ist (Ai)i∈N eine Folge in M, so gilt ferner

(d)⋂i∈N

Ai =

(⋃i∈N

Aci

)c∈M.

Die Eigenschaften (c), (d) gelten auch fur endlich viele Mengen. Das MengensystemM ist sehrreichhaltig; dies wird gerade durch Satz 1.3.9 und den folgenden Satz ausgedruckt. Allerdingssind nicht alle Teilmengen des Rn meßbar, wie man zeigen kann.

Satz 1.3.10. Jede offene (abgeschlossene) Teilmenge des Rn ist meßbar.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 29

Beweis. Wegen Eigenschaft (b) in Satz 1.3.9 ist es ausreichend, die Aussage fur eine beliebigeoffene Menge A ⊂ Rn zu zeigen. Offenbar ist A gleich der abzahlbaren Vereinigung allerWurfel mit rationalem Mittelpunkt und rationaler Kantenlange, die in A enthalten sind. DieBehauptung folgt nun aus Satz 1.3.9 (c).

Bemerkung. Spezieller kann man jede offene Menge sogar als disjunkte Vereinigung vongeeigneten Wurfeln darstellen. Zum Beispiel kann man hierfur Wurfel der Form

Im(k1, . . . , kn) :=

(x1, . . . , xn) ∈ Rn :kj2m

≤ xj <kj + 1

2mfur j = 1, . . . , n

mit m ∈ N und k1, . . . , kn ∈ Z verwenden.

Im folgenden ist es nutzlich, die reellen Zahlen durch das Symbol ∞ zu erweitern. Wir setzen

R := R ∪ ∞,

wobei ∞ ein beliebiges Objekt, aber kein Element von R ist. Wir definieren ferner fur x ∈ R

∞+∞ = ∞+ x = x+∞ = ∞, x <∞,

und bezeichnen R als das erweiterte System der reellen Zahlen. Hierbei ist ”∞ −∞“ keindefinierter Ausdruck.

Definition. Das Lebesguesche Maß auf Rn (das n-dimensionale Lebesgue-Maß) ist die Abbil-dung µ : M→ R, die fur A ∈M definiert ist durch

µ(A) := ∫

1A, falls 1A ∈ L1(Rn),∞, sonst.

Das Lebesguesche Maß ist also gerade fur die meßbaren Mengen erklart.

Satz 1.3.11. Das Lebesgue-Maß µ auf Rn hat die folgenden Eigenschaften:

(a) µ(∅) = 0;

(b) µ ≥ 0, d.h. µ(A) ≥ 0 fur A ∈M;

(c) Ist Ai ∈M (i ∈ N) und Ai ∩Aj = ∅ fur i 6= j, so gilt

µ

(⋃i∈N

Ai

)=∑i∈N

µ(Ai).

Die rechte Seite ist als ∞ zu lesen, falls die Reihe divergiert oder mindestens ein Summandgleich ∞ ist.

Beweis. (a) und (b) sind klar.

(c) Seien A,B ∈ M mit A ∩ B = ∅, also A ∪ B ∈ M und 1A∪B = 1A + 1B. Ist µ(A) < ∞und µ(B) <∞, so gilt 1A, 1B ∈ L1(Rn), d.h. 1A∪B ∈ L1(Rn), und

µ(A ∪B) =∫

1A∪B =∫

1A +∫

1B = µ(A) + µ(B).

Sei etwa µ(A) = ∞. Setze Ik := [−k, k)n und fk := 1A∩Ik fur k ∈ N. Dann ist (fk)k∈N einemonoton wachsende Folge integrierbarer Funktionen. Ware 1A∪B ∈ L1(Rn), so hatte manferner ∫

fk =∫

1A∩Ik ≤∫

1A∪B.

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30 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Satz 1.3.3 wurde dann 1A ∈ L1(Rn) ergeben, ein Widerspruch. Dies zeigt µ(A ∪B) = ∞. Injedem Fall gilt daher fur A,B ∈M mit A ∩B = ∅

µ(A ∪B) = µ(A) + µ(B).

Mit vollstandiger Induktion (oder direkt) folgt dies auch fur endlich viele paarweise disjunkteElemente von M. Sei schießlich (Ai)i∈N wie unter (c) gegeben. Ist µ(Aj) = ∞ fur ein j ∈ N,so ist

µ(A) = µ

Aj ∪⋃i6=j

Ai

= µ(Aj) + µ

⋃i6=j

Ai

= ∞ =∑i∈N

µ(Ai).

Sei nun µ(Ai) <∞ fur alle i ∈ N. Setze

gk := 1A1∪···∪Ak= 1A1 + · · ·+ 1Ak

, k ∈ N.

Dann ist (gk)k∈N eine monoton wachsende Folge integrierbarer Funktionen, die gegen 1Akonvergiert, und ∫

gk =k∑i=1

µ(Ai).

Ist ∑i∈N

µ(Ai) <∞, (1.3.16)

so ist die Folge(∫gk)k∈N beschrankt, also ergibt Satz 1.3.3 die Integrierbarkeit von 1A und

µ(A) =∫

1A = limk→∞

∫gk =

∞∑i=1

µ(Ai).

Ist µ(A) <∞, so ist wegen

k∑i=1

µ(Ai) = µ(A1 ∪ · · · ∪Ak) ≤ µ(A)

auch (1.3.16) erfullt. Es bleibt der Fall, daß beide Seiten der zu beweisenden Gleichung ∞sind.

04.11.2003

Definition. Eine Abbildung µ : M→ R von einer σ-Algebra M nach R mit den Eigenschaf-ten (a), (b), (c) von Satz 1.3.11 nennt man ein Maß, die Eigenschaft (c) wird als σ-Additivitatbezeichnet (µ ist σ-additiv).

Bemerkungen. (1) Sind A,B ∈M, so gilt

µ(A ∪B) + µ(A ∩B) = µ(A) + µ(B).

(2) Ferner ist A ⊂ Rn eine Nullmenge genau dann, wenn A meßbar ist und µ(A) = 0 erfullt.

C. Eindeutigkeit des Riemann-Integrals

Wir hatten schon gesehen, daß Lebesgue- und Riemann-Integral jeweils monotone lineareFunktionale auf unterschiedlich großen Funktionenraumen ergeben. Hier soll ein einfacherzugehoriger Eindeutigkeitssatz bewiesen werden. Eine Anwendung folgt in (D), eine Verall-gemeinerung in Kapitel 2.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 31

Notation. Sei R(Rn) die Menge aller beschrankten Funktionen f : Rn → R, die außerhalbeines passenden Intervalls verschwinden und fast uberall stetig sind. Ferner setzen wir

S(f) :=∫f fur f ∈ L1(Rn).

Sei F(Rn) eine Familie reellwertiger Funktionen auf Rn mit τaf ∈ F(Rn) fur f ∈ F(Rn)und a ∈ Rn (translationsinvariante Familie). Dann heißt ein Funktional J : F(Rn) → Rtranslationsinvariant, falls J(τaf) = J(f) fur alle f ∈ F(Rn) und a ∈ Rn gilt.

Satz 1.3.12. Sei J : R(Rn) → R ein translationsinvariantes, monotones lineares Funktional.Dann gilt J(f) = c · S(f) fur f ∈ R(Rn), wobei c := J(1[0,1)n) ≥ 0.

Beweis. Sei k ∈ N. Der Wurfel [0, 1)n ist disjunkte Vereinigung von Wurfeln Wi, i ∈1, . . . , kn, die durch Translation aus

[0, 1

k

)n hervorgehen. Daher folgt

c = J(1[0,1)n

)= J

(kn∑i=1

1Wi

)=

kn∑i=1

J (1Wi) =kn∑i=1

J(1[0, 1

k)n

)= knJ

(1[0, 1

k)n

),

d.h.J(1[0, 1

k)n

)= ck−n = c · S

(1[0, 1

k)n

).

Seien a, b ∈ Qn. Fur geeignetes k ∈ N ist das rationale Intervall [a, b) disjunkte Vereinigungvon Wurfeln, die durch Translation aus

[0, 1

k

)n hervorgehen. Wie oben folgt

J(1[a,b)

)= c · S

(1[a,b)

).

Sei nun I ⊂ Rn ein beliebiges Intervall. Zu ε > 0 gibt es rationale Intervalle I1, I2 ⊂ Rn mitI1 ⊂ I ⊂ I2 und

S (1I2)− ε ≤ S(1I) ≤ S(1I1) + ε.

Mit Hilfe der Monotonie folgt aus dem schon Bewiesenen nun

cS(1I)− cε ≤ cS(1I1) = J(1I1) ≤ J(1I) ≤ J(1I2) = cS(1I2) ≤ cS(1I) + cε,

also|J(1I)− cS(1I)| ≤ cε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt J(1I) = cS(1I). Aus der Linearitat folgt unmittelbar

J(ϕ) = cS(ϕ) fur ϕ ∈ T (Rn) ⊂ R(Rn).

Ist schließlich f ∈ R(Rn), so gibt es ϕ1, ϕ2 ∈ T (Rn) mit ϕ1 ≤ f ≤ ϕ2 und

S(ϕ2)− ε ≤ S(f) ≤ S(ϕ1) + ε.

Die Existenz von ϕ1, ϕ2 folgt aus Lemma 1.1.10, der nachfolgenden Bemerkung (1) und ausSatz 1.3.3. Eine Wiederholung des obigen Arguments liefert schließlich J(f) = cS(f) furf ∈ R(Rn).

D. Der Transformationssatz: ein Spezialfall

Der Transformationssatz fur Gebietsintegrale wird im folgenden Abschnitt 1.4 detaillierterlautert. Der Spezialfall einer affinen Transformation wird hier vorweg behandelt.

Wir geben zunachst einen Hilfssatz an, der so allgemein formuliert ist, daß er auch im nachstenAbschnitt angewendet werden kann.

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32 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Definitionen. Sei D ⊂ Rn, k ∈ N und F : D → Rk eine Abbildung. Die Abbildung F heißtLipschitz-stetig (Lipschitz-Abbildung), falls es ein c ≥ 0 gibt mit

‖F (x)− F (y)‖ ≤ c‖x− y‖ fur alle x, y ∈ D.

Jede solche Konstante c heißt eine Lipschitz-Konstante zu F . Wir setzen fur x = (x1, . . . , xn) ∈Rn

‖x‖∞ := max|x1|, . . . , |xn|,

d.h. fur z0 ∈ Rn und a0 ≥ 0 ist

W (z0, a0) := x ∈ Rn : ‖x− z0‖∞ ≤ a0

der kompakte Wurfel mit Mittelpunkt z0, Kantenlange 2a0 und Achsen parallel zur Stan-dardbasis.

Mit obigen Bezeichunungen gilt offenbar

diam(W (z0, a0)) = max‖x− y‖ : x, y ∈W (z0, a0) = 2√na0

und‖x‖∞ ≤ ‖x‖ ≤

√n‖x‖∞ fur x ∈ Rn.

Beispiele.

• Affine Abbildungen (auch nicht regulare), konstante Abbildungen, stetig differenzierbareAbbildungen auf kompakten Mengen (spater genauer) sind Lipschitz-stetig und damitinsbesondere (gleichmaßig) stetig.

• Die Summe und die Verkettung von Lipschitz-Abbildungen ergibt wieder eine Lipschitz-Abbildung.

• Die Abbildung x 7→√x ist fur x ≥ ε (ε > 0 fest) Lipschitz-stetig, aber nicht auf [0, 1],

obwohl die Abbildung dort gleichmaßig stetig ist.

Lemma 1.3.13. Sei N ⊂ Rn eine Nullmenge und F : N → Rn eine Lipschitz-Abbildung.Dann ist auch F (N) eine Nullmenge.

Beweis. Sei ε > 0. Es gibt eine Uberdeckung von N durch Wurfel Wi := W (zi, ai) mit zi ∈ Rn

und ai ≥ 0 (i ∈ N), so daß ∑i∈N

µ(Wi) =∑i∈N

(2ai)n < ε.

Zunachst gibt es namlich eine geeignete Uberdeckung durch Intervalle Ii, i ∈ N mit∑i∈N

µ(Ii) <ε

2.

Dann wird jedes Intervall Ii durch endlich viele paarweise disjunkte Wurfel Wi1, . . . ,Wiki

(gleicher Kantenlange) uberdeckt, so daß

ki∑j=1

µ(Wij) ≤ 2µ(Ii)

gilt. Sei (Wr)r∈N eine Abzahlung aller dieser Wurfel. Dann gilt

∞∑r=1

µ(Wr) =∞∑i=1

ki∑j=1

µ(Wij) < 2 · ε2

= ε.

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1.3. KONVERGENZSATZE UND ANWENDUNGEN 33

Sei c eine Lipschitz-Konstante zu F . Sei ferner y ∈ F (Wi), d.h. y = F (x) mit x ∈ Wi. Dannist

‖y − F (zi)‖∞ = ‖F (x)− F (zi)‖∞ ≤ ‖F (x)− F (zi)‖ ≤ c‖x− zi‖

≤ c ·√n‖x− zi‖∞ ≤ c

√nai.

Es folgt F (Wi) ⊂W (F (zi), c√nai), d.h.

F (N) ⊂⋃i∈N

W (F (zi), c√nai)

und ∑i∈N

µ(W (F (zi), c√nai)) =

∑i∈N

(2c√nai)n < (c

√n)nε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt die Behauptung.

Bemerkung. Ist F : Rn ⊃ N → Rk Lipschitz-stetig und N eine Nullmenge, so ist F (N)eine Nullmenge, falls k ≥ n. Dies folgt durch geringe Modifikation des Beweises von Lemma1.3.13. Fur k < n ist eine entsprechende Aussage nicht mehr wahr.

Mit O(n) wird die orthogonale Gruppe bezeichnet. Jedes ρ ∈ O(n) ist Lipschitz-stetig mitKonstante c = 1.

Lemma 1.3.14. Sei ρ ∈ O(n) und ϕ ∈ T (Rn) mit ϕ ≥ 0. Dann gilt ϕ ρ−1 ∈ L1(Rn) und∫ϕ ρ−1 ≤ 2

√nn∫ϕ.

Beweis. Ist I ⊂ Rn ein Intervall, so gilt I = I \ F , wobei F ⊂ ∂I abgeschlossen ist. Also ist

ρ(I) = ρ(I \ F ) = ρ(I) ∩ ρ(F )c,

d.h. ρ(I) ist meßbar. Außerdem gilt ρ(I) ⊂ W fur einen festen Wurfel W ⊂ Rn, d.h.1ρ(I) ∈ L1(Rn). Folglich ist auch ϕ ρ−1 ∈ L1(Rn) fur ϕ ∈ T (Rn).

Sei nun I ⊂ Rn ein festes Intervall. Es gibt eine Uberdeckung von I mit endlich vielenpaarweise disjunkten Wurfeln W1, . . . ,Wm der Kantenlange a, so daß

man =m∑i=1

µ(Wi) ≤ 2µ(I).

Ist ρ ∈ O(n), so wird ρ(I) uberdeckt von ρ(W1), . . . , ρ(Wm). Außerdem ist ρ(Wi) in einemBall vom Radius

√na/2 enthalten, und damit in einem kompakten Wurfel der Kantenlange√

na. Also folgtµ(ρ(I)) ≤ m(

√na)n =

√nnman ≤ 2

√nnµ(I).

Sei schließlich ϕ ∈ T (Rn) mit ϕ ≥ 0, d.h. ϕ =∑r

j=1 cj1Ij mit cj ≥ 0 und geeignetenIntervallen Ij ⊂ Rn. Dann gilt∫

ϕ ρ−1 =r∑j=1

cjµ(ρ(Ij)) ≤r∑j=1

cj2√nnµ(Ij) = 2

√nn∫ϕ,

was die Behauptung beweist.

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34 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Notation. Wir erinnern noch an den Begriff einer Affinitat. Eine Abbildung β : Rn → Rn

mit β(x) = α(x) + t, wobei t ∈ Rn und α eine regulare lineare Abbildung α ∈ L(Rn,Rn) ist,heißt Affinitat. Die lineare Abbildung α ist durch β eindeutig bestimmt. Wir schreiben daherkurz detβ fur detα. Sei ferner D+(n) die Menge aller regularen linearen Abbildungen vonRn in sich, deren beschreibende Matrix bezuglich der Standardbasis eine Diagonalmatrix mitpositiven Diagonaleintragen ist.

Satz 1.3.15. Sei β : Rn → Rn eine Affinitat. Genau dann ist f β ∈ L1(Rn), wenn f ∈L1(Rn); in diesem Fall ist ∫

f =∫f β|detβ|.

Beweis. Ist β eine Translation oder β ∈ D+(n), so gilt die Behauptung. Hierzu durchlauftman die Schritte bei der Konstruktion des Integrals und beachtet, daß in diesen FallenN ⊂ Rn genau dann eine Nullmenge ist, wenn β−1(N) eine Nullmenge ist (direkt oder alstrivialer Spezialfall von Lemma 1.3.13).

Sei jetzt f ∈ O(Rn), f ≥ 0 und ρ ∈ O(n). Zu f gibt es eine erzeugende Folge (ϕi)i∈N in T (Rn)mit ϕi ≥ 0. Dann gilt ϕi ρ−1 ↑ f ρ−1 fast uberall wegen Lemma 1.3.13. Ferner gilt nachLemma 1.3.14 ∫

ϕi ρ−1 ≤ 2√nn∫ϕi ≤ 2

√nn∫f <∞.

Satz 1.3.3 liefert daher f ρ−1 ∈ L1(Rn). Ist f ∈ L1(Rn) und f ≥ 0, so gibt es nachLemma 1.3.2 g, h ∈ O(Rn) mit f = g − h und h ≥ 0, also auch g ≥ 0. Dann giltf ρ−1 = g ρ−1 − h ρ−1 ∈ L1(Rn). Ist f ∈ L1(Rn) beliebig, so folgt f ρ−1 ∈ L1(Rn) ausder Zerlegung f = f+ − f− mit den nichtnegativen Funktionen f+, f− ∈ L1(Rn).

Wir definieren nun ein translationsinvariantes, monotones lineares Funktional durch

J(f) := S(f ρ−1), f ∈ L1(Rn).

Aus Satz 1.3.12 folgt J(f) = c · S(f) fur f ∈ R(Rn), also

S(f ρ−1) = c · S(f) fur f ∈ R(Rn).

Die spezielle Wahl f = 1Bn(0,1) ∈ R(Rn) ergibt c = 1, und somit∫f ρ−1 =

∫f fur f ∈ T (Rn), ρ ∈ O(n).

Hieraus und mittels Satz 1.3.3 folgt die Gleichung zunachst fur alle f ∈ O(Rn), dannschließlich fur alle f ∈ L1(Rn).

Da sich jede regulare lineare Abbildung α in der Form α = ρ1 d ρ2 mit ρ1, ρ2 ∈ O(n) undd ∈ D+(n) schreiben laßt, folgt die Behauptung fur einen beliebigen Endomorphismus ausdem Multiplikationssatz fur Determinanten durch Anwendung des schon Gezeigten.

06.11.2003

1.4 Transformation von Gebietsintegralen

Ein wichtiges Hilfsmittel zur Berechnung eindimensionaler Integrale ist die Substitutionsregel.

Beispiel. Es soll das Integral ∫ 1

−1

√1− x2 dx

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 35

durch die Substitution x = sin t, t ∈[−π

2 ,π2

]berechnet werden, d.h.∫ 1

−1

√1− x2 dx =

∫ π2

−π2

√1− sin2 t cos t dt =

∫ π2

−π2

cos2 t dt

=[14

sin(2t) +12t

]π2

−π2

2,

wobei zuletzt partielle Integration verwendet wurde (alternativ: Symmmetrieargument).

Substitutionsregel. Sei f : [a, b] → R stetig und g : [c, d] → [a, b] stetig differenzierbar.Dann gilt ∫ d

cf(g(t))g′(t) dt =

∫ g(d)

g(c)f(x) dx.

Sei nun zusatzlich g′ 6= 0 vorausgesetzt und M := [c, d]. Ist g′ > 0, so folgt g(M) = [g(c), g(d)]und ∫

g(M)f =

∫Mf g · g′ =

∫Mf g · |g′|.

Ist g′ < 0, so ist g(M) = [g(d), g(c)] und∫g(M)

f = −∫ g(d)

g(c)f(x) dx = −

∫ d

c(f g)(t)g′(t) dt =

∫Mf g · |g′|.

In jedem Fall erhalt man ∫g(M)

f =∫Mf g · |g′|.

Wir verallgemeinern diese Relation fur n-dimensionale Integrale.

Vorbereitungen. Zunachst erinnern wir noch einmal an die folgende Definition.

Definition. Eine fast uberall auf M ⊂ Rn erklarte Funktion f heißt integrierbar auf M , fallsf · 1M ∈ L1(Rn); in diesem Fall wird ∫

Mf :=

∫f1M

gesetzt.

Beispiel. Sei f ∈ L1(Rn) und M ∈ M(Rn). Dann ist f · 1M ∈ L1(Rn) und damit∫M f

erklart. Zum Nachweis genugt es, den Fall f ∈ O(Rn) und M ∈ M(Rn) zu betrachten. Sei(ϕi)i∈N eine erzeugende Folge zu f . Sei ϕi =

∑rj=1 cj1Aj mit cj ∈ R und Intervallen Aj ⊂ Rn.

Dann gilt

ϕi · 1M =r∑j=1

cj1Aj∩M ∈ L1(Rn).

Ferner ist (ϕi − ϕ1)1M ≥ 0 fur alle i ∈ N,

(ϕi − ϕ1)1M ↑ (f − ϕ1)1M fast uberall

und

0 ≤∫

(ϕi − ϕ1)1M ≤∫

(ϕi − ϕ1) ≤∫

(f − ϕ1) <∞.

Aus Satz 1.3.3 folgt nun zunachst (f − ϕ1)1M ∈ L1(Rn), und damit auch f1M ∈ L1(Rn).

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36 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Es ist also moglich, die Mengenfunktion

M(Rn) → R, M 7→∫Mf

fur festes f ∈ L1(Rn) zu betrachten.

Lemma 1.4.1. Sei M ∈ M(Rn) und f : M → R integrierbar auf M . Seien Mi ∈ M(Rn),i ∈ N paarweise disjunkte Mengen mit M =

⋃i∈NMi. Dann gilt∫

Mf =

∞∑i=1

∫Mi

f.

Beweis. Setze

fk :=k∑i=1

f1Mi ∈ L1(Rn)

wegen f1Mi = (f1M ) · 1Mi und obigem Beispiel. Wegen fk → f , |fk| ≤ |f1M | fur k ∈ N und|f1M | ∈ L1(Rn) ergibt der Satz von der beschrankten Konvergenz∫

Mf =

∫f1M =

∫limk→∞

fk = limk→∞

∫fk = lim

k→∞

k∑i=1

∫Mi

f =∞∑i=1

∫Mi

f.

Wir treffen eine weitere Vorbereitung.

Lemma 1.4.2 (Mittelwertsatz). Sei B ⊂ Rn offen und konvex. Sei F : B → Rk stetigdifferenzierbar und ‖DFx‖ ≤ c fur alle x ∈ B. Dann gilt

‖F (y)− F (x)‖ ≤ c‖y − x‖ fur x, y ∈ B.

Beweis. Sei a ∈ Rk beliebig und fest. Fur feste Wahl von x, y ∈ B sei G : [0, 1] → R definiertdurch

G(t) := 〈F ((1− t)x+ ty), a〉, t ∈ [0, 1].

Dann ist G stetig differenzierbar und

G′(t) = 〈DF(1−t)x+ty(y − x), a〉 fur t ∈ [0, 1].

Fur t ∈ (0, 1) folgt mit Hilfe der Cauchy-Schwarz-Ungleichung

|G′(t)| ≤ ‖DF(1−t)x+ty(y − x)‖ · ‖a‖ ≤ ‖DF(1−t)x+ty‖ · ‖y − x‖ · ‖a‖.

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung liefert

〈F (y)− F (x), a〉 = G(1)−G(0) =∫ 1

0G′(t) dt ≤

∫ 1

0|G′(t)| dt

≤∫ 1

0‖DF(1−t)x+ty‖ · ‖y − x‖ · ‖a‖ dt ≤ c‖y − x‖ · ‖a‖.

Ist F (x) 6= F (y), so folgt die Behauptung durch die spezielle Wahl a = F (y)− F (x).

Bemerkung. Ist B kompakt und konvex, aber F noch auf einer Umgebung von B erklart,so bleibt die Aussage des Lemmas gultig.

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 37

Lemma 1.4.3. Sei A ⊂ Rn offen, F : A → Rn stetig differenzierbar und N ⊂ A eineNullmenge. Dann ist auch F (N) ⊂ Rn eine Nullmenge.

Beweis. Es gibt abzahlbar viele abgeschlossene Wurfel Wi, i ∈ N mit A =⋃i∈NWi. Da Wi

kompakt ist und x 7→ ‖DFx‖ stetig, gibt es ein ci ≥ 0 mit ‖DFx‖ ≤ ci fur x ∈Wi. Nach demMittelwertsatz gilt fur x, y ∈Wi

‖F (x)− F (y)‖ ≤ ci‖x− y‖,

d.h. F |Wi ist eine Lipschitz-Abbildung. Also ist F (Wi ∩N) ⊂ Rn eine Nullmenge. Dann istaber auch

F (N) =⋃i∈N

F (Wi ∩N)

eine Nullmenge.

Satz 1.4.4 (Transformationssatz fur Gebietsintegrale). Sei M ⊂ Rn offen, sei G :M → Rn eine injektive, stetige differenzierbare Abbildung mit det JG(x) 6= 0 fur alle x ∈M .Sei f : G(M) → R eine auf G(M) integrierbare Funktion. Dann ist die Funktion f G|det JG|auf M integrierbar und ∫

G(M)f =

∫Mf G|det JG|.

Wir bemerken, daß

• G(M) ⊂ Rn offen und G : M → G(M) ein C1-Diffeomorphismus ist;

• die Voraussetzung der Injektivitat von G wesentlich fur die Gultigkeit des Satzes ist, eineallgemeinere Fassung von Satz 1.4.4 (spater in Satz 1.4.8) aber ohne die Voraussetzungdet JG(x) 6= 0 fur x ∈M auskommt;

• Spezialfalle schon in Satz 1.3.15 (fur allgemeines n) und in Analysis I bzw. II fur n = 1behandelt wurden (vgl. Einleitung zu Abschnitt 1.4.

Der Beweis von Satz 1.4.4 gliedert sich in mehrere Schnitte.

Ubersicht.

• Wir beginnen mit zwei Reduktionsschritten. Letztlich ist fur einen kompakten WurfelW ⊂M zu zeigen, daß

µ(G(W )) =∫W|det JG|.

• Nach einigen Vorbereitungen wird lokalisiert, d.h. W in geeignet kleine Teilwurfel zer-legt.

• Auf diesen ist G naherungsweise eine affine Abbildung, es kommt der affine Spezialfallder Transformationsformel zum Einsatz.

• Schließlich sind die Teilabschatzungen, die dabei entstehen, wieder zusammenzufugen.

Zwei Reduktionsschritte.

Lemma 1.4.5. Sei M ⊂ Rn offen, sei G : M → Rn injektiv und stetig differenzierbar mitdet JG 6= 0 auf M . Sei I ⊂ G(M) ein Intervall. Dann ist 1I G|det JG| auf M integrierbar,und es gilt ∫

1I =∫M

1I G|det JG|.

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38 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Lemma 1.4.5 impliziert Satz 1.4.4:

Seien hierzu M,G wie in Satz 1.4.4 gegeben. (i) Sei I ⊂ Rn ein beliebiges Intervall. Danngibt es paarweise disjunkte Intervalle Ij ⊂ G(M), j ∈ N mit I ∩ G(M) =

⋃j∈N Ij . Setze

fk := 1I1∪···∪Ik =∑k

j=1 1Ij fur k ∈ N. Aufgrund von Lemma 1.4.5 ist fk G|det JG|1Mintegrierbar und ∫

fk =∫Mfk G|det JG|.

Satz 1.3.3 ergibt f G|det JG|1M ∈ L1(Rn) und∫G(M)

f =∫Mf G|det JG|

fur f = 1I . Wegen der Linearitat des Integrals und da L1(Rn) ein Vektorraum ist, gilt eineentsprechende Aussage auch fur f ∈ T (Rn).

(ii) Sei nun f ∈ O(Rn) mit erzeugender Folge (ϕi)i∈N. Dann ist also ϕi · 1G(M) ∈ L1(Rn),ϕi G|det JG|1M ∈ L1(Rn) und∫

G(M)ϕi =

∫Mϕi G|det JG|.

Da f · 1G(M) ∈ L1(Rn) gilt (vgl. das Beispiel zu Beginn dieses Abschnitts), ergibt Satz 1.3.3

limi→∞

∫G(M)

ϕi =∫G(M)

f.

Die Folge (ϕi G|det JG|1M )i∈N integrierbarer Funktionen ist monoton wachsend,

ϕi G|det JG|1M → f G|det JG|1M fast uberall,

da wegen Lemma 1.4.3 mit N ⊂ Rn auch G−1(G(M) ∩N) eine Nullmenge ist, und es gilt∫ϕi G|det JG|1M =

∫G(M)

ϕi ≤∫G(M)

f.

Eine erneute Anwendung von Satz 1.3.3 liefert also zunachst f G|det JG|1M ∈ L1(Rn) undferner ∫

Mf G|det JG| = lim

i→∞

∫Mϕi G|det JG| = lim

i→∞

∫G(M)

ϕi =∫G(M)

f.

(iii) Ist nun f ∈ L1(Rn), so erhalt man sofort f G|det JG|1M ∈ L1(Rn) sowie∫G(M)

f =∫Mf G|det JG|.

(iv) Sei schließlich f : G(M) → R integrierbar auf G(M). Dann ist f := f · 1G(M) ∈ L1(Rn)und f G · 1M = f G · 1M , so daß die in Satz 1.4.4 behaupteten Aussagen aus dem schonBewiesenen folgen.

Lemma 1.4.6. Sei M ⊂ Rn offen, sei G : M → Rn eine injektive, stetig differenzierbareAbbildung mit det JG(x) 6= 0 fur x ∈ M . Sei W ⊂ M ein kompakter Wurfel. Dann ist1G(W ) ∈ L1(Rn) und

µ(G(W )) =∫W|det JG|.

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 39

Lemma 1.4.6 impliziert Lemma 1.4.5:

Sei also I ⊂ G(M) ein Intervall. Dann gilt G−1(I) ⊂ M . Setze A := (G−1(I)) = G−1(I).Da G ein Diffeomorphismus ist, ist G−1(I) \A = G−1(I \ I) eine Nullmenge. Da A offen ist,gibt es paarweise disjunkte Wurfel Wi, i ∈ N mit A =

⋃i∈NWi und W i ⊂ A ⊂M . Also folgt

aus Satz (1.3.11) (da G(Wi) fur alle i ∈ N meßbar ist und diese Mengen paarweise disjunktsind), Lemma 1.4.6 und Satz 1.3.3

µ(I) = µ(I) = µ(G(A)) =∞∑i=1

µ(G(Wi)) =∞∑i=1

µ(G(W i))

=∞∑i=1

∫W i

|det JG| =∞∑i=1

∫Wi

|det JG| =∫A|det JG| =

∫G−1(I)

|det JG|.

Beweis von Lemma 1.4.6. Sei also M ⊂ Rn offen, G : M → Rn injektiv und stetigdifferenzierbar, detJG(x) 6= 0 fur x ∈M und W ⊂M ein kompakter Wurfel.

Da G(W ) wieder kompakt und damit meßbar ist, folgt 1G(W ) ∈ L1(Rn). Zu zeigen ist noch

µ(G(W )) =∫W|det JG|.

Lokalisierung: Vorbereitungen.

Sublemma 1. Zu ε > 0 gibt es ein δ > 0, so daß fur x ∈ W und h ∈ Rn mit ‖h‖ ≤ δ gilt:x+ h ∈M und

‖G(x+ h)−G(x)−DGx(h)‖ ≤ ε‖h‖.

(M.a.W.: G ist in W gleichmaßig differenzierbar.)

Beweis. Sei ε > 0 und G = (g1, . . . , gn). Da W kompakt und M offen ist, gibt es einen kom-pakten Wurfel W1 ⊂M mit W ⊂W 0

1 . Die stetige Funktion δigj ist auf W1 sogar gleichmaßigstetig. Also gibt es ein δ > 0 mit

|∂igj(x)− ∂igj(y)| <ε

n

fur alle x, y ∈W1 mit ‖x− y‖ ≤ δ und i, j = 1, . . . , n. Dabei sei δ schon so klein gewahlt, daßx+ h ∈W1 fur x ∈W und ‖h‖ ≤ δ. Fur x, y ∈W1 mit ‖x− y‖ ≤ δ folgt somit

‖DGx −DGy‖ =

n∑i,j=1

|∂igj(x)− ∂igj(y)|2 1

2

< ε.

Sei jetzt x ∈W fest gewahlt. Durch G : M → Rn mit

G(y) := G(y)−DGx(y − x), y ∈M

ist eine stetig differenzierbare Funktion erklart mit

DGy = DGy −DGx.

Fur ‖h‖ ≤ δ folgt jetzt aus der auf Lemma 1.4.2 folgenden Bemerkung

‖G(x+ h)−G(x)−DGx(h)‖ = ‖G(x+ h)− G(x)‖ ≤ ε‖h‖,

was zu zeigen war.

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40 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Die Umkehrabbildung G−1 : G(M) → Rn ist stetig differenzierbar. Ferner ist G(W ) ⊂ Rn

kompakt, d.h. die stetige Funktion y 7→ ‖D(G−1)y‖, y ∈ G(W ) nimmt auf G(W ) ein Maxi-mum an. Also existiert ein k ≥ 0 mit

‖D(G−1)y‖ ≤ k fur y ∈ G(W ).

Dies liefert fur x ∈W und z ∈ Rn:

‖(DGx)−1(z)‖ ≤ ‖(DGx)−1‖ · ‖z‖ = ‖D(G−1)G(x)‖ · ‖z‖ ≤ k‖z‖.

Wir halten nun ein x ∈W fest und definieren Φx : M → Rn durch

Φx := (DGx)−1 G.

Da (DGx)−1 : Rn → Rn eine regulare lineare Abbildung ist, ist Φx injektiv und det JΦx 6= 0auf M .

Sei nun ε > 0 und o.B.d.A. εk√n < 1. Zu ε sei δ > 0 wie in Sublemma 1 gewahlt. Fur x ∈W

und ‖h‖ ≤ δ gilt:

‖Φx(x+ h)− Φx(x)− h‖ = ‖(DGx)−1(G(x+ h)−G(x)−DGx(h))‖

≤ k‖G(x+ h)−G(x)−DGx(h)‖

≤ kε‖h‖.

Wurfelzerlegung.

Der gegebene kompakte Wurfel W kann dargestellt werden als Vereinigung von kompaktenWurfeln W1, . . . ,Wr mit Kantenlange 2a, wobei a < δ/

√n und W 0

i ∩W 0j = ∅ fur i 6= j. Sei

Wj einer dieser Wurfel und x sein Mittelpunkt. Setze z := Φx(x). Fur λ > −1 sei Pj(λ) derWurfel mit Mittelpunkt z und Kantenlange 2(1 + λ)a.

Sublemma 2. Mit den eingefuhrten Bezeichnungen gilt

Pj(−εk√n) ⊂ Φx(Wj) ⊂ Pj(εk

√n).

Beweis. Sei y ∈ Φx(Wj), d.h. y = Φx(x + h) mit x + h ∈ Wj und somit ‖h‖∞ ≤ a < δ/√n.

Wegen ‖h‖ ≤√n‖h‖∞ ≤ δ folgt zunachst

‖y − (z + h)‖ = ‖Φx(x+ h)− Φx(x)− h‖ ≤ kε‖h‖ ≤ εk√na,

und damit‖y − z‖∞ ≤ ‖y − (z + h)‖∞ + ‖h‖∞ ≤ εk

√na+ a.

Dies zeigt y ∈ Pj(εk√n). Wegen z ∈ Pj(−εk

√n)0 ∩ Φx(Wj)0 genugt zum Beweis der ersten

Inklusion der Nachweis von

Pj(−εk√n)0 ∩ ∂Φx(Wj) = ∅.

Ware y ∈ Pj(−εk√n)0 ∩ ∂Φx(Wj), so gilt y = Φx(x+ h) mit x+ h ∈ ∂Wj und

‖x+ h− x‖∞ = ‖h‖∞ ≤ ‖y − z‖∞ + ‖y − (z + h)‖∞ < (1− εk√n)a+ εk

√na,

also x+ h ∈W 0j , ein Widerspruch.

Spezialfall: affine Transformation.

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 41

Aus Sublemma 2 und Φx = (DGx)−1 G folgt

DGx(Pj(−εk√n)) ⊂ G(Wj) ⊂ DGx(Pj(εk

√n)).

Da diese Mengen meßbar sind, ergibt die Monotonie des Integrals

µ(DGx(Pj(−εk√n))) ≤ µ(G(Wj)) ≤ µ(DGx(Pj(εk

√n))).

Die Stetigkeit von |det JG| auf Wj ergibt die Existenz von

aj := miny∈Wj

|det JG(y)|, bj := maxy∈Wj

|det JG(y)|

Aus Satz 1.3.15 folgt nun

µ(DGx(Pj(εk√n))) = |det JG(x)|µ(Pj(εk

√n)) = |det JG(x)|(1 + εk

√n)nµ(Wj)

≤ bjµ(Wj) + εc1µ(Wj),

wobei die Konstante c1 nur von G und W abhangt. Analog folgt

µ(DGx(Pj(−εk√n))) ≥ ajµ(Wj)− εc2µ(Wj)

mit einer nur von G und W abhangenden Konstanten c2.

Finale: Zusammensetzen.

Wegenµ(G(Wj) ∩G(Wi)) = µ(G(Wj ∩Wi)) = 0 fur i 6= j

folgt durch Summation

r∑j=1

ajµ(Wj)− εc2µ(W ) ≤ µ(G(W )) ≤r∑j=1

bjµ(Wj) + εc1µ(W ).

Hier istr∑j=1

ajµ(Wj)

das Integral der Funktion

ϕε :=r∑j=1

aj1Wj .

Lassen wir ε eine Nullfolge durchlaufen, so bilden die zugehorigen Funktionen ϕε bei passenderWahl der jeweiligen Wurfelzerlegungen eine monoton wachsende Folge, die wegen der Stetig-keit von |det JG| gegen |det JG|1W konvergiert. Entsprechendes gilt fur die rechten Seiten.Der Satz von der monotonen Konvergenz ergibt daher∫

W|det JG| = µ(G(W )),

was zu zeigen war.

Um in Satz 1.4.4 die Voraussetzung “|det JG(x)| 6= 0 fur alle x ∈M” fallen lassen zu konnen,stellen wir zunachst den folgenden Spezialfall des Lemmas von Sard bereit.

Lemma 1.4.7. Sei M ⊂ Rn offen, sei G : M → Rn stetig differenzierbar. Setze A := x ∈M : detJG(x) = 0. Dann ist G(A) eine Nullmenge.

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42 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Beweis. Sei W ⊂M ein kompakter Wurfel. Dann genugt der Nachweis von µ(G(A∩W )) = 0.

Sei ε > 0 gegeben. Nach dem Mittelwertsatz gibt es eine Konstante c ≥ 0 mit

‖G(y)−G(x)‖ ≤ c‖y − x‖ fur alle x, y ∈W. (1.4.17)

Aufgrund von Sublemma 1 im Beweis von Lemma 1.4.6 gibt es ein δ > 0 mit

‖G(x+ h)−G(x)−DGx(h)‖ ≤ ε‖h‖

fur alle x ∈ W und h ∈ Rn mit ‖h‖ ≤ δ. Wir schreiben W als Vereinigung von kompaktenWurfeln W1, . . . ,Wr der Kantenlange a ≤ δ/

√n. Sei Wj einer dieser Wurfel. Fur x, y ∈ Wj

gilt dann‖y − x‖ ≤

√n‖y − x‖∞ ≤

√na ≤ δ,

also‖G(y)−G(x)−DGx(y − x)‖ ≤ ε‖y − x‖ ≤ ε

√na. (1.4.18)

Es gilt

G(A ∩W ) =r⋃j=1

G(A ∩Wj) =⋃

A∩Wj 6=∅

G(A ∩Wj) ⊂⋃

A∩Wj 6=∅

G(Wj).

Sei A∩Wj 6= ∅ und x ∈ A∩Wj fur ein j ∈ 1, . . . , r. Unser Ziel ist, G(Wj) in einen Quaderkleiner Hohe einzuschließen.

Wegen detJG(x) = 0 ist Bild(DGx(Rn)) in einem (n− 1)-dimensionalen Unterraum U ⊂ Rn

enthalten. Sei z ∈ G(Wj), also z = G(y) fur ein y ∈Wj . Fur

z′ := DGx(y − x) +G(x) ∈ U +G(x)

gilt nach (1.4.18) und wegen ‖y − x‖ ≤ δ

‖z − z′‖ = ‖G(y)−G(x)−DGx(y − x)‖ ≤ ε√na.

Alle Punkte von G(Wj) haben von U + G(x) also hochstens den Abstand ε√na. Ferner gilt

nach (1.4.17)‖z −G(x)‖ ≤ c‖y − x‖ ≤ c

√na.

Somit liegt G(Wj) in einem Quader mit Grundflachenmaß (2c√na)n−1 und Hohe 2ε

√na, also

vom Maß εcn−1(2√na)n = εcµ(Wj) mit einer nur von c und n abhangenden Konstanten c

(beachte die Rotationsinvarianz des Lebesgue-Maßes, die schon bewiesen wurde). Es folgt also

µ(G(A ∩W )) ≤∑

A∩Wj 6=∅

µ(G(Wj)) ≤∑

A∩Wj 6=∅

εcµ(Wj) ≤ εcµ(W ).

Da ε > 0 beliebig war, folgt µ(G(A ∩W )) = 0.

Satz 1.4.8. Sei M ⊂ Rn offen, sei G : M → Rn injektiv und stetig differenzierbar. Seif : G(M) → R auf G(M) integrierbar. Dann ist die Funktion f G|det JG| auf M integrierbarund ∫

G(M)f =

∫Mf G|det JG|.

Beweis. Die Menge A := x ∈ M : det JG(x) = 0 ist abgeschlossen in M , d.h. M \ A istoffen. Anwendung von Satz 1.4.4 auf M \A ergibt die Integrierbarkeitsaussage sowie∫

G(M)f =

∫G(M)\G(A)

f =∫G(M\A)

f =∫M\A

f G|det JG|

=∫Mf G|det JG|,

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 43

wobei fur die erste Gleichung Lemma 1.4.7 verwendet wurde.

Notation. Einen Diffeomorphismus G : M → G(Rn) bezeichnet man auch als eine Koordina-tentransformation. Solche Abbildungen spielen bei vielen Anwendungen eine wichtige Rolle.Ist G = (g1, . . . , gn)T , so schreiben wir∣∣∣∣∂(g1, . . . , gn)

∂(y1, . . . , yn)

∣∣∣∣ := |det JG(y)|

und konnen Satz 1.4.4 dann in der Form∫. . .

∫G(M)

f(x) dx1 . . . dxn =∫. . .

∫Mf(G(y))

∣∣∣∣∂(g1, . . . , gn)∂(y1, . . . , yn)

∣∣∣∣ dy1 . . . dyn

schreiben, wobei formal der Satz von Fubini verwendet wurde. Manchmal schreibt man aufder rechten Seite xi = xi(y1, . . . , yn) anstelle von gi und erhalt dann eine gut einpragsame,aber formal nicht einwandfreie Form der Transformationsformel.

Anwendungen.

A. Ebene Polarkoordinaten

Die kartesischen Koordinaten (x, y) eines Punktes im R2 bez. einer Standardbasis und dieebenen Polarkoordinaten (r, ϕ) desselben Punktes bezuglich derselben Standardbasis sindverknupft durch

x = r cosϕ, y = r sinϕ.

Hierbei ist r ∈ [0,∞) und ϕ ∈ [0, 2π). Fur (x, y) 6= (0, 0) ist die Korrespondenz eindeutig.

Ist f : R2 → R, so schreibt man bisweilen

f(x, y) = f(r cosϕ, r sinϕ) = f(r, ϕ)

und sagt, f sei die Darstellung von f in Polarkoordinaten. Wir geben hier fur unsere Zweckeeine prazisere Beschreibung. Sei

U := (r, ϕ) ∈ R2 : r > 0, 0 < ϕ < 2π

undG : U → R2, G(r, ϕ) := (r cosϕ, r sinϕ).

Dann ist G(U) = R2 \ (x, 0) : x ≥ 0, und G ist injektiv. Ferner gilt

JG(r, ϕ) =(

cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

),

also detJG(r, ϕ) = r > 0.

Ist f : R2 → R gegeben, so konnen wir f := f G bilden. Man sagt, f entsteht aus f durchTransformation auf Polarkoordinaten. Dies ist etwa dann eine nutzliche Transformation,wenn f Rotationssymmetrie besitzt.

Beispiel 1. Es soll ∫R2

e−‖x‖2dx

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44 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

berechnet werden. Da (x, 0) : x ≥ 0 ⊂ R2 eine Nullmenge ist, gilt:∫R2

e−‖x‖2dx =

∫G(U)

e−‖x‖2dx =

∫Ue−r

2r d(r, ϕ)

=∫ 2π

0

∫ ∞

0e−r

2r dr dϕ = 2π

[−1

2e−r

2

]∞0

= π.

Den Nachweis der Integrierbarkeit kann man fuhren, indem man zunachst nur uber B2(0, R)integriert, R→∞ gehen laßt und den Satz von der monotonen Konvergenz verwendet.

Mit dem Satz von Fubini erhalt man als weitere Folgerung

π =∫

R2

e−‖x‖2dx =

∫ ∞

−∞

∫ ∞

−∞e−x

2−y2 dx dy =(∫ ∞

−∞e−t

2dt

)2

,

also ∫ ∞

−∞e−t

2dt =

√π.

Beispiel 2. Berechnung des Volumens κ(3) von B3(0, 1). Mit Hilfe des Satzes von Fubinifindet man

κ(3) = 2∫K

√1− x2 − y2 d(x, y)

mit K = (x, y) ∈ R2 : x2 + y2 < 1. Transformation auf Polarkoordinaten ergibt∫K

√1− x2 − y2 d(x, y) =

∫0<r<1

0<ϕ<2π

√1− r2r d(r, ϕ)

=∫ 2π

0

∫ 1

0r√

1− r2 dr dϕ

= 2π12

∫ 1

0

√1− t dt =

2π3

B. Polarkoordinaten im R3 (Kugelkoordinaten)

Die Kugelkoordinaten des Punktes (x, y, z) ∈ R3 werden eingefuhrt durch

x = r cosϕ cosϑ

y = r sinϕ cosϑ

z = r sinϑ.

Genauer seiU := (r, ϕ, ϑ) ∈ R3 : r > 0, 0 < ϕ < 2π,−π

2< ϑ <

π

2

undG : U → R3, G(r, ϕ, ϑ) := (r cosϕ cosϑ, r sinϕ cosϑ, r sinϑ).

Dann ist G injektiv und G(U) = R3 \ (x, y, z) ∈ R3 : x ≥ 0, y = 0. Man erhalt

JG(r, ϑ, ϕ) =

cosϕ cosϑ −r sinϕ cosϑ −r cosϕ sinϑsinϕ cosϑ r cosϕ cosϑ −r sinϕ sinϑ

sinϑ 0 r cosϑ

sowie det JG(r, ϑ, ϕ) = r2 cosϑ > 0.

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1.4. TRANSFORMATION VON GEBIETSINTEGRALEN 45

Ist f : R3 → R gegeben, so sagt man, f := f G entstehe durch Transformation aufKugelkoordinaten.

Beispiel. Fur das Kugelvolumen im R3 folgt wieder

κ3 =∫B3(0,1)

1 d(x, y, z) =∫ π

2

−π2

∫ 2π

0

∫ 1

0r2 cosϑ dr dϕ dϑ

=13· 2π

∫ π2

−π2

cosϑ dϑ =43π.

C. Zylinderkoordinaten im R3.

SeiU := (r, ϕ, z) ∈ R3 : r > 0, 0 < ϕ < 2π,−∞ < z <∞

undG : U → R3, G(r, ϕ, z) := (r cosϕ, r sinϕ, z).

Es gilt G(U) = R3 \ (x, 0, z) : x ≥ 0, z ∈ R und det JG(r, ϕ, z) = r > 0. Naheliegend istdie Einfuhrung von Zylinderkoordinaten bei Funktionen, die nur vom Abstand von einerGeraden abhangen.

D. Dichte der Normalverteilung

Sei C = (cij)ni,j=1 ∈ R(n, n) eine positiv definite n× n Matrix. Wir wollen das Integral

∫Rn

exp

−n∑

i,j=1

cijxixj

dx

berechnen. Sei hierzu A ∈ R(n, n) eine regulare n × n Matrix mit ATCA = In, wobei In dien × n-Einheitsmatrix ist. Es folgt (detA)2detC = 1. Mit Hilfe der linearen TransformationF : Rn → Rn, x 7→ Ax erhalt man

∫Rn

exp

−n∑

i,j=1

cijxixj

dx =∫

Rn

exp −〈x,Cx〉 dx

=∫

Rn

exp −〈Ax,CAx〉 |detA| dx

= |detC|−12

∫Rn

exp −〈x,ATCAx〉 dx

= |detC|−12

∫Rn

e−‖x‖2dx

= |detC|−12

(∫Re−t

2dt

)n=

√πn

√detC

.

13.11.2003

Nachtrag:Lemma1.4.7

E. Integralberechnung durch Transformation

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46 KAPITEL 1. DAS LEBESGUE-INTEGRAL

Wir betrachten hier das spezielle Beispiel∫Ay2d(x, y)

mitA := (x, y) ∈ R2 : x > 0, y > 0, 0 < xy < 3, x < y < 2x.

Zur Berechnung des Integrals fuhren wir neue Koordinaten s = xy und t = y/x ein, d.h.x =

√s/t und y =

√st. Formaler betrachten wir die Abbildung

g : U := (0, 3)× (1, 2) → A, (s, t) 7→ (√s/t,

√st).

Dann ist g bijektiv mit Umkehrabbildung g−1(x, y) = (xy, y/x). Ferner gilt

Jg(s, t) =

1√t

12√s

√s

(−1

2

)t−3/2

√t

12√s

√s

12√t

.

Es folgt |det Jg(s, t)| = (2t)−1 und damit∫Ay2d(x, y) =

∫Ust

12td(s, t) =

∫ 3

0

(∫ 2

1

12sdt

)ds =

12· 1 · 1

2· 32 =

94.

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Kapitel 2

Allgemeine Maß- undIntegrationstheorie

Maß- und Integrationstheorie ist ein zentrales Gebiet der Analysis mit vielfaltigen Anwendun-gen auch in anderen Gebieten. Zum Beispiel erweist sie sich als unentbehrliches Hilfsmittelder Wahrscheinlichkeitstheorie. Im zweiten Teil dieser Vorlesung soll eine Einfuhrung in dieabstrakte Maß- und Integrationstheorie gegeben werden. Bisher haben wir das LebesguescheIntegral auf dem Rn behandelt und anschließend daraus das Lebesguesche Maß hergleietet.Hier werden wir umgekehrt vorgehen, das heißt zuerst Maßtheorie betreiben und auf dieserGrundlage dann Integration behandeln. Ein wesentlicherer Unterschied besteht darin, daß wirabstrakt vorgehen, also keine spezielle Struktur wie den euklidischen Raum zugrunde legen.In dieser Allgemeinheit wird die Maß- und Integrationstheorie in den Anwendungen benotigt.

Zur Einleitung soll etwas zur anschaulichen Vorgeschichte der Maßtheorie gesagt werden,insbesondere zur Inhaltsmessung in euklidischen Raumen. Unter dem n-dimensionalen eukli-dischen Raum verstehen wir dabei den reellen Vektorraum Rn, versehen mit dem Standard-Skalarprodukt und der davon induzierten Metrik.

• Volumenmessung Aus der alltaglichen Erfahrung gewinnt man die Uberzeugung, daßbeschrankte raumliche Gebiete einen wohldefinierten Rauminhalt (Volumen) haben,ebenso beschrankte ebene Gebiete einen Flacheninhalt. In den Anfangen der Mathema-tik war dabei die Existenz des Flacheninhaltes, zum Beispiel eines Kreises, gar kein alssolches empfundenes Problem, lediglich die explizite oder angenaherte Berechnung warGegenstand der Erorterung. Heute sind wir uns naturlich klar daruber, daß Mathematiknicht direkte Aussagen uber die Realitat machen kann, sondern nur Schlußfolgerungeninnerhalb eines mathematischen Modells fur gewisse Aspekte der Realitat ziehen kann.Dann mussen aber auch Begriffe, die intuitiv vorgegeben sind und deren Existenz manfur evident halten mochte, innerhalb des gewahlten mathematischen Modells definiertwerden. Insbesondere mussen wir innerhalb des ublichen elementaren Modells fur denAnschauungsraum, namlich des euklidischen Raumes R3 oder der Ebene R2, die Be-griffe Volumen und Flacheninhalt erklaren. Die dabei auftretende Problematik wollenwir nun erlautern. Betrachten wir zunachst den Fall der Ebene. Fur gewisse beschrank-te Teilmengen der Ebene soll ein Flacheninhalt erklart werden. Zuerst betrachten wirbesonders einfache Teilmengen. Wir sind uns sicher einig daruber, daß man den Flachen-inhalt eines Rechtecks mit den Seitenlangen a und b als das Produkt ab erklart. Aberwie weiter? Ehe wir weitere Festsetzungen treffen konnen, mussen wir uns klar ma-chen, welche Eigenschaften der Flacheninhalt (als Mengenfunktion) uberhaupt habensoll. Nun verbindet man mit dem intuitiven Begriff des Flacheninhaltes naturlich ge-wisse Vorstellungen. Zunachst soll sich der Flacheninhalt bei Bewegungen nicht andern;kongruente Gebiete sollen also denselben Flacheninhalt haben. Wenn wir eine ebeneFigur zerschneiden, soll sich der Flacheninhalt additiv aus den Flacheninhalten der Ein-zelteile zusammensetzen. Wenn also der Flacheninhalt F fur zwei disjunkte MengenA, B erklart ist, so werden wir den Flacheninhalt von A ∪ B erklaren wollen durch

47

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48 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

F (A ∪ B) = F (A) + F (B). Dies kann man naturlich sofort auf endliche Vereinigungenausdehnen. Wir sagen hierfur auch, der Flacheninhalt sei additiv. Insbesondere wollenwir sagen, eine Punktmenge A ⊂ R2 sei eine Elementarfigur, wenn es achsenparalleleRechtecke R1, . . . , Rk gibt mit A = R1 ∪ · · · ∪ Rk und (Ri ∩ Rj)o = ∅ (i 6= j). Durfenwir dann F (A) := F (R1) + · · · + F (Rk) setzen? Die Darstellung von A als disjunkteVereinigung von Rechtecken ist ja nicht eindeutig. Man kann aber leicht zeigen (undwir werden es spater allgemeiner tun), daß die Summe

∑F (Ri) nicht von der speziel-

len Darstellung abhangt. Damit ist F fur alle Elementarfiguren erklart. Fur die weitereDiskussion wollen wir (nur fur die Zwecke dieser Einleitung) unter einem Inhaltssystem(in R2) ein Paar (S, F ) verstehen mit folgenden Eigenschaften: S ist ein System be-schrankter Teilmengen der Ebene, mit A,B ∈ S gilt A ∪B ∈ S; ferner ist F : S → R+

eine Funktion mit F (A ∪ B) = F (A) + F (B) fur A,B ∈ S mit A ∩ B = ∅. Ist A ∈ Sund β eine Bewegung der Ebene, so soll βA ∈ S und F (βA) = F (A) gelten. Außerdemsoll S das Einheitsquadrat W enthalten und F (W ) = 1 gelten. Mit diesen Festlegungenist dann (S, F ) ein Inhaltssystem, wenn S das System der Elementarfiguren und F deroben erklarte Flacheninhalt ist. Vollig analog erklart man naturlich Elementarfiguren,Rauminhalt und Inhaltssysteme im dreidimensionalen Raum.

Es ergibt sich nun das grundlegende Fortsetzungsproblem. Wir wollen ja auch fur allge-meinere beschrankte Punktmengen Flacheninhalt bzw. Volumen erklaren. Wir suchenalso ein Inhaltssystem (S, F ) mit S ⊂ S und F |S = F . Und naturlich soll S moglichstgroß sein. Kann man vielleicht sogar erreichen, daß S alle beschrankten Teilmengen vonR2 bzw. R3 enthalt (oder alle Teilmengen, wenn man auch den Wert ∞ zulaßt)? Diesist das sogenannte Inhaltsproblem, das etwa von Hausdorff (1914) explizit formuliertwurde:

Inhaltsproblem. Gibt es eine Inhaltsfuntion

F : P(Rn) → [0,∞]

mit den folgenden Eigenschaften:

1. A,B ⊂ Rn, A ∩B = ∅ ⇒ F (A ∪B) = F (A) + F (B);

2. A ⊂ Rn, β : Rn → Rn Bewegung ⇒ F (βA) = F (A);

3. F ([0, 1]n) = 1?

Die dritte Bedingung dient dazu, die triviale Losung F = 0 auszuschließen. Fernerwissen wir schon, daß zumindest auf dem MengensystemM(Rn) der Lebesgue-meßbarenMengen eine solche Funktion F existiert, die sogar σ-additiv ist. Dagegen gilt:

Satz 2.0.9 (Hausdorff, 1914). Das Inhaltsproblem ist fur n ≥ 3 unlosbar.

Satz 2.0.10 (Banach, 1928). Das Inhaltsproblem ist fur n = 1, 2 losbar, aber nichteindeutig.

Ein Grund fur die Dimensionsabhangigkeit der Antwort ist die unterschiedliche Struk-ture der Bewegungsgruppe in den Dimensionen n = 1, 2 bzw. in n ≥ 3. Das folgendeResultat belegt in besonders eindrucksvoller Weise die Unlosbarkeit des Inhaltsproblems.

Satz 2.0.11 (Banach-Tarski 1924, Sierpinski, R.M. Robinson). Es seien K undK ′ zwei disjunkte Kugeln mit gleichem Radius im R3. Dann gibt es eine Zerlegung vonK in 5 paarweise disjunkte Teilmengen,

K =s⋃i=1

Ai, Ai ∩Aj = ∅ fur i 6= j,

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und Bewegungen β1, . . . , β5 des R3 mit

5⋃i=1

βiAi = K ∪K ′.

Es kann also auf keine Weise moglich sein, den hierbei auftretenden Teilmengen Ai einbewegungsinvariantes Volumen zuzusprechen. Wir sehen hieran (und auch an anderenahnlichen Aussagen), daß man nicht hoffen kann, Flacheninhalt und Volumen fur allebeschrankten Teilmengen sinnvoll zu definieren.

Verscharft man die Bedingung der Additivitat zur σ-Additivitat, so erhalt man eine ne-gative Antwort auf das entsprechende Maßproblem sogar fur alle n ≥ 1 selbst dann, wennman die die Bedingung der Bewegungsinvarianz zur Translationsinvarianz abschwacht.

Es ergibt sich also die Frage, welchen Mengen man sinnvollerweise einen Flacheninhaltbzw. ein Volumen zuordnen kann und wie man das bewerkstelligen kann. Betrachtenwir kurz eine elementare Moglichkeit. Schon die alten Griechen hatten zur Flachenin-haltsbestimmung (Berechnung, nicht Definition) von gewissen krummlinig berandetetenFiguren ein ”Ausschopfungsverfahren“ entwickelt, das vor allem mit den Namen Eudo-xos (5. Jhd. v. Chr.) und Archimedes (3. Jhd. v. Chr.) verknupft ist. Wir wollen denGrundgedanken gleich in etwas modernerer Fassung prazisieren und fur unsere Zweckenutzbar machen.

Definition. Sei A ⊂ R2 eine beschrankte Teilmenge. A heißt Jordan-meßbar, wenn zujedem ε ∈ R+ Elementarfiguren B, C existieren mit

B ⊂ A ⊂ C und F (C)− F (B) < ε.

Ist A Jordan-meßbar, so ist

supF (B) : B ⊂ A, B Elementarfigur

= infF (C) : C ⊃ A, C Elementarfigur,

und diese Zahl nennt man den Peano-Jordan-Inhalt von A.

Wir wollen den Peano-Jordan-Inhalt von A ebenfalls mit F (A) bezeichnen. Ist nun Sdas System aller Jordan-meßbaren Teilmengen von R2 und F der so fortgesetzte Inhalt,so kann man zeigen, daß (S, F ) in der Tat ein Inhaltssystem ist. Vollig analog kann manim R3 vorgehen.

Mit dem so erreichten Inhaltssystem konnte man nun eigentlich zufrieden sein, denndie im ”taglichen Leben“ vorkommenden Figuren oder Raumteile werden sicher allePeano-Jordan-meßbar sein. Es gibt aber gewichtige mathematische Grunde, hiermitnicht zufrieden zu sein. Ein erster ist der folgende. Betrachten wir etwa die Punktmenge

M = (x, y) ∈ R2 : 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ y ≤ 1, x, y ∈ Q.

Sie ist offenbar nicht Jordan-meßbar. Andererseits ist sie abzahlbar, also nur eine ”klei-ne“ Teilmenge des Einheitsquadrates W , so daß also W\M eigentlich noch den Inhalt 1haben sollte. Hier zeigt sich ein entscheidender Mangel des Peano-Jordanschen Inhalts-systems (S, F ). Mit A1, . . . , Ak ∈ S gilt zwar

⋃ki=1Ai ∈ S, aber dies laßt sich nicht auf

abzahlbar unendlich viele Mengen ausdehnen, wie das Beispiel M zeigt. An vielen undwesentlichen Stellen der Mathematik hat sich gezeigt, daß man mit einem Inhaltssystem(S, F ) nur dann gut arbeiten kann, wenn sogar die folgende Bedingung erfullt ist:

Ai ∈ S (i ∈ N) ⇒⋃i∈N

Ai ∈ S,

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50 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Ai ∈ S (i ∈ N), Ai ∩Aj = ∅ (i 6= j) ⇒ F

(⋃i∈N

Ai

)=∑i∈N

F (Ai). (2.0.1)

Wir wollen dann (wieder nur fur die Zwecke der Einleitung) (S, F ) ein Maßsystemnennen. Die Frage ist nun, ob man das Peano-Jordansche Inhaltssystem weiter fortsetzenkann zu einem Maßsystem. Das ist in der Tat der Fall; das Lebesguesche Maß, definiertauf dem System der Lebesgue-meßbaren Mengen, leistet das Gewunschte, wie wir ausAnalysis II wissen.

Die obige Eigenschaft (2.0.1) nennt man auch σ-Additivitat. Diese σ-Additivitat hebtdie Maßtheorie heraus aus der elementaren Inhaltstheorie. Festhalten fur die spaterenEntwicklungen wollen wir die grundsatzliche Bedeutung des Fortsetzungsproblems.

• Gekrummte Flachen, fraktale Dimension Flacheninhalt und Volumen und ihreFortsetzungen sind die anschaulichsten und klassischen Beispiele fur Maße. Aber schondie geometrische Anschauung liefert weitere Beispiele, die den Aufbau einer allgemei-neren Theorie der Maße wunschbar erscheinen lassen. Denken wir etwa an die Notwen-digkeit, Oberflachen von krumm berandeten Raumteilen zu messen. Fur hinreichendglatte Flachen liefert die mehrdimensionale Analysis bzw. Differentialgeometrie eineplausible Berechnungsvorschrift, aber die Frage, wie allgemein Teilmengen des R3 seindurfen, damit man ihnen in sinnvoller Weise einen zweidimensionalen Flacheninhalt zu-ordnen kann, bedarf zu ihrer Beantwortung einer weitentwickelten Maßtheorie. Analogkann man naturlich fragen, welchen Punktmengen man ein vernunftiges eindimensio-nales Maß zuschreiben kann. Man kann aber noch weiter gehen. Manchmal stoßt manauf Punktmengen, sogenannte Fraktale, denen man nur mit einer feineren Skala vonDimensions- und Maßbegriffen eine ”Große“ zuordnen kann. Betrachten wir etwa dasCantorsche Diskontinuum. Es ist eine uberabzahlbare Teilmenge des Intervalls [0, 1],aber insofern eine kleine Teilmenge, als sie eindimensionales Lebesgue-Maß 0 hat. Mankann sie trotzdem noch naher ausmessen, indem man sogenannte Hausdorff-Maße derDimension α, 0 ≤ α ≤ 1, einfuhrt. Es zeigt sich dann, daß das Cantorsche Diskontinuumin der Dimension log 2/ log 3 ein Maß hat, das weder 0 noch ∞ ist.

• Massen und Ladungen Die bisher geschilderten Vorbilder fur Maße waren aus dergeometrischen Anschauung entlehnt. Weitere Beispiele liefert die physikalische Anschau-ung. Denken wir etwa an Massenverteilungen. Der Physiker kennt (bzw. denkt sich) so-wohl punktformige als auch kontinuierliche Massenverteilungen (ohne daß wir das hierprazisieren wollen). Auch Verteilungen elektrischer Ladungen sind hier zu nennen; inder Physik ist man genotigt, sich auch flachenhafte oder linienhafte Ladungsverteilun-gen vorzustellen. Im Gegensatz zu Rauminhalten und Massen konnen Ladungen auchnegative Werte annehmen. Mit all diesen Verteilungen verbindet man die Vorstellung,daß zu jedem ”vernunftigen“ beschrankten Raumteil A wohldefiniert ist, wieviel Masseoder Ladung auf ihn entfallt; dieser Anteil sei mit m(A) bezeichnet. Ferner verbindetman die Vorstellung der Additivitat damit. Wir stehen also wie beim Inhaltsproblemwieder vor der Frage, wie allgemein ein Raumteil A sein darf, damitm(A) erklart werdenkann. Im Gegensatz zum Rauminhalt mussen wir jetzt u.a. auch m(x) 6= 0 zulassenfur Punkte x ∈ R3.

• Wahrscheinlichkeit und Statistik

Interessanterweise wird man aber auch von ganz anderen Uberlegungen ausgehend zueiner ahnlichen mathematischen Situation gefuhrt, namlich bei der Konstruktion ei-nes mathematischen Modells zur Beschreibung von zufalligen Ereignissen und ihrenWahrscheinlichkeiten. Zur Erlauterung stellen wir uns einen Versuch vor, bei demsich verschiedene, aber im einzelnen nicht vorhersagbare Versuchsergebnisse einstel-len konnen (z.B. Werfen eines Wurfels, zufalliges Herausgreifen von 1000 Personen auseiner Bevolkerung). Die Gesamtheit der moglichen Versuchsergebnisse denken wir uns

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durch eine Menge Ω reprasentiert. Wir interessieren uns nun fur ”Ereignisse“, von de-nen nach Kenntnis des Versuchsergebnisses feststehen soll, ob sie eingetreten sind odernicht (z.B.: Wurfel zeigt gerade Augenzahl; von den 1000 Personen sind mindestens 300großer als 1,70 m). Wir konnen ein solches Ereignis reprasentieren durch die MengeA ⊂ Ω aller Versuchsergebnisse, bei deren Eintreten das fragliche Ereignis eingetretenist. Unser mathematisches Modell besteht also bis jetzt aus einer Menge Ω (von ”Ver-suchsergebnissen“) und einem System A von Teilmengen von Ω, die wir ”Ereignisse“nennen. Daß bei Vorliegen des Versuchsergebnisses ω das Ereignis A eingetreten ist,wird wiedergegeben durch die Relation ω ∈ A. Von einem Ereignis werden wir immerdann sprechen wollen, wenn nach jedem Versuchsergebnis feststeht, ob das Ereignis ein-getreten ist. Mit dieser Vereinbarung konnen wir aber aus gegebenen Ereignissen durchlogische Operationen neue Ereignisse bilden: Sind A und B Ereignisse, so ist auch ”Aund B“ ein Ereignis (es tritt genau dann ein, wenn A und B eintreten), ebenso ist ”Aoder B“ ein Ereignis (es tritt genau dann ein, wenn mindestens eines der Ereignisse Aoder B eintritt), schließlich kann man das komplementare Ereignis ”nicht A“ erklaren(es tritt genau dann ein, wenn A nicht eintritt). In unserem obigen mengentheoretischenModell mussen wir ”A und B“ offenbar durch A ∩ B, ”A oder B“ durch A ∪ B und

”nicht A“ durch Ac := Ω\A wiedergeben. Wir konnen auch vom ”sicheren Ereignis“, dasimmer eintritt, sprechen und ihm die Menge Ω selbst zuordnen, sowie vom unmoglichenEreignis, das durch die leere Menge ∅ reprasentiert wird. In unserem Modell fordern wirdaher von der Ereignismenge A:

(1) Ω ∈ A,(2) Ac ∈ A fur alle A ∈ A,(3) A ∪B ∈ A fur alle A,B ∈ A.

Die Forderungen A ∩ B ∈ A und ∅ ∈ A sind aus (1), (2), (3) herleitbar. Ein SystemA ⊂ P(Ω) (Potenzmenge von Ω) mit diesen Eigenschaften nennt man eine Algebra inΩ.

Jedem Ereignis, also jedem Element A der Algebra A, soll nun eine ”Wahrscheinlichkeit“µ(A) zugeordnet werden. Dies soll so geschehen, daß die Wahrscheinlichkeit eines Ereig-nisses seine relative Haufigkeit bei einer großen Zahl von Wiederholungen des Versuchesannahernd wiedergibt. Hierdurch wird es nahegelegt, unter einer Wahrscheinlichkeit einereellwertige Funktion µ auf A zu verstehen, die folgende Eigenschaften hat:

(1) µ(A) ≥ 0 fur alle A ∈ A,(2) µ(Ω) = 1,(3) µ(A ∪B) = µ(A) + µ(B) fur alle A,B ∈ A mit A ∩B = ∅.

Wir sind also zu einer ahnlichen abstrakten Situation gelangt wie fruher bei den In-haltssystemen oder bei Massen- oder Ladungsverteilungen (abgesehen davon, daß jetztdie Forderung µ(Ω) = 1 hinzukommt).

Bei der mathematischen Ausgestaltung des bislang entwickelten Modells zeigt sich je-doch, daß es noch nicht genugend leistungsfahig ist. Betrachten wir zum Beispiel eine(theoretisch unendliche) Folge von Wurfen mit einem fairen Wurfel. Wir werden auf-grund praktischer Erfahrungen erwarten, daß der Anteil der gewurfelten Sechsen mitfortschreitendem Wurfeln sich immer mehr dem Wert 1

6 nahert. In dem mathematischenModell, das unsere unendliche Versuchsfolge beschreiben soll, mußte dies ein beweisba-rer Satz sein (bei passender Konvergenzdefinition); andernfalls ware die Modellbildungals unzulanglich zu verwerfen. Derartige Aussagen (sogenannte ”Gesetze der großenZahlen“) lassen sich in der Tat beweisen, jedoch erst, wenn man die obigen Forderun-gen durch die folgenden scharferen ersetzt: Fur jede Folge (Ai)i∈N mit Ai ∈ A und

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52 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Ai ∩Aj = ∅ fur i 6= j (i, j ∈ N) soll auch⋃∞i=1Ai ∈ A sein und

µ

( ∞⋃i=1

Ai

)=

∞∑i=1

µ(Ai)

gelten. Das ist also wieder die Forderung der σ-Additivitat, und das System A heißtjetzt eine σ-Algebra. Damit sind wir auch bei der endgultigen Erklarung eines Maßesangelangt. Man versteht hierunter eine nichtnegative, σ-additive Funktion (mit Wertenin R ∪ ∞) auf einer σ-Algebra von Teilmengen einer Menge.

2.1 Mengensysteme

In diesem Abschnitt mussen wir zunachst die Mengensysteme betrachten, die als Defini-tionsbereiche von Maßen in Frage kommen. Bei gegebener Grundmenge Ω ist ein solchesMengensystem eine Teilmenge der Potenzmenge P(Ω). Statt ”Menge“ benutzen wir synonymauch die Bezeichnung ”System“, und zwar vorwiegend dann, wenn die Elemente selbstMengen sind.

Notationen und Konventionen

• ”Grundmenge“ Ω, Potenzmenge P(Ω), also das System aller Teilmengen von Ω. MancheDefinitionen beziehen sich auf die Grundmenge Ω, ohne daß dies in der Bezeichnung zumAusdruck kommt.

• Das Komplement Ac := Ω \A := x ∈ Ω : x /∈ A von A ⊂ Ω

• Regeln von De Morgan: Fur jede Familie (Ai)i∈I (I eine Indexmenge) von TeilmengenAi ⊂ Ω gilt (⋃

i∈IAi

)c=⋂i∈I

Aci ,

(⋂i∈I

Ai

)c=⋃i∈I

Aci .

• Fur Mengen A, B istA4B := (A \B) ∪ (B \A)

die symmetrische Differenz ; sie besteht also aus allen Elementen, die zu genau einer derMengen A, B gehoren.

• Sehr haufig werden wir Folgen (An)n∈N in P(Ω), also Folgen von Teilmengen von Ω, zubetrachten haben. Eine solche Folge nennen wir disjunkt, wenn

An ∩Am = ∅ fur n 6= m (n,m ∈ N)

gilt; sie heißt monoton, wenn sie entweder zunehmend (wachsend) ist, d.h. wenn

A1 ⊂ A2 ⊂ . . .

gilt, oder abnehmend (fallend) ist, d.h. wenn

A1 ⊃ A2 ⊃ . . .

gilt (”zunehmend“ und ”abnehmend“ sind also im schwachen Sinne gemeint, d.h. es darfauch An+1 = An sein).

• Die AbkurzungAn ↑ A

bedeutet, daß die Folge (An)n∈N zunehmend ist und daß

∞⋃n=1

An = A

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2.1. MENGENSYSTEME 53

ist. Entsprechend bedeutetAn ↓ A,

daß (An)n∈N eine abnehmende Folge ist mit

∞⋂n=1

An = A.

Aus An ↑ A folgt Acn ↓ Ac und umgekehrt.

Definition. Fur eine beliebige Folge (An)n∈N in P(Ω) definiert man

lim supn→∞

An := x : x ∈ An fur unendlich viele n ∈ N,

undlim infn→∞

An := x : x ∈ An fur fast alle n ∈ N.

”Fast alle“ bedeutet dabei: ”alle bis auf endlich viele“.

Offenbar ist

lim supn→∞

An =∞⋂n=1

∞⋃k=n

Ak

und

lim infn→∞

An =∞⋃n=1

∞⋂k=n

Ak.

Es gilt

(lim supn→∞

An)c = lim infn→∞

Acn,

(lim infn→∞

An)c = lim supn→∞

Acn,

lim infn→∞

An ⊂ lim supn→∞

An.

Im folgenden werden wir die Angabe n→∞ gelegentlich fortlassen. Gilt

lim infn→∞

An = lim supn→∞

An =: A,

so schreibt man hierfurlimn→∞

An = A.

(Man beachte, daß sich dieser Limes nicht auf eine Metrik oder Topologie bezieht.) Insbeson-dere gilt

limn→∞

An = A,

falls An ↑ A oder An ↓ A gilt.

Nach diesen Vorbemerkungen kommen wir zu den grundlegenden Definitionen der Maßtheo-rie. Wie einleitend plausibel zu machen versucht wurde, nimmt man als Definitionsbereicheines Maßes sinnvollerweise ein System von Mengen, das abgeschlossen ist gegenuber gewissenMengenoperationen. Mit diesen Mengensystemen, den σ-Algebren, und anderen hilfsweiseeingefuhrten Systemen befassen wir uns in diesem Abschnitt.

Definition. Sei Ω 6= ∅ und A ⊂ P(Ω). A heißt ein Ring in Ω, wenn gilt:

(a) ∅ ∈ A,

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54 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

(b) ∀A,B ∈ A : A \B ∈ A,

(c) ∀A,B ∈ A : A ∪B ∈ A.

Beispiele.

• P(Ω) ist stets ein Ring.

• Fur A ⊂ Ω ist ∅, A ein Ring.

• A ⊂ Ω : A ist endlich, A ⊂ Ω : A ist abzahlbar sind Ringe.

• A ⊂ Rn : A ist endliche Vereinigung von Intervallen ist ein Ring.

• Die offenen Teilmengen des Rn bilden keinen Ring.18.11.2003

Bemerkungen. Siehe Elstrodts Buch [4] fur eine Erklarung des Begriffs Ring und furzahlreiche historische Anmerkungen zur Maßtheorie.

Ringe sind abgeschlossen bez. der Bildung endlicher Vereinigungen und der Bildung vonDurchschnitten. Letzteres folgt aus A ∩B = A \ (A \B) und vollstandiger Induktion.

Definition. Sei Ω 6= ∅ und A ⊂ P(Ω). A heißt eine Algebra in Ω, wenn gilt:

(d) Ω ∈ A,

(e) ∀A ∈ A : Ac ∈ A,

(f) ∀A,B ∈ A : A ∪B ∈ A.

A heißt eine σ-Algebra in Ω, wenn (d) und (e) gelten sowie

(f’) Fur jede Folge (An)n∈N in A ist⋃∞n=1An ∈ A.

Ist A eine σ-Algebra in Ω, so wird das Paar (Ω,A) als meßbarer Raum oder Meßraumbezeichnet.

Hinweis. In anderen Gebieten der Mathematik treten die Begriffe ”Ring“ und ”Algebra“mit anderen Bedeutungen auf. Dies kann aber nicht zu Verwechslungen fuhren. – Leidersind gerade in der Maßtheorie in der Literatur uneinheitliche Bezeichnungsweisen ublich.Beispielshalber findet man statt ”(σ-)Algebra“ auch die Bezeichnung ”(σ-)Korper“.

Bemerkungen.

• Jede Algebra ist auch abgeschlossen bez. der Bildung von Durchschnitten, da wegenA \B = (Ac ∪B)c jede Algebra ein Ring ist.

• Ein Ring A in Ω ist genau dann eine Algebra, wenn Ω ∈ A gilt.

• Fur jede Folge (An)n∈N in einer σ-Algebra gilt wegen (e) und (f′) auch

∞⋂n=1

An ∈ A.

Eine σ-Algebra ist also abgeschlossen gegenuber der Bildung abzahlbarer Vereinigungenund Durchschnitte.

Beispiele.

• P(Ω) ist stets eine Algebra und eine σ-Algebra.

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2.1. MENGENSYSTEME 55

• A ⊂ Ω : A oder Ac ist endlich und A ⊂ Ω : A oder Ac ist abzahlbar sind Algebren,letzteres sogar eine σ-Algebra.

• Die Lebesgue-meßbaren Mengen im Rn bilden eine σ-Algebra.

• Ist Ω unendlich, so ist A ⊂ Ω : A ist endlich ein Ring, aber keine Algebra; ferner istA ⊂ Ω : A oder Ac ist endlich eine Algebra, aber keine σ-Algebra.

Grundlegend wichtig fur alles Weitere ist der Begriff der σ-Algebra. Aus technischen Grundenfuhren wir gleich zwei weitere Typen von Mengensystemen ein, die aber nur gelegentlichbenutzt werden.

Definition. Ein Teilsystem M ⊂ P(Ω) heißt monotones System (oder monotone Klasse),wenn gilt:

(a) M 6= ∅,

(b) fur jede monotone Folge (An)n∈N in M gilt limn→∞An ∈M.

Definition. Ein Teilsystem D ⊂ P(Ω) heißt Dynkin-System, wenn gilt

(c) Ω ∈ D,

(d) fur A,B ∈ D mit A ⊂ B gilt B \A ∈ D,

(e) fur jede disjunkte Folge (An)n∈N in D gilt⋃∞n=1An ∈ D.

Bemerkungen.

• Jede σ-Algebra ist ein monotones System und ein Dynkin-System.

• Eine Algebra, die ein monotones System ist, ist eine σ-Algebra (denn ist (An)n∈N eineFolge in der Algebra A, so ist (A1 ∪ · · · ∪An)n∈N eine monotone Folge in A).

Definition. Ein Teilsystem S ⊂ P(Ω) heißt durchschnittsstabil (∩-stabil), wenn mit A,B ∈ Sstets auch A ∩B ∈ S gilt.

Satz 2.1.1. Jedes ∩-stabile Dynkin-System ist eine σ-Algebra.

Beweis. Sei D ⊂ P(Ω) ein ∩-stabiles Dynkin-System. Wegen (11.2) (c), (d) gilt auch (11.1)(d), (e). Fur A,B ∈ D gilt

A ∩ (B \ (A ∩B)) = ∅.

Da D ∩-stabil ist, ist A ∩B ∈ D. Da ∅ ∈ D ist, gilt nach (11.2) (e)

A ∪B = A ∪ (B \ (A ∩B)) ∈ D.

Daher liegt auch die Vereinigung endlich vieler Elemente aus D in D. Sei jetzt (An)n∈N eineFolge in D. Dann ist (Bn+1 \ Bn)n∈N mit B0 := ∅ und Bn := A1 ∪ · · · ∪ An (n ∈ N) einedisjunkte Folge in D mit

∞⋃n=1

An =∞⋃n=0

(Bn+1 \Bn) ∈ D.

Es gilt also auch (11.1) (f′).

Der folgende Aussage beschreibt eine naheliegende und wichtige Weise, Mengensysteme derdefinierten Typen zu erzeugen.

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56 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Sei E ⊂ P(Ω). Der Durchschnitt aller

Ringe, Algebren, σ-Algebren, monotonen Systeme, Dynkin-Systeme

in Ω, die E enthalten, ist selbst

ein Ring, eine Algebra, eine σ-Algebra, ein monotones System, ein Dynkin-System

in Ω. Er (sie, es) heißt der von E in Ω erzeugte Ring (bzw. die von E in Ω erzeugteAlgebra, u.s.w.) und wird mit R(E) (bzw. A(E), σ(E),M(E),D(E)) bezeichnet. E heißt einErzeugendensystem von R(E) (bzw. σ(E) u.s.w.)

Man beachte, daß P(Ω) jedenfalls ein E enthaltendes System von jedem der angegebenenTypen ist; daher ist das von E erzeugte entsprechende System in jedem der Falle erklart.Der Nachweis obiger Behauptung ist offensichtlich.

Besonders haufig wird im folgenden die Bildung von A(E), also der kleinsten E enthaltendenσ-Algebra, vorkommen. Zuvor wollen wir bemerken, daß sich die Elemente der erzeugtenAlgebra A(E) leicht konstruktiv angeben lassen:

Satz 2.1.2. Sei E ⊂ P(Ω) ein nichtleeres Teilsystem. Dann ist

A(E) =

A ⊂ Ω :A =

⋃ni=1Ai mit n ∈ N, Ai ∩Aj = ∅ fur i 6= j,

mit Ai = Ai1 ∩ · · · ∩Aiki, ki ∈ N, und

Aij ∈ E oder Acij ∈ E

Beweis. Bezeichnen wir die rechts stehende Menge mit C, so gilt jedenfalls C ⊂ A(E), dennA(E) enthalt E und ist eine Algebra. Wir zeigen, daß C eine Algebra ist; wegen E ⊂ C mußdann A(E) ⊂ C und damit A(E) = C gelten.

Trivialerweise ist Ω ∈ C. Seien A,B ∈ C, und seien A =⋃ni=1Ai, B =

⋃mj=1Bj Darstel-

lungen der angegebenen Art. Dann ist

A ∩B =n⋃i=1

m⋃j=1

(Ai ∩Bj) ∈ C.

Ferner gilt

Ac =n⋂i=1

Aci

mit

Aci = Aci1 ∪ · · · ∪Aciki

= Aci1 ∪ (Aci2 ∩Ai1) ∪ (Aci3 ∩Ai1 ∩Ai2) ∪ . . .

∈ C,

nach dem vorstehend Bewiesenen (und Induktion) also Ac ∈ C. Aus beiden Ergebnissen folgtmit A,B ∈ C auch A ∪B ∈ C.

Wir konnen das Ergebnis noch etwas anders formulieren. Hierzu bezeichnen wir zu einemgegebenen Mengensystem E ⊂ P(Ω) mit CE das System der Mengen in E und ihrer Kom-plemente, mit DE das System aller endlichen Durchschnitte von Mengen aus E , und mit V Edas System aller endlichen Vereinigungen von Mengen aus E . Dann besagt also Satz (11.6)(in scharferer Form), daß

A(E) = V DCE

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2.1. MENGENSYSTEME 57

ist.

Nun darf man sich aber nicht verleiten lassen, Ahnliches von der erzeugten σ-Algebraσ(E) anzunehmen. Man konnte denken, daß man sie analog erhalt, wenn man statt derendlichen Operationen abzahlbare nimmt. Bezeichnen wir diese mit Dσ, Vσ, so kann mannaturlich VσDσCE bilden. Dies ist aber i.a. keine σ-Algebra (man kann nicht zeigen, daßes gegen Komplementbildung abgeschlossen ist), d.h. das System CVσDσCE wird i.a. echtgroßer sein. Jetzt kann man weiter VσDσCVσDσCE bilden. Aber auch das ist i.a. nochkeine σ-Algebra. Ist es moglich, dieses Verfahren fortgesetzt zu wiederholen, so daß man

”schließlich“ zur erzeugten σ-Algebra gelangt? Bei richtiger Interpretation von ”schließlich“trifft das zu, aber man benotigt dazu die Theorie der Ordinalzahlen und transfinite Induktion.

Jedenfalls ist diese transfinite ”Konstruktion“ der erzeugten σ-Algebra i.a. nicht zweckmaßig,um σ(E) in den Griff zu bekommen. Dies hat zur Folge, daß man bei Beweisen uber σ-Algebrenhaufig indirekte Schlußweisen benutzen muß, die wir etwa folgendermaßen erlautern konnen:Sei E ⊂ P(Ω) gegeben. Die Elemente von E mogen eine Eigenschaft X haben, und es sei derNachweis verlangt, daß auch die Elemente der erzeugten σ-Algebra σ(E) die Eigenschaft Xhaben. Da man die Elemente von σ(E) wegen des oben geschilderten Dilemmas nicht direktbeschreiben kann, kann man nicht direkt die Eigenschaft X an ihnen nachprufen. Haufig istaber die folgende Schlußweise moglich. Man setzt

σX := A ∈ σ(E) : A hat die Eigenschaft X.

Nach Voraussetzung ist E ⊂ σX . Gelingt nun der Nachweis, daß σX eine σ-Algebra ist, sofolgt σ(E) ⊂ σX , da σ(E) die kleinste E enthaltende σ-Algebra ist. Jedes Element von σ(E)hat also die Eigenschaft X.

Bei der Durchfuhrung dieser Schlußweise wie auch in anderen Fallen steht man vor demProblem, von einem Mengensystem zeigen zu mussen, daß es eine σ-Algebra ist. Zur Er-leichterung dieses Nachweises (aber auch fur andere Zwecke) haben sich die oben definiertenMengensysteme anderer Art bewahrt. Der folgende Satz zeigt, daß man in manchen Fallenstatt der von einem System E erzeugten σ-Algebra nur das von E erzeugte monotone Systemoder Dynkin-System zu untersuchen braucht. Das kann unter Umstanden einfacher sein.

Satz 2.1.3. Fur ∅ 6= E ⊂ P(Ω) gilt

(a) Ist E eine Algebra, so ist σ(E) = M(E).

(b) Ist E ∩-stabil, so ist σ(E) = D(E).

Beweis. (a) Sei E eine Algebra in Ω. Da A(E) ein monotones System ist, gilt M(E) ⊂ σ(E).Wir zeigen, daß M(E) eine σ-Algebra ist; dann gilt also auch σ(E) ⊂M(E).

Fur A ∈M(E) setzen wir

MA := B ∈M(E) : A ∩B,A ∩Bc, Ac ∩B ∈M(E).

Man weist leicht nach, daß MA ein monotones System ist. Sei A ∈ E . Da E eine Algebraist, gilt E ⊂ MA, also M(E) ⊂ MA. Sei B ∈ M(E). Gilt A ∈ E , so ist B ∈ MA, wie ebengezeigt, also A ∩ B, A ∩ Bc, Ac ∩ B ∈ M(E) und somit A ∈ MB. Es ist also E ⊂ MB

und daher M(E) ⊂ MB. Damit ist gezeigt: Fur beliebige A,B ∈ M(E) gilt A ∩ B, A ∩ Bc,Ac ∩B ∈M(E). Daraus folgt, daß M(E) eine Algebra und somit als monotones System eineσ-Algebra ist.

(b) Sei E ein ∩-stabiles System in Ω. Da σ(E) ein Dynkin-System ist, gilt D(E) ⊂ σ(E). Wirzeigen, daß D(E) eine σ-Algebra ist; dann gilt also auch σ(E) ⊂ D(E). Hierzu genugt derNachweis, daß D(E) ∩-stabil ist.

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58 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Fur A ∈ D(E) setzen wir

DA := B ∈ D(E) : B ∩A ∈ D(E).

Man weist leicht nach, daß DA ein Dynkin-System ist. Sei A ∈ E . Da E ∩-stabil ist, giltE ⊂ DA, also D(E) ⊂ DA. Sei B ∈ D(E). Gilt A ∈ E , so ist B ∈ DA, wie eben gezeigt, alsoB ∩ A ∈ D(E) und somit A ∈ DB. Es ist also E ⊂ DB und daher D(E) ⊂ DB. Damit istgezeigt: Fur beliebige A,B ∈ D(E) gilt A ∩B ∈ D(E).

20.11.2003

2.2 Mengenfunktionen

Hauptgegenstand dieses Abschnittes ist die Einfuhrung von Maßen. Gemaß den Beispielender Einleitung sind das Mengenfunktionen mit speziellen Eigenschaften, modelliert etwa nachden Eigenschaften des elementaren Volumens bzw. des Lebesgue-Maßes. Schon dieses Beispiellegt nahe, daß man zur Vermeidung lastiger Ausnahmen als Wert eines Maßes auch ∞zulassen sollte. Hierzu werden die Ordnung der reellen Zahlen und gewisse Rechenoperationenpassend ausgedehnt, so daß diese Fortsetzung konsistent mit Konvergenzbetrachtungen ist.Die erforderlichen Definitionen wollen wir zunachst zusammenstellen.

Festlegungen. Mit R wird die Menge (und der Korper) der reellen Zahlen bezeichnet. Wirsetzen R := R∪∞,−∞, wo ∞ und −∞ beliebige Symbole (aber keine reellen Zahlen) sind.Man definiert nun fur alle x ∈ R:

−∞ < x <∞, | −∞| = |∞| = ∞,

∞+∞ = ∞+ x = x+∞ = ∞,

−∞−∞ = −∞+ (−∞) = x−∞ = −∞+ x = −∞,

x · ∞ = ∞ · x =

∞ fur x > 0,0 fur x = 0,−∞ fur x < 0,

x · (−∞) = (−∞) · x =

−∞ fur x > 0,0 fur x = 0,∞ fur x < 0.

Auf die in der Maßtheorie zweckmaßige Festsetzung 0 · ∞ = 0 sei besonders hingewiesen.Sodann sei noch

∞ ·∞ = ∞, (−∞) · ∞ = ∞(−∞) = −∞, (−∞)(−∞) = ∞

gesetzt. Man beachte, daß ”∞−∞“ nicht definiert ist.

Zusammen mit diesen Festsetzungen wird R als das erweiterte System der reellen Zahlenbezeichnet. Eine Funktion mit Werten in R wird auch numerische Funktion genannt.Limesbildungen sind im folgenden stets in R zu verstehen.

Nun definieren wir die Eigenschaften von Mengenfunktionen, die fur das Folgende grundlegendsind. Dabei sei Ω stets eine gegebene nichtleere Menge.

Definitionen. Sei S ⊂ P(Ω) ein Mengensystem und µ eine numerische Funktion auf S.

• Die Funktion µ heißt additiv, wenn gilt:

(a) µ nimmt hochstens einen der Werte ∞, −∞ an,

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2.2. MENGENFUNKTIONEN 59

(b) fur je endlich viele paarweise disjunkte Mengen A1, . . . , An ∈ S mit⋃ni=1Ai ∈ S gilt

µ

(n⋃i=1

Ai

)=

n∑i=1

µ(Ai).

• µ heißt σ-additiv, wenn (a) gilt und

(b′) fur jede disjunkte Folge (Ai)i∈N in S mit⋃∞i=1Ai ∈ S gilt

µ

( ∞⋃i=1

Ai

)=

∞∑i=1

µ(Ai).

• µ heißt endlich, wenn µ(A) ∈ R ist fur alle A ∈ S.

• µ heißt σ-endlich, wenn eine Folge (En)n∈N in S existiert mit∞⋃n=1

En = Ω und µ(En) ∈ R fur n ∈ N.

Erlauterung. Die Schreibweise

µ

( ∞⋃i=1

Ai

)=

∞∑i=1

µ(Ai)

bedarf einer Interpretation. Ist µ(Ai) ∈ R fur alle i ∈ N, so ist gemeint, daß die Reihekonvergieren soll oder bestimmt divergieren soll; im letzteren Fall ist nach Definition

∞∑i=1

µ(Ai) = ∞ bzw. −∞.

Gilt nicht µ(Ai) ∈ R fur alle i ∈ N, so nimmt µ(Ai) fur gewisse i auch einen der Werte ∞,−∞ an, aber nach (a) nur einen dieser Werte, etwa ∞. In diesem Fall wird∑

i∈Nµ(Ai)∈R

µ(Ai) 6= −∞

gefordert und∑

i∈N µ(Ai) := ∞ gesetzt.

Die folgende Definition ist durch die Beispiele und anschließenden Betrachtungen der Einlei-tung motiviert und vorbereitet worden.

Definition. Sei R ein Ring in Ω und µ eine numerische Funktion auf R.

• µ heißt Inhalt auf R, wenn gilt: µ(∅) = 0, µ(A) ≥ 0 fur A ∈ R, µ ist additiv.

• µ heißt Maß auf R, wenn gilt: µ(∅) = 0, µ(A) ≥ 0 fur A ∈ R, µ ist σ-additiv.

• µ heißt signiertes Maß auf R, wenn gilt: µ(∅) = 0, µ ist σ-additiv.

Hinweis. Manche Autoren sprechen nur dann von einem Maß, wenn der Definitionsbereicheine σ-Algebra ist, und nennen die hier als ”Maß“ bezeichnete Mengenfunktion ein Pramaß.Diese Unterscheidung erscheint uns aber unnotig. Wir treffen jedoch die folgende Vereinba-rung.

Definition. Ein Maßraum ist ein Tripel (Ω,A, µ), wo Ω eine nichtleere Menge, A eine σ-Algebra in Ω und µ ein Maß auf A ist. Ein Maßraum (Ω,A, µ) mit µ(Ω) = 1 heißt Wahr-scheinlichkeitsraum, und µ heißt in diesem Fall ein Wahrscheinlichkeitsmaß.

Beispiele.

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60 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

(a) Sei Ω unendlich. Auf der Algebra A ⊂ Ω : A oder Ac endlich wird durch

µ(A) :=

0, wenn A endlich,

∞, wenn Ac endlich

ein Inhalt definiert, der im Fall einer abzahlbar unendlichen Menge Ω kein Maß ist.

(b) Sei Ω uberabzahlbar. Auf der σ-Algebra A ⊂ Ω : A oder Ac abzahlbar wird durch

µ(A) :=

0, wenn A abzahlbar,

∞, wenn Ac abzahlbar

ein Maß erklart.

(c) Sei R ein beliebiger Ring in Ω. Fur x ∈ Ω und A ∈ R wird durch

µx(A) :=

1, wenn x ∈ A,

0, wenn x /∈ A

ein Maß µx erklart (”Punktmasse in x“, das auch mit δx oder einfach δx bezeichnetwird). Ferner wird durch

µ(A) :=

card(A), wenn A endlich,

∞, sonst

ein Maß, das sogenannte ”Zahlmaß“, erklart.

Fur verschiedentliche Anwendung notieren wir einige einfache Folgerungen aus den Axiomen.

Satz 2.2.1. Sei µ ein Inhalt auf dem Ring R. Dann gilt fur A,B,Ai ∈ R

(a) µ(A ∪B) + µ(A ∩B) = µ(A) + µ(B),

(b) A ⊂ B ⇒ µ(A) ≤ µ(B), (Monotonie)

(c) A ⊂ B und µ(A) <∞ ⇒ µ(B \A) = µ(B)− µ(A),

(d) µ(⋃ni=1Ai) ≤

∑ni=1 µ(Ai) (Subadditivitat).

(e) Ist µ ein Maß und⋃∞i=1Ai ∈ R, so gilt (σ-Subadditivitat)

µ

( ∞⋃i=1

Ai

)≤

∞∑i=1

µ(Ai).

Beweis. Es ist A∪B = A∪(B\A) und B = (A∩B)∪(B\A), also µ(A∪B) = µ(A)+µ(B\A)und µ(B) = µ(A ∩B) + µ(B \A). Addition ergibt

µ(A ∪B) + µ(A ∩B) + µ(B \A) = µ(A) + µ(B) + µ(B \A).

Ist µ(B \A) <∞, so folgt (a). Ist µ(B \A) = ∞, so ist auch µ(A ∪B) = ∞ und µ(B) = ∞,also gilt (a) auch in diesem Fall.

Ist A ⊂ B, so ist µ(B) = µ(A) + µ(B \ A). Wegen µ ≥ 0 folgt (b), und im Fall µ(A) < ∞ergibt sich (c).

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2.2. MENGENFUNKTIONEN 61

Setze B1 := A1, Bi := Ai \ (A1 ∪ · · · ∪Ai−1) fur i = 2, 3, . . . Dann gilt

µ

(n⋃i=1

Ai

)= µ

(n⋃i=1

Bi

)=

n∑i=1

µ(Bi) ≤n∑i=1

µ(Ai)

wegen Bi ∩Bj = ∅ fur i 6= j, Bi ⊂ Ai und (b); das ist die Behauptung (d). Ist µ ein Maß und⋃∞i=1Ai ∈ R, so folgt analog

µ

( ∞⋃i=1

Ai

)= µ

( ∞⋃i=1

Bi

)=

∞∑i=1

µ(Bi) ≤∞∑i=1

µ(Ai).

Soll man von einer nichtnegativen Mengenfunktion die σ-Additivitat nachweisen, so kannes unter Umstanden einfacher sein, anders formulierte, aber aquivalente Eigenschaftennachzuweisen. Zur Formulierung solcher gleichwertigen Eigenschaften sind die folgendenBezeichnungen zweckmaßig.

Definition. Sei µ eine nichtnegative numerische Funktion auf einem Ring R. Die Funktionµ heißt

(a) stetig von unten, wenn fur jede Folge (An)n∈N in R mit An ↑ A ∈ R gilt

limn→∞

µ(An) = µ(A),

(b) stetig von oben, wenn fur jede Folge (An)n∈N in R mit An ↓ A ∈ R und µ(A1) <∞ gilt

limn→∞

µ(An) = µ(A),

(c) ∅-stetig, wenn fur jede Folge (An)n∈N in R mit An ↓ ∅ und µ(A1) <∞ gilt

limn→∞

µ(An) = 0.

Satz 2.2.2. Fur einen Inhalt µ auf einem Ring R gelten folgende Implikationen:

µ ist σ-additiv ⇔ µ ist stetig von unten

⇒ µ ist stetig von oben ⇔ µ ist ∅-stetig .

Ist µ endlich, so sind die angegebenen Bedingungen aquivalent.

Beweis. Sei µ σ-additiv. Sei (An)n∈N eine Folge in R mit An ↑ A ∈ R. Setze Bn := An \An−1

fur n ∈ N (mit A0 := ∅); dann ist (Bn)n∈N eine disjunkte Folge in R mit⋃Bn = A. Daher

gilt

µ(A) =∞∑i=1

µ(Bi) = limn→∞

n∑i=1

µ(Bi) = limn→∞

µ(An),

also ist µ stetig von unten.

Sei µ stetig von unten. Ist (An)n∈N eine disjunkte Folge in R mit A :=⋃An ∈ R, so ist

(Bn)n∈N mit Bn := A1 ∪ · · · ∪An eine Folge in R mit Bn ↑ A, also gilt

µ(A) = limn→∞

µ(Bn) = limn→∞

n∑n=1

µ(Ai) =∞∑i=1

µ(Ai),

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62 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

somit ist µ σ-additiv.

Sei µ stetig von unten. Sei (An)n∈N eine Folge in R mit An ↓ A ∈ R und µ(An) < ∞ furn ∈ N. Nach Satz 2.2.1 (c) gilt dann µ(A1 \ An) = µ(A1) − µ(An). Wegen An ↓ A giltA1 \An ↑ A1 \A und daher

µ(A1 \A) = limµ(A1 \An) = µ(A1)− limµ(An),

alsolimµ(An) = µ(A1)− µ(A1 \A) = µ(A1)− [µ(A1)− µ(A)] = µ(A)

wegen A ⊂ A1 und µ(A1) <∞. Also ist µ stetig von oben.

Die letzte Aquivalenz in der Behauptung des Satzes ist trivial.

Jetzt sei µ als endlich vorausgesetzt, und µ sei ∅-stetig. Sei (An)n∈N eine Folge in R mitAn ↑ A ∈ R. Dann gilt A \An ↓ ∅. Da µ endlich ist, folgt

0 = limµ(A \An) = lim[µ(A)− µ(An)],

also limµ(An) = µ(A). Somit ist µ stetig von unten.

Satz 2.2.2 enthalt eine Stetigkeitseigenschaft von Maßen hinsichtlich monotoner Mengen-folgen. Fur nicht notwendig monotone Folgen lassen sich noch die folgenden Aussagen machen.

Satz 2.2.3. Sei µ ein Maß auf einer σ-Algebra A in Ω, sei (An)n∈N eine Folge in A. Danngilt:

(a) µ(lim inf An) ≤ lim inf µ(An);

(b) µ(lim supAn) ≥ lim supµ(An), falls µ endlich ist;

(c) µ(limAn) = limµ(An), falls µ endlich ist und limAn existiert.

Beweis. (a) Nach Definition ist

lim infm→∞

Am =∞⋃n=1

Bn mit Bn :=∞⋂k=n

Ak fur n ∈ N,

also Bn ∈ A und Bn ↑ lim infm→∞Am. Da µ nach Satz 2.2.2 stetig von unten ist, gilt

µ(lim inf An) = limµ(Bn) = lim inf µ(Bn)

≤ lim inf µ(An) wegen Bn ⊂ An.

(b) Nach Definition ist

lim supm→∞

Am =∞⋂n=1

Bn mit Bn :=∞⋃k=n

Ak fur n ∈ N,

also Bn ∈ A und Bn ↓ lim supm→∞Am. Da µ nach (12.6) stetig von oben ist und nachVoraussetzung µ(Bn) <∞ gilt, folgt

µ(lim supAn) = limµ(Bn) = lim supµ(Bn)

≥ lim supµ(An) wegen An ⊂ Bn.

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2.2. MENGENFUNKTIONEN 63

(c) Gilt lim inf An = lim supAn, so folgt fur endliches µ aus (a) und (b):

lim supµ(An) ≤ µ(lim supAn) = µ(limAn)

= µ(lim inf An) ≤ lim inf µ(An) ≤ lim supµ(An),

also lim inf µ(An) = lim supµ(An), d.h. limµ(An) existiert, und es gilt limµ(An) =µ(limAn).

Zum Abschluß dieses Abschnitts behandeln wir einen ersten (einfachen) Fortsetzungssatz furMaße. Zunachst eine auch spater wichtige Definition.

Definition. Sei µ ein Maß auf der σ-Algebra A. Eine Menge N ∈ A mit µ(N) = 0 heißtµ-Nullmenge.

Wenn man bei der Bildung des Maßbegriffs davon ausgeht, daß ein Maß gewissen anschauli-chen Vorstellungen entsprechen soll, wird man die folgende Aussage fur plausibel halten: ”JedeTeilmenge einer µ-Nullmenge ist ebenfalls eine µ-Nullmenge“. Diese Eigenschaft ist uns etwavom Lebesgue-Maß her bekannt. Im allgemeinen ist diese Aussage aber sinnlos, da fur eineTeilmenge einer µ-Nullmenge das Maß µ gar nicht erklart zu sein braucht, d.h. die Teilmengebraucht nicht in der zugrundeliegenden σ-Algebra enthalten zu sein. Dieser Schonheitsfehlerlaßt sich aber durch eine Erweiterung der σ-Algebra und des Maßes leicht beheben, wie Satz2.2.4 zeigt. 25.11.2003

Definition. Sei µ ein Maß auf dem meßbaren Raum (Ω,A). Das Maß µ und der Maßraum(Ω,A, µ) heißen vollstandig, und die σ-Algebra A heißt µ-vollstandig, wenn gilt:

A ∈ A, µ(A) = 0, B ⊂ A ⇒ B ∈ A.

Satz 2.2.4. Sei µ ein Maß auf dem meßbaren Raum (Ω,A). Dann ist

A := A ∪N : A ∈ A, N ⊂M fur ein M ∈ A mit µ(M) = 0

eine σ-Algebra, und durch

µ(A ∪N) := µ(A) fur A ∪N ∈ A

(A und N wie oben) wird ein vollstandiges Maß µ definiert.

In der Situation des Satzes heißt das Maß µ die Vervollstandigung von µ, ebenso heißt derMaßraum (Ω, A, µ) die Vervollstandigung von (Ω,A, µ), und A heißt die µ-Vervollstandigungvon A.

Beweis. Ω ∈ A ist trivial. Sei B ∈ A, also B = A ∪ N mit geeignetem A ∈ A, N ⊂ Mmit M ∈ A und µ(M) = 0. Wegen Bc = Ac ∩ N c = (A ∪ M)c ∪ (M \ (A ∪ N)) und(A ∪M)c ∈ A,M \ (A ∪N) ⊂M folgt Bc ∈ A.

Sei Bi ∈ A, also Bi = Ai ∪Ni mit Ai ∈ A, Ni ⊂Mi ∈ A und µ(Mi) = 0 (i ∈ N). Dann ist

∞⋃i=1

Bi =

( ∞⋃i=1

Ai

)∪

( ∞⋃i=1

Ni

)

und∞⋃i=1

Ai ∈ A,∞⋃i=1

Ni ⊂∞⋃i=1

Mi =: M ∈ A.

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64 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Da µ ein Maß ist, ist µ(M) = 0. Somit ist⋃Bi ∈ A, also ist A eine σ-Algebra.

Es ist zu zeigen, daß die Definition µ(A ∪N) := µ(A) sinnvoll ist. Sei also die Menge B ∈ Adargestellt in den Formen B = A1 ∪N1 = A2 ∪N2 mit Ai ∈ A, Ni ⊂Mi ∈ A und µ(Mi) = 0(i = 1, 2). Dann gilt

A1 \ (A1 ∩A2) ⊂ N2 ⊂M2,

also µ(A1) = µ(A1 ∩A2). Analog folgt µ(A2) = µ(A1 ∩A2), also µ(A1) = µ(A2). Die Definiti-on µ(A1∪N1) := µ(A1) hangt also nicht von der speziellen Darstellung der Menge A1∪N1 ab.

Daß µ ein Maß ist, ist leicht zu sehen. Zum Nachweis der Vollstandigkeit sei B ∈ A, µ(B) = 0und B ⊂ B. Es gibt A ∈ A, N ⊂ M ∈ A mit µ(M) = 0, so daß B = A ∪ N . Also giltµ(A) = µ(B) = 0. Dies zeigt B = ∅∪ B, B ⊂ A∪M ∈ A und µ(A∪M) = 0, also B ∈ A.

2.3 Konstruktion und Fortsetzung von Maßen

Bisher verfugen wir noch uber keine Moglichkeit, nichttriviale Beispiele von Maßen zu konstru-ieren. In konkreten Anwendungen steht man haufig vor dem Problem, eine gegebene Mengen-funktion mit einfach strukturiertem Definitionsbereich so fortsetzen zu sollen, daß ein Maß aufeiner σ-Algebra entsteht. Typisch hierfur ist das in der Einleitung erlauterte Problem, einenmoglichst weitreichenden Flacheninhaltsbegriff in der Ebene einzufuhren. Zunachst war es furendliche Vereinigungen von Rechtecken klar, wie dies zu geschehen hat. Mit den Definitionender vorigen Abschnitte konnen wir die Situation folgendermaßen beschreiben. Das System derendlichen Vereinigungen von (halboffenen) Rechtecken bildet einen Ring R in E2, und derhierauf erklarte Flacheninhalt F ist ein Inhalt im Sinn von Abschnitt 2.2. Man mochte diesenFlacheninhalt fortsetzen auf ein umfassenderes Mengensystem, um moglichst viele Mengenausmessen zu konnen. Mathematisch ergiebig wird eine solche Fortsetzung erst, wenn sie σ-additiv und ihr Definitionsbereich eine σ-Algebra ist. Die in der Einleitung erlauterte, sehrplausible Fortsetzung, die nach Eudoxos oder Jordan benannt wird, leistet dies nicht: dieVereinigung von abzahlbar vielen Jordan-meßbaren Mengen braucht nicht Jordan-meßbar zusein. Ist es moglich, F fortzusetzen zu einem Maß auf einer σ-Algebra in E2, die die Elemen-tarfiguren umfaßt? Das Hauptergebnis dieses Abschnitts ist ein allgemeiner Satz, aus demsich dann in der Tat die Fortsetzbarkeit von F auf die von den Elementarfiguren erzeugteσ-Algebra σ(R) zeigen laßt.

Die Grundidee dieser Fortsetzung wollen wir kurz an eben diesem Beispiel des Flachenin-halts erlautern. Bei der Eudoxos-Erweiterung approximiert man eine Menge, deren Flachenin-halt man definieren mochte, von außen und innen durch Elemente von R, fur die der Flachen-inhalt bereits erklart ist. Das fuhrt aber schon bei relativ einfachen Mengen auf Schwierig-keiten: Sei M die Menge der Punkte im Einheitsquadrat, die rationale Koordinaten haben.Fur jedes Element A ∈ R mit A ⊃ M gilt F (A) ≥ 1, und fur jedes Element A ∈ R mitA ⊂ M gilt F (A) = 0. Man geht deshalb bei der jetzt zu besprechenden Erweiterung sovor, daß man nur von außen approximiert. Da man aber auf σ-Additivitat abzielt, laßt manUberdeckungen der fraglichen Menge M durch abzahlbar viele Elemente von R zu und bildetfur jede solche Uberdeckung die (moglicherweise unendliche) Summe der Flacheninhalte deruberdeckenden Mengen. Das Infimum aller so erreichbaren Summen kann man der MengeM als ”verallgemeinerten Inhalt“ zuordnen. Wenn ∞ als Wert mit zugelassen wird, wird aufdiese Weise sogar jeder Menge aus P(E2) ein verallgemeinerter Inhalt zugeordnet. Dieserist allerdings nicht σ-additiv, sondern nur σ-subadditiv, d.h. es gilt statt der Gleichung, diedie σ-Additivitat ausdrucken wurde, nur eine Ungleichung. Um weiterzukommen, bedurfte eseines genialen Einfalls, und diesen hatte C. Caratheodory. Man kann namlich durch eine ein-fache, aber wirkungsvolle Meßbarkeitsdefinition ein den Ring R umfassendes Teilsystem vonP(E2) aussondern, das sich als σ-Algebra erweist und auf dem der verallgemeinerte Inhalt einMaß ist. Dieses Fortsetzungsverfahren von Caratheodory laßt sich in sehr allgemeiner Weise

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2.3. KONSTRUKTION UND FORTSETZUNG VON MASSEN 65

durchfuhren, und es liefert dann beliebig viele nichttriviale und nutzliche Beispiele von Ma-ßen auf σ-Algebren. Die σ-subadditiven Mengenfunktionen, die bei dieser Methode zunachstauftreten, nennt man ”außere Maße“, und diese mussen wir zunachst studieren.

Definition. Ein außeres Maß auf der Menge Ω ist eine numerische Funktion µ∗ auf derPotenzmenge P(Ω) mit folgenden Eigenschaften:

(a) µ∗(∅) = 0,

(b) A,B ∈ P(Ω), A ⊂ B ⇒ µ∗(A) ≤ µ∗(B) (Monotonie),

(c) fur jede Folge (An)n∈N in P(Ω) gilt

µ∗

( ∞⋃n=1

An

)≤

∞∑n=1

µ∗(An)

(σ-Subadditivitat).

Aus (a) und (b) folgt µ∗ ≥ 0; aus (a) und (c) folgt die Subadditivitat.

Beispiele.

(a) µ∗(∅) = 0, µ∗(A) = 1 fur A 6= ∅; auf diese Weise erhalt man ein außeres Maß, das keinMaß ist.

(b) µ∗(A) = 0, wenn A abzahlbar ist, ∞ sonst. Hiermit hat man sogar ein Maß auf derPotenzmenge erklart.

Ein außeres Maß ist im allgemeinen nicht einmal additiv, also sicher kein Maß. Die Nutzlichkeitder außeren Maße beruht darauf, daß sich durch Einschrankung auf ein geeignetes Teilsystemvon P(Ω) ein Maß ergibt. Dieses Teilsystem wird unter Verwendung des folgenden Begriffesdefiniert.

Definition. Sei µ∗ ein außeres Maß auf der Menge Ω. Eine Menge A ⊂ Ω heißt µ∗-meßbar,wenn fur jede Menge M ⊂ Ω gilt

µ∗(M) = µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac).

Bemerkung. A ⊂ Ω ist bereits dann µ∗-meßbar, wenn nur gefordert wird, daß fur alleM ⊂ Ω

µ∗(M) ≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac)

gilt. Die entgegengesetzte Ungleichung gilt namlich wegen der Subadditivitat eines außerenMaßes.

Die µ∗-meßbaren Teilmengen sind also dadurch charakterisiert, daß sie jede andere Men-ge hinsichtlich µ∗ ”additiv aufspalten“. Die Einfuhrung dieser zunachst vielleicht eigenartigerscheinenden Begriffsbildung wird gerechtfertigt durch den folgenden Satz.

Satz 2.3.1. Sei µ∗ ein außeres Maß auf der Menge Ω. Das System A∗ aller µ∗-meßbarenTeilmengen von Ω ist eine σ-Algebra in Ω, und die Einschrankung µ∗|A∗ ist ein vollstandigesMaß.

Beweis. Wir zeigen zunachst, daß A∗ eine Algebra ist. Trivialerweise ist Ω ∈ A∗, und mitA ∈ A∗ ist auch Ac ∈ A∗. Seien nun zunachst A,B ∈ A∗. Fur M ⊂ Ω gilt

µ∗(M) = µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac), da A ∈ A∗,

µ∗(M ∩A) = µ∗(M ∩A ∩B) + µ∗(M ∩A ∩Bc), da B ∈ A∗,

µ∗(M ∩Ac) = µ∗(M ∩Ac ∩B) + µ∗(M ∩Ac ∩Bc), da B ∈ A∗.

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66 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Einsetzen der beiden letzten Gleichungen in die erste ergibt

µ∗(M) = µ∗(M ∩A ∩B) + µ∗(M ∩A ∩Bc)

+µ∗(M ∩Ac ∩B) + µ∗(M ∩Ac ∩Bc).

Hier ersetzen wir M durch M ∩ (A ∪B) und erhalten

µ∗(M ∩ (A ∪B)) = µ∗(M ∩A ∩B) + µ∗(M ∩A ∩Bc) (2.3.2)

+µ∗(M ∩Ac ∩B).

Einsetzen in die vorhergehende Gleichung ergibt

µ∗(M) = µ∗(M ∩ (A ∪B)) + µ∗(M ∩ (A ∪B)c),

also A ∪B ∈ A∗. Somit ist A∗ eine Algebra.

Zum Nachweis, daß A∗ eine σ-Algebra ist, sei zunachst (An)n∈N eine disjunkte Folge in A∗.Setze

⋃An =: A. Sei M ⊂ Ω. Die Gleichung (2.3.2) ergibt wegen A1 ∩A2 = ∅

µ∗(M ∩ (A1 ∪A2)) = µ∗(M ∩A1) + µ∗(M ∩A2).

Durch vollstandige Induktion zeigt man fur n ∈ N

µ∗

(M ∩

n⋃i=1

Ai

)=

n∑i=1

µ∗(M ∩Ai).

Zur Abkurzung sei⋃ni=1Ai =: Bn gesetzt. Da A∗ eine Algebra ist, gilt Bn ∈ A∗, also

µ∗(M) = µ∗(M ∩Bn) + µ∗(M ∩Bcn)

≥n∑i=1

µ∗(M ∩Ai) + µ∗(M ∩Ac)

wegen Bn ⊂ A und der Monotonie. Da dies fur alle n ∈ N gilt, folgt

µ∗(M) ≥∞∑i=1

µ∗(M ∩Ai) + µ∗(M ∩Ac) (2.3.3)

≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac)

wegen der σ-Subadditivitat. Daraus folgt A ∈ A∗.

Ist nun (An)n∈N eine beliebige Folge in A∗, so konnen wir

Cn := An \ (A1 ∪ · · · ∪An−1)

setzen; dann ist (Cn)n∈N eine disjunkte Folge in A∗ mit⋃Cn =

⋃An. Es folgt

⋃An ∈ A∗.

Somit ist A∗ eine σ-Algebra.

Nun sei wieder (An)n∈N eine disjunkte Folge in A∗, sei⋃An =: A. Da in (2.3.3) das Gleich-

heitszeichen gilt, ist∞∑i=1

µ∗(M ∩Ai) + µ∗(M ∩Ac) = µ∗(M).

Speziell fur M = A ergibt sich∞∑i=1

µ∗(Ai) = µ∗(A),

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2.3. KONSTRUKTION UND FORTSETZUNG VON MASSEN 67

also ist die Einschrankung µ∗|A∗ σ-additiv und somit ein Maß.

Sei A ⊂ Ω und µ∗(A) = 0. Sei M ⊂ Ω. Wegen M ∩A ⊂ A und Monotonie gilt µ∗(M ∩A) = 0,deshalb und wegen M ∩Ac ⊂M gilt

µ∗(M) ≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac),

also A ∈ A∗. Jede Menge A mit µ∗(A) = 0 ist also µ∗-meßbar. Hieraus folgt insbesondere dieVollstandigkeit von µ∗|A∗.

Definition. Ist µ∗ ein außeres Maß auf Ω, so wird die σ-Algebra der µ∗-meßbaren Mengenmit Aµ∗ bezeichnet.

Satz 2.3.1 zeigt, wie man von einem außeren Maß zu einem Maß gelangt. Es fragt sich, wieman uberhaupt nichttriviale Beispiele fur außere Maße bekommt. Eine solche Konstruktionhatten wir am Anfang dieses Abschnittes heuristisch erlautert. Sie laßt sich in sehr allgemeinerForm durchfuhren, wie der folgende Satz zeigt.

Satz 2.3.2. Sei ∅ ∈ C ⊂ P(Ω) und τ eine nichtnegative numerische Funktion auf C mitτ(∅) = 0. Wird

τ∗(M) := inf

∞∑n=1

τ(Cn) : (Cn)n∈N Folge in C mit M ⊂∞⋃n=1

Cn

fur M ⊂ Ω gesetzt, falls es Folgen der verlangten Art gibt, und andernfalls τ∗(M) := ∞, soist τ∗ ein außeres Maß auf Ω. Es heißt das durch (C, τ) induzierte außere Maß.

Beweis. Direkt aus der Definition folgen die Eigenschaften (a) (beachte ∅ ∈ C und τ(∅) = 0)und (b) in der Definition eines außeren Maßes. Zum Nachweis von (c) sei (An)n∈N eine Folgein P(Ω). O.B.d.A. sei τ∗(An) < ∞ fur n ∈ N (andernfalls ist nichts zu beweisen). Sei ε > 0.Fur n ∈ N existiert nach Definition von τ∗ eine Folge (Cni)i∈N in C mit

An ⊂∞⋃i=1

Cni und∞∑i=1

τ(Cni) ≤ τ∗(An) +ε

2n.

Wegen ⋃n∈N

An ⊂⋃n∈N

⋃i∈N

Cni

und∞∑n=1

∞∑i=1

τ(Cni) ≤∞∑n=1

τ∗(An) + ε∞∑n=1

12n

folgt

τ∗

( ∞⋃n=1

An

)≤

∞∑n=1

τ∗(An) + ε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt (c).27.11.2003

Wir beweisen zunachst einen Zusatz zu Satz 2.3.2, der spater nutzlich sein wird, um dieStruktur der τ∗-meßbaren Teilmengen genauer zu beschreiben. Zu einem Mengensystem Cbezeichnen wir mit Cσδ das System aller Mengen der Form

∞⋂n=1

∞⋃m=1

Cnm

mit Cnm ∈ C.

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68 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.3.3. Sei (C, τ) wie in Satz 2.3.2 und τ∗ das durch (C, τ) induzierte außere Maß aufΩ. Dann gibt es zu jeder Menge M ⊂ Ω mit τ∗(M) <∞ eine Menge C ∈ Cσδ mit

M ⊂ C und τ∗(M) = τ∗(C).

Beweis. Sei M ⊂ Ω und τ∗(M) <∞. Zu jedem n ∈ N gibt es in C eine Folge (Cni)i∈N mit

M ⊂∞⋃i=1

Cni =: Cn und∞∑i=1

τ(Cni) ≤ τ∗(M) +1n.

Es gilt

τ∗(Cn) ≤∞∑i=1

τ(Cni) ≤ τ∗(M) +1n.

Setze

C :=∞⋂n=1

Cn,

dann ist C ∈ Cσδ und M ⊂ C, also τ∗(M) ≤ τ∗(C).

Andererseits istτ∗(C) ≤ τ∗(Cn) ≤ τ∗(M) +

1n

fur alle n ∈ N und daher τ∗(C) ≤ τ∗(M).

Da das System C und die Funktion τ in Satz 2.3.2 weitgehend willkurlich sind, haben wireine große Vielfalt von Moglichkeiten, außere Maße auf einer Menge Ω zu konstruieren, undjedes solche außere Maß µ∗ liefert nach Satz 2.3.1 ein Maß auf einer σ-Algebra Aµ∗ in Ω.Allerdings ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, wie groß uberhaupt die σ-Algebra Aµ∗der µ∗-meßbaren Teilmengen ist. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Aµ∗ nur die Mengen ∅ undΩ enthalt. Dies ist etwa im vorangehenden Beispiel (a) der Fall. Nutzlich wird das Konstruk-tionsprinzip fur Maße, das durch die Satze 2.3.1 und 2.3.2 gegeben ist, also nur in solchenSituationen sein, in denen weitere Informationen uber C und τ zur Verfugung stehen. Eineerste wichtige Anwendung ist der folgende Satz.

Satz 2.3.4 (Maßerweiterungssatz). Sei R ein Ring in Ω, µ ein Inhalt auf R und µ∗ dasdurch (R, µ) induzierte außere Maß.

(a) Dann ist σ(R) ⊂ Aµ∗ und µ∗|σ(R) ist ein Maß.

(b) Ist µ ein Maß auf R, so gilt zudem µ∗|R = µ.

Insbesondere laßt sich also jedes Maß µ auf einem Ring R fortsetzen zu einem Maß auf dervon R in Ω erzeugten σ-Algebra.

Beweis. Sei µ∗ das durch (R, µ) induzierte außere Maß auf Ω. Wir zeigen R ⊂ Aµ∗ . Sei alsoA ∈ R. Wir mussen zeigen, daß A eine µ∗-meßbare Menge ist, also

µ∗(M) ≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac)

fur alle M ⊂ Ω erfullt. Ist µ∗(M) = ∞, so ist nichts zu zeigen. Sei also µ∗(M) < ∞. Sei(Bn)n∈N eine Folge in R mit M ⊂

⋃Bn. Wegen der Additivitat von µ gilt

∞∑n=1

µ(Bn) =∞∑n=1

µ(Bn ∩A) +∞∑n=1

µ(Bn ∩Ac).

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2.3. KONSTRUKTION UND FORTSETZUNG VON MASSEN 69

Wegen

M ∩A ⊂∞⋃n=1

(Bn ∩A), M ∩Ac ⊂∞⋃n=1

(Bn ∩Ac)

undBn ∩A ∈ R, Bn ∩Ac ∈ R

folgt∞∑n=1

µ(Bn) ≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac).

Da dies fur jede bei der Definition von µ∗(M) zulassige Folge (Bn)n∈N gilt, folgt

µ∗(M) ≥ µ∗(M ∩A) + µ∗(M ∩Ac).

Damit ist A ∈ Aµ∗ gezeigt.

Wegen R ⊂ Aµ∗ gilt auch σ(R) ⊂ Aµ∗ . Die Einschrankung µ∗|Aµ∗ ist nach Satz 2.3.1 einMaß, daher ist auch die Einschrankung µ∗|σ(R) ein Maß. [Bis hier wurde nur die endlicheAdditivitat von µ benutzt.]

Es bleibt zu zeigen, daß µ∗|R = µ ist. Sei A ∈ R. Nach der Definition von µ∗ gilt µ∗(A) ≤µ(A). Ist andererseits (Bn)n∈N eine Folge in R mit A ⊂

⋃n∈NBn, so gilt wegen der σ-

Subadditivitat von Maßen (angewendet mit Ai := A ∩Bi)

µ(A) ≤∞∑i=1

µ(A ∩Bi) ≤∞∑i=1

µ(Bi);

daraus folgt µ(A) ≤ µ∗(A). Also ist µ(A) = µ∗(A) fur A ∈ R.

Bemerkung. In Ubungsaufgabe 29 wird gezeigt, daß ein auf einem Ring erklarter Inhalt,der σ-subadditiv ist, schon ein Maß ist.

Beispiele.

(c) Sei Ω uberabzahlbar, etwa Ω = R, R := A ⊂ Ω : A oder Ac ist abzahlbar und furA ∈ R sei

µ(A) :=

0, A abzahlbar,1, Ac abzahlbar.

Dann ist R eine σ-Algebra, insbesondere also ein Ring, und µ ist ein Maß auf R. Manuberlegt sich leicht, daß fur A ⊂ Ω

µ∗(A) =

0, A abzahlbar,1, sonst

gilt. Schließlich zeigt man Aµ∗ = R.

(d) Ferner sei mit demselben Mengensystem R

ν(A) :=

0, A abzahlbar,∞, Ac abzahlbar.

Dann ist ν ein Maß auf R und fur A ⊂ Ω gilt

ν∗(A) =

0, A abzahlbar,∞, sonst.

Man sieht sofort, daß Aν∗ = P(Ω) gilt. Hierbei ist (Ω,R, ν) ein vollstandiger Maßraum,wobei R 6= Aν∗ .

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70 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Beim Beweis des vorstehenden Maßerweiterungssatzes fallt auf, daß wir erst ein Maß auf derσ-Algebra Aµ∗ der µ∗-meßbaren Teilmengen erhalten und dieses dann auf die von R erzeugteσ-Algebra σ(R) eingeschrankt haben. Es fragt sich, was diese beiden σ-Algebren genauermiteinander zu tun haben. Falls das Ausgangsmaß µ auf R zumindest σ-endlich ist, laßt sichdiese Frage beantworten: Aµ∗ ist einfach die µ∗-Vervollstandigung von σ(R). Im σ-endlichenFall ist es daruber hinaus moglich, die Struktur der µ∗-meßbaren Teilmengen genauer zubeschreiben. Daß dabei die zusatzliche Voraussetzung der σ-Endlichkeit nicht entfallen kann,zeigt Beispiel (d).

Satz 2.3.5. Sei R ein Ring in Ω, µ ein σ-endliches Maß auf dem Ring und µ∗ das durch(R, µ) auf Ω induzierte außere Maß. Dann ist jede Menge M ∈ Aµ∗ von der Form M = A\Bmit A ∈ Rσδ, B ∈ Aµ∗ und µ∗(B) = 0.

Insbesondere ist das Maß µ∗|Aµ∗ die Vervollstandigung des Maßes µ∗|σ(R).

Beweis. Nach Voraussetzung gibt es in R eine Folge (Ei)i∈N mit Ω =⋃i∈NEi und µ(Ei) <∞

fur i ∈ N. Sei M ∈ Aµ∗ . Zu i ∈ N und n ∈ N gibt es in R eine Folge (Anij)j∈N mit

M ∩ Ei ⊂∞⋃j=1

Anij =: Ani

und

µ∗(Ani) ≤ µ∗(M ∩ Ei) +1n2i

.

(vgl. Beweis von Satz 2.3.3). Setze

An :=∞⋃i=1

Ani.

Dann gilt M ⊂ An und An \M ⊂⋃∞i=1(Ani \M) ⊂

⋃∞i=1(Ani \ (M ∩ Ei)), also

µ∗(An \M) ≤∞∑i=1

µ∗(Ani \ (M ∩ Ei))

=∞∑i=1

[µ∗(Ani)− µ∗(M ∩ Ei)]da Ani,M,Ei ∈ Aµ∗und µ∗(M ∩ Ei) ≤µ∗(Ei) = µ(Ei) <∞

≤∞∑i=1

1n2i

=1n.

Setze A :=⋂∞n=1An. Dann gilt M ⊂ A und A ∈ Rσδ. Fur jedes n ∈ N gilt A \M ⊂ An \M ,

also

µ∗(A \M) ≤ µ∗(An \M) ≤ 1n

und daher µ∗(A \M) = 0. Die Menge B := A \M leistet also das Gewunschte.

Sei nun (Ω, A, µ) die Vervollstandigung des Maßraums (Ω, σ(R), µ∗|σ(R)). Da µ∗|Aµ∗nach Satz 2.3.1 vollstandig ist, gilt A ⊂ Aµ∗ und µ = µ∗|A. Andererseits gibt es furM ∈ Aµ∗ eine Darstellung M = A \ B mit A ∈ Rσδ ⊂ σ(R) und µ∗(B) = 0. NachSatz 2.3.3 gibt es eine Menge C ∈ Rσδ ⊂ σ(R) mit B ⊂ C und µ∗(C) = µ∗(B) = 0. Esfolgt B ∈ A und somitM ∈ A. Es ist alsoA∗ = A und daher (Ω,Aµ∗ , µ∗|Aµ∗) = (Ω, A, µ).

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2.3. KONSTRUKTION UND FORTSETZUNG VON MASSEN 71

Nach dem Maßerweiterungssatz 2.3.4 laßt sich jedes Maß µ auf einem Ring R fortsetzen zueinem Maß auf der von R erzeugten σ-Algebra. Diese Fortsetzung ist im allgemeinen nichteindeutig bestimmt, wie das folgende Beispiel zeigt. Sei Ω eine uberabzahlbare Menge, sei

R := A ⊂ Ω : A abzahlbar,

A := A ⊂ Ω : A oder Ac abzahlbar,

µ1(A) := 0 fur A ∈ A,

µ2(A) :=

0, wenn A abzahlbar,

∞, wenn Ac abzahlbar,A ∈ A.

Dann ist R ein Ring, A die von R erzeugte σ-Algebra, µ1 und µ2 sind verschiedene Maße aufA mit µ1|R = µ2|R.

Fur σ-endliche Maße ist die Fortsetzung jedoch eindeutig bestimmt. Dies ergibt sich ausdem folgenden allgemeineren Eindeutigkeitssatz fur Maße, der von selbstandigem Interesseist. Er zeigt insbesondere, daß ein endliches Maß durch seine Werte auf einem ∩-stabilenErzeugendensystem der zugrundeliegenden σ-Algebra eindeutig bestimmt ist.

Satz 2.3.6. Seien µ1, µ2 Maße auf dem meßbaren Raum (Ω,A), sei E ein ∩-stabiles Erzeu-gendensystem von A. Es gebe eine Folge (En)n∈N in E mit En ↑ Ω und µi(En) <∞ fur n ∈ Nund i = 1, 2. Gilt

µ1(E) = µ2(E) fur alle E ∈ E ,

dann ist µ1 = µ2.

Beweis. Sei E ∈ E eine Menge mit µ1(E) = µ2(E) <∞. Setze

DE := A ∈ A : µ1(A ∩ E) = µ2(A ∩ E).

Da E ∩-stabil ist, gilt E ⊂ DE . Wir zeigen, daß DE ein Dynkin-System ist. Trivialerweise giltΩ ∈ DE . Sei A,B ∈ DE und A ⊂ B. Dann ist

µ1((B \A) ∩ E) = µ1((B ∩ E) \ (A ∩ E))

= µ1(B ∩ E)− µ1(A ∩ E)

= µ2(B ∩ E)− µ2(A ∩ E)

= µ2((B \A) ∩ E),

also B \A ∈ DE . Sei (An)n∈N eine disjunkte Folge in DE . Dann ist

µ1

(⋃n∈N

An ∩ E

)=∑n∈N

µ1(An ∩ E) =∑n∈N

µ2(An ∩ E) = µ2

(⋃n∈N

An ∩ E

),

also⋃n∈NAn ∈ DE . Somit ist DE ein Dynkin-System.

Nach Satz 2.1.3 (b) ist jetzt A = σ(E) = D(E) ⊂ DE , also gilt µ1(A ∩ E) = µ2(A ∩ E)fur alle A ∈ A. Dies gilt insbesondere fur E = En und n ∈ N, wenn (En)n∈N die im Satzvorausgesetzte Folge ist. Fur beliebiges A ∈ A folgt daher wegen A ∩ En ↑ A und Satz 2.2.2

µ1(A) = limn→∞

µ1(A ∩ En) = limn→∞

µ2(A ∩ En) = µ2(A).

Jetzt konnen wir den Maßerweiterungssatz durch eine Eindeutigkeitsaussage erganzen:

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72 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.3.7. Sei µ ein σ-endliches Maß auf dem Ring R in Ω. Dann ist die Fortsetzung vonµ zu einem Maß auf σ(R) eindeutig bestimmt.

Beweis. Dies folgt aus Satz 2.3.6, wenn man E = R wahlt. Da das Maß µ als σ-endlichvorausgesetzt ist, gibt es in R eine Folge (An)n∈N mit

⋃n∈NAn = Ω und µ(An) < ∞. Man

setze dann En := A1 ∪ · · · ∪An.02.12.2003

2.4 Spezielle Maße

Die allgemeinen Konstruktions- und Fortsetzungsprinzipien aus Abschnitt 2.3 sollen nun ver-wendet werden, um einige in den Anwendungen wichtige konkrete Maße einzufuhren. Wirerhalten so beispielsweise erneut das bereits aus Kapitel 1 bekannte Lebesguesche Maß. Derjetzige Zugang wird aber trotzdem genauer studiert; er liefert uns auch zusatzliche Informa-tionen uber das Lebesguesche Maß.

Das Lebesguesche Maß

Fur a, b ∈ Rn und a ≤ b bezeichnen wir wie bisher das nach rechts halboffene Intervall [a, b).Sei Fn die Menge aller endlichen Vereinigungen solcher Intervalle in Rn. Die Elemente vonFn heißen (n-dimensionale) elementare Figuren. Mit Hilfe untergeordneter Zerlegungen (vgl.Kapitel 1) sieht man sofort, daß Fn ein Ring in Rn ist und daß jede Menge des Rings darstell-bar ist als disjunkte Vereinigung von Intervallen. Die Elemente von Fn heißen (elementare)Figuren. Ist Hn die Menge aller nach rechts halboffenen Intervalle im Rn, so ist Hn in der Ter-minologie von Ubungsaufgabe 31 ein Halbring und Fn = R(Hn) ist der vonHn erzeugte Ring.

Wir definieren nun einen Inhalt λ auf Fn durch

λ([a, b)) :=n∏i=1

(bi − ai), [a, b) ∈ Hn

und

λ(A) :=m∑i=1

λ(Ai), (2.4.4)

falls A ∈ Fn und A = A1 ∪ . . . ∪ Am mit paarweise disjunkten A1, . . . , Am ∈ Hn. DieWohldefiniertheit und die Eigenschaften eines Inhalts folgen sofort aus den Uberlegungen imAnschluß an Lemma 1.1.2 (in einer etwas anderen Sprache). Alternativ hierzu zeigt Lemma1.1.2, daß λ zumindest auf Hn ein Inhalt im Sinn von Aufgabe 31 ist. Dieser Inhalt besitzteine eindeutige Fortsetzung zu einem Inhalt auf dem erzeugten Ring Fn. Diese Fortsetzungist gerade durch (2.4.4) gegeben.

Lemma 2.4.1. Der Inhalt λ auf Fn ist ein Maß.

Beweis. Zu zeigen ist die σ-Additivitat. Sei also (Ai)i∈N eine disjunkte Folge in F n mit⋃i∈NAi =: A ∈ F n. Zunachst gilt

λ(A) ≥ λ

(k⋃i=1

Ai

)=

k∑i=1

λ(Ai)

fur alle k ∈ N, und damit

λ(A) ≥∞∑i=1

λ(Ai).

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2.4. SPEZIELLE MASSE 73

Zum Nachweis der umgekehrten Abschatzung wird die folgende Hilfsbehauptung verwendet.Zu C ∈ F n und ε > 0 gibt es B1, B2 ∈ F n mit

B1 ⊂ C ⊂ Bo2 und λ(B2)− ε < λ(C) < λ(B1) + ε.

Diese Behauptung ist klar, wenn C ein Intervall ist, und sie laßt sich leicht auf elementareFiguren ausdehnen.

Nun sei ε > 0 vorgegeben. Es gibt ein B ∈ F n mit

B ⊂ A und λ(A) < λ(B) + ε.

Zu jedem i ∈ N gibt es ein Bi ∈ F n mit

Ai ⊂ Boi und λ(Bi)− 2−iε < λ(Ai).

Das System Boi : i ∈ N ist eine offene Uberdeckung der abgeschlossenen, beschrankten

Menge B. Also gibt es eine Zahl k mit

B ⊂ B ⊂k⋃i=1

Boi ⊂

k⋃i=1

Bi.

Ferner folgt

λ(A)− ε ≤ λ(B) ≤ λ

(k⋃i=1

Bi

)≤

k∑i=1

λ(Bi) ≤k∑i=1

λ(Ai) +k∑i=1

ε

2i≤

∞∑i=1

λ(Ai) + ε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt

λ(A) ≤∞∑i=1

λ(Ai)

und damit die σ-Additivitat von λ.

Definition. Das durch (F n, λ) induzierte außere Maß λ∗ auf Rn heißt das (n-dimensionale)außere Lebesguesche Maß. Die λ∗-meßbaren Teilmengen von Rn heißen Lebesgue-meßbar. Die(ebenfalls mit λ bezeichnete) Einschrankung von λ∗ auf die σ-Algebra Ln der Lebesgue-meßbaren Teilmengen heißt (n-dimensionales) Lebesguesches Maß.

Im folgenden halten wir einige Aussagen uber das Lebesgue-Maß fest. Hierfur und fur spatereZwecke benotigen wir den uberaus wichtigen Begriff der Borelschen σ-Algebra, den manallgemeiner in beliebigen topologischen Raumen definieren kann.

Definition. Mit Bn wird die von Fn in Rn erzeugte σ-Algebra bezeichnet, d.h. Bn = σ(Fn).Die Elemente von Bn heißen Borelmengen des Rn, Bn heißt die Borelsche σ-Algebra des Rn.

Lemma 2.4.2. Es gilt Bn = σ(On), wenn On das System der offenen Mengen des Rn be-zeichnet.

Beweis. Mit e := (1, . . . , 1) ∈ Rn gilt fur a, b ∈ Rn mit a ≤ b:

[a, b) =∞⋂k=1

(a− (1/k)e, b) ∈ σ(On),

also Bn = σ(F n) ⊂ σ(On). Fur jede offene Menge M ∈ On gilt

M =⋃[a, b) : [a, b) ⊂M,a, b ∈ Qn .

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74 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Da rechts eine abzahlbare Vereinigung steht, ist M ∈ Bn. Es folgt σ(On) ⊂ Bn.

Um die Abhangigkeit von der Dimension anzudeuten, schreiben wir im Rn auch λn anstellevon λ.

Offenbar ist λ auf Fn σ-endlich. Also ist nach Satz 2.3.5 λ auf Ln die Vervollstandigung vonλ|Bn. Jede Lebesgue-meßbare Menge M ∈ Ln laßt sich also schreiben als M = B

·∪ N mit

B ∈ Bn und N ⊂ Rn, λ∗(N) = 0; d.h. N ∈ Ln und λ(N) = 0. Nach Satz 2.3.6 ist λ|Bn dieeinzige Fortsetzung von λ|Fn zu einem Maß auf Bn. Folglich ist λ|Ln die einzige Fortsetzungvon λ|Fn zu einem vollstandigen Maß auf Ln.

Fur Lebesgue-Nullmengen halten wir noch einmal fest:

Satz 2.4.3. Fur eine Menge M ⊂ Rn sind die folgenden Aussagen aquivalent:

(a) Zu jedem ε > 0 existiert eine Folge (Ri)i∈N in Hn mit M ⊂⋃i∈NRi und

∑i∈N λ(Ri) < ε;

(b) λ∗(M) = 0;

(c) M ∈ Ln und λ(M) = 0.

Beweis. (a) ⇒ (b) gilt nach Konstruktion von λ∗.

(b) ⇒ (c): Aus λ∗(M) = 0 folgt M ∈ Aλ∗ = Ln.

(c) ⇒ (a): Dies gilt wieder nach Definition von λ∗(M) = λ(M) = 0, falls M ∈ Ln.

Obwohl Lebesgue-meßbare Mengen recht kompliziert sein konnen, sind die Werte desLebesgue-Maßes schon bestimmt durch die Werte auf topologisch einfachen Mengen, namlichoffenen oder kompakten Mengen. Der folgende Satz bringt die sogenannte Regularitat desLebesgue-Maßes zum Ausdruck.

Satz 2.4.4. Fur A ∈ Ln gilt

(a) λ(A) = infλ(U) : A ⊂ U, U offen;

(b) λ(A) = supλ(K) : K ⊂ A, K kompakt.

Beweis. (a) Im Fall λ(A) = ∞ ist nichts zu zeigen, sei also λ(A) <∞. Stets gilt

λ(A) ≤ infλ(U) : A ⊂ U, U offen.

Sei ε > 0. Dann gibt es eine Folge (Fj)j∈N in Fn mit

A ⊂⋃j∈N

Fj und∑j∈N

λ(Fj) < λ(A) + ε.

Jedes Fj ist disjunkte Vereinigung von endlich vielen Intervallen. Wir konnen jedes dieserIntervalle in ein offenes Intervall einschließen derart, daß fur die erhaltene Folge (Ri)i∈N deroffenen Intervalle

A ⊂⋃i∈N

Ri und∑i∈N

λ(Ri) < λ(A) + 2ε

gilt. Setze U :=⋃i∈NRi. Dann ist U offen, A ⊂ U und

λ(U) ≤∑i∈N

λ(Ri) < λ(A) + 2ε.

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2.4. SPEZIELLE MASSE 75

Da ε > 0 beliebig war, folgt (a).

(b) Zunachst sei A beschrankt. Sei C ⊂ Rn eine kompakte Menge mit A ⊂ C. Sei ε > 0. NachTeil (a) existiert eine offene Menge U mit

C \A ⊂ U und λ(U) < λ(C \A) + ε = λ(C)− λ(A) + ε.

Setze K := C \ U . Dann ist K kompakt, K ⊂ A, und es gilt

λ(K) = λ(C)− λ(U ∩ C) ≥ λ(C)− λ(U) > λ(A)− ε.

Daraus folgt (b) fur beschranktes A.

Sei A ∈ Ln unbeschrankt und β eine beliebige Zahl mit β < λ(A). FurAj := x ∈ A : ‖x‖ ≤ j gilt Aj ↑ A, also λ(A) = limj→∞ λ(Aj). Daher existiert einm mit λ(Am) > β. Nach dem bereits Gezeigten gibt es eine kompakte Menge K mitK ⊂ Am ⊂ A und λ(K) > β. Daraus folgt die Behauptung (b).

Bemerkung. Einfache Beispiele zeigen, daß man die Approximation von außen nicht mitkompakten Mengen, die Approximation von innen nicht mit offenen Mengen betreiben kann.

Wir konnen das Ergebnis benutzen, um die oben erwahnte Beschreibung der Lebesgue-meßbaren Mengen zu prazisieren. Eine Menge M ⊂ Rn heißt Fσ-Menge, wenn sie als Ver-einigung einer Folge abgeschlossener Mengen darstellbar ist. Jede Fσ-Menge ist also eineBorelmenge, aber von sehr spezieller Art.

Satz 2.4.5. Eine Menge M ⊂ Rn ist genau dann Lebesgue-meßbar, wenn sie von der FormM = F ∪N ist mit einer Fσ-Menge F und einer Lebesgue-Nullmenge N ist.

Beweis. Daß jede Menge dieser Form Lebesgue-meßbar ist, ist klar, da F ∈ Bn gilt und λvollstandig ist.

Umgekehrt sei M ∈ Ln. Fur j ∈ N setze Mj := x ∈ M : ‖x‖ ≤ j. Nach Satz 2.4.4 gibtes zu Mj eine kompakte Menge Kj ⊂ Mj mit λ(Mj \ Kj) < 2−j . Setze F :=

⋃j≥1Kj und

N := M \ F . Dann ist F eine Fσ-Menge und

λ(N) = λ(M \ F ) ≤ λ

⋃i≥j

(Mi \Ki)

≤∑i≥j

λ(Mi \Ki) ≤ 21−j

fur alle j, somit λ(N) = 0.

Bemerkung. Man kann (unter Verwendung des Auswahlaxioms) zeigen, daß es Teilmengenvon R gibt, die nicht Lebesgue-meßbar sind; siehe die Ubungsaufgabe 35. Ferner gibt esLebesgue-meßbare Mengen, die keine Borelmengen sind.

Frage. Wie hangt die σ-Algebra Mn := M(Rn) der meßbaren Mengen aus Kapitel 1zusammen mit der σ-Algebra Ln sowie das dortige Maß µ mit λ hier?

In Satz 1.3.9 hatten wir gezeigt, daß Mn eine σ-Algebra ist. Ferner wissen wir schonOn ⊂Mn, also Bn ⊂Mn. Wegen Satz 2.4.3 sind Nullmengen in Kapitel 1 gerade Lebesgue-Nullmengen. Also erhalt man Ln ⊂Mn. Außerdem gilt µ = λ auf Hn. Da Hn ein ∩-stabilesErzeugendensystem von Bn ist und

µ([−m,m)n) = λ([−m,m)n) <∞

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76 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

erfullt ist, ergibt Satz 2.3.6 die Gleichheit µ = λ auf Bn. Zu A ∈ Ln gibt es B ∈ Bn sowieN ∈ Ln mit µ(N) = λ(N) = 0, d.h.

λ(A) = λ(B) = µ(B) = µ(A).

In einem spateren Abschnitt uber meßbare Abbildungen werden einfache Argumente bereit-gestellt, aus denen man sofort Ln = Mn folgern kann: Sei A ∈ Mn, d.h. 1A∩I ∈ L1(Rn) furalle I ∈ Hn. Es gibt also Oberfunktionen f, g ∈ O(Rn) mit 1A∩I = f − g. Offenbar sind f, gLn-meßbare Funktionen, somit aber auch f − g. Dies zeigt A∩ I ∈ Ln. Hieraus folgt A ∈ Ln.

Das Lebesguesche Maß hat eine wichtige Invarianzeigenschaft, und es ist auch dadurch ge-kennzeichnet.

Definition. Eine Funktion ϕ auf einem System S ⊂ P(Rn) heißt translationsinvariant (be-wegungsinvariant), wenn fur jede Translation (bzw. Bewegung) f : Rn → Rn und alle S ∈ Sgilt: f(S) ∈ S und ϕ(f(S)) = ϕ(S).

Lemma 2.4.6. Die Systeme Bn und Ln sind bewegungsinvariant.

Beweis. Sei β eine Bewegung des Rn. Dann ist β ein Homoomorphismus. Setzeβ−1Bn := β−1B : B ∈ Bn. Offenbar ist β−1Bn eine σ-Algebra, die die offenen Men-gen enthalt, also ist Bn ⊂ β−1Bn. Ersetzt man β durch β−1, so gilt auch Bn ⊂ βBn, d.h.β−1Bn ⊂ Bn. Es folgt Bn = βBn. In Kapitel 1 hatten wir schon gezeigt, daß mit N ⊂ Rn

auch βN ⊂ Rn eine Nullmenge ist. Somit folgt βLn = Ln.

Den folgenden Satz hatten wir im wesentlichen (in einer etwas anderen Sprache) schon inKapitel 1 gezeigt.

Satz 2.4.7. Ist µ ein translationsinvariantes Maß auf Bn mit µ(W1) < ∞, so gilt µ(B) =cλ(B) fur B ∈ Bn, wobei c = µ(W1) ist. Außerdem ist λ auch bewegunsinvariant.

Beweis. Setze µ(W1) =: c. Sei k ∈ N. Der WurfelW1 ist disjunkte Vereinigung von kn Wurfeln,deren jeder durch eine Translation aus [0, 1/k)n hervorgeht. Es ist also

knµ([0, 1/k)n) = µ(W1) = cλ(W1) = cknλ([0, 1/k)n),

denn nach Definition ist λ(W1) = 1, und λ ist auf den Intervallen translationsinvariant.Also ist µ([0, 1/k)n) = cλ([0, 1/k)n). Jedes halboffene Intervall [a, b) mit a, b ∈ Qn istfur geeignetes k ∈ N disjunkte Vereinigung von Wurfeln, die durch Translation aus Wk

hervorgehen. Daraus folgt µ([a, b)) = cλ([a, b)). Da das System aller Intervalle [a, b) mita, b ∈ Qn offenbar ein ∩-stabiles Erzeugendensystem von Bn ist, folgt die Behauptung µ = cλaus Satz 2.3.6.

Sei β eine Bewegung des Rn. Wir setzen µ(B) := λ(βB) fur B ∈ Bn. Dann ist sofort zusehen, daß µ ein translationsinvariantes Maß auf Bn ist mit µ(W1) < ∞. Nach dem schonbewiesenen Teil des Satzes gibt es also eine Konstante c ≥ 0 mit µ(B) = cλ(B) fur B ∈ Bn.Wahlen wir fur B eine Kugel, so folgt c = 1. Da das System der Lebesgue-Nullmengenbewegungsinvariant ist, folgt die Bewegungsinvarianz des Lebesgue-Maßes.

04.12.2003

Lebesgue-Stieltjes-Maße

Die Konstruktion des Lebesgueschen Maßes laßt sich verallgemeinern und liefert dann diesogenannten Lebesgue-Stieltjes-Maße. Wir wollen hiervon nur kurz den eindimensionalen Fallbehandeln. Man geht dabei aus von einer monoton nicht abnehmenden, linksseitig stetigen

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2.4. SPEZIELLE MASSE 77

Funktion F : R → R. Eine solche Funktion heißt in diesem Zusammenhang auch maßerzeu-gende Funktion. Fur jedes halboffene Intervall [a, b) ⊂ R setzen wir

µ([a, b)) := F (b)− F (a).

Auf dem Ring F1 aller endlichen Vereinigungen von halboffenen Intervallen wird durch dieFestsetzung

µ(A) :=k∑i=1

µ([ai, bi)),

wenn A ∈ F1 die disjunkte Vereinigung der Intervalle [ai, bi) (i = 1, . . . , k) ist, ein Inhalt µerklart. Wir zeigen, daß µ ein Maß auf F1 ist. Dies kann genau wie im Beweis von Lemma2.4.1 geschehen, wenn wir die folgende Hilfsbehauptung zeigen:

Behauptung. Zu C ∈ F1 und ε > 0 gibt es B1, B2 ∈ F1 mit

B1 ⊂ C ⊂ Bo2 und µ(B2)− ε < µ(C) < µ(B1) + ε.

Es genugt offenbar, dies fur den Fall eines Intervalls C = [a, b) zu zeigen (a, b ∈ R, a < b).Da nun F als linksseitig stetig vorausgesetzt ist, gibt es zu gegebenem ε > 0 Zahlen a′, b′ ∈ Rmit a′ < a und a < b′ < b, so daß F (a′) > F (a)− ε und F (b′) > F (b)− ε gilt. Die IntervalleB1 := [a, b′) und B2 := [a′, b) leisten dann offenbar das Gewunschte.

Da also µ ein (offenbar σ-endliches) Maß auf F1 ist, existiert nach den Satzen 2.3.4 und2.3.7 genau eine Fortsetzung von µ zu einem Maß auf der von F1 erzeugten σ-Algebra,also B1. Die Fortsetzung sei ebenfalls mit µ bezeichnet. Man nennt µ das von F erzeugteLebesgue-Stieltjes-Maß und F eine maßerzeugende Funktion von µ.

Sei umgekehrt µ ein Maß auf B1 mit µ([a, b)) <∞ fur alle beschrankten Intervalle [a, b). Setztman

F (x) :=

µ([0, x)) fur x ≥ 0,

−µ([x, 0)) fur x < 0,

so ist F eine maßerzeugende Funktion mit F (0) = 0 und µ das von ihr erzeugte Lebesgue-Stieltjes-Maß. Jede andere maßerzeugende Funktion, die ebenfalls µ erzeugt, unterscheidetsich von F offenbar nur um eine additive Konstante. Bei endlichen Maßen ist es ublich, dieseKonstante durch die Forderung limx→−∞ F (x) = 0 eindeutig festzulegen. In diesem Fall istalso der Zusammenhang zwischen µ und F gegeben durch

F (x) := µ((−∞, x)) fur x ∈ R.

Ist µ ein Wahrscheinlichkeitsmaß, so nennt man die so definierte Funktion F Verteilungs-funktion von µ.

Maße auf metrischen Raumen

Das Lebesguesche Maß auf dem Rn ist eine Verallgemeinerung des Volumens. Es ist dahergeeignet zur Ausmessung von Mengen, die in gewissem Sinne (ohne daß wir das naherprazisieren wollen) n-dimensional sind. Niederdimensionale Gebilde wie Kurven oder Flachensind dagegen Lebesgue-Nullmengen. In diesem Unterabschnitt wollen wir eine Klasse vonMaßen behandeln, die zur Ausmessung auch solcher Mengen geeignet sind. Die Konstruktiondieser Maße laßt sich allgemein in metrischen Raumen durchfuhren.

Wir setzen daher jetzt voraus, daß auf der Grundmenge Ω eine Metrik ρ gegeben ist. InAnalogie zum Rn (mit der Standardmetrik) verstehen wir unter Borelmengen des metrischen

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78 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Raumes (Ω, ρ) die Elemente der vom System der offenen Mengen erzeugten σ-Algebra. Fernersei erinnert an die Definition

ρ(A,B) := infρ(a, b) : a ∈ A, b ∈ B

fur A,B ⊂ Ω. Wir schreiben ρ(x, B) =: ρ(x,B).

In Abschnitt 2.3 haben wir ein allgemeines Konstruktionsprinzip fur Maße beschrieben: Satz2.3.2 liefert eine große Klasse von außeren Maßen, und nach Satz 2.3.1 ist fur jedes außere Maßµ∗ auf Ω die Menge der µ∗-meßbaren Teilmengen von Ω eine σ-Algebra und die Einschrankungvon µ∗ auf diese σ-Algebra ein Maß. Nutzlich wird das Ergebnis dieser Konstruktion allerdingsnur sein konnen, wenn sich hinreichend viele Mengen als µ∗-meßbar erweisen. Man kann jedochleicht Beispiele außerer Maße µ∗ auf Ω angeben, fur die nur ∅ und Ω meßbar sind. Im Falleeines metrischen Raumes gibt es nun eine einfache Zusatzbedingung, die sicherstellt, daßmindestens alle Borelmengen meßbar sind.

Definition. Sei (Ω, ρ) ein metrischer Raum. Ein außeres Maß µ∗ auf Ω heißt metrischesaußeres Maß, wenn fur alle Paare A,B ⊂ Ω mit ρ(A,B) > 0 die Gleichung

µ∗(A ∪B) = µ∗(A) + µ∗(B)

gilt.

Lemma 2.4.8. Sei (Ω, ρ) ein metrischer Raum und µ∗ ein metrisches außeres Maß auf Ω.Sei G ⊂ Ω offen und A ⊂ G. Wird

An :=x ∈ A : ρ(x,Gc) ≥ 1

n

fur n ∈ N

gesetzt, so istlimn→∞

µ∗(An) = µ∗(A).

Beweis. Da G offen ist, liegt jeder Punkt von A in An fur genugend großes n, also gilt An ↑ A.Wegen der Monotonie von µ∗ existiert limn→∞ µ∗(An) (in R), und es gilt

limn→∞

µ∗(An) ≤ µ∗(A).

Zum Beweis der entgegengesetzten Ungleichung setze Bn := An+1 \ An fur n ∈ N, dann giltfur n ∈ N

A = A2n ∪∞⋃

k=2n

Bk = A2n ∪∞⋃k=n

B2k ∪∞⋃k=n

B2k+1,

also

µ∗(A) ≤ µ∗(A2n) +∞∑k=n

µ∗(B2k) +∞∑k=n

µ∗(B2k+1).

Konvergieren beide Summen fur n→∞ gegen 0, so folgt

µ∗(A) ≤ limn→∞

µ∗(A2n) = limn→∞

µ∗(An),

wie gewunscht. Andernfalls konvergiert eine der Summen, etwa die erste, nicht gegen 0, alsoist

∞∑k=1

µ∗(B2k) = ∞.

Nach Definition der Mengen An gilt fur j ≤ k:

ρ(B2j , B2k+2) ≥1

2j + 1− 1

2k + 2> 0.

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2.4. SPEZIELLE MASSE 79

Sei namlich x ∈ B2j , y ∈ B2k+2, z ∈ Gc. Dann ist ρ(x, y) ≥ ρ(x, z)−ρ(y, z). Wegen x ∈ A2j+1

ist ρ(x, z) ≥ 1/(2j + 1); wegen y /∈ A2k+2 ist ρ(y, z) < 1/(2k + 2) fur geeignetes z ∈ Gc.Es folgt

µ∗(B2 ∪ . . . ∪B2k ∪B2k+2) = µ∗(B2 ∪ . . . ∪B2k) + µ∗(B2k+2)

fur k ∈ N. Durch Induktion folgt somit

µ∗(A2n) ≥ µ∗

(n−1⋃k=1

B2k

)=

n−1∑k=1

µ∗(B2k) →∞ fur n→∞,

alsolimn→∞

µ∗(An) = ∞.

Die Ungleichungµ∗(A) ≤ lim

n→∞µ∗(An)

gilt also auch in diesem Fall.

Satz 2.4.9. Sei (Ω, ρ) ein metrischer Raum und µ∗ ein metrisches außeres Maß auf Ω. Dannist jede Borelmenge in Ω µ∗-meßbar.

Beweis. Zunachst sei F ⊂ Ω abgeschlossen. Sei M ⊂ Ω beliebig. Dann ist M ∩ F c ⊂ F c undF c offen; nach Lemma 2.4.8 gibt es also eine Folge (An)n∈N von Teilmengen von M ∩ F c mit

ρ(An, F ) ≥ 1n

fur n ∈ N

undlimn→∞

µ∗(An) = µ∗(M ∩ F c).

Es folgtµ∗(M) ≥ µ∗((M ∩ F ) ∪An) = µ∗(M ∩ F ) + µ∗(An)

fur alle n ∈ N und daher

µ∗(M) ≥ µ∗(M ∩ F ) + µ∗(M ∩ F c).

Somit ist F eine µ∗-meßbare Menge.Die σ-Algebra der µ∗-meßbaren Mengen enthalt also die von den abgeschlossenen Mengen

erzeugte σ-Algebra, und dies ist die σ-Algebra der Borelmengen. .

Eine Umkehrung des vorangehenden Satzes wird in den Ubungsaufgaben behandelt.

Wir gehen nun daran, auf einem metrischen Raum spezielle metrische außere Maße zukonstruieren; dies liefert nach dem Vorstehenden Maße auf den Borelmengen.

Das System der offenen Mengen des metrischen Raumes (Ω, ρ) werde mit O bezeichnet. FurA ⊂ Ω bezeichne

d(A) := supρ(a, b) : a, b ∈ A

den Durchmesser von A (mit d(∅) := 0). Fur δ > 0 setzen wir

Oδ := G ∈ O : d(G) ≤ δ.

Definition. Sei p > 0. Fur G ∈ O sei

τ(G) := d(G)p.

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80 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Fur δ > 0 sei µpδ das durch (Oδ, τ) auf Ω induzierte außere Maß. Setze

µp(M) := supδ>0

µpδ(M) fur M ⊂ Ω.

Ferner ist µ0 als das Zahlmaß definiert.

Bemerkung. Die Definition laßt sich im Fall p > 0 folgendermaßen kurz zusammenfassen.Nach Definition ist

µpδ(M) := inf

∞∑i=1

d(Gi)p : Gi ⊂ Ω offen, d(Gi) ≤ δ, M ⊂∞⋃i=1

Gi

.

Offenbar giltµpδ(M) ≥ µpδ′(M) fur δ ≤ δ′.

Daher konnen wir auch schreiben

µp(M) = limδ→0+

inf∑

d(Gi)p : Gi ∈ O, d(Gi) ≤ δ, M ⊂⋃Gi

.

Satz 2.4.10. Die Mengenfunktion µp auf P(Ω) ist ein metrisches außeres Maß. Es heißt dasp-dimensionale Hausdorff-Maß auf (Ω, ρ).

Beweis. Nach Satz 2.3.2 ist µpδ ein außeres Maß auf Ω. Aus

µp = limδ→0+

µpδ

folgt sofort, daß µp die Eigenschaften (a), (b) eines außeren Maßes hat. Sei (An)n∈N eine Folgein P(Ω). Wegen Eigenschaft (c) außerer Maße fur µpδ und der Monotonie von µpδ in δ folgt

µpδ

( ∞⋃n=1

An

)≤

∞∑n=1

µpδ(An) ≤∞∑n=1

µp(An)

fur alle δ > 0, also

µp

( ∞⋃n=1

An

)= lim

δ→0+µpδ

( ∞⋃n=1

An

)≤

∞∑n=1

µp(An).

Somit ist µp ein außeres Maß.

Seien A,B ⊂ Ω Mengen mit ρ(A,B) > 0. Ist µp(A ∪ B) = ∞, so ist wegen µp(A ∪ B) ≤µp(A)+µp(B) die Gleichung µp(A∪B) = µp(A)+µp(B) erfullt. Sei also µp(A∪B) <∞. Seiδ > 0. Wegen µpδ(A ∪B) <∞ gibt es zu gegebenem ε > 0 eine Folge (Gδk)k∈N in Oδ mit

A ∪B ⊂∞⋃k=1

Gδk und∞∑k=1

d(Gδk)p ≤ µpδ(A ∪B) + ε.

Sei nun δ < ρ(A,B). Dann kann keine Menge Gδk sowohl Punkte aus A als auch Punkte ausB enthalten. Von den Mengen Gδk, die zur Uberdeckung von A gebraucht werden, wird alsokeine zur Uberdeckung von B benotigt. Daher ist

µpδ(A) + µpδ(B) ≤∞∑k=1

d(Gδk)p ≤ µpδ(A ∪B) + ε.

Da ε > 0 beliebig war, folgt

µpδ(A ∪B) ≥ µpδ(A) + µpδ(B).

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2.4. SPEZIELLE MASSE 81

Da dies fur 0 < δ < ρ(A,B) gilt, folgt

µp(A ∪B) ≥ µp(A) + µp(B).

Da µp ein außeres Maß ist, gilt hier das Gleichheitszeichen. Somit ist µp ein metrischesaußeres Maß.

Satz 2.4.11. Fur p ≥ 0 sei µp das p-dimensionale Hausdorff-Maß auf (Ω, ρ). Zu jeder MengeM ⊂ Ω gibt es ein eindeutig bestimmtes α ∈ [0,∞] mit

µp(M) = ∞ fur 0 < p < α,

µp(M) = 0 fur α < p <∞.

α heißt die Hausdorff-Dimension von M .

Beweis. Sei zunachst µp(M) < ∞ und q > p. Ist p = 0, so ist M endlich, also µq(M) = 0.Sei nun p > 0. Sei δ > 0. Wegen µpδ(M) ≤ µp(M) < ∞ existieren Mengen Gi ∈ Oδ mitM ⊂

⋃iGi und

∑i d(Gi)

p < µp(M) + 1. Es ist∑d(Gi)q =

∑d(Gi)pd(Gi)q−p ≤ δq−p

∑d(Gi)p < δq−p(µp(M) + 1),

also ist µqδ(M) ≤ δq−p(µp(M) + 1). Da dies fur alle δ > 0 gilt, folgt

µq(M) = limδ→0+

µqδ(M) = 0.

Nun setzeα := infp > 0 : µp(M) = 0.

(Falls die Menge dieser p > 0 leer ist, dann ist α = ∞.) Sei α < q < ∞. Nach Definitionvon α gibt es ein p mit α < p < q und µp(M) = 0. Wie oben gezeigt, gilt µq(M) = 0.Sei 0 < q < α. Angenommen, µq(M) < ∞. Fur q < p < α gilt nach Obigem µp(M) = 0,entgegen der Definition von α. Also ist µq(M) = ∞.

Von besonderer Bedeutung sind die Hausdorff-Maße im euklidischen Raum Rn (versehen mitder Standard-Metrik). In diesem Fall wollen wir Hp

δ , Hp statt µpδ , µ

p schreiben. Uber MengenM ⊂ Rn mit ganzzahliger Hausdorff-Dimension k und 0 < Hk(M) <∞ gibt es eine tiefe undreichhaltige Strukturtheorie. Mengen mit nichtganzzahliger Hausdorff-Dimension werden alsFraktale bezeichnet.

Wir beschließen dieses Kapitel mit einem Vergleich des n-dimensionalen Hausdorffmaßes Hn

mit dem n-dimensionalen Lebesguemaß λ. Schranken wir zunachst beide auf die σ-Algebrader Borelmengen ein, so konnen wir wegen Satz 2.4.11 sofort sagen, daß

Hn(B) = cλ(B) fur B ∈ Bn

mit einer Konstanten c gelten muß. Aus der Konstruktion des Hausdorffmaßes folgt namlichunmittelbar, daß Hn translationsinvariant ist und auf beschrankten Mengen endlich. Wirwerden zeigen, daß die Konstante c gegeben ist durch

c =2n

κn.

Dabei istκn = λ(B(1)),

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82 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

wobei allgemeinB(r) := x ∈ Rn : ‖x‖ ≤ r

eine Kugel vom Radius r sei. Es ist

κn =π

n2

Γ(1 + n2 ),

wie in Kapitel 1 berechnet wurde. Ferner ist λ(B(r)) = κnrn, denn allgemein gilt λ(αA) =

αnλ(A), wie leicht der Definition des Lebesguemaßes zu entnehmen ist; ebenso gilt Hp(αA) =αpHp(A).

Wir benotigen zwei Hilfssatze.

Lemma 2.4.12. Ist U ⊂ Rn eine offene Menge und δ > 0, so gibt es eine disjunkte Folge(Bi)i∈N abgeschlossener Kugeln mit

⋃i∈N

Bi ⊂ U, d(Bi) < δ, λ

(U \

⋃i∈N

Bi

)= 0.

Beweis. Wir konnen λ(U) < ∞ annehmen, denn daraus folgt leicht das allgemeine Resultat(man schneidet U mit einem Gitterwurfel der Kantenlange 1; der Rand des Wurfels ist eineNullmenge; man betrachtet abzahlbar viele solcher Wurfel). Dann stellen wir U als Vereini-gung von abzahlbar vielen Wurfeln Wj vom Durchmesser < δ dar, die paarweise keine innerenPunkte gemeinsam haben und sich hochstens in Randpunkten von U haufen. Im Inneren vonWj wahlen wir eine konzentrische Kugel Bj vom Radius > 1

3 · Kantenlange von Wj , dann ist

λ(Bj) >κn3nλ(Wj).

Es folgt

λ

U \ ⋃j∈N

Bj

= λ

⋃j∈N

[Wj \Bj ]

=∑j∈N

[λ(Wj)− λ(Bj)]

<∑j∈N

λ(Wj)[1− κn

3n]

=(1− κn

3n)λ(U).

Da U1 := U \⋃j∈NBj offen ist, konnen wir hierauf dasselbe Verfahren anwenden, also in U1

eine disjunkte Folge von Kugeln Cj vom Durchmesser < δ finden mit

λ

U1 \⋃j

Cj

<(1− κn

3n)λ(U1).

Dann ist

λ

U \⋃

j

Bj ∪⋃j

Cj

<(1− κn

3n)2λ(U).

Fortsetzung des Verfahrens (rekursive Definition) liefert die gewunschte Folge.

Lemma 2.4.13. Fur beliebige Teilmengen A ⊂ Rn gilt die isodiametrische Ungleichung

λ∗(A) ≤ κn2nd(A)n.

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2.4. SPEZIELLE MASSE 83

Beweis. Wir skizzieren den Beweis nur. Er verwendet ein geometrisches Verfahren, die Stei-nersche Symmetrisierung. Zunachst durfen wir annehmen, daß A beschrankt ist, da sonstnichts zu zeigen ist. Sodann durfen wir voraussetzen, daß A abgeschlossen und konvex ist,da beim Ubergang zur abgeschlossenen konvexen Hulle der Durchmesser sich nicht andertund das außere Lebesgue-Maß nicht kleiner wird. Sei nun H eine Hyperebene im Rn. Fur jedeGerade G senkrecht zu H werde die Strecke G∩A in G so verschoben, daß ihr Mittelpunkt aufH zu liegen kommt. Die Vereinigung aller so erhaltenen Strecken werde mit SHA bezeichnet.Man sagt, SHA gehe durch Steiner-Symmetrisierung an H aus A hervor. Man kann leichtzeigen, daß SHA wieder abgeschlossen und konvex ist und daß d(SHA) ≤ d(A) ist. Fernergilt λ(SHA) = λ(A). Das folgt aus dem Satz von Fubini. Es seien nun H1, . . . ,Hn die Koor-dinatenhyperebenen, also Hi = (ξ1, . . . , ξn) ∈ Rn : ξi = 0. Die Menge A′ := SH1 · · ·SHnAist symmmetrisch zu jeder Koordinatenhyperebene und daher zentralsymmetrisch bezuglich0. Es folgt, daß A′ enthalten ist in der Kugel B um 0 mit Radius d(A′)/2, und das ergibt

λ(A) = λ(A′) ≤ λ(B) = κn(d(A′)/2)n ≤ κn2nd(A)n.

Die Gleichheit von Hn und cλ auf Ln laßt sich nun ohne Verwendung von Satz 2.4.7 zeigen,und zwar in scharferer Form:

Satz 2.4.14. Fur beliebige A ⊂ Rn und δ > 0 gilt

Hnδ (A) =

2n

κnλ∗(A)

(wo λ∗ das außere Lebesguesche Maß bezeichnet).

Beweis. Sei δ > 0 gegeben.Zunachst sei I ⊂ Rn ein Intervall. Wir wahlen gemaß Lemma 2.4.12 eine Folge (Bj)j∈N

paarweise disjunkter Kugeln in I mit λ(I \⋃j Bj) = 0 und d(Bj) < δ. Sei rj der Radius von

Bj . Fur jede Lebesgue-Nullmenge N gilt auch Hnδ (N) = 0, wie leicht aus der Definition von

Hnδ zu folgern ist. Daher ergibt sich

Hnδ (I) = Hn

δ

⋃j∈N

Bj

≤∑j∈N

d(Bj)n (nach Def. von Hnδ )

=2n

κn

∑j∈N

κnrnj =

2n

κn

∑j∈N

λ(Bj)

=2n

κnλ

⋃j∈N

Bj

=

2n

κnλ(I).

Sei jetzt A ⊂ Rn beliebig. Zu ε > 0 existiert nach Definition des außeren Lebesguemaßes eineFolge (Ik)k∈N von Intervallen mit A ⊂

⋃k Ik und∑

k

λ(Ik) ≤ λ∗(A) + ε.

Es folgt

Hnδ (A) ≤ Hn

δ

(⋃k

Ik

)≤∑k

Hnδ (Ik) ≤

2n

κn

∑k

λ(Ik) ≤2n

κn(λ∗(A) + ε).

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84 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Da ε > 0 beliebig war, folgt Hnδ (A) ≤ (2n/κn)λ∗(A). Zum Beweis der entgegengesetzten

Ungleichung sei (Gi)i∈N eine Folge offener Mengen vom Durchmesser < δ mit A ⊂⋃iGi.

Dann ist nach Lemma 2.4.13∑i

d(Gi)n ≥2n

κn

∑i

λ(Gi) ≥2n

κnλ∗(A).

Also ist (nach Def. von Hnδ (A))

Hnδ (A) ≥ 2n

κnλ∗(A).

Daraus folgt die Behauptung.

2.5 Meßbare Funktionen

In diesem Abschnitt behandeln wir eine wichtige Erganzung zum Begriff des meßbaren Raum-es. Maße kommen dabei nur am Rande vor. In Analogie zu den stetigen Abbildungen zwischentopologischen Raumen betrachtet man Abbildungen zwischen meßbaren Raumen, die die aufden Raumen gegebenen Strukturen, also die σ-Algebren, in besonderer Weise respektieren.

Definition. Seien (Ω,A), (Ω′,A′) meßbare Raume. Eine Abbildung f : Ω → Ω′ heißt (A,A′)-meßbar (kurz meßbar, wenn A und A′ aus dem Zusammenhang klar sind), wenn

f−1(A′) ∈ A fur alle A′ ∈ A′

gilt, wenn also das Urbild jeder A′-meßbaren Menge A-meßbar ist. (Die Elemente einer σ-Algebra A nennt man auch A-meßbar.)

Zur Nachprufung der Meßbarkeit kann man sich auf ein Erzeugendensystem von A′ be-schranken:

Satz 2.5.1. Seien (Ω,A), (Ω′,A′) meßbare Raume. Ist E ′ ein Erzeugendensystem von A′, soist f genau dann meßbar, wenn f−1(E′) ∈ A fur alle E′ ∈ E ′ gilt.

Beweis. Daß die Bedingung f−1(E′) ∈ A fur E′ ∈ E ′ notwendig ist fur die Meßbarkeit, isttrivial. Sei sie umgekehrt erfullt. Setze

A := A′ ⊂ Ω′ : f−1(A′) ∈ A.

Da f−1 vertauschbar ist mit der Bildung von Vereinigungen und Komplementen sowie wegenf−1(Ω′) = Ω ∈ A, ist sofort zu sehen, daß A eine σ-Algebra in Ω′ ist. Wegen E ′ ⊂ A folgtA′ = σ(E ′) ⊂ A; fur A′ ∈ A′ gilt also f−1(A′) ∈ A. Somit ist f meßbar.

Beispiel. Jede stetige Abbildung f : Rn → Rm ist (Bn,Bm)-meßbar. Denn fur eine stetigeAbbildung ist das Urbild jeder offenen Menge des Rm offen in Rn, also Element von Bn, undnach Lemma 2.4.2 wird Bm von den offenen Teilmengen von Rm erzeugt.

Satz 2.5.2. Die Hintereinanderschaltung (Komposition) von meßbaren Abbildungen ist meß-bar.

Beweis. Dies folgt sofort wegen (g f)−1(A) = f−1(g−1(A)).

Man beachte, daß der Begriff ”meßbare Abbildung“ zunachst nichts mit etwa gegebenenMaßen zu tun hat, sondern sich allein auf die im Bildraum und Urbildraum gegebenen σ-Algebren bezieht. Ist jedoch auf dem Urbildraum ein Maß gegeben, so wird durch eine meßbareAbbildung in naturlicher Weise auch auf dem Bildraum ein Maß induziert:

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2.5. MESSBARE FUNKTIONEN 85

Satz 2.5.3. Seien (Ω,A), (Ω′,A′) meßbare Raume, sei f : Ω → Ω′ eine meßbare Abbildungund µ ein Maß auf A. Dann wird durch

µ′(A′) := µ(f−1(A′)) fur A′ ∈ A′

ein Maß auf A′ definiert. Es heißt das Bildmaß von µ unter f und wird auch mit f(µ)bezeichnet.

Beweis. Da f meßbar ist, ist f−1(A′) ∈ A fur alle A′ ∈ A′, die Definition ist also moglich. Sei(A′n)n∈N eine disjunkte Folge in A′. Dann ist (f−1(A′n))n∈N eine disjunkte Folge in A, und esergibt sich

µ′

(⋃n∈N

A′n

)= µ

(f−1

(⋃n∈N

A′n

))= µ

(⋃n∈N

f−1(A′n)

)

=∑n∈N

µ(f−1(A′n)) =∑n∈N

µ′(A′n).

Also ist µ′ σ-additiv. Die anderen Eigenschaften eines Maßes sind trivialerweise erfullt.

Etwas ausfuhrlicher betrachten wir nun den besonders wichtigen Fall meßbarer Abbildungenin das erweiterte System R der reellen Zahlen, also meßbare numerische Funktionen, bezogenauf die folgendermaßen erklarten Borelmengen in R.

Definition. Die Elemente der Menge B1 := B ⊂ R : B ∩ R ∈ B1 werden als Borelmengenin R bezeichnet.

Satz 2.5.4. Die σ-Algebra B1 der Borelmengen in R wird erzeugt von dem System

E = [α,∞] : α ∈ R

(mit [α,∞] := x ∈ R : α ≤ x ≤ ∞).

Beweis. Daß B1 eine σ-Algebra ist, ist klar. Sei A die von E in R erzeugte σ-Algebra. WegenE ⊂ B1 gilt A ⊂ B1. Offenbar ist A ∩ R := U ∩ R : U ∈ A eine σ-Algebra in R. Wegen[α, β) = [α,∞] \ [β,∞] ∈ A fur α, β ∈ R mit α < β, folgt B1 ⊂ A ∩ R. Es gilt

∞ =∞⋂n=1

[n,∞] ∈ A, −∞ =∞⋂n=1

[−∞,−n) =∞⋂n=1

[−n,∞]c ∈ A,

insbesondere also R = R \ −∞,∞ ∈ A. Ist B ∈ B1, so folgt B \ −∞,∞ = B ∩R ∈ B1 ∈A ∩ R ⊂ A und daher B ∈ A. Also ist B1 ⊂ A und damit B1 = A.

09.12.2003

Definition. Sei (Ω,A) ein meßbarer Raum. Eine numerische Funktion f : Ω → R, die(A,B1)-meßbar ist, wird als A-meßbar (haufig auch nur als meßbar) bezeichnet. Die Bn-meßbaren numerischen Funktionen auf Rn heißen Borel-meßbar.

Sind f, g numerische Funktionen auf der Menge Ω (oder g eine reelle Zahl) und ist R einezweistellige Relation auf R (z.B. =, ≤, >), so schreiben wir zur Abkurzung

fRg := x ∈ Ω : f(x)Rg(x).

In den folgenden Satzen liege stets ein fester meßbarer Raum (Ω,A) zugrunde.

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86 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.5.5. Die numerische Funktion f auf Ω ist genau dann A-meßbar, wenn eine derfolgenden Bedingungen fur alle α ∈ R erfullt ist:

f ≥ α ∈ A, f > α ∈ A, f ≤ α ∈ A, f < α ∈ A.

Beweis. Wegen

∀ α ∈ R : f ≥ α ∈ A

⇒ ∀ α ∈ R : f > α =∞⋃n=1

f ≥ α+

1n

∈ A

⇒ ∀ α ∈ R : f ≤ α = f > αc ∈ A

⇒ ∀ α ∈ R : f < α =∞⋃n=1

f ≤ α− 1

n

∈ A

⇒ ∀ α ∈ R : f ≥ α = f < αc ∈ A

sind die vier im Satz angegebenen Bedingungen jedenfalls aquivalent. Nun giltf ≥ α = f−1([α,∞]), und das System [α,∞] : α ∈ R ist nach Satz 2.5.4 ein Er-zeugendensystem von B1. Die Behauptung folgt also aus Satz 2.5.1.

Satz 2.5.6. Sind f, g A-meßbare numerische Funktionen auf Ω, so gilt

f < g, f ≤ g, f = g, f 6= g ∈ A.

Beweis. Es giltf < g =

⋃α∈Q

(f < α ∩ α < g),

und nach Satz 2.5.5 ist f < α ∩ α < g ∈ A; also folgt f < g ∈ A. Damit gilt auchf ≤ g = g < fc ∈ A, f = g = f ≤ g ∩ g ≤ f ∈ A, f 6= g = f = gc ∈ A.

Zum Schluß zeigen wir nun, daß die ublichen Operationen der Analysis nicht aus der Mengeder meßbaren Funktionen hinausfuhren. Wir setzen

f+ := max(f, 0), (Positivteil von f)f− := −min(f, 0). (Negativteil von f)

Satz 2.5.7. Seien f, g, fn (n ∈ N) A-meßbare numerische Funktionen auf Ω und λ ∈ R.Dann sind die folgenden Funktionen A-meßbar:

f ± g (falls definiert), fg, |f |, f+, f−, λ · f

supn∈N

fn, infn∈N

fn, lim supn→∞

fn, lim infn→∞

fn

limn→∞

fn (falls vorhanden).

Beweis. Im folgenden werden ohne weitere Erwahnung mehrfach die Satze 2.5.5 und 2.5.6benutzt. Wegen

sup fn ≤ α =∞⋂n=1

fn ≤ α, inf fn ≥ α =∞⋂n=1

fn ≥ α

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2.6. INTEGRATION UND KONVERGENZSATZE 87

sind sup fn und inf fn meßbar. Daher sind auch

lim supn→∞

fn = infk

(supn≥k

fn), lim infn→∞

fn = supk

( infn≥k

fn)

und folglich, falls vorhanden, lim fn meßbar. Insbesondere sind max (f, g) und min (f, g) unddamit auch f+ = max(f, 0) meßbar. Fur β ∈ R ist wegen −f + β ≤ α = f ≥ β − α auch−f + β meßbar, insbesondere also −f . Folglich sind f− = −min(f, 0) und |f | = max(f,−f)meßbar. Wegen f + g ≤ α = g ≤ −f + α ist f + g meßbar und folglich auch f − g. Umzu zeigen, daß fg meßbar ist, nehmen wir zunachst f ≥ 0, g ≥ 0 an. Sei α ∈ R. Fur α ≤ 0gilt fg < α = ∅, und fur α > 0 ist

fg < α = f = 0 ∪ g = 0 ∪⋃ρ∈Q+

(f < ρ ∩

g <

α

ρ

),

wo Q+ die Menge der positiven rationalen Zahlen bezeichnet. Also ist fg meßbar. Fur allge-meine f, g folgt aus

(fg)+ = f+g+ + f−g−, (fg)− = f+g− + f−g+

und dem bereits Bewiesenen die Meßbarkeit von (fg)+ und (fg)− und damit auch die vonfg = (fg)+− (fg)−. Die Meßbarkeit von λf sieht man, indem man λf ≤ α betrachtet unddie drei Falle λ >=< 0 unterscheidet.

2.6 Integration und Konvergenzsatze

Nachfolgend sei stets (Ω,A, µ) ein fester Maßraum. Auf diesem soll eine Integrationstheoriefur meßbare Funktionen entwickelt werden. Eine Funktion f : Ω → R wird dabei als meßbarbezeichnet, falls sie (A,B1)-meßbar ist. Dies ist gleichwertig dazu, daß

f ≤ α = x ∈ Ω : f(x) ≤ α ∈ A fur alle α ∈ R

gilt.

Eine nutzliche Eigenschaft meßbarer Funktionen ist ihre Approximierbarkeit durch einfacheFunktionen, genauer Funktionen, die nur endlich viele verschiedene Werte annehmen.

Definition. Eine Elementarfunktion auf (Ω,A) ist eine nichtnegative meßbare Funktion aufΩ, die nur endlich viele verschiedene Werte annimmt.

Beispiele.

• Fur A ∈ A ist 1A eine solche Funktion.

• Allgemeiner jede nichtnegative Linearkombination von Indikatorfunktionen.

Das sind auch schon alle Beispiele. Ist namlich e eine Elementarfunktion auf (Ω,A) und sindα1, . . . , αn ≥ 0 die verschiedenen Werte von e, so gilt mit Ai := e = αi ∈ A fur i = 1, . . . , ngerade

e =n∑i=1

αi1Ai .

Man nennt dies die naturliche Darstellung von e.

Satz 2.6.1. Sei f : Ω → R eine nichtnegative, meßbare Funktion auf (Ω,A). Dann gibt eseine Folge (en)n∈N von Elementarfunktionen auf Ω mit

0 ≤ e1 ≤ e2 ≤ . . . und f = limn→∞

en.

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88 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. Fur n ∈ N und x ∈ Ω setze

en(x) := maxi

2n: i ∈ 0, 1, . . . , n2n, i

2n≤ f(x)

=n2n−1∑i=0

i

2n1i2−n≤f<(i+1)2−n + n1f≥n.

Direkt aus der Definition ersieht man en ≤ en+1 und en → f fur n → ∞. Die zweiteDarstellung zeigt die Meßbarkeit.

Falls f beschrankt ist, konvergiert (en)n∈N sogar gleichmaßig gegen f .

Die Definition des Integrals einer meßbaren Funktion wird in drei Schritten vollzogen.

Definition. (1) Fur eine Elementarfunktion e auf Ω mit der naturlichen Darstellung e =α11A1 + · · ·+ αn1An ist das Integral von e erklart durch∫

e dµ :=n∑i=1

αiµ(Ai).

(2) Das Integral einer nichtnegativen meßbaren numerischen Funktion f auf (Ω,A, µ) isterklart durch ∫

f dµ := sup∫

e dµ : e ≤ f, e Elementarfunktion.

(3) Sei f eine meßbare numerische Funktion auf (Ω,A, µ). Gilt∫f+ dµ <∞ und

∫f− dµ <

∞, so wird f als integrierbar bezeichnet und das Integral von f ist erklart durch∫f dµ :=

∫f+ dµ−

∫f− dµ.

Bemerkungen.

• Konsistenz: Die Definitionen (1) und (2) sind konsistent. Dies folgt aus Satz 2.6.2 (c)im Spezialfall von Elementarfunktionen. Ferner sind (2) und (3) konsistent, da im Fallf ≥ 0 gerade f = f+ und f− = 0 gilt.

• In (2) kann∫f dµ = ∞ gelten, d.h. f muß nicht integrierbar sein.

• Gilt αi = 0, aber µ(Ai) = ∞ in (1), so ist αiµ(Ai) = 0 nach Vereinbarung.

• Anstatt einfach von Integrierbarkeit und vom Integral zu sprechen, ist eigentlich genauerauch das Maß zu nennen, bezuglich dessen das Integral gebildet wird.

• Man kann das Integral einer Funktion auch noch dann erklaren, wenn f+ oder f−

endliches Integral hat. Dann kann man ∞ oder −∞ als Wert des Integral erhalten.

• Die Sprechweisen ”µ-fast uberall oder ”µ-fast uberall definierte Funktionen sind sinn-gemaß wie in Kapitel 1 zu verstehen. Gilt also eine Eigenschaft A fur µ-fast alle x ∈ Ω,so ist damit gemeint, daß x ∈ Ω : x besitzt nicht die Eigenschaft A eine meßbareµ-Nullmenge ist.

Der folgende Satz gibt die grundlegenden Eigenschaften des Integrals wieder.

Satz 2.6.2. Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum, seien f, g nichtnegative meßbare numerische oderintegrierbare Funktionen, sei α ∈ R. Dann gilt:

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2.6. INTEGRATION UND KONVERGENZSATZE 89

(a)∫

(αf) dµ = α∫f dµ;

(b)∫

(f + g) dµ =∫f dµ+

∫g dµ;

(c) f ≤ g ⇒∫f dµ ≤

∫g dµ.

Beweis. Schritt 1. f, g seien Elementarfunktionen, α ≥ 0. Aussage (a) sieht man leicht ein.Fur den Nachweis von (b) seien die naturlichen Darstellungen von f, g gegeben durch

f =n∑i=1

αi1Ai , g =m∑j=1

βj1Bj .

Dann hat f + g die naturliche Darstellung

f + g =p∑

k=1

γk1Ck

mit

Ck =⋃

(i,j)∈Vk

(Ai ∩Bj) und Vk := (i, j) ∈ 1, . . . , n × 1, . . . ,m : αi + βj = γk.

Es folgt ∫(f + g) dµ =

p∑k=1

γkµ(Ck) =p∑

k=1

γkµ

⋃(i,j)∈Vk

(Ai ∩Bj)

=

p∑k=1

γk∑

(i,j)∈Vk

µ(Ai ∩Bj)

=n∑i=1

m∑j=1

(αi + βj)µ(Ai ∩Bj)

=n∑i=1

αi

m∑j=1

µ(Ai ∩Bj) +m∑j=1

βj

n∑i=1

µ(Ai ∩Bj)

=n∑i=1

αiµ(Ai) +m∑j=1

βjµ(Bj)

=∫f dµ+

∫g dµ.

Dies zeigt (b).

Zum Nachweis von (c) sei f ≤ g. Dann ist auch g − f ≥ 0 eine Elementarfunktion, also∫g dµ =

∫[(g − f) + f ] dµ =

∫(g − f) dµ+

∫f dµ ≥

∫f dµ.

Aus (b) folgt insbesondere: Ist e = α11A1 + · · ·+ αn1An eine beliebige Darstellung von e mitαi ∈ R und Ai ∈ A, so gilt∫

e dµ =n∑i=1

αi

∫1Ai dµ =

n∑i=1

αiµ(Ai).

Wir benotigen fur den Fortgang des Beweises einen Konvergenzsatz, den wir zunachst bereit-stellen.

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90 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.6.3 (von der monotonen Konvergenz). Sei (fn)n∈N eine Folge meßbarer nume-rischer Funktionen in (Ω,A, µ) mit 0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ . . . . Dann gilt

limn→∞

∫fn dµ =

∫limn→∞

fn dµ.

Beweis. Offenbar existiert f := limn→∞ fn in R, und f ist eine nichtnegative meßbare nume-rische Funktion, d.h.∫

f dµ = sup∫

e dµ : e ≤ f, e Elementarfunktion.

Die Folge(∫fn dµ

)n∈N ist monoton wachsend. Die Monotonie des Integrals von Elementar-

funktionen ubertragt sich namlich nach Definition auf das Integral nichtnegativer meßbarerFunktionen. Insbesondere existiert also limn→∞

∫fn dµ in R und

limn→∞

∫fn dµ ≤

∫f dµ.

Wir mussen nun auch die umgekehrte Abschatzung zeigen. Sei hierzu e ≤ f , e Elementar-funktion mit der naturlichen Darstellung

e =m∑i=1

αi1Ai .

Sei γ ∈ (0, 1). Fur En := fn ≥ γe gilt En ∈ A und En ↑ Ω fur n→∞. Also folgt∫fn dµ ≥

∫fn1En dµ ≥

∫γe1En dµ

=∫γ

m∑i=1

αi1Ai1En dµ

= γm∑i=1

αiµ(Ai ∩ En).

Da das Maß µ von unten stetig ist, gilt µ(Ai ∩ En) ↑ µ(Ai) fur i = 1, . . . ,m und daher

limn→∞

∫fn dµ ≥ γ

m∑i=1

αiµ(Ai) = γ

∫e dµ.

Da γ ∈ (0, 1) beliebig war, folgt limn→∞∫fn dµ ≥

∫e dµ und somit

limn→∞

∫fn dµ ≥

∫f dµ,

was den Beweis von Satz 2.6.3 beendet.11.12.2003

Schritt 2. f, g seien nichtnegative meßbare numerische Funktionen und α ≥ 0.

Die Aussagen (a), (c) sind dann unmittelbar klar. Fur den Nachweis zu (b) werden (vgl. Satz2.6.1) Folgen von Elementarfunktionen (en)n und (e′n)n betrachtet mit

0 ≤ e1 ≤ e2 ≤ . . . , ei ↑ f, 0 ≤ e′1 ≤ e′2 ≤ . . . , e′i ↑ g.

Dann ist (ei + e′i)i∈N eine Folge von Elementarfunktionen mit

0 ≤ e1 + e′1 ≤ e2 + e′2 ≤ . . . , ei + e′i ↑ f + g,

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2.6. INTEGRATION UND KONVERGENZSATZE 91

und daher ∫(f + g) dµ =

∫limi→∞

(ei + e′i) dµ = limi→∞

∫(ei + e′i) dµ

= limi→∞

∫ei dµ+

∫e′i dµ

= lim

i→∞

∫ei dµ+ lim

i→∞

∫e′i dµ

=∫

limi→∞

ei dµ+∫

limi→∞

e′i dµ

=∫f dµ+

∫g dµ.

Schritt 3. Seien f, g integrierbare Funktionen, α ∈ R.

Wir bemerken zunachst, daß f, g µ-fast uberall endlich sind, so daß f + g µ-fast uberallerklart ist. Abanderung einer Funktion auf einer Nullmenge andert die Integrierbarkeit undden Wert des Integrals nicht, wie eine Inspektion der schrittweisen Definition des Integralszeigt. Wir konnen daher annehmen, daß f, g und f + g uberall reellwertig sind.

Sei zunachst α ≥ 0. Dann gilt (αf)+ = αf+, (αf)− = αf−, also sind (αf)+ und (αf)−

integrierbar sowie∫(αf) dµ =

∫(αf)+ dµ−

∫(αf)− dµ = α

∫f+ dµ− α

∫f− dµ = α

∫f dµ.

Sei jetzt α < 0. Dann ist (αf)+ = −αf−, (αf)− = −αf+, und man kann wie zuvor schließen.Dies zeigt (a).

Wegen (f + g)± ≤ f± + g± gilt∫(f + g)± dµ ≤

∫f± dµ+

∫g± dµ <∞,

d.h. f + g ist integrierbar. Ferner ist

(f + g)+ − (f + g)− = f + g = f+ − f− + g+ − g−,

also(f + g)+ + f− + g− = (f + g)− + f+ + g+.

Nach dem schon Bewiesenen folgt∫(f + g)+ dµ+

∫f− dµ+

∫g− dµ =

∫(f + g)− dµ+

∫f+ dµ+

∫g+ dµ.

Da alle Integrale endlich sind, erhalt man∫(f + g) dµ =

∫(f + g)+ dµ−

∫(f + g)− dµ

=∫f+ dµ−

∫f− dµ+

∫g+ dµ−

∫g− dµ

=∫f dµ+

∫g dµ.

Zu (c): Ist f ≤ g, so ist g − f ≥ 0 eine fast uberall definierte meßbare numerische Funktionund

∫(g − f)dµ ≥ 0. Die Behauptung folgt nun aus (b).

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92 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.6.4. Seien f, g meßbare numerische Funktionen auf (Ω,A, µ). Dann gilt

(a) f integrierbar ⇒ |f | integrierbar;

(b) |f | ≤ g und g integrierbar ⇒ f integrierbar;

(c) f, g integrierbar ⇒ maxf, g und minf, g integrierbar;

(d) f integrierbar ⇒∣∣∫ f dµ∣∣ ≤ ∫ |f | dµ.

Beweis. Die erforderlichen Meßbarkeitsaussagen wurden schon gezeigt.

(a) Klar wegen |f | = f+ + f−.

(b) 0 ≤ f+, f− ≤ g impliziert∫f+ dµ <∞ und

∫f− dµ <∞.

(c) folgt aus |maxf, g| ≤ |f |+ |g| sowie aus |minf, g| ≤ |f |+ |g| und (a), (b).

(d)∣∣∫ f dµ∣∣ = ∣∣∫ f+ dµ−

∫f− dµ

∣∣ ≤ ∫ f+ dµ+∫f− dµ =

∫|f | dµ.

Im Maßraum (Ω,A, µ) verstehen wir unter einer µ-Nullmenge eine Menge A ∈ A mit µ(A) =0. Insbesondere ubernehmen wir sinngemaß die ”µ-fast uberall“ Sprechweisen von Kapitel 1.In diesem Sinn gelten die folgenden Aussagen.

Satz 2.6.5. Seien f, g meßbare nichtnegative oder integrierbare Funktionen auf Ω. Dann gilt

(a) f integrierbar ⇒ f ist µ-fast uberall endlich;

(b) f = g µ-fast uberall ⇒∫f dµ =

∫g dµ;

(c) f ≥ 0 und∫f dµ = 0 ⇒ f = 0 µ-fast uberall.

Beweis. (a) hatten wir schon eingesehen: A := |f | = ∞. Fur alle n ∈ N gilt also n1A ≤ |f |,d.h.

nµ(A) =∫n1A dµ ≤

∫|f | dµ <∞,

da mit f auch |f | integrierbar ist. Es folgt µ(A) = 0.

(b) hatten wir ebenfalls schon eingesehen (uber die schrittweise Integraldefinition).

(c) Setze An := f ≥ 1n, n ∈ N. Dann folgt

0 =∫f dµ ≥

∫1n1An dµ =

1nµ(An),

also

µ(f > 0) = µ

⋃n≥1

An

≤∑n≥1

µ(An) = 0.

Ahnlich wie in Kapitel 1 erklaren wir nun auch Integrale uber meßbare Teilmengen von Ω.Hierbei ist zu beachten, daß mit A ∈ A und einer integrierbaren Funktion f auch f · 1Aintegrierbar ist.

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2.6. INTEGRATION UND KONVERGENZSATZE 93

Definition. Sei f eine meßbare nichtnegative oder integrierbare Funktion auf Ω, sei A ∈ A.Man setzt ∫

Af dµ :=

∫f1A dµ

und nennt∫A f dµ das Integral von f uber A.

Satz 2.6.6. Sei f eine meßbare nichtnegative oder integrierbare Funktion auf Ω. Durch

ν(A) :=∫Af dµ, A ∈ A

wird auf A ein (signiertes) Maß definiert (das unbestimmte µ-Integral von f). Sei f ≥ 0. Furjede meßbare nichtnegative oder ν-integrierbare Funktion g auf Ω gilt dann∫

g dν =∫gf dµ.

Beweis. Sei zunachst f ≥ 0 vorausgesetzt. Es gilt dann ν(∅) = 0 und ν ≥ 0. Sei (Ai)i∈Neine disjunkte Folge in A und A :=

⋃∞i=1Ai. Dann gilt 1A =

∑i≥1 1Ai und der Satz von der

monotonen Konvergenz ergibt

ν(A) =∫f1A dµ =

∫ ∑i≥1

f1Ai dµ =∑i≥1

∫f1Ai dµ =

∑i≥1

ν(Ai).

Nimmt f auch negative Werte an, so sei

ν+(A) :=∫Af+ dµ, ν−(A) :=

∫Af− dµ fur A ∈ A.

Die Maße ν+, ν− sind dann endlich, d.h. ν = ν+ − ν− ist ein signiertes Maß.

Sei wieder f ≥ 0, d.h. ν ein Maß. Sei e =∑n

i=1 αi1Ai eine Elementarfunktion mit αi ≥ 0.Dann folgt∫

e dν =n∑i=1

αiν(Ai) =n∑i=1

αi

∫f1Ai dµ =

∫ ( n∑i=1

αi1Ai

)f dµ =

∫ef dµ.

Sei g ≥ 0 eine meßbare Funktion. Nach Satz 2.5.1 gibt es eine Folge (en)n∈N von Elementar-funktionen auf Ω mit 0 ≤ e1 ≤ e2 ≤ . . . und en ↑ g. Der Satz von der monotonen Konvergenzergibt also ∫

g dν =∫

limn→∞

en dν = limn→∞

∫en dν = lim

n→∞

∫(enf) dµ

=∫

limn→∞

(enf) dµ =∫

(gf) dµ.

Ist g eine ν-integrierbare Funktion, d.h.∫g± dν <∞, so gilt∫

(gf)± dµ =∫g±f dµ =

∫g± dν <∞,

und somit ∫gf dµ =

∫(gf)+ dµ−

∫(gf)− dµ =

∫g+ dν −

∫g− dν =

∫g dν.

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94 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 2.6.7. Sei f integrierbar auf (Ω,A, µ). Gilt∫Af dµ ≥ 0 fur alle A ∈ A,

so gilt f ≥ 0 µ-fast uberall.

Beweis. Mit B := f < 0 gilt

0 ≤∫Bf dµ ≤ 0,

d.h.0 =

∫Bf dµ =

∫f1B dµ = 0.

Wegen f1B ≤ 0 auf Ω liefert Satz 2.6.5 (c) f1B = 0 µ-fast uberall, d.h. µ(B) = 0.

Wir behandeln nun noch einen maßtheoretischen Transformationssatz. Sei hierzu ein Maß-raum (Ω,A, µ) und ein meßbarer Raum (Ω′,A′) gegeben. Fur eine (A,A′)-meßbare AbbildungT : Ω → Ω′ hatten wir T (µ) erklart durch T (µ)(A′) := µ(T−1(A′)).

Satz 2.6.8 (Transformationssatz). Seien (Ω,A, µ) ein Maßraum, (Ω′,A′) ein meßbarerRaum und T : Ω → Ω′ eine (A,A′)-meßbare Abbildung. Sei f ′ : Ω′ → R eine A′-meßbarenumerische Funktion. Die Funktion f ′ ist genau dann T (µ)-integrierbar, wenn f ′ T µ-integrierbar ist. In diesem Fall oder wenn f ′ ≥ 0 gilt, folgt∫

f ′ dT (µ) =∫f ′ T dµ.

Beweis. Zunachst ist f ′ T meßbar. Ist e′ =∑n

i=1 αi1A′i eine Elementarfunktion auf (Ω′,A′),so gilt

e′ T =n∑i=1

αi1Ai , Ai := T−1(A′i).

Also ist e′ T eine Elementarfunktion auf (Ω,A). Daher ist∫e′ T dµ =

n∑i=1

αiµ(Ai) =n∑i=1

αiµ(T−1(A′i))

=n∑i=1

αiT (µ)(A′i) =∫e′ dT (µ).

Sei nun f ′ ≥ 0. Hierzu sei (e′n)n∈N eine Folge von Elementarfunktionen auf (Ω′,A′) mit0 ≤ e′1 ≤ e′2 ≤ . . . und e′n ↑ f ′. Dann gilt auch 0 ≤ e′1 T ≤ e′2 T ≤ . . . und e′n T ↑ f ′ T .Dies liefert ∫

f ′ T dµ =∫

limn→∞

(e′n T ) dµ = limn→∞

∫e′n T dµ

= limn→∞

∫e′n dT (µ) =

∫limn→∞

e′n dT (µ) =∫f ′ dT (µ).

Sei schließlich f ′ eine beliebige A′-meßbare numerische Funktion. Nach dem schon Bewiesenengilt dann ∫

(f ′)± dT (µ) =∫

(f ′)± T dµ =∫

(f ′ T )± dµ,

woraus die restlichen Behauptungen folgen.

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2.6. INTEGRATION UND KONVERGENZSATZE 95

Wir erganzen den Aufbau der Integrationstheorie noch durch zwei Konvergenzsatze, die oftsehr nutzlich sind. Den Satz von der monotonen Konvergenz hatten wir schon bereitgestelltund angewendet.

Satz 2.6.9 (Fatou). Fur jede Folge (fn)n∈N nichtnegativer meßbarer Funktionen auf Ω gilt∫lim infn→∞

fn dµ ≤ lim infn→∞

∫fn dµ.

Beweis. Mit hn := inffk : k ≥ n gilt lim inf fn = limhn. Ferner ist hn meßbar, 0 ≤ h1 ≤h2 ≤ . . . und hn ≤ fn fur n ∈ N. Also folgt aus dem Satz von der monotonen Konvergenz∫

lim inf fn dµ =∫

limhn dµ = lim∫hn dµ

= lim infn→∞

∫hn dµ ≤ lim inf

n→∞

∫fn dµ.

Beispiel. Die Voraussetzung der Nichtnegativitat von fn kann man nicht ersetzen durch dieder Integrierbarkeit, auch dann nicht, wenn die Folgen (fn)n und

(∫fn dµ

)n

konvergieren. Seihierzu (Ω,A, µ) = (R,B1, λ) und

fn(x) :=−1, x ∈ [n, n+ 1],

0, x ∈ R \ [n, n+ 1].

Dann ist fn → 0 und∫fn dµ = −1, also∫limn→∞

fn dµ =∫

0 dµ = 0 > −1 = limn→∞

∫fn dµ.

Dieses Beispiel zeigt zugleich, daß auch die Voraussetzung der Existenz einer integrierbarenMajorante im folgenden Satz nicht entbehrlich ist.

Satz 2.6.10 (Lebesgue). Sei (fn)n∈N eine µ-fast uberall konvergente Folge meßbarer nume-rischer Funktionen auf (Ω,A, µ). Sei g integrierbar und |fn| ≤ g µ-fast uberall auf Ω (n ∈ N).Dann gibt es eine integrierbare Funktion f auf Ω mit

f = limn→∞

fn µ-fast uberall und limn→∞

∫fn dµ =

∫f dµ.

Beweis. Sei N0 ⊂ Ω eine µ-Nullmenge derart, daß (fn)n∈N auf N c0 konvergiert. Zu n ∈ N

sei Nn eine µ-Nullmenge, so daß |fn(x)| ≤ g(x) fur x ∈ N cn gilt. Schließlich gilt g(x) < ∞

fur x ∈ N c∞, wobei N c

∞ eine µ-Nullmenge ist. Somit ist N := N0 ∪ N∞ ∪⋃n≥1Nn eine

µ-Nullmenge.

Setze fn := fn · 1Ω\N . Dann ist fn meßbar, (fn)n∈N ist uberall konvergent, d.h. f :=limn→∞ fn ist meßbar. Die Funktion g := g1Ω\N ist integrierbar und |fn| ≤ |g| sowie g <∞auf Ω. Wir konnen also o.B.d.A. annehmen, daß

limn→∞

fn = f, |fn| ≤ g, g <∞ auf Ω

gilt.

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96 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Wegen |fn| ≤ g ist fn integrierbar. Aus |f | ≤ g folgt auch die Integrierbarkeit von f . Aus−fn ≤ g, d.h. fn + g ≥ 0, folgt∫

(g + f) dµ =∫

lim(g + fn) dµ =∫

lim inf(g + fn) dµ ≤ lim infn→∞

∫(g + fn) dµ,

somit ∫f dµ ≤ lim inf

n→∞

∫fn dµ. (2.6.5)

Analog folgt aus fn ≤ g, d.h. g − fn ≥ 0,∫(−f) dµ ≤ lim inf

n→∞

∫(−fn) dµ = − lim sup

n→∞

∫fn dµ. (2.6.6)

Aus (2.6.5) und (2.6.6) erhalt man die behauptete Konvergenzaussage.16.12.2003

2.7 Produktmaße

In diesem Abschnitt werden σ-Algebren und Maße auf Produktraumen konstruiert, wenn σ-Algebren bzw. Maße auf den Faktorraumen vorliegen. Insbesondere werden wir eine allgemeineFassung des Satzes von Fubini behandeln. Da man z.B. in der WahrscheinlichkeitstheorieProduktraume bezuglich sehr großer Indexraume bildet, betrachten wir teilweise gleich eineentsprechend allgemeine Situation.

Produktraume, kartesisches Produkt

Seien (Ωi,Ai), i ∈ I meßbare Raume, wobei I eine beliebige Indexmenge ist. Das (kartesische)Produkt der Mengen Ωi, i ∈ I ist gegeben durch

∏i∈I

Ωi =

x : I →

⋃i∈I

Ωi : x(i) ∈ Ωi fur i ∈ I

,

wobei wir kunftig xi anstelle von x(i) schreiben. Fur Mengen φ 6= J ⊂ S ⊂ I betrachten wirferner die Projektionsabbildung

ΠSJ :∏i∈S

Ωi →∏i∈J

Ωi, (xi)i∈S 7→ (xi)i∈J .

Speziell schreiben wir Πi := ΠIi fur i ∈ I und ΠJ := ΠI

J .

Definition. Seien (Ωi,Ai) Meßraume fur i ∈ I. Dann heißt

⊗i∈I

Ai := σ

(⋃i∈I

(Πi)−1(Ai)

)

das Produkt der σ-Algebren (Ai)i∈I (oder auch die Produkt-σ-Algebra). Der Meßraum(∏i∈I Ωi,

⊗i∈I Ai

)heißt das Produkt der Meßraume (Ωi,Ai), i ∈ I.

Beispiel. Ist I = 1, 2, so gilt

A1 ⊗A2 = σ(A1 × Ω2 : A1 ∈ A1 ∪ Ω1 ×A2 : A2 ∈ A2)

= σ(A1 ×A2 : Ai ∈ Ai fur i = 1, 2).

Nach Definition sind die Projektionsabbildungen Πj :∏i∈I Ωi → Ωj gerade

(⊗i∈I Ai,Aj

)-

meßbar,⊗

i∈I Ai ist die kleinste σ-Algebra, fur die dies richtig ist. Es ist leicht zu sehen

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2.7. PRODUKTMASSE 97

(Ubungsaufgabe 38), daß auch die Projektionen ΠIJ stets

(⊗i∈I Ai,

⊗i∈J Ai

)-meßbar sind.

Wir untersuchen zunachst das Produkt von zwei Meßraumen genauer.

Definition. Fur E ⊂ Ω1 × Ω2, x ∈ Ω1 sei

Ex := y ∈ Ω2 : (x, y) ∈ E

der Ω1-Schnitt von E durch x. Analog ist fur y ∈ Ω2 der Ω2-Schnitt von E durch y erklartdurch

Ey := x ∈ Ω1 : (x, y) ∈ E.

Entsprechend definiert man fur eine Funktion f auf E den Ω1-Schnitt von f durch x als

fx(y) := f(x, y), y ∈ Ex

und den Ω2-Schnitt von f durch y als

fy(x) := f(x, y), x ∈ Ey.

Satz 2.7.1. Seien (Ωi,Ai), i = 1, 2 Meßraume, sei E ∈ A1⊗A2 und f eine A1⊗A2-meßbareFunktion auf Ω1 × Ω2. Dann gilt:

(a) Fur jedes x ∈ Ω1 ist Ex ∈ A2 und fur jedes y ∈ Ω2 ist Ey ∈ A1.

(b) Fur jedes x ∈ Ω1 ist fx eine A2-meßbare Funktion und fur jedes y ∈ Ω2 ist fy eineA1-meßbare Funktion.

Beweis. (a) Setze

E := E ⊂ Ω1 × Ω2 : jeder Ωi-Schnitt von E ist meßbar, i = 1, 2.

Dann gilt:

• Ai ∈ Ai, i = 1, 2 ⇒ A1 ×A2 ∈ E .

• E ist eine σ-Algebra, da (Ec)x = (Ex)c und (⋃Ei)x =

⋃(Ei)x fur E,Ei ⊂ Ω1 × Ω2,

x ∈ Ω1; analoge Aussagen ergeben sich fur Ω2-Schnitte.

Hieraus folgtA1 ⊗A2 = σ(A1 ×A2 : Ai ∈ Ai) ⊂ E .

(b) Sei α ∈ R. Dann gilt

y ∈ fx ≤ α ⇔ fx(y) ≤ α⇔ f(x, y) ≤ α⇔ (x, y) ∈ f ≤ α ⇔ y ∈ f ≤ αx,

d.h. fx ≤ α = f ≤ αx. Die Behauptung folgt nun offenbar aus (a).

In der nachsten Aussage, die den Beweis des Satzes von Fubini vorbereitet, kommen nun auchMaße ins Spiel.

Satz 2.7.2. Seien (Ωi,Ai, µi) σ-endliche Maßraume, i = 1, 2. Fur E ∈ A1 ⊗A2 sei

f1E(x) := µ2(Ex), x ∈ Ω1,

f2E(y) := µ1(Ey), y ∈ Ω2.

Dann sind f1E und f2

E meßbar, und es gilt∫f1E dµ1 =

∫f2E dµ2.

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98 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. Seien zunachst µ1, µ2 endliche Maße. Sei M das System aller E ∈ A1 ⊗ A2, fur dief1E , f

2E meßbar sind und

∫f1E dµ1 =

∫f2E dµ2 gilt. Ferner sei E das System aller endlichen

disjunkten Vereinigungen von Mengen der Form A1 ×A2 mit Ai ∈ Ai. Dann gilt:(a) M ist ein monotones System;(b) E ⊂M;(c) E ist eine Algebra.

Sobald dies gezeigt ist, folgt die Behauptung im Fall endlicher Maße aus

A1 ⊗A2 = σ(E) = M(E) ⊂M.

Zu (a), (b): Sei En ∈M, n ∈ N und En ↑ E. Dann gilt (En)x ↑ Ex fur x ∈ Ω1 und daher

f1E(x) = µ2(Ex) = µ2

(⋃n

(En)x

)= lim

nµ2((En)x) = lim

nf1En

(x),

und ebensof2E(y) = lim

nf2En

(y), y ∈ Ω2.

Somit sind f1E , f

2E meßbar, und es gilt mit monotoner Konvergenz∫f1E dµ1 =

∫lim f1

Endµ1 = lim

∫f1Endµ1 = lim

∫f2Endµ2

=∫

lim f2Endµ2 =

∫f2E dµ2.

Im Fall En ↓ E schließt man analog, verwendet zusatzlich aber die Endlichkeit von µi undden Lebesgueschen Konvergenzsatz wegen 0 ≤ f1

En≤ µ2(Ω2) und 0 ≤ f2

En≤ µ1(Ω1). In jedem

Fall folgt so E ∈M. Wir zeigen nun noch E ⊂M 6= ∅. Sei also E = A1 ×A2, Ai ∈ Ai. Dannist f1

E = µ2(A2)1A1 und f2E = µ1(A1)1A2 , d.h. f1

E , f2E sind meßbar und∫

f1E dµ1 = µ2(A2)µ1(A1) =

∫f2E dµ2.

Dies zeigt E ∈ M. Sind schließlich E1, E2 ∈ M disjunkt, so gilt f iE1∪E2= f iE1

+ f iE2, woraus

E1 ∪ E2 ∈M folgt. Dies impliziert E ⊂M.

Zu (c): Es gilt Ω1 × Ω2 ∈ E . Fur A1, B1 ∈ A1 und A2, B2 ∈ A2 gilt

(A1 ×A2) \ (B1 ×B2) = [(A1 ∩B1)× (A2 \B2)] ∪ [(A1 \B1)×A2] ∈ E ,

da die Vereinigung disjunkt ist. Die Menge H = A1 × A2 : Ai ∈ Ai ist ein Halbring undE = R(H) (vgl. Ubungsaufgabe 31). Wegen Ω1 × Ω2 ∈ E ist E sogar eine Algebra.

Wir untersuchen nun den allgemeinen Fall. Seien hierzu Ain ∈ Ai, i = 1, 2, n ∈ N zunehmendeFolgen mit Ain ↑ Ωi und µi(Ain) <∞ fur n ∈ N, i = 1, 2. Fur eine meßbare Menge E ∈ A1⊗A2

setzen wir En := E ∩ (A1n × A2

n) ∈ A1 ⊗ A2. Dann gilt f iEn↑ f iE . Wir betrachten nun die

endlichen Maßraume (Ωi,Ai, µixAin), n ∈ N, i = 1, 2 mit

(µixAin)(A) := µi(Ain ∩A), A ∈ Ai.

Dann gilt

f1En

(x) = µ2((En)x) = µ2

((E ∩ (A1

n ×A2n))x

)= µ2

((E ∩ (A1

n ×A2n))x∩A2

n

)= (µ2xA

2n)((E ∩ (A1

n ×A2n))x

)= (µ2xA

2n)((En)x), x ∈ Ω1

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2.7. PRODUKTMASSE 99

d.h. f1En

ist meßbar. Ebenso folgt die Meßbarkeit von

f2En

(y) = (µ1xA1n)((E ∩ (A1

n ×A2n))y)

, y ∈ Ω2.

Ferner gilt ∫f1Endµ1 =

∫f1End(µ1xA

1n) =

∫f2End(µ2xA

2n) =

∫f2Endµ2.

Fur n → ∞ und mit monotoner Konvergenz folgert man die Meßbarkeit von f iE sowie dieGleichheit

∫f1E dµ1 =

∫f2E dµ2.

Wie fruher verwenden wir neben∫f dµ auch die Notation∫

f(x) dµ(x) oder∫f(x)µ(dx),

insbesondere im Zusammenhang mit dem Satz von Fubini, um die Variable anzugeben,bezuglich der integriert wird.

Satz 2.7.3. Seien (Ωi,Ai, µi) σ-endliche Maßraume, i = 1, 2. Dann gibt es genau ein Maßν auf A1 ×A2 mit

ν(A1 ×A2) = µ1(A1)µ2(A2), A1 ∈ A1, A2 ∈ A2.

Es ist gegeben durch

ν(E) :=∫µ2(Ex)µ1(dx) =

∫µ1(Ey)µ2(dy)

fur E ∈ A1 ⊗A2. Das Maß ν ist σ-endlich.

Beweis. Die Eindeutigkeit von ν folgt aus Satz 2.3.6 mit E := A1 × A2 : Ai ∈ Ai und derσ-Endlichkeit von µ1, µ2. Die Moglichkeit der Definition von ν und die behauptete Gleichungfolgen aus Satz 2.7.2. Daß ν tatsachlich ein Maß ist, folgt aus der Maßeigenschaft von µ1, µ2

und dem Satz von der monotonen Konvergenz. Offenbar gilt ν(A1 ×A2) = µ1(A1)µ2(A2) furAi ∈ Ai, und ν ist σ-endlich.

Definition. Sind (Ωi,Ai, µi) σ-endliche Maßraume, i = 1, 2, so heißt das in Satz 2.7.3 erklarteMaß ν das Produktmaß von µ1 und µ2; es wird mit µ1 ⊗ µ2 bezeichnet. Der Maßraum (Ω1 ×Ω2,A1 ⊗A2, µ1 ⊗ µ2) heißt das Produkt der gegebenen Maßraume.

Beispiele.

• Sei Bk die Borelsche σ-Algebra in Rk und βk das k-dimensionale Borel-Lebesgue-Maß(d.h. λk | Bk). Dann gilt offenbar Bk = B1 ⊗ · · · ⊗ B1 und βk = β1 ⊗ · · · ⊗ β1 (zunachstfur k = 2, dann per vollstandiger Induktion fur alle k ≥ 2).

• Sind (Xi, Ti), i ∈ I topologische Raume und ist (X, T ) der Produktraum mit der Pro-dukttopologie, so gilt ⊗

i∈IB(Xi) ⊂ B(X),

wobei die Inklusion strikt sein kann. Hat aber (Xi, Ti) eine abzahlbare Basis fur jedesi ∈ I und ist I abzahlbar, so gilt Gleichheit.

• Im Gegensatz zu β1 ⊗ β1 = β2 gilt stets L1 ⊗ L1 6= L2. Sei namlich A ⊂ R eineMenge mit A /∈ L1. Dann ist nach Satz 2.7.1 die Menge A × 0 /∈ L1 ⊗ L1. WegenA ⊂ R×0 ⊂ R2 und λ2(R×0) = 0 gilt aber A×0 ∈ L2. Man kann sich ferner mitHilfe eines fruheren Struktursatzes uberlegen, daß L1⊗L1 ⊂ L2 gilt und daß (R2,L2, λ2)gerade die Vervollstandigung von (R× R,L1 ⊗ L1, λ1 ⊗ λ1) ist.

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100 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

18.12.2003

Satz 2.7.4 (Fubini). Seien (Ωi,Ai, µi) σ-endliche Maßraume. Sei f eine numerische Funk-tion auf Ω1 × Ω2. Dann gilt:

(a) Ist f ≥ 0 und A1 ⊗A2-meßbar, dann ist

x 7→∫f(x, y)µ2(dy), x ∈ Ω1

A1-meßbar, die Funktion

y 7→∫f(x, y)µ1(dx), y ∈ Ω2

ist A2-meßbar, und es gilt∫f d(µ1 ⊗ µ2) =

∫ ∫f(x, y)µ2(dy)µ1(dx) =

∫ ∫f(x, y)µ1(dx)µ2(dy). (2.7.7)

(b) Ist f µ1 ⊗ µ2-integrierbar, dann ist fx µ2-integrierbar fur µ1-fast alle x ∈ Ω1, fy istµ1-integrierbar fur µ2-fast alle y ∈ Ω2; die fast uberall definierten Funktionen

x 7→∫f(x, y)µ2(dy) und y 7→

∫f(x, y)µ1(dx)

sind integrierbar, und es gilt (2.7.7).

Bemerkung. Die Handhabung von fast uberall definierten Funktionen ist dieselbe wie inKapitel 1.

Beweis. (a) Setze A := A1⊗A2 und µ := µ1⊗µ2. Ist f =∑αi1Ei eine A-Elementarfunktion,

so ist fx =∑αi1(Ei)x

und damit∫f(x, y)µ2(dy) =

∑αiµ2((Ei)x).

Dies zeigt die A1-Meßbarkeit, und es folgt weiter∫f dµ =

∑αiµ(Ei) =

∑αi

∫µ2((Ei)x)µ1(dx)

=∫ ∫

f(x, y)µ2(dy)µ1(dx).

Analog hierzu folgen die symmetrischen Aussagen. Sei jetzt f ≥ 0 und meßbar. Dann gibt eseine Folge en ↑ f von A-Elementarfunktionen en ≥ 0, n ∈ N. Setze

gn(x) :=∫en(x, y)µ2(dy), x ∈ Ω1;

dann ist gn A1-meßbar und 0 ≤ g1 ≤ g2 ≤ . . . . Monotone Konvergenz liefert

limn→∞

gn(x) =∫

limnen(x, y)µ2(dy) =

∫f(x, y)µ2(dy).

Also ist

x 7→∫f(x, y)µ2(dy), x ∈ Ω1

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2.7. PRODUKTMASSE 101

A1-meßbar, und eine weitere Anwendung des Satzes von der monotonen Konvergenz ergibt∫f dµ = lim

n→∞

∫en dµ = lim

n→∞

∫ ∫en(x, y)µ2(dy)µ1(dx)

= limn→∞

∫gn(x)µ1(dx) =

∫limn→∞

gn(x)µ1(dx)

=∫ ∫

f(x, y)µ2(dy)µ1(dx).

Analog erhalt man die symmetrische Aussage.

(b) Sei f µ-integrierbar. Nach (a) gilt∫ ∫|f(x, y)|µ2(dy)µ1(dx) =

∫|f | dµ <∞,

da auch |f | µ-integrierbar ist. Es folgt∫|f(x, y)|µ2(dy) <∞ fur µ1-fast alle x ∈ Ω1.

Fur µ1-fast alle x ∈ Ω1 ist also fx µ2-integrierbar. Die Funktion

x 7→∫f(x, y)µ2(dy) =

∫f+(x, y)µ2(dy)−

∫f−(x, y)µ2(dy)

ist also fast uberall definiert, nach (a) ist sie A1-meßbar. Aus (a) und∫f+ d(µ1 ⊗ µ2) <∞,

∫f− d(µ1 ⊗ µ2) <∞

folgt die µ1-Integrierbarkeit dieser Funktion und∫f d(µ1 ⊗ µ2) =

∫f+ d(µ1 ⊗ µ2)−

∫f− d(µ1 ⊗ µ2)

=∫ ∫

f+(x, y)µ2(dy)µ1(dx)−∫ ∫

f−(x, y)µ2(dy)µ1(dx)

=∫ ∫

f(x, y)µ2(dy)µ1(dx).

Analog folgen die restlichen Aussagen.

Wir betrachten nun das Produkt von n ≥ 2 σ-endlichen Maßraumen (Ωi,Ai, µi), i = 1, . . . , n.Auf dem Produktraum

∏ni=1 Ωi haben wir dann die Produkt-σ-Algebra

n⊗i=1

Ai = A1 ⊗ · · · ⊗ An,

die auch vonE := A1 × · · · ×An : Ai ∈ Ai, i = 1, . . . , n

erzeugt wird. Mit Hilfe von vollstandiger Induktion uberlegt man sich leicht, daß es genau einMaß ν auf

⊗ni=1Ai gibt mit

ν(A1 × · · · ×An) = µ1(A1) · · ·µn(An), Ai ∈ Ai (i = 1, . . . , µ).

Offenbar ist ν σ-endlich, und es gilt eine allgemeine Version des Satzes von Fubini.

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102 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Schließlich betrachten wir den Fall unendlicher Produkte von Maßraumen, beschranken unsdabei aber auf den Fall von Wahrscheinlichkeitsraumen (Ωi,Ai, µi), i ∈ I, wobei µi ein Wahr-scheinlichkeitsmaß sei, d.h. µi(Ωi) = 1. Sei I zunachst abzahlbar, d.h. wir konnen I = Nannehmen. Dann bezeichnen wir mit (Ω,A) das Produkt der Meßraume (Ωi,Ai), i ∈ N. DieMengen des Systems ⋃

n∈N

(Π1,...,n

)−1

(n⊗i=1

Ai

)heißen meßbare Zylinder, d.h. jeder meßbare Zylinder ist von der Form

A×∞∏

j=n+1

Ωj , A ∈n⊗i=1

Ai, n ∈ N.

Das System Z der meßbaren Zylinder ist eine Algebra in Ω, die A erzeugt. Spezielle meßbareZylinder sind die meßbaren Rechtecke

A1 × · · · ×An ×∞∏

j=n+1

Ωj , Ai ∈ Ai, i = 1, . . . , n, n ∈ N,

die ebenfalls A erzeugen. Zur Abkurzung setzen wir

Ω(n) :=∞∏

j=n+1

Ωj .

Mit diesen Bezeichnungen gilt der folgende Satz.

Satz 2.7.5. Seien (Ωi,Ai, µi), i ∈ N Wahrscheinlichkeitsraume und (Ω,A) das Produkt derzugrundeliegenden Meßraume. Dann gibt es auf A genau ein Wahrscheinlichkeitsmaß µ der-art, daß

µ

(n∏i=1

Ai × Ω(n)

)=

n∏i=1

µi(Ai)

fur alle Ai ∈ Ai, i = 1, . . . , n und n ∈ N gilt.

Man nennt µ das Produktmaß der Folge (µi)i∈N von Wahrscheinlichkeitsmaßen und schreibtdafur

∞⊗i=1

µi oder⊗i∈N

µi.

Der Wahrscheinlichkeitsraum (Ω,A, µ) heißt der Produktraum der Folge (Ωi,Ai, µi)i∈N vonWahrscheinlichkeitsraumen.

Beweis von Satz 2.7.5. Sei Z ∈ Z, d.h. Z = A× Ω(n) mit A ∈⊗n

i=1Ai. Dann setzen wir

µ(Z) :=

(n⊗i=1

µi

)(A).

Zum Nachweis der Wohldefiniertheit sei auch Z = B ×Ω(m) und etwa n ≤ m. Dann gilt alsoA× Ωn+1 × · · · × Ωm = B und daher mit dem Satz von Fubini(

n⊗i=1

µi

)(A) =

(n⊗i=1

µi

)(A) ·

(m⊗

i=n+1

µi

)(Ωn+1 × · · · × Ωm)

=

(m⊗i=1

µi

)(A× Ωn+1 × · · · × Ωm)

=

(m⊗i=1

µi

)(B).

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2.7. PRODUKTMASSE 103

Offenbar ist µ ein Inhalt auf Z und µ(Ω) = 1. Zum Nachweis der σ-Additivitat von µ auf Zwird die φ-Stetigkeit bewiesen. Die Existenz eines Maßes µ auf A = σ(Z) mit µ | Z = µ folgtdann aus dem Maßerweiterungssatz. Die Eindeutigkeit der Fortsetzung gilt, da die meßbarenRechtecke ein ∩-stabiles Erzeugendensystem bilden.

Sei also Mi ∈ Z, i ∈ N und Mi ↓ φ. Wir nehmen indirekt an, es gebe eine Teilfolge (Mij )j∈Nund ein ε0 > 0 mit µ(Mij ) ≥ ε0 > 0 fur j ∈ N. Nach Einfugen von Wiederholungen solcherMengen konnen wir annehmen, daß es eine Folge von Mengen

Bk × Ω(k) mit Bk ∈k⊗i=1

Ai, k ∈ N

gibt, so daßBk × Ω(k) ↓ ∅ und µ(Bk ⊗ Ω(k)) ≥ ε0 > 0 (k ∈ N)

erfullt ist. Daher folgt

Bk+1 ⊂ Bk × Ωk+1 undk⊗i=1

µi(Bk) ≥ ε0 > 0

fur alle k ∈ N. Fur x1 ∈ Ω1, n ≥ 2 gilt nun

f (1)n (x1) :=

n⊗i=2

µi ((Bn)x1)

=∫

1Bn(x1, x2, . . . , xn)n⊗i=2

µi(d(x2, . . . , xn))

≥∫

1Bn+1(x1, x2, . . . , xn+1)n+1⊗i=2

µi(d(x2, . . . , xn+1))

= f(1)n+1(x1).

Mittels majorisierter Konvergenz und dem Satz von Fubini folgt∫limn→∞

f (1)n (x1)µ1(dx1) = lim

n→∞

∫f (1)n (x1)µ1(dx1) = lim

n→∞

n⊗i=1

µi(Bn) ≥ ε0.

Somit gibt es ein x1 ∈ Ω1 mit

limn→∞

f (1)n (x1) = inf

nf (1)n (x1) ≥ ε0. (2.7.8)

In gleicher Weise erhalt man fur n ≥ 3 und x2 ∈ Ω2:

f (2)n (x1, x2) :=

n⊗i=3

µi((Bn)(x1,x2)

)≥ f

(2)n+1(x1, x2),

also wegen (2.7.8)∫limn→∞

f (2)n (x1, x2)µ2(dx2) = lim

n→∞

∫f (2)n (x1, x2)µ2(dx2) = lim

n→∞

n⊗i=2

µi ((Bn)x1) ≥ ε0.

Somit gibt es ein x2 ∈ Ω2 mit

limn→∞

f (2)n (x1, x2) = inf

nf (2)n (x1, x2) ≥ ε0. (2.7.9)

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104 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Induktiv konstruiert man so eine Folge von Elementen xk ∈ Ωk, k ∈ N, so daß fur n ≥ k + 1gilt:

f (k)n (x1, . . . , xk) :=

n⊗i=k+1

µi((Bn)(x1,...,xk)

)≥ ε0.

Aus (Bk+1)(x1,...,xk) 6= φ und Bk+1 ⊂ Bk × Ωk+1 erhalt man jetzt (x1, . . . , xk) ∈ Bk fur allek ∈ N. Dies zeigt (xi)i∈N ∈ Bk×Ω(k) fur alle k ∈ N, d.h. aber (xi)i∈N ∈

⋂k≥1(Bk×Ω(k)) 6= ∅,

ein Widerspruch.

In einem letzten Erweiterungsschritt kann man schließlich eine beliebige Familie von Wahr-scheinlichkeitsraumen betrachten.

Satz 2.7.6. Sei I eine Indexmenge und (Ωi,Ai, µi) ein Wahrscheinlichkeitsraum fur i ∈ I.Sei (Ω,A) das Produkt der Meßraume (Ωi,Ai), i ∈ I. Dann gibt es genau ein Wahrschein-lichkeitsmaß µ auf A mit

µ

((ΠS)−1

(∏i∈S

Ai

))=∏i∈S

µi(Ai)

fur alle endlichen Teilmengen S ⊂ I und Ai ∈ Ai fur i ∈ S.

Beweis. Sei A ∈ A. Nach Ubungsaufgabe 38 (b) gibt es eine abzahlbare Teilmenge J ⊂ I undB ∈

⊗i∈J Ai mit A = (ΠJ)

−1 (B). Setze

µ(A) :=⊗i∈J

µi(B).

Mit Hilfe von Satz 2.7.5 uberlegt man sich leicht, daß hierdurch ein wohldefiniertes Wahr-scheinlichkeitsmaß auf A gegeben ist. Die Eindeutigkeit ist klar.

Die Konstruktion von Produktmaßen laßt sich in zwei Richtungen verallgemeinern.

• Ausgehend von einer Startwahrscheinlichkeit und einer Folge von Ubergangswahrschein-lichkeiten kann man ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf dem Produktraum konstruieren.Man kann auf diese Weise stochastische Abhangigkeiten modellieren. Ein entsprechen-der Satz ist nach Ionescu Tulcea benannt.

• Ist ∅ ⊂ S ⊂ J ⊂ I und µJ ein Maß auf(∏

i∈J Ωi,⊗

i∈J Ai), so schreiben wir ΠJ

S(µJ)fur das Bildmaß von µJ unter der Projektionsabbildung ΠJ

S . Satz 2.7.6 besagt gerade,daß es ein Wahrscheinlichkeitsmaß µ auf (Ω,A) gibt, so daß

ΠS(µ) =⊗i∈S

µi

fur alle endlichen Teilmengen S ⊂ I gilt.

Im folgenden sei P0(I) das System der endlichen Teilmengen der Indexmenge I. Sei(Ωi,Ai), i ∈ I eine Familie von Meßraumen und (µS)S∈P0(I) eine Familie von Wahr-scheinlichkeitsmaßen auf

(∏i∈S Ωi,

⊗i∈S Ai

). Die Familie (µS)S∈P0(I) heißt konsistent

oder projektive Familie, falls

ΠJS

(µJ)

= µS fur alle J, S ∈ P0(I) mit S ⊂ J

gilt. Diese Bedingung ist notwendig fur die Existenz eines Wahrscheinlichkeitsmaßesµ auf (Ω,A) mit ΠS(µ) = µS fur alle S ∈ P0(I). Die Bedingung ist allerdings nicht

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2.8. SIGNIERTE MASSE UND DER SATZ VON RADON-NIKODYM 105

hinreichend. Sind jedoch die Maße µi, i ∈ I kompakt approximierbar, was zum Beispielim Falle von polnischen Raumen Ωi stets erfullt ist, so gilt auch die Umkehrung; einpolnischer Raum ist ein topologischer Raum mit abzahlbarer Basis, zu dem es einevollstandige Metrik gibt, die die gegebene Topologie erzeugt. Speziell gilt der folgendeKonsistenzsatz von Kolmogoroff.

Satz 2.7.7. Sei Ωi, i ∈ I eine Familie polnischer Raume. Sei (µS)S∈P0(I) eine projektiveFamilie von Wahrscheinlichkeitsmaßen µS auf

⊗i∈S B(Ωi). Dann gibt es genau ein Wahr-

scheinlichkeitsmaß µ auf⊗

i∈I B(Ωi) mit ΠS(µ) = µS fur alle S ∈ P0(I).

Anstelle eines Beweises geben wir ein Beispiel zur Illustration des Satzes an.

Hierbei sei I = (0,∞), Ωi = R und Ai = B1 fur i ∈ I. Fur S ∈ P0(I) mit S = t1, . . . , tkund 0 < t1 < · · · < tk <∞ sei

µS(A) :=∫A

1√2πt1

e− x2

12t1

1√2π(t2 − t1)

e− (x2−x1)2

2(t2−t1) · · ·

· · · 1√2π(tk − tk−1)

e−

(xk−xk−1)2

2(tk−tk−1) λk(d(x1, . . . , xk)),

wobei A ∈ Bk. Um nachzuweisen, daß (µS)S∈P0(I) eine projektive Familie von Wahrschein-lichkeitsmaßen ist, genugt es, den Fall φ 6= S ⊂ J ∈ P0(I) zu betrachten mit |S| = |J | − 1.Sei also etwa J = t1, . . . , tk mit 0 < t1 < · · · < tk <∞ und S = t1, . . . , tj , . . . , tk, k ≥ 2.Fur Ai ∈ Ai, i ∈ 1, . . . , j, . . . , k ist zu zeigen:

µJ(A1 × · · · × R× · · · ×Ak) = µS(A1 × · · · × R× · · · ×Ak).

Hierzu zeigt man (im Fall 1 < j < k)

∫ ∞

−∞

1√2π(tj − tj−1)

e−

(xj−xj−1)2

2(tj−tj−1)1√

2π(tj+1 − tj)e−

(xj+1−xj)2

2(tj+1−tj) dxj

=1√

2π(tj+1 − tj−1)e−

(xj+1−xj−1)2

2(tj+1−tj−1) ,

indem man z.B. erst xj = xj + xj−1 substituiert, vereinfacht, quadratisch erganzt undausintegriert. Die Falle j = 1 und j = k sind ahnlich, aber einfacher.

Das so konstruierte Maß auf(⊗

i∈(0,∞) R,⊗

i∈(0,∞) B1)

wird als Gaußsches Maß bezeichnet. 23.12.2003

2.8 Signierte Maße und der Satz von Radon-Nikodym

Bislang haben wir hauptsachlich nichtnegative Maße untersucht, obwohl unsere ursprunglicheBegriffsbildung auch signierte Mengenfunktionen zulaßt. Wir werden nun sehen, daß sich dieBehandlung signierter Maße auf die Betrachtung von Maßen zuruckfuhren laßt. Tatsachlichlaßt sich jedes signierte Maß als Differenz zweier Maße schreiben, von denen zumindest einesendlich ist.

Definition. Sei µ ein signiertes Maß auf dem meßbaren Raum (Ω,A). Eine Menge A ∈ Aheißt bezuglich µ

• positiv, falls µ(B) ≥ 0 fur alle B ∈ A, B ⊂ A gilt;

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106 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

• negativ, falls µ(B) ≤ 0 fur alle B ∈ A, B ⊂ A gilt.

Satz 2.8.1 (Jordan-Hahn-Zerlegung). Sei µ ein signiertes Maß auf dem meßbaren Raum(Ω,A). Dann gilt:

(a) Es gibt eine Zerlegung (Hahn-Zerlegung) Ω = P ∪N , P ∩N = ∅, so daß P positiv undN negativ bezuglich µ ist.

(b) Durch µ+ := µxP (Positivteil von µ) und µ− := −µxN (Negativteil von µ) werden Maßeauf A erklart; wenigstens eines ist endlich, und es gilt µ = µ+ − µ− (Jordan-Zerlegungvon µ).

(c) Fur A ∈ A ist

µ+(A) = supµ(B) : B ∈ A, B ⊂ A,

µ−(A) = sup−µ(B) : B ∈ A, B ⊂ A.

Insbesondere hangen µ+, µ−, |µ| := µ++µ− nur von (Ω,A, µ) und nicht von der gewahl-ten Hahn-Zerlegung von Ω bezuglich µ ab. Das Maß |µ| heißt das Totalvariationsmaßvon µ.

Beweis. Das signierte Maß µ nimmt einen der Werte ∞,−∞ nicht an, o.B.d.A. den Wert ∞.

Behauptung 1. Die Vereinigung einer Folge positiver Mengen ist positiv.Hierzu: Seien An, n ∈ N positive Mengen und A :=

⋃n≥1An. Fur B ∈ A mit B ⊂ A setze

Bn := (B ∩An) \ (A1 ∪ · · · ∪An−1). Da An positiv ist, gilt µ(Bn) ≥ 0. Die Folge (Bn)n∈N istdisjunkt, also folgt µ(B) = µ(

⋃nBn) =

∑n µ(Bn) ≥ 0.

Da ∅ eine positive Menge ist, ist

α := supµ(A) : A ⊂ Ω positiv ≥ 0.

Sei (An)n∈N eine Folge positiver Mengen mit α = limn µ(An). Setze P :=⋃nAn. Dann ist P

positiv, d.h. α ≥ µ(P ). Wegen P \An ⊂ P ist µ(P \An) ≥ 0, also

µ(P ) = µ(An) + µ(P \An) ≥ µ(An),

also µ(P ) = α <∞.

Behauptung 2. N := P c ist eine negative Menge.Hierzu: N enthalt keine positive Menge A mit µ(A) > 0. Ware namlich A ⊂ N eine positiveMenge mit µ(A) > 0, dann ware P ∪A eine positive Menge mit µ(P ∪A) = µ(P )+µ(A) > α,ein Widerspruch.

Angenommen,N ware keine negative Menge. Dann gibt es E0 ∈ A, E0 ⊂ N mit µ(E0) > 0.Nun ist aber E0 keine positive Menge, es gibt also E1 ∈ A, E1 ⊂ E0 mit µ(E1) < 0. Sei n1 ∈ Ndie kleinste Zahl, fur die eine solche Menge E1 existiert mit µ(E1) < −1/n1. Jetzt werdennk, Ek rekursiv definiert. Seien ni, Ei fur i = 1, . . . , k−1 schon definiert und E1, . . . , Ek−1 ⊂ E0

paarweise disjunkte Mengen in A. Wegen

µ

(E0 \

k−1⋃i=1

Ei

)= µ(E0)−

k−1∑i=1

µ(Ei) > 0

und da E0 \⋃k−1i=1 Ei ⊂ N keine positive Menge ist, gibt es eine Menge Ek ⊂ E0 \

⋃k−1i=1 Ei

in A und eine kleinste Zahl nk ∈ N zu einer solchen Menge mit µ(Ek) < −1/nk. Fur A :=E0 \

⋃i≥1Ei gilt dann

0 < µ(E0) = µ(A) +∑i≥1

µ(Ei) < µ(A)−∑i≥1

1ni.

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2.8. SIGNIERTE MASSE UND DER SATZ VON RADON-NIKODYM 107

Somit muß∑

i≥1 1/ni < ∞ gelten, d.h. ni → ∞, sowie µ(A) > 0. Sei B ∈ A mit B ⊂ A.Nach Konstruktion gilt µ(B) ≥ −1/(nk − 1) fur alle k ∈ N, d.h. µ(B) ≥ 0. Dann ware aberA ∈ A eine positive Teilmenge von N mit µ(A) > 0, ein Widerspruch. Dies zeigt die Aussage(a).

Die Aussage (b) ist offensichtlich erfullt.

Behauptung 3. Es gilt Aussage (c).Hierzu: Sei B ∈ A, B ⊂ A. Dann gilt

µ(B) = µ(B ∩ P ) + µ(B ∩N) ≤ µ(B ∩ P )

≤ µ(B ∩ P ) + µ((A \B) ∩ P ) = µ(A ∩ P ),

folglich istsupµ(B) : B ∈ A, B ⊂ A ≤ (µxP )(A).

Die umgekehrte Ungleichung gilt trivialerweise. Analog erhalt man die zweite Gleichung.

Sei µ ein signiertes Maß auf (Ω,A). Seien Ω = P1∪N1 = P2∪N2 zwei Hahn-Zerlegungen vonΩ bezuglich µ. Dann gilt

|µ|(P1∆P2) = |µ|(N1∆N2) = 0.

Bis auf |µ|-Nullmengen sind also der Positiv- und der Negativteil in der Hahn-Zerlegung vonΩ bezuglich µ eindeutig bestimmt. Mit Hilfe von Satz 2.8.1 (b), (c) erhalt man namlich

µ+(P1 \ P2) = (µxP2)(P1 \ P2) = µ(P2 ∩ (P1 \ P2)) = 0

undµ−(P1 \ P2) = −(µxN1)(P1 \ P2) = −µ(N1 ∩ (P1 \ P2)) = 0,

also |µ|(P1 \ P2) = 0. Analog folgt |µ|(P2 \ P1) = 0, d.h. |µ|(P1∆P2) = 0.

Dagegen ist die Jordan-Zerlegung µ = µ1 − µ2 von µ mit Maßen µ1, µ2 nicht eindeutig, daman auch µ = (µ1 +ν)− (µ2 +ν) fur jedes endliche Maß ν hat. Um eine eindeutige Zerlegungzu erhalten, fugt man eine zusatzliche Bedingung hinzu.

Definition. Zwei signierte Maße ν1, ν2 auf (Ω,A) heißen zueinander singular, und manschreibt dafur ν1 ⊥ ν2, wenn es eine Menge A ∈ A gibt mit |ν1|(A) = |ν2|(Ac) = 0.

Gilt also ν1 ⊥ ν2 mit A ∈ A wie in der Definition, so ist ν1(B) = ν1(B∩Ac) fur alle B ∈ A, d.h.ν1 = ν1xAc. Man sagt daher, ν1 sei auf Ac konzentriert. Folglich ist ν1 auf eine |ν2|-Nullmengekonzentriert, und umgekehrt.

Satz 2.8.2. Sei µ ein signiertes Maß auf (Ω,A). Dann gilt

(a) Seien Ω = P1 ∪ N1 = P2 ∪ N2 zwei Hahn-Zerlegungen von Ω bezuglich µ. Dann gilt|µ|(P1∆P2) = |µ|(N1∆N2) = 0.

(b) Es gibt genau eine Zerlegung µ = µ+ − µ− mit zueinander singularen Maßen µ+, µ−.

Beweis. (a) wurde schon gezeigt.

(b) Seien µ+, µ−, P,N wie in Satz 2.8.1. Dann gilt P = N c und µ+(N) = µ−(P ) = 0, d.h.µ+ ⊥ µ−. Dies zeigt die Existenz.

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108 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Seien nun ν+ ⊥ ν− zueinander singulare Maße mit µ = ν+−ν−. Es gibt also eine Menge A ∈ Amit ν+(A) = ν−(Ac) = 0. Fur B ∈ A mit B ⊂ Ac gilt ν−(B) = 0, also µ(B) = ν+(B) ≥ 0.Daher ist Ac eine positive Menge. Analog sieht man, daß A eine negative Menge ist. Daherist Ω = Ac ∪ A eine Hahn-Zerlegung bezuglich µ und ν+ = µxAc und ν− = µxA. Nach Teil(a) folgt

ν+ = µxAc = µxP = µ+, ν− = µxA = µxN = µ−,

was die Eindeutigkeit beweist.

Fur ein signiertes Maß µ auf (Ω,A) gilt stets |µ(·)| ≤ |µ|(·). Das Variationsmaß ist daskleinste Maß mit dieser Eigenschaft. Sei namlich ν ein Maß auf (Ω,A) mit |µ(A)| ≤ ν(A) furalle A ∈ A, so gilt

|µ|(A) = µ(A ∩ P )− µ(A ∩N) = |µ(A ∩ P )|+ |µ(A ∩N)|

≤ ν(A ∩ P ) + ν(A ∩N) = ν(A).

Es bezeichne M(Ω,A) den reellen Vektorraum der endlichen signierten Maße auf (Ω,A) mitder ublichen Addition und skalaren Multiplikation fur Maße. Fur ein endliches signiertesMaß µ auf (Ω,A) definiert ‖µ‖ := |µ|(Ω) eine Norm auf M(Ω,A). Man nennt ‖µ‖ dieTotalvariation von µ. Der normierte Vektorraum (M(Ω,A), ‖ · ‖) ist vollstandig, d.h. einBanachraum (Ubungsaufgabe).

Sei jetzt (Ω,A, µ) ein Maßraum. Ist f eine meßbare nichtnegative oder integrierbare Funktionauf Ω, so wird durch

ν(A) :=∫Af dµ, A ∈ A (2.8.10)

ein signiertes Maß ν auf A definiert. Sind allgemein µ, ν zwei Maße auf (Ω,A), fur die derZusammenhang (2.8.10) besteht, so sagt man, ν hat bezuglich µ die Dichte f. Liegt dieser Fallvor und ist A ∈ A eine µ-Nullmenge, so ist A auch eine ν-Nullmenge, d.h.

A ∈ A, µ(A) = 0 ⇒ ν(A) = 0. (2.8.11)

Wir werden nun umgekehrt zeigen, daß unter schwachen Voraussetzungen an µ, ν auch um-gekehrt (2.8.11) die Gultigkeit von (2.8.10) mit einer geeigneten Dichte f impliziert.

Definition. Sei (Ω,A, µ) ein Maßraum und ν ein signiertes Maß auf A. Dann heißt ν absolutstetig bezuglich µ, und man schreibt dafur ν µ, wenn (2.8.11) gilt.

Satz 2.8.3 (Radon-Nikodym). Sei (Ω,A) ein Meßraum, und seien µ, ν zwei σ-endlicheMaße auf A mit ν µ. Dann gibt es eine nichtnegative meßbare Funktion f auf Ω mit

ν(A) =∫Af dµ, A ∈ A.

Die Funktion f ist µ-fast sicher eindeutig bestimmt.

Bemerkungen.

• Man bezeichnet die Funktion f in Satz 2.8.3 als eine Radon-Nikodym Ableitung oderDichte von ν bezuglich µ. Unter geeigneten zusatzlichen Voraussetzungen an den zu-grundeliegenden Raum kann man f namlich durch einen Differentiationsprozeß erhalten.

• Die Eindeutigkeitsaussage ist so zu lesen: Ist f eine weitere Dichte von ν bezuglich µ,so gilt f = f µ-fast uberall, d.h. µ(f 6= f) = 0.

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2.8. SIGNIERTE MASSE UND DER SATZ VON RADON-NIKODYM 109

• Man kann in Satz 2.8.3 auf die Voraussetzung der σ-Endlichkeit von ν verzichten, al-lerdings ist f dann eine numerische Funktion und i.a. nicht mehr reellwertig (hier ohneBeweis; siehe [4, Seite 280]).

• Ubungsaufgabe 47 (a) zeigt dagegen, daß man auf die Voraussetzung der σ-Additivitatvon µ i.a. nicht verzichten kann.

Beweis von Satz 2.8.3. Existenz. (1) Seien µ, ν endliche Maße.

Sei F die Menge aller reellwertigen meßbaren Funktionen f ≥ 0 auf Ω mit∫A f dµ ≤ ν(A)

fur alle A ∈ A. Wegen 0 ∈ F ist ∅ 6= F . Setze

α := sup∫

f dµ : f ∈ F.

Dann gibt es eine Folge (fn)n∈N in F mit limn→∞∫fn dµ = α. Fur n ∈ N sei gn :=

maxf1, . . . , fn. Fur A ∈ A setzen wir induktiv

A1 := gn = f1 ∩A, Ak := gn = fk ∩A ∩Ac1 ∩ · · · ∩Ack−1, k = 2, . . . , n.

Damit erhalt man aus der Disjunktheit von A1, . . . , An und wegen A = A1 ∪ . . . ∪Ak, daß∫Agn dµ =

n∑k=1

∫Ak

fk dµ ≤n∑k=1

ν(Ak) = ν(A).

Wegen 0 ≤ g1 ≤ g2 ≤ . . . folgt fur die numerische Funktion f := limk→∞ gk∫Af dµ = lim

n→∞

∫Agn dµ ≤ ν(A), A ∈ A;

dies zeigt f ∈ F und daher insbesondere∫f dµ ≤ α. Nach Konstruktion gilt andererseits∫

f dµ = limn

∫gn dµ ≥ lim

n

∫fn dµ = α,

also schließlich∫f dµ = α. Wegen

∫f dµ ≤ ν(Ω) <∞ ist f µ-fast uberall (o.B.d.A. uberall)

endlich.

Wir zeigen jetzt

ν(A) =∫Af dµ, A ∈ A.

Ware dies falsch, dann wurde durch

λ(A) := ν(A)−∫Af dµ ≥ 0, A ∈ A

ein Maß λ auf (Ω,A) mit λ(Ω) > 0 erklart. Wegen µ(Ω) < ∞ gibt es ein m > 0 mitµ(Ω) − mλ(Ω) < 0. Sei Ω = P ∪ N , N ∩ P = ∅ eine Hahn-Zerlegung von Ω bezuglich dessignierten Maßes µ−mλ. Ware µ(N) = 0, so auch ν(N) = 0, also λ(N) = 0 und daher

0 ≤ (µ−mλ)(P ) = (µ−mλ)(Ω) < 0,

ein Widerspruch. Dies zeigt µ(N) > 0. Setze h := 1m1N . Fur A ∈ A gilt (µ−mλ)(A∩N) ≤ 0,

da N eine negative Menge ist bezuglich µ−mλ. Es folgt∫Ah dµ =

1mµ(A ∩N) ≤ λ(A ∩N) ≤ λ(A) = ν(A)−

∫Af dµ,

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110 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

also ∫A(f + h) dµ ≤ ν(A), A ∈ A

und damit f + h ∈ F . Ferner gilt∫(f + h) dµ =

∫f dµ+

1mµ(N) > α,

ein Widerspruch.08.01.2004

(2) µ, ν seien σ-endliche Maße.

Dann gibt es eine disjunkte Folge (An)n∈N in A mit⋃nAn = Ω und µ(An) <∞, ν(An) <∞

fur alle n ∈ N. Setze µn := µxAn und νn := νxAn, n ∈ N. Dann sind µn, νn endliche Maßeauf A mit νn µn fur alle n ∈ N. Es gibt also eine meßbare reellwertige Funktion fn ≥ 0 aufΩ mit

ν(A ∩An) = νn(A) =∫Afn dµn =

∫Afn1An dµ, A ∈ A.

Setze f :=∑

n≥1 fn1An . Dann gilt f ≥ 0, f ist meßbar und reellwertig und fur A ∈ A ist

ν(A) =∑n

ν(A ∩An) =∑n

∫Afn1An dµ =

∫Af dµ.

Dies zeigt die Existenz von f .

Eindeutigkeit. Sei jetzt f eine meßbare Funktion mit

ν(A) =∫Af dµ =

∫Af dµ, A ∈ A.

Ist ν endlich, so sind f, f integrierbar, also auch f − f , und∫A(f − f) dµ = 0 fur alle A ∈ A.

Dies ergibt f = f µ-fast uberall.

Ist ν nur σ-endlich, so gibt es eine disjunkte Folge (An)n∈N in A mit⋃An = Ω und ν(An) <

∞. Ausν(A ∩An) =

∫A∩An

f dµ =∫A∩An

f dµ, A ∈ A

folgt zunachst f1An = f1An µ-fast uberall, fur alle n ∈ N, woraus die Behauptung folgt.

Man kann Satz 2.8.3 dahingehend verallgemeinern, daß man fur ν ein signiertes Maßzulaßt. Wir behandeln dabei nur den Fall eines endlichen signierten Maßes, da unsereIntegraldefinition etwas restriktiver als notig gewahlt wurde.

Satz 2.8.4. Seien µ ein σ-endliches Maß und ν ein endliches signiertes Maß auf dem Meß-raum (Ω,A). Gilt ν µ, so gibt es eine µ-fast sicher eindeutig bestimmte µ-integrierbareFunktion f auf Ω mit

ν(A) =∫Af dµ, A ∈ A.

Beweis. Sei ν = ν+ − ν− die Jordan-Zerlegung von ν, d.h. ν+, ν− sind endliche Maße mitν± µ. Also gibt es meßbare nichtnegative reelle Funktionen f± auf Ω mit

ν±(A) =∫Af± dµ, A ∈ A.

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2.8. SIGNIERTE MASSE UND DER SATZ VON RADON-NIKODYM 111

Wegen der Endlichkeit von ν± ist f± integrierbar und mit f := f+ − f− gilt∫Af dµ =

∫Af+ dµ−

∫Af− dµ = ν+(A)− ν−(A) = ν(A), A ∈ A.

Die Eindeutigkeit folgt wie zuvor.

Schließlich zeigen wir noch, daß sich ein gegebenes signiertes σ-endliches Maß bezuglich einesweiteren σ-endlichen Maßes zerlegen laßt in einen absolut stetigen und einen singularen Anteil.

Satz 2.8.5 (Zerlegungssatz von Legesgue). Seien µ ein σ-endliches Maß und ν ein σ-endliches signiertes Maß auf dem Meßraum (Ω,A). Dann gibt es eindeutig bestimmte signierteMaße ν1, ν2 auf A mit ν1 µ, ν2 ⊥ µ und ν = ν1 + ν2.

Beweis. Sei zunachst ν ein σ-endliches Maß. Dann ist auch λ := ν + µ ein σ-endliches Maß.Wegen µ λ gibt es eine meßbare Funktion f ≥ 0 auf Ω mit

µ(A) =∫Af dλ, A ∈ A.

Setze B := f > 0 und ν1 := νxB, ν2 := νxBc. Dann sind ν1, ν2 Maße mit ν1 + ν2 = ν.

Sei A ∈ A und µ(A) = 0. Wegen∫A f dλ = 0 und f ≥ 0 gilt f = 0 λ-fast uberall auf A. Wegen

f > 0 auf A∩B muß λ(A∩B) = 0 gelten, und daher ν1(A) = ν(A∩B) = 0. Dies zeigt ν1 µ.

Wegen ν2(B) = 0 und µ(Bc) =∫Bc 0 dλ = 0 ist ν2 ⊥ µ.

Ist ν ein σ-endliches signiertes Maß, so sind ν± σ-endliche Maße, von denen zumindest einesendlich ist. Diese lassen sich zerlegen gemaß

ν± = ν±1 + ν±2 mit ν±1 µ, ν±2 ⊥ µ.

Setze also ν1 := ν+1 − ν

−1 , ν2 := ν+

2 − ν−2 . Dann gilt ν = ν1 + ν2, ν1 µ und ν2 ⊥ µ, wie man

leicht bestatigt.

Zum Nachweis der Eindeutigkeit sei ν = ν1 + ν2 = ν1 + ν2 mit ν1, ν1 µ und ν2, ν2 ⊥ µangenommen, wobei ν1, ν2, ν1, ν2 signierte Maße sind. Wegen ν2, ν2 ⊥ µ gibt es MengenC,D ∈ A mit

|ν2|(Cc) = µ(C) = 0, |ν2|(Dc) = µ(D) = 0.

Setze B := C ∪D ∈ A. Dann gilt offenbar

|ν2|(Bc) = |ν2|(Bc) = µ(B) = 0.

Fur A ∈ A gilt daher

ν(A ∩Bc) = ν1(A ∩Bc) + ν2(A ∩Bc) = ν1(A ∩Bc) + ν2(A ∩Bc),

wegen |ν2(A ∩Bc)| ≤ |ν2|(A ∩Bc) ≤ |ν2|(Bc) = 0 und |ν2(A ∩Bc)| = 0 also

ν1(A ∩Bc) = ν1(A ∩Bc).

Seien f, f die Dichten von ν1, ν1 bezuglich µ. Dann folgt

ν1(A) =∫Af dµ =

∫A∩Bc

f dµ = ν1(A ∩Bc)

= ν1(A ∩Bc) =∫A∩Bc

f dµ =∫Af dµ

= ν1(A)

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112 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

fur A ∈ A. Dies zeigt also ν1 = ν1. In gleicher Weise folgert man fur A ∈ A

ν(A ∩B) = ν1(A ∩B)︸ ︷︷ ︸=0

+ν2(A ∩B) = ν1(A ∩B)︸ ︷︷ ︸=0

+ν2(A ∩B),

alsoν2(A) = ν2(A ∩B) = ν2(A ∩B) = ν2(A),

d.h. ν2 = ν2.

2.9 Konvergenz auf Maßraumen

Sei (Ω,A, µ) ein fester Maßraum im folgenden. Auf diesem werden nun verschiedeneKonvergenzbegriffe fur Folgen numerischer Funktionen miteinander verglichen. Man konnteandererseits auch auf einem festen Meßraum (Ω,A) die Konvergenz einer Folge von Maßenµi, i ∈ N betrachten. Dies soll hier jedoch nicht geschehen.

Sei also (Ω,A, µ) fest und seien fn, f (n ∈ N) numerische Funktionen auf Ω. Hier haben wir

• punktweise Konvergenz, limn→∞ fn = f , falls limn→∞ fn(x) = f(x) fur alle x ∈ Ω gilt

• (punktweise) Konvergenz fast uberall (genauer µ-fast uberall) limn→∞ fn = f µ-fastuberall, falls es eine Nullmenge N ∈ A gibt, d.h. µ(N) = 0, mit limn→∞ fn(x) = f(x)fur alle x ∈ Ω \N .

• gleichmaßige Konvergenz auf A ⊂ Ω, falls f auf A reellwertig ist und zu jedem ε > 0ein n0 ∈ N existiert mit |fn(x)− f(x)| < ε fur alle n ≥ n0 und x ∈ A.

• gleichmaßige Konvergenz fast uberall, limn→∞ fn = f gleichmaßig µ-fast uberall, fallses eine Nullmenge N ∈ A, µ(N) = 0, gibt, so daß (fn)n∈N auf Ω \N gleichmaßig gegenf konvergiert.

Im nachsten Satz wird eine zur Konvergenz fast uberall aquivalente Charakterisierung ange-geben, falls der Maßraum endlich ist.

Satz 2.9.1. Sei µ(Ω) < ∞. Die Folge (fn)n∈N meßbarer reeller Funktionen auf (Ω,A) kon-vergiert genau dann µ-fast uberall gegen f , wenn

limn→∞

µ

(supm≥n

|fm − f | ≥ α

)= 0 fur alle α > 0

gilt.

Beipiel. Sei (Ω,A, µ) = (R,B1, λ1 | B1) und fn := 1(n,∞). Dann gilt fn → f := 0 uberallauf R, aber µ(supm≥n |fm| ≥ α) = ∞ fur alle α > 0. Die Voraussetzung µ(Ω) <∞ in Satz2.9.1 ist somit nicht entbehrlich.

Beweis von Satz 2.9.1. Fur n ∈ N, α > 0 setze

An(α) :=

supm≥n

|fm − f | ≥ α

, A :=

limn→∞

fn = f.

Dann gilt An(α), A ∈ A und fur alle x ∈ Ω ist

(fn(x))n∈N konvergiert nicht gegen f(x)

⇔ ∃ k ∈ N ∀n ∈ N : supm≥n

|fm(x)− f(x)| ≥ 1k

⇔ ∃ k ∈ N ∀n ∈ N : x ∈ An(

1k

),

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2.9. KONVERGENZ AUF MASSRAUMEN 113

d.h.

Ac =⋃k∈N

⋂n∈N

An

(1k

).

Nun ist(An(

1k

))n∈N abnehmend, also

limn→∞

µ

(An

(1k

))= µ

(⋂n∈N

An

(1k

))≤ µ(Ac).

Falls fn → f µ-fast uberall gilt, so ist µ(Ac) = 0 und daher

limn→∞

µ(An(α)) = 0

erst fur α = 1/k, k ∈ N, dann aber fur alle α > 0. Ist dagegen limn→∞ µ(An(α)) = 0 fur alleα > 0, so gilt insbesondere

µ

(⋂n∈N

An

(1k

))= 0

fur alle k ∈ N, d.h. µ(Ac) = 0.

Gleichmaßige Konvergenz scheint zunachst von punktweiser Konvergenz grundsatzlich ver-schieden zu sein: Die Funktionenfolge (fn(x))n∈N, fn(x) := xn, x ∈ [0, 1] konvergiert nichtgleichmaßig auf [0, 1], jedoch auf jedem der Teilintervalle [0, 1 − ε], ε > 0 ist die Konvergenzgleichmaßig. Der folgende Satz zeigt, daß eine entsprechende Aussage ganz allgemein gilt.

Satz 2.9.2 (Egorov). Sei µ(Ω) < ∞, seien fn, f meßbare reellwertige Funktionen auf Ω(n ∈ N) mit limn→∞ fn = f µ-fast uberall. Dann gibt es zu jedem ε > 0 eine Menge E ∈ Amit µ(E) < ε und

limn→∞

fn = f gleichmaßig auf Ω \ E.

Bemerkungen. (1) Gilt die Schlußfolgerung, so sagt man, (fn)n∈N konvergiert fastgleichmaßig gegen f . Aus Konvergenz fast uberall, insbesondere also als gleichmaßigerKonvergenz fast uberall, folgt also fast gleichmaßige Konvergenz.

(2) Aus fast gleichmaßiger Konvergenz folgt die Konvergenz fast uberall. Zu jedem n ∈ Nsei namlich En ∈ A so, daß µ(En) < 1/n und fn(x) → f(x) fur alle x ∈ Ω \ En gilt. FurE :=

⋂n≥1En gilt µ(E) = 0 und fn(x) → f(x) fur alle x ∈ Ω \ E.

(3) Aus fast gleichmaßiger Konvergenz folgt allerdings nicht gleichmaßige Konvergenz fastuberall. Dies zeigt wiederum das Beispiel fn(x) := xn, x ∈ [0, 1] und n ∈ N.

Beweis von Satz 2.9.2. Sei ε > 0 fixiert. Fur α > 0, n ∈ N sei wieder

An(α) :=

supm≥n

|fm − f | ≥ α

.

Aus der Voraussetzung und Satz 2.9.1 folgt

limn→∞

µ

(An

(1k

))= 0

fur alle k ∈ N. Es gibt also ein n(k) ∈ N mit

µ

(An(k)

(1k

))< 2−kε.

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114 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

SetzeE :=

⋃k≥1

An(k)(1/k).

Dann gilt E ∈ A und

µ(E) = µ

⋃k≥1

An(k)

(1k

) ≤∑k≥1

µ

(An(k)

(1k

))< ε.

Sei k ∈ N gegeben. Fur x ∈ Ec ⊂(An(k)

(1k

))c und m ≥ n(k) gilt also

|fm(x)− f(x)| ≤ supm≥n(k)

|fm(x)− f(x)| < 1k,

was zu zeigen war.

Wir betrachten nun noch eine weitere Form der Konvergenz. Diese wird durch die in Satz2.9.1 enthaltene charakteristische Bedingung motiviert.

Definition. Die Folge (fn)n∈N meßbarer reeller Funktionen in (Ω,A, µ) heißt konvergent demMaß µ nach gegen f , wenn

limn→∞

µ(|fn − f | ≥ α) = 0

fur alle α > 0 gilt. Man schreibt in diesem Fall

µ− limn→∞

fn = f. (2.9.12)

Ist speziell (Ω,A, µ) ein Wahrscheinlichkeitsraum und gilt (2.9.12), so heißt (fn)n∈N µ-stochastisch konvergent gegen f , man nennt f den stochastischen Limes der Folge.

Bemerkungen. (1) Eine allgemeinere Definition findet sich etwa im Buch von Bauer.

(2) Aus µ− lim fn = f und µ− lim fn = f ′ folgt f = f ′ µ-fast uberall. Fur α > 0 gilt namlich

|f − f ′| ≥ α ⊂|fn − f | ≥ α

2

∪|fn − f ′| ≥ α

2

,

alsoµ(|f − f ′| ≥ α) ≤ µ

(|fn − f | ≥ α

2

)+ µ

(|fn − f ′| ≥ α

2

),

woraus zusammen mit der Voraussetzung

µ(|f − f ′| ≥ α) = 0

folgt, d.h. f = f ′ µ-fast uberall (wahle α = 1/k, k ∈ N).

(3) Aus µ− lim fn = f und f = f ′ µ-fast uberall folgt auch µ− lim fn = f ′.

(4) Sei µ(Ω) < ∞. Konvergiert die Folge (fn)n∈N meßbarer reeller Funktionen auf Ω µ-fastuberall gegen f , so konvergiert sie auch dem Maße nach. Dies folgt direkt aus Satz 2.9.1.

Beispiel 1. Das Beispiel (Ω,A, µ) = (R,B1, λ), fn := 1[n,∞) zeigt, daß man in (4) nichtauf die Voraussetzung µ(Ω) < ∞ verzichten kann, selbst dann nicht, wenn sogar fn → fpunktweise gilt.

Beispiel 2. Stochastische Konvergenz impliziert nicht fast sichere Konvergenz. Sei Ω = [0, 1],A := [0, 1] ∩B : B ∈ B1, µ := λ | A. Fur m ∈ N sei

An :=[k

2m,k + 12m

], n := 2m + k, k ∈ 0, . . . , 2m − 1

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2.9. KONVERGENZ AUF MASSRAUMEN 115

und fn := 1An . Fur α > 0 und n ∈ N gilt dann

µ(|fn| ≥ α) ≤ 2−m <2n,

wenn n = 2m + k < 2 · 2m wie oben gilt, wobei fn meßbar ist. Es folgtlimn→∞ µ(|fn| ≥ α) = 0. Andererseits gilt fur alle x ∈ Ω, daß fn(x) → 0 fur n → ∞, dax ∈ An fur unendlich viele n ∈ N gilt.

In abgeschwachter Form erhalt man jedoch eine Umkehrung.

Satz 2.9.3. Seien fn, f (n ∈ N) meßbare reelle Funktionen auf Ω. Konvergiert (fn)n∈N demMaße nach gegen f , so konvergiert eine Teilfolge von (fn)n∈N fast uberall gegen f .

Beweis. Nach Voraussetzung gilt fur α > 0

limn→∞

µ(|fn − f | ≥ α) = 0.

Somit kann man eine streng monotone Folge (nk)k∈N finden mit

µ

(|fnk

− f | ≥ 1k

)≤ 1

2k, k ∈ N.

Setze Ak :=|fnk

− f | ≥ 1k

und A :=

⋂m≥1

⋃k≥mAk. Wegen

µ

⋃k≥m

Ak

≤∑k≥m

µ(Ak) ≤∑k≥m

12k

=1

2m−1

ist µ(A) ≤ 21−m fur alle m ∈ N, also µ(A) = 0.

Ist nun x ∈ Ac, so gibt es ein m ∈ N mit x /∈⋃k≥mAk, d.h.

|fnk(x)− f(x)| < 1

kfur k ≥ m.

Dies zeigt fnk(x) → f(x) fur k →∞ und x ∈ Ω \A.

13.01.2004

Ein weiterer wichtiger Konvergenzbegriff macht Gebrauch von Integralen.

Definition. Sei L1(Ω,A, µ) der reelle Vektorraum der µ-integrierbaren reellen Funktionenauf Ω. Seien fn, f ∈ L1(Ω,A, µ) fur n ∈ N. Die Folge (fn)n∈N konvergiert im Mittel gegen f ,falls

limn→∞

∫|fn − f | dµ = 0

gilt.

Satz 2.9.4. Aus Konvergenz im Mittel folgt Konvergenz dem Maße nach.

Beweis. Sei n ∈ N fest gewahlt. Fur α > 0 setze

A(α) := |fn − f | ≥ α.

Wegen α1A(α) ≤ |fn − f |1A(α) folgt

αµ(A(α)) =∫α1A(α) dµ ≤

∫|fn − f |1A(α) dµ ≤

∫|fn − f | dµ,

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116 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

alsoµ(|fn − f | ≥ α) ≤ 1

α

∫|fn − f | dµ,

was die Behauptung beweist.

Bemerkungen. (1) Konvergenz im Mittel impliziert nicht Konvergenz fast uberall. Diesbelegt Beispiel 2 vor Satz 2.9.3.

(2) Konvergenz fast uberall impliziert nicht Konvergenz im Mittel. Hierzu betrachte (R,B1, λ)und

fn(x) :=n, x ∈ (0, 1/n),0, x ∈ R \ (0, 1/n).

Dann gilt fn(x) → 0 fur alle x ∈ R und n→∞, aber fn konvergiert nicht im Mittel.

Satz 2.9.5. Seien f, fn ∈ L1(Ω,A, µ) fur n ∈ N. Konvergiert (fn)n∈N gegen f fast uberalloder dem Maße nach und gibt es eine integrierbare numerische Funktion g mit

|fn| ≤ g (n ∈ N) und |f | ≤ g fast uberall,

so konvergiert (fn)n∈N im Mittel gegen f .

Beweis. Zunachst gelte fn → f (n→∞) fast uberall. Wegen |fn − f | → 0 fast uberall und

|fn − f | ≤ |fn|+ |f | ≤ 2g fast uberall

folgt

limn→∞

∫|fn − f | dµ

aus dem Satz von der majorisierten Konvergenz.

Jetzt konvergiere fn → f dem Maße nach. Wurde (fn)n∈N nicht im Mittel gegen f konvergie-ren, dann gabe es ein ε > 0 und eine Teilfolge (nk)k∈N von N mit∫

|fnk− f | dµ ≥ ε fur alle k ∈ N. (2.9.13)

Nach Satz 2.9.3 hat (fnk)k∈N eine Teilfolge, die fast uberall und daher aufgrund des schon

Bewiesenen im Mittel gegen f konvergiert. Dies ist ein Widerspruch zu (2.9.13).

Definition. Sei 1 ≤ p <∞. Sei Lp(Ω,A, µ) die Menge der reellwertigen meßbaren Funktionenauf Ω, fur die |f |p integrierbar ist. Fur f ∈ Lp(Ω,A, µ) setzt man

‖f‖p :=(∫

|f |p dµ) 1

p

.

Sei fn, f ∈ Lp(Ω,A, µ) fur n ∈ N. Die Folge (fn)n∈N konvergiert im p-ten Mittel gegen f , falls

limn→∞

‖fn − f‖p = 0

gilt.

Seien f, g ∈ Lp(Ω,A, µ). Dann gilt

|f + g|p ≤ (|f |+ |g|)p ≤ 2p(max|f |, |g|)p ≤ 2p(|f |p + |g|p).

Also ist f + g ∈ Lp(Ω,A, µ). Somit folgt, daß Lp(Ω,A, µ) ein reeller Vektorraum ist. Durch‖ · ‖p ist auf Lp(Ω,A, µ) eine Seminorm gegeben, d.h. fur f, g ∈ Lp(Ω,A, µ) und α ∈ R gilt:

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2.9. KONVERGENZ AUF MASSRAUMEN 117

(a) ‖f‖p ≥ 0; f = 0 ⇒ ‖f‖p = 0;

(b) ‖αf‖p = |α|‖f‖p;

(c) ‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p.

Die Aussagen (a), (b) sind trivial, ebenso (c) im Fall p = 1. Der Nachweis von (c) im Fallp ∈ (1,∞) wird durch zwei Hilfssatze vorbereitet.

Lemma 2.9.6. Fur 1 < p, q <∞ mit (1/p) + (1/q) = 1 und x, y ≥ 0 gilt

xy ≤ xp

p+yq

q.

Beweis. O.B.d.A. sei x, y > 0. Die Funktion

h(t) =t

p+

1q− t

1p , t ≥ 0

nimmt ihr Minimum bei t = 1 an, es hat den Wert 0, also ist

t1p ≤ t

p+

1q.

Setze t = u/v und multipliziere mit v. Das ergibt

u1p v

1q ≤ u

p+v

q.

Einsetzen von u = xp, v = yq ergibt die Behauptung.

Satz 2.9.7 (Holder-Ungleichung). Sei 1 < p, q < ∞ mit (1/p) + (1/q) = 1. Fur f ∈Lp(Ω,A, µ), g ∈ Lq(Ω,A, µ) gilt ∫

|fg| dµ ≤ ‖f‖p‖g‖q,

d.h. fg ∈ L1(Ω,A, µ).

Beweis. Nach Lemma 2.9.6 gilt

|f(x)g(x)| ≤ 1p|f(x)|p +

1q|g(x)|q, x ∈ Ω.

Im Fall ‖f‖p = 1, ‖g‖q = 1 folgt |fg| ∈ L1(Ω,A, µ) und∫|fg| dµ ≤ 1

p· 1 +

1q· 1 = 1.

Ist ‖f‖p 6= 0 6= ‖g‖q, so folgt ∫ ∣∣∣∣ f

‖f‖p· g

‖g‖q

∣∣∣∣ dµ ≤ 1

und daraus die Behauptung. Ist etwa ‖f‖p = 0, so ist f = 0 fast uberall, also fg = 0 fastuberall, die Behauptung ist also trivialerweise richtig.

Satz 2.9.8 (Minkowski-Ungleichung). Sei p ≥ 1 und f, g ∈ Lp(Ω,A, µ). Dann gilt

‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p.

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118 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. O.B.d.A. sei p > 1. Wahle q > 1 derart, daß (1/p)+(1/q) = 1. Wegen (p−1)q = p ist(|f +g|p−1)q = |f +g|p ∈ L1(Ω,A, µ), d.h. |f +g|p−1 ∈ Lq(Ω,A, µ). Mit Hilfe der HolderschenUngleichung erhalt man nun∫

|f + g|p dµ ≤∫

(|f |+ |g|)|f + g|p−1 dµ

≤ ‖f‖p · ‖|f + g|p−1‖q + ‖g‖p · ‖|f + g|p−1‖q

= (‖f‖p + ‖g‖p)(∫

|f + g|p dµ) 1

q

. (2.9.14)

Ist∫|f + g|p dµ 6= 0, so folgt die Behauptung aus (2.9.14), andernfalls ist die Behauptung

trivialerweise erfullt.

Man kann Lp(Ω,A, µ) mit ‖ · ‖p zu einem normierten Vektorraum machen, indem man Funk-tionen identifiziert, die sich nur auf einer µ-Nullmenge unterscheiden.

Definition. Sei 1 ≤ p <∞. Fur f, g ∈ Lp(Ω,A, µ) wird durch

f ∼ g :⇔ f = g µ− fast uberall

eine Aquivalenzrelation auf Lp(Ω,A, µ) erklart. Sei [f ] die Aquivalenzklasse von f ∈Lp(Ω,A, µ) und Lp(Ω,A, µ) die Menge der Aquivalenzklassen. Durch die Definitionen

[f ] + [g] := [f + g], α[f ] := [αf ] (α ∈ R)

wird Lp(Ω,A, µ) ein reeller Vektorraum und

‖[f ]‖p := ‖f‖p, f ∈ Lp(Ω,A, µ)

eine Norm auf Lp(Ω,A, µ).

Die in der Definition enthaltenen Behauptungen sind leicht einzusehen. Zum Abschluß sollgezeigt werden, daß der so erklarte normierte Vektorraum vollstandig, d.h. ein Banachraumist.

Satz 2.9.9. Der normierte Vektorraum (Lp(Ω,A, µ), ‖ · ‖p) ist vollstandig.

Beweis. Wir beginnen mit einer Vorbetrachtung. Sei (fk)k∈N eine Folge in Lp(Ω,A, µ) mit∑k≥1

‖fk‖p <∞.

Setze g :=(∑

k≥1 |fk|)p

, d.h. g ist eine meßbare numerische Funktion. Wir werden zeigen,daß

limn→∞

∥∥∥∥∥n∑k=1

fk − f

∥∥∥∥∥p

= 0 (2.9.15)

gilt, wobei f : Ω → R mit

f(x) := ∑∞

k=1 fk(x), falls g(x) <∞,0, sonst

Element von Lp(Ω,A, µ) ist. Die Minkowski-Ungleichung ergibt fur alle n ∈ N(∫ ( n∑k=1

|fk|

)pdµ

) 1p

=

∥∥∥∥∥n∑k=1

|fk|

∥∥∥∥∥p

≤n∑k=1

‖fk‖p.

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2.9. KONVERGENZ AUF MASSRAUMEN 119

Aus dem Satz von der monotonen Konvergenz erhalt man also∫g dµ = lim

n→∞

∫ ( n∑k=1

|fk|

)pdµ ≤

(n∑k=1

‖fk‖p

)p<∞,

also ist g integrierbar. Insbesondere ist g fast uberall endlich, d.h.∑

k≥1 fk(x) ist absolutkonvergent und somit konvergent fur µ-fast alle x ∈ Ω. Fur die oben erklarte Funktion f giltalso |f |p ≤ g, d.h. f ∈ Lp(Ω,A, µ) und

limn→∞

∣∣∣∣∣n∑k=1

fk − f

∣∣∣∣∣p

= 0 fast uberall,

∣∣∣∣∣n∑k=1

fk − f

∣∣∣∣∣p

≤ g fast uberall (n ∈ N).

Der Satz von der majorisierten Konvergenz liefert nun (2.9.15).

Sei schließlich ([un])n∈N eine Cauchy-Folge in Lp(Ω,A, µ) mit un ∈ Lp(Ω,A, µ), n ∈ N. Zujedem ε > 0 gibt es somit ein n0 ∈ N mit

‖un − um‖p ≤ ε fur n,m ≥ n0. (2.9.16)

Wir konnen daher rekursiv eine streng monotone Folge (nk)k∈N in N erklaren mit

‖unk− unk−1

‖p ≤12k, k ≥ 2.

Setzef1 := un1 , fk := unk

− unk−1, k ≥ 2.

Dann istk∑j=1

fj = unk.

Wegen∞∑k=2

‖fk‖p =∞∑k=2

‖unk− unk−1

‖p ≤∑k≥2

12k

<∞

existiert also eine Funktion f ∈ Lp(Ω,A, µ) mit

‖unk− f‖p =

∥∥∥∥∥∥k∑j=1

fj − f

∥∥∥∥∥∥p

→ 0 fur k →∞.

Aus‖un − f‖p ≤ ‖un − unk

‖p + ‖unk− f‖p

und (2.9.16) folgt ‖un − f‖p → 0 fur n→∞, d.h. [un] → [f ].

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120 KAPITEL 2. ALLGEMEINE MASS- UND INTEGRATIONSTHEORIE

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Kapitel 3

Geometrische Integrationstheorie

In diesem Kapitel wird die Grundlage fur eine geometrische Integrationstheorie gelegt. Aus-gangspunkt sind elementare Kurven- und Flachenintegrale sowie die Grundelemente der Vek-toranalysis. Unser Ziel ist schließlich die Integration auf Unter-Mannigfaltigkeiten des eukli-dischen Raumes und der Satz von Stokes.

3.1 Kurven und Kurvenintegrale

Man kann eine Kurve anschaulich zunachst als Punktmenge auffassen oder aber als Abbildung.Was tatsachlich nutzlich ist, hangt von dem Untersuchungsgegenstand ab und der Art derInformation, die hierfur erforderlich ist. Fur die Integration langs Kurven benotigt man mehrals die reine Punktmenge, aber weniger als die konkrete Parametrisierung, wie wir sehenwerden.

Definition. Sei n ≥ 2 und r ∈ N0. Eine parametrisierte Kurve der Klasse Cr im Rn ist eineAbbildung X : [a, b] → Rn der Klasse Cr. Sie heißt regular, wenn r ≥ 1 und X uberall vomRang 1 ist.

Bemerkungen. (1) Differenzierbarkeit in Randpunkten kann man als einseitige Differen-zierbarkeit interpretieren oder man fordert die Fortsetzbarkeit auf eine offene Obermenge.

(2) Ist X von der Klasse C1, so ist das Differential an der Stelle t ∈ [a, b] die Abbildung

DXt : R → Rn, h 7→ X ′(t)h,

wobei X ′(t) = (x′1(t), . . . , x′n(t))

T der Tangentenvektor von X an der Stelle t ist. Genau dannist X regular, wenn X ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ [a, b] ist.

15.01.2004

Definition. Eine Parametertransformation der Klasse Cr (r ≥ 0) ist eine (streng monotone)bijektive Abbildung τ : [a, b] → [a, b] der Klasse Cr mit τ ′(t) 6= 0 fur alle t ∈ [a, b] im Fallr ≥ 1. Sie heißt orientierungstreu, falls sie wachsend ist.

Ist nun X : [a, b] → Rn eine parametrisierte Kurve der Klasse Cr und τ : [a, b] → [a, b] eineParametertransformation der Klasse Cr, dann ist auch X := X τ eine parametrisierte Kurveder Klasse Cr. Im Fall r ≥ 1 ist wegen

X′(t) = X ′(τ(t)) · τ ′(t)

mit X auch X regular.

Definition. Die parametrisierten Kurven X : [a, b] → Rn und X : [a, b] → Rn der Klasse Cr

heißen (orientierungstreu) Cr-aquivalent, wenn es eine (orientierungstreue) Parametertrans-formation τ : [a, b] → [a, b] der Klasse Cr gibt mit X = X τ .

121

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122 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Man sieht leicht, daß die Aquivalenz parametrisierter Kurven eine Aquivalenzrelation defi-niert. Somit ist die folgende Definition sinnvoll.

Definition. Eine (orientierte) Kurve der Klasse Cr im Rn ist eine (orientierungstreue) Cr-Aquivalenzklasse von parametrisierten Kurven der Klasse Cr. Jeder Reprasentant einer Kurveheißt Parameterdarstellung oder Parametrisierung der Kurve. Eine Kurve der Klasse Cr, r ≥ 1heißt regular, wenn sie eine regulare Parametrisierung besitzt. Das Bild einer Parametrisierung(das offenbar nur von der Kurve abhangt) heißt Spur der Kurve.

Beispiel. DurchX : [0, π] → R2, t 7→ (cos t, sin t)

ist eine parametrisierte Kurve der Klasse C∞ gegeben. Ferner ist

X : [−1, 1] → R2, t 7→ (−t,√

1− t2)

eine parametrisierte Kurve der Klasse C0, die nicht von der Klasse C1 ist. Aber X und Xsind orientierungstreu C0-aquivalent vermoge

τ : [0, π] → [−1, 1], t 7→ − cos t.

Es gilt dann X = X τ und τ ist eine orientierungstreue Parametertransformation der KlasseC0; X und X sind verschiedene Parameterdarstellungen einer orientierten Kurve der KlasseC0; die Spur dieser Kurve ist der Halbkreis (x1, x2) ∈ R2 : x2

1 + x22 = 1, x2 ≥ 0; X (aber

nicht X) ist auch Parameterdarstellung einer Kurve der Klasse C∞.

Bemerkungen. (1) Parametrisierte Kurven der Klasse C0 konnen sich sehr unanschaulichverhalten, sie konnen etwa flachenfullend und damit keineswegs mehr ”eindimensional“ sein.

(2) Es ist also auch klar, daß Kurven nicht unbedingt stets eine endliche Lange in sinnvollerWeise zugeordnet werden kann. Einfacher sind Kurven, deren Spur ein Streckenzug ist.Die Lange der Strecke [X,Y ] wird durch ‖X − Y ‖ erklart, die Lange eines Strecken-zuges durch die Summe der Langen der Einzelstrecken. Im Fall einer allgemeinen Kurveerklart man die Lange der Kurve durch Approximation mittels einbeschriebener Streckenzuge.

Die folgenden Aussagen wurden im wesentlichen in Analysis II behandelt, wir wiederholendeshalb nur kurz die wesentlichen Punkte.

Definition. Sei X : [a, b] → Rn eine parametrisierte Kurve der Klasse C0. Zu jeder ZerlegungZ : a = t0 < t1 < · · · < tk = b von [a, b] sei

L(X,Z) :=k∑i=1

‖X(ti)−X(ti−1)‖.

IstL(X) := supL(X,Z) : Z Zerlegung von [a, b] <∞

so heißt X rektifizierbar und L(X) die Lange von X.

Da fur C0-aquivalente parametrisierte Kurven X,X stets L(X) = L(X) gilt, kann die Langeeiner Kurve als die Lange einer beliebigen Parameterdarstellung erklart werden, falls dieseendlich ist.

Spezieller fur parametrisierte Kurven der Klasse C1 kann man die Rektifizierbarkeit leichteinsehen und einen analytischen Ausdruck fur die Kurvenlange angeben (vgl. Analysis II,Satz 9.1.2).

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3.1. KURVEN UND KURVENINTEGRALE 123

Satz 3.1.1. Jede parametrisierte Kurve X : [a, b] → Rn der Klasse C1 ist rektifizierbar undhat die Lange

L(X) =∫ b

a‖X ′(t)‖ dt.

Ist also K eine Kurve der Klasse C1 und sind X : [a, b] → Rn sowie X : [a, b] → Rn

Parametrisierungen von K, so gilt L(X) = L(X), d.h. die Lange der Kurve K ist gegebendurch

L(K) = L(X).

Mit Hilfe der Lange (Bogenlange) kann man aus der Vielzahl der moglichen Parameterdarstel-lungen einer regularen Kurve eine besonders einfache aussondern. Sei hierzu K eine regulareKurve der Klasse Cr, r ≥ 1 im Rn von der Lange L. Dann gibt es eine ParametrisierungX : [0, L] → Rn der Klasse Cr von K mit ‖X ′(s)‖ = 1 fur alle s ∈ [0, L]. Sie heißt naturlicheParameterdarstellung oder auch Parametrisierung nach der Bogenlange. Insbesondere gilt furs ∈ [0, L] gerade L(X | [0, s]) = s.

Nachweis. Ist F : [a, b] → Rn eine regulare Parameterdarstellung von K, so setze

σ(t) :=∫ t

a‖F ′(x)‖ dx, t ∈ [a, b].

Dann ist σ : [a, b] → [0, L] differenzierbar und σ′(t) = ‖F ′(t)‖ > 0. Also ist σ ei-ne Parametertransformation der Klasse Cr, falls F von der Klasse Cr ist. Dann ist auchX := F σ−1 : [0, L] → Rn eine Cr-Parametrisierung von K, und es gilt ‖X ′(σ(t))‖ · |σ′(t)| =‖F ′(t)‖ = σ′(t) > 0, d.h. ‖X ′(s)‖ = 1 fur s ∈ [0, L].

Beispiel. X(t) := (cos t, sin t), t ∈ [0, 2π] ist eine Parametrisierung der Einheitskreisliniedurch die Bogenlange.

Wir wenden uns jetzt Kurvenintegralen zu. Da der Begriff schon in Analysis II eingefuhrtund motiviert wurde, konnen wir uns hier etwas kurzer fassen. Auf die Beschreibung vonKurvenintegralen mit Hilfe einer 1-Form ω verzichten wir an dieser Stelle noch und verwen-den stattdessen ein Vektorfeld. Da wir den euklidischen Raum Rn mit seinem Dualraumidentifizieren konnen, stellt dies keinen wirklichen Unterschied dar.

Definition. Sei M ⊂ Rn offen. Eine Abbildung V : M → Rn wird als Vektorfeld bezeichnet.

Fur x ∈ M ist V (x) ∈ Rn ein Vektor, wobei wir allerdings im Rn Punkte und Vektorenidentifizieren konnen. Diese Unterscheidung wird jedoch wesentlich, wenn man spater den Rn

durch eine Untermannigfaltigkeit ersetzt.

Vorbetrachtung. Ist V : M → Rn ein stetiges Vektorfeld und K eine orientierte Kurveim Rn mit Spur (K) ⊂ M . Sei F : [a, b] → Rn eine Parameterdarstellung von K. Zu einerPartition Z : a = t0 < t1 < · · · < tk = b von [a, b] vom Feinheitsgrad δ(Z) := maxti − ti−1 :i ∈ 1, . . . , k sei A := (τ1, . . . , τk) ein Stutztupel, d.h. τi ∈ [ti−1, ti] fur i = 1, . . . , k. Durch

S(V, F,Z,A) :=k∑i=1

〈V (F (τi)), F (ti)− F (ti−1)〉

ist ein Naherungsausdruck fur das Kurvenintegral von V langsK gegeben. IstK rektifizierbar,so existiert fur jede Folge (Zk)k∈N von Zerlegungen mit δ(Zk) → 0 und jede zugehorige Folge(Ak)k∈N von Stutztupeln der Grenzwert

limk→∞

S(V, F,Zk,Ak) =:∫K〈V, dF 〉

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124 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

und ist unabhangig von den speziellen Wahlen. Man nennt diesen Grenzwert das Kur-venintegral des Vektorfeldes V langs der orientierten Kurve K. Ist spezieller F eine C1-Parametrisierung, so gilt ∫

K〈V, dF 〉 =

∫ b

a〈V F (t), F ′(t)〉 dt.

Anstatt obige Behauptungen zu beweisen, verwenden wir diese lediglich zur Motivation derfolgenden Begriffe.

Bisher haben wir Abbildungen und Transformationen der Klasse Cr, r ∈ N0 betrachtet.Ganz analog erklart man Abbildungen und Parametertransformationen, die stuckweise glattsind. Eine Abbildung F : [a, b] → Rn heißt hierbei stuckweise glatt, falls sie C0 ist und eineZerlegung Z : a = t0 < · · · < tk = b von [a, b] existiert, so daß F | [ti−1, ti] von der Klasse C1

ist fur i = 1, . . . , k.

Definition. Eine stuckweise glatte (orientierte) Kurve im Rn ist eine (orientierungstreue)Aquivalenzklasse von stuckweise glatten parametrisierten Kurven. Jede Parameterdarstellungder Klasse ist also stuckweise glatt.

Sei nun V : M → Rn ein stetiges Vektorfeld auf der offenen Menge M ⊂ Rn und K einestuckweise glatte, orientierte Kurve im Rn mit Spur(K) ⊂ M . Sei F : [a, b] → Rn einestuckweise glatte Parameterdarstellung von K. Dann hangt die Zahl∫

K〈V, dF 〉 :=

∫ b

a〈V (F (t)), F ′(t)〉 dt

nicht von der Wahl der Parameterdarstellung ab. Man bezeichnet∫K〈V, dF 〉

als das Kurvenintegral von V langs K.

Bemerkungen.

• Wahlunabhangigkeit. Seien F : [a, b] → Rn, F : [a, b] → Rn eine stuckweise glatte Pa-rametertransformation mit τ ′ > 0 fast uberall und F = F τ . Mit Hilfe der Kettenregelund der Substitutionsregel folgt also∫ b

a〈V F (t), F ′(t)〉 dt =

∫ b

a〈V F τ(t), F ′ τ(t)〉τ ′(t) dt

=∫ b

a〈V F (s), F ′(s)〉 ds.

• Umkehr der Orientierung. Ist K eine orientierte Kurve mit ParameterdarstellungF , so wird durch

τ : [a, b] → [a, b], t 7→ a+ b− t

und F ∗ := F τ die Parameterdarstellung einer orientierten Kurve K∗ gegeben, die nichtvon der Wahl von F abhangt. Man sagt, K∗ entsteht aus K durch Orientierungsumkehr.Es gilt ∫

K∗〈V, dF ∗〉 = −

∫K〈V, dF 〉.

• Bogenlangenparametrisierung. Ist die Parametrisierung F von K normiert durch‖F ′(t)‖ = 1, so ist F ′(s) Tangenteneinheitsvektor an K in F (s) und 〈V F (s), F ′(s)〉ist die tangentiale Komponente von V in F (s).

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3.1. KURVEN UND KURVENINTEGRALE 125

• Physikalische Interpretation. Das Integral∫K〈V, dF 〉 laßt sich als Arbeit des Kraft-

feldes V bei Verschiebung eines Punktes langs K interpretieren. Fur welche VektorfelderV hangt diese Arbeit nur vom Anfangs- und Endpunkt von K, sonst aber nicht von Kab? Die Beantwortung dieser Frage fuhrt zum Begriff des Potentials eines Vektorfeldes.

Im folgenden sei M ⊂ Rn stets ein Gebiet, d.h. offen und zusammenhangend. Folglich lassensich je zwei Punkte in M stets durch einen Polygonzug verbinden.

Definition. Sei M ⊂ Rn ein Gebiet und V : M → Rn ein stetiges Vektorfeld. Fur V sinddie Kurvenintegrale wegunabhangig, falls fur alle X,Y ∈ M und alle stuckweise glatten,orientierten Kurven K in M mit Anfangspunkt X und Endpunkt Y das Kurvenintegral∫

K〈V, dF 〉

denselben Wert hat.

Gleichwertig zur definierenden Eigenschaft ist offenbar, daß fur V das Kurvenintegral uberjede geschlossene, stuckweise glatte, orientierte Kurve in M Null ist (verschwindet).

Definition. Sei M ⊂ Rn ein Gebiet und V : M → Rn ein stetiges Vektorfeld. Dann heißtV Gradientenfeld (exakt), falls es eine stetig differenzierbare Funktion f : M → R gibt mitV = ∇f auf M . Man nennt f eine Stammfunktion oder ein Potential von V .

Offenbar unterscheiden sich je zwei Stammfunktionen f, g zu V nur um eine Konstante: aus∇f = ∇g = V folgtD(f−g) = 0 aufM , d.h. f−g ist lokal konstant. DaM zusammenhangendist, ist f − g konstant.

Der folgende Satz wurde in Analysis II als Lemma 9.4.2 angegeben.

Satz 3.1.2. Sei M ⊂ Rn ein Gebiet und V : M → Rn ein stetiges Vektorfeld. Die Kurven-integrale fur V sind genau dann wegunabhangig, wenn V ein Gradientenfeld ist. Ist f eineStammfunktion von V , so gilt ∫

K〈V, dF 〉 = f(Y )− f(X)

fur jede stuckweise glatte, orientierte Kurve K in M mit Anfangspunkt X und Endpunkt Y.

Beweis. Sei V ein Gradientenfeld, f eine Stammfunktion zu V . Sei F : [a, b] → Rn eineParameterdarstellung zu K. Dann gilt∫

K〈V, dF 〉 =

∫ b

a〈V F (t), F ′(t)〉 dt

=∫ b

a〈∇f(F (t)), F ′(t)〉 dt

=∫ b

a(f F )′(t) dt = f F (b)− f F (a)

= f(Y )− f(X).

Seien fur V die Kurvenintegrale wegunabhangig. Wahle X0 ∈ M . Zu X ∈ M sei K einestuckweise glatte Kurve in M mit Anfangspunkt X0 und Endpunkt X. Setze

f(X) :=∫K〈V, dF 〉.

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126 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Aufgrund der Wegunabhangigkeit ist f wohldefiniert. Seien nun zu X wieder K und Fgewahlt. Sei i ∈ 1, . . . , n und h > 0 so klein, daß X + tEi ∈M fur |t| ≤ h. Setze

F (t) :=F (t), t ∈ [a, b],X + (t− b)Ei, t ∈ [b, b+ h].

Dann ist F eine stuckweise glatte Parameterdarstellung einer orientierten Kurve K in M mitAnfangspunkt X0 und Endpunkt X + hEi. Also gilt

f(X + hEi)− f(X) =∫K〈V, dF 〉 −

∫K〈V, dF 〉

=∫ b+h

b〈V F (t), F ′(t)〉 dt

=∫ b+h

b〈V (X + (t− b)Ei, Ei)〉 dt,

und somit ∂if(X) = 〈V (X), Ei〉, d.h. ∇f = V .

Definition. Ein stetig differenzierbares Vektorfeld V : M → Rn heißt geschlossen (erfullt dieIntegrabilitatsbedingungen), falls

∂jvi = ∂ivj fur i, j = 1, . . . , n

auf M gilt, wobei V = (v1, . . . , vn).

Der nachste Satz entspricht Lemma 9.4.1 in Analysis II.

Proposition 3.1.3. Ist V : M → Rn ein stetig differenzierbares Gradientenfeld, dann ist Vgeschlossen. Ist also V exakt, dann ist V auch geschlossen.

Beweis. Nach Voraussetzung gibt es ein f : M → R der Klasse C1 mit V = ∇f . Da V stetigdifferenzierbar ist, ist f sogar zweimal stetig differenzierbar, d.h.

∂jvi = ∂j∂if = ∂i∂jf = ∂ivj ,

was zu zeigen war.

Unter geeigneten Voraussetzungen an M gilt von Proposition 3.1.3 auch die Umkehrung.

Definition. Die Menge M ⊂ Rn heißt sternformig, wenn es einX0 ∈M gibt, so daß [X0, Y ] ⊂M fur alle Y ∈M gilt.

Satz 3.1.4. Sei M ⊂ Rn offen und sternformig. Sei V : M → Rn ein stetig differenzierbares,geschlossenes Vektorfeld. Dann besitzt V eine Stammfunktion f , d.h. ∇f = V auf M .

Beweis. Analysis II, Kapitel 9, Satz 9.4.3 (Lemma von Poincare).

Beispiel. Ohne geeignete topologische Voraussetzung an das Gebiet M ist Satz 3.1.4 nichtrichtig. Betrachte etwa M = R2 \ 0 und

V (x, y) =(

−yx2 + y2

,x

x2 + y2

), (x, y) ∈M.

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3.1. KURVEN UND KURVENINTEGRALE 127

Dann gilt

∂2v1(x, y) =y2 − x2

(x2 + y2)2= ∂1v2(x, y),

die Kurvenintegrale sind aber nicht wegunabhangig, da etwa fur die durch

F : [0, 2π] → R2, t 7→ (cos t, sin t)

gegebene Parametrisierung einer orientierten Kurve K gilt∫K〈V, dF 〉 =

∫ 2π

0〈V F (t), F ′(t)〉 dt =

∫ 2π

01 dt = 2π 6= 0.

Das Vektorfeld V besitzt lokal ein Potential. Bis auf eine additive Konstante ist es gegebendurch

f(x, y) =

arctan yx , x 6= 0,

arccotxy , y 6= 0.

Es soll nun die Klasse der Mengen, fur welche die in Satz 3.1.4 entsprechende Aussage gilt,erweitert werden.

Definition. Sei M ein Gebiet, seien K0,K stuckweise glatte, orientierte Kurven in M von Xnach Y . Man sagt, die Kurve K0 sei innerhalb M stetig deformierbar in die Kurve K1, fallses eine stetige Abbildung F : [a, b]× [0, 1] →M gibt mit

(a) Fλ : [a, b] → Rn, Fλ(t) := F (t, λ) ist fur λ ∈ [0, 1] eine stuckweise glatte, parametrisierteKurve in M ;

(b) Fλ(a) = X, Fλ(b) = Y fur alle λ ∈ [0, 1];

(c) Fi ist Parameterdarstellung von Ki, i = 0, 1.

Man nennt F eine Deformationsschar von K0 in K1.

Definition. Ein Gebiet M ⊂ Rn heißt einfach zusammenhangend, wenn je zwei stuckweiseglatte, orientierte Kurven in M mit denselben Anfangs- und Endpunkten innerhalb M stetigineinander deformierbar sind.

Beispiel. Jede konvexe Menge und allgemeiner jede sternformige Menge ist einfach zusam-menhangend.

Wir erhalten nun den folgenden Hauptsatz uber Kurvenintegrale.

Satz 3.1.5. Sei M ⊂ Rn einfach zusammenhangend. Dann ist jedes stetig differenzierbare,geschlossene Vektorfeld V : M → Rn ein Gradientenfeld (exakt).

Beweis. Dies folgt sofort aus Satz 3.1.2, sobald die nachfolgende Proposition bewiesen ist.

Proposition 3.1.6 Sei M ⊂ Rn ein Gebiet und V : M → Rn ein stetig differenzierbares,geschlossenes Vektorfeld. Seien K0,K1 zwei stuckweise glatte, orientierte Kurven in M vonX nach Y . Sei K0 innerhalb M stetig deformierbar in K1. Dann gilt∫

K0

〈V, dF0〉 =∫K1

〈V, dF1〉.

Beweis. Sei F : [a, b] × [0, 1] → Rn eine Deformationsschar von K0 in K1. Die Menge A :=F ([a, b]× [0, 1]) ist kompakt. Da A ⊂M und M offen ist, gibt es ein ε > 0 mit U(A, ε) ⊂M .Ferner ist F gleichmaßig stetig. Es gibt also ein δ > 0 mit

‖F (t1, λ1)− F (t2, λ2)‖ < εfur t1, t2 ∈ [a, b], λ1, λ2 ∈ [0, 1]mit |t1 − t2| < δ, |λ1 − λ2| < δ.

(3.1.1)

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128 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Wahlea = t0 < t1 < · · · < tr = b mit tj − tj−1 < δ

und0 = λ0 < λ1 < · · · < λs = 1 mit λi − λi−1 < δ.

Fur j = 1, . . . , r, i = 0, . . . , s sei Ki die orientierte Kurve mit der Parameterdarstellung Fλi

und Kij die orientierte Kurve mit der Parameterdarstellung Fλi| [tj−1, tj ]. Ferner sei Sij die

wie ublich parametrisierte orientierte Kurve, deren Spur die Verbindungsstrecke von F (tj , λi)nach F (tj , λi+1) ist.

Fur festes i, j liegen die Kurven Si,j−1, Sij , Kij , Ki+1,j wegen (3.1.1) in U(F (tj−1, λi), ε) ⊂U(A, ε) ⊂ M . Innerhalb der Kugel U(F (tj−1, λi), ε) besitzt V ein Potential aufgrund vonSatz 3.1.4, dort sind Kurvenintegrale also wegunabhangig. In suggestiver Notation gilt alsofur i = 0, . . . , s− 1:∫

Ki

=r∑j=1

∫Kij

=r∑j=1

[∫Si,j−1

+∫Ki+1,j

−∫Sij

]=

r∑j=1

∫Ki+1,j

=∫Ki+1

,

wobei ∫Si0

=∫Sir

= 0

benutzt wurde. Hieraus folgt∫K0

=∫K0

=∫K1

= · · · =∫Ks

=∫K1

,

was zu beweisen war.

3.2 Flachen, Flachenintegrale und Integralsatze

In Analogie zur Untersuchung von Kurven sollen jetzt einige Bemerkungen zu Flachen undFlachenintegralen im R3 folgen. Ganz ahnlich konnte man auch (n−1)-Flachen (Hyperflachenim Rn) behandeln oder auch niederdimensionale Flachen im Rn. Dies verschieben wir aller-dings auf einen spatern Abschnitt.

Definition. Sei r ∈ N. Eine parametrisierte Flache der Klasse Cr im R3 ist eine AbbildungX : U → R3 der Klasse Cr und vom Rang 2, wobei U ⊂ R2 ein Gebiet ist.

Eine solche Abbildung ist lokal, i.a. aber nicht global injektiv, die Bildmenge X(U) kann sichalso selbst durchdringen. Die Menge U heißt Parametergebiet. Sind x1, x2, x3 die Koordina-tenfunktionen von X, so bedeutet die Rangbedingung, daß

JX :=

∂1x1 ∂2x1

∂1x2 ∂2x2

∂1x3 ∂2x3

= (∂1X ∂2X)

maximalen Rang (d.h. Rang 2) hat, d.h. X1 := ∂1X, X2 := ∂2X sind linear unabhangig,bzw. JX hat eine regulare 2× 2 Untermatrix. Der von X1(u), X2(u) fur u ∈ U aufgespannteUnterraum heißt der Tangentialraum der parametrisierten Flache in u ∈ U , die dazu paralleleEbene durch X(u) heißt Tangentialebene von X in u.

Schließlich wird der zum Tangentialraum orthogonale Einheitsvektor

N :=X1 ×X2

‖X1 ×X2‖

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3.2. FLACHEN, FLACHENINTEGRALE UND INTEGRALSATZE 129

als Normaleneinheitsvektor von X bezeichnet, d.h. N : U → S2 ⊂ R3. Wie ublich gilt

A×B := (a2b3 − a3b2, a3b1 − a1b3, a1b2 − a2b1)

fur A = (a1, a2, a3) und B = (b1, b2, b3).

Definition. Ein Diffeomorphismus τ : U → U (U,U ⊂ R2 Gebiete) der Klasse Cr mit uberallpositiver Funktionaldeterminante heißt Parametertransformation der Klasse Cr.

Zwei parametrisierte Flachen X : U → R3 und X : U → R3 der Klasse Cr heißen Cr-aquiva-lent, wenn es eine Parametertransformation τ : U → U der Klasse Cr mit X = X τ gibt.Hierdurch wird eine Aquivalenzrelation erklart.

Definition. Eine orientierte Flache der Klasse Cr im R3 ist eine Cr-Aquivalenzklassevon parametrisierten Flachen der Klasse Cr. Jeder Reprasentant einer Flache heißt eineParametrisierung.

Man kann den Inhalt einer Flache (Oberflache) durch Ableitung eines Parallelmengenvolu-mens oder durch ein Approximationsargument herleiten. Wir geben aus Zeitgrunden gleicheine Definiton an.

Definition. Der Flacheninhalt der Flache mit der Parameterdarstellung X : U → R3 derKlasse C1 ist

O(X) :=∫U|X1, X2, N | dλ2 =

∫U|X1(u), X2(u), N(u)|λ2(du).

Wir merken die folgenden Punkte an:

• Der Flacheninhalt ist von der speziellen Parametrisierung der Flache unabhangig.

• Aus der Linearen Algebra ist bekannt, daß einerseits

|X1, X2, N | = 〈X1 ×X2, N〉 = ‖X1 ×X2‖ > 0

gilt und andererseits

|X1, X2, N |2 = det

〈X1, X1〉 〈X2, X1〉 〈N,X1〉〈X1, X2〉 〈X2, X2〉 〈N,X2〉〈X1, N〉 〈X2, N〉 〈N,N〉

= 〈X1, X1〉〈X2, X2〉 − 〈X1, X2〉2.

Mit〈Xi, Xj〉 =: gi,j , i, j = 1, 2

ist alsoO(X) =

∫U

√g11g22 − g2

12 dλ2.

• Ist die Flache als Graph einer Funktion f der Klasse C1 gegeben, d.h. gilt X(u) =(u1, u2, f(u1, u2)) mit u = (u1, u2) ∈ U , so gilt

O(X) =∫U

√1 +

(∂f

∂u1

)2

+(∂f

∂u2

)2

dλ2.

• Fur eine stetige Funktion g, deren Definitionsbereich X(U) enthalt, wird das Ober-flachenintegral von g durch∫

Fg dO :=

∫Ug X|X1, X2, N | dλ2

erklart, wenn F eine Flache mit der Parametrisierung X ist.

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130 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

• Ein Beispiel fur eine haufig verwendete Funktion, die uber eine Flache F zu integrierenist, ist etwa die Normalkomponente 〈V,N〉 eines Vektorfeldes V . Hierbei ist das Vektor-feld auf F = X(U) erklart, dagegen ist N auf dem Parameterbereich U definiert. Mitdem Skalarprodukt 〈V,N〉 ist also eigentlich genauer die Funktion 〈V X,N〉 gemeint.Oder aber man betrachtet N , die Normale an die Flache selbst (falls dies moglich ist),und hat dann N X = N . Wegen

〈V X,N〉 =|X1, X2, V X||X1, X2, N |

erklart man ∫F〈V,N〉 dO :=

∫U|X1, X2, V X| dλ2.

Beispiel. DurchX(u, v) := (u, v, 2− u2 − v2), (u, v) ∈ U

mit U := (u, v) ∈ R2 : u2 + v2 < 2 wird ein Rotationsparaboloid mit der e3-Achse alsRotationsachse und Scheitelpunkt (0, 0, 2) parametrisiert. Dann gilt

X1(u, v) =

10−2u

, X2(u, v) =

01−2v

, X1(u, v)×X2(u, v) =

2u2v1

und damit ‖X1(u, v)×X2(u, v)‖ =

√1 + 4u2 + 4v2 fur (u, v) ∈ U . (Schneller geht es mit der

Formel fur die Oberflache eines Graphen.) Dies liefert mittels Einfuhrung von Polarkoordina-ten

O(X) =∫U

√1 + 4u2 + 4v2λ2(d(u, v))

=∫ 2π

0

∫ √2

0

√1 + 4r2 cos2 ϕ+ 4r2 sin2 ϕ r dr dϕ

=∫ 2π

0

∫ √2

0

√1 + 4r2 r dr dϕ =

5212π.

Mit g(x, y, z) := x2 + y2 berechnet man ferner∫Fg dO =

∫U(u2 + v2)

√1 + 4u2 + 4v2λ2(d(u, v))

=∫ √

2

0

∫ 2π

0(r2 cos2 ϕ+ r2 sin2 ϕ)

√1 + 4r2r dϕ dr

=14930

π.

Im weiteren Verlauf der Vorlesung soll die Integration auf allgemeineren Flachen behandeltwerden. Dabei ergeben sich wichtige Beziehungen zwischen Integralen uber eine Flache undIntegralen uber den Rand einer solchen Flache. In diesem Abschnitt geben wir ohne Beweisund teilweise ohne exakte Definitionen einige Spezialfalle solcher Beziehungen an, die sichspater schließlich alle als Sonderfalle des Satzes von Stokes ergeben werden. Insbesonderediskutieren wir auch erst spater, welche Bereiche tatsachlich zulassig sind.

Zunachst erklaren wir zwei Differentiationsprozesse fur Vektorfelder im R3. Sei M ⊂ R3 offenund V : M → R3 ein stetig differenzierbares Vektorfeld. Dann heißt

rotV : M → R3, rotV :=

∂2v3 − ∂3v2∂3v1 − ∂1v3∂1v2 − ∂2v1

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3.2. FLACHEN, FLACHENINTEGRALE UND INTEGRALSATZE 131

Rotation von V . Gilt rotV = 0, so heißt V wirbelfrei. Ferner heißt

div V : M → R, div V := ∂1v1 + ∂2v2 + ∂3v3

die Divergenz von V . Gilt div V = 0, so heißt V quellenfrei.

Man beachte, daß rotV = 0 gerade bedeutet, daß V die Integrabilitatsbedingungen erfullt,d.h. geschlossen ist. Ist M einfach zusammenhangend, so impliziert rotV = 0 die Existenzeines Potentials fur V , d.h. V = ∇f fur eine Funktion f .

Ist M sternformig und gilt div V = 0, so besitzt V ein Vektorpotential A, d.h. V = rotAfur ein Vektorfeld A. Dieses ist bis auf ein Gradientenfeld eindeutig bestimmt. Ist etwa Msternformig bezuglich 0, so kann man mit

U(X) :=∫ 1

0V (tX)t dt

definierenA(X) := U(X)×X, X ∈M.

Ist f : M → R, so kann man ∇f als Vektorfeld in R3 auffassen oder auch als 1-Form

ω = ∂1f dx1 + ∂2f dx

2 + ∂3f dx3.

Ist schließlich V ein Vektorfeld bzw. eine 1-Form

ω = v1 dx1 + v2 dx

2 + v3 dx3,

so kann man rotV durch einen auf ω angewandten Differentiationsprozeß erhalten, der aus ωdie 2-Form

dω = ∂2v1 dx2 ∧ dx1 + ∂3v1 dx

3 ∧ dx1

+∂1v2 dx1 ∧ dx2 + ∂3v2 dx

3 ∧ dx2

+∂1v3 dx1 ∧ dx3 + ∂2v3 dx

2 ∧ dx3

= (∂2v3 − ∂3v2) dx2 ∧ dx3 + (∂3v1 − ∂1v3) dx1 ∧ dx3

+(∂1v2 − ∂2v1) dx1 ∧ dx2

macht. Ein Ziel der folgenden Abschnitte wird es insbesondere sein, die hier verwendetenDifferentialformen prazise einzufuhren, und fur die Integration zu nutzen. Die nachfolgendenIntegralsatze lassen sich mit Hilfe von Differentialformen namlich sehr einfach und einheitlichformulieren.

(1) Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung.

Sei I ⊂ R ein Intervall mit I = [a, b] und f : I → R stetig differenzierbar. Dann gilt∫If ′(t) dt = f(b)− f(a) =

∫∂If(t).

Links steht das Integral der Ableitung einer Funktion uber ein Intervall, rechts das Integralder Funktion uber den Rand der Menge, wobei der Rand richtig zu orientieren ist. Eineentsprechende Aussage hatten wir fur das Kurvenintegral eines Gradientenfeldes erhalten:∫

K〈∇f, dX〉 = f(E)− f(A).

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132 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

(2) Integralsatze im R2.

Sei G ⊂ R2 offen und von einer zusammenhangenden Randkurve glatt berandet. Sei V : R2 →R2 ein glattes Vektorfeld. Dann gilt mit div V = ∂1v1 + ∂2v2 die Gleichung∫

Gdiv V =

∫∂G〈V,N〉 ds. (3.2.2)

Im rechten Randintegral sei die Randkurve durch die Bogenlange parametrisiert, d.h. F :[0, L] → R2 sei eine stuckweise glatte Parametrisierung von ∂G mit ‖F ′(s)‖ = 1 fur s ∈ [0, L],F (0) = F (L), wobei F | [0, L) injektiv ist. Dann ist∫

∂G〈V,N〉 ds =

∫ L

0〈V V (s), N(s)〉 ds,

wobei N(s) der außere Normaleneinheitsvektor von G im Randpunkt F (s) von G ist. Mannennt (3.2.2) den Integralsatz von Gauß (Divergenzsatz, Satz von Green) in der Ebene. Mankann (3.2.2) auch umformulieren. Sei hierzu W = (w1, w2) ein glattes Vektorfeld in R2. Danngilt ∫

G(∂1w2 − ∂2w1) dλ2 =

∫∂G〈W,dX〉,

wobei die Orientierung der parametrisierten Randkurve X auf der rechten Seite so zuwahlen ist, daß der außere Normalenvektor N(s) in X(s) und X ′(s), d.h. genauer das Paar(N(s), X ′(s)) stets eine positiv orientierte Basis bilden. Man nennt ∂1w2 − ∂2w1 auch diespezifische Zirkulation (Rotation, Wirbeldichte) des Vektorfeldes W .

Beispiel. Sei G := (x, y) ∈ R2 : x2 + y2 ≤ 1 und

W (x, y) := (x4 − y3, x3 − y4), (x, y) ∈ R2.

Um ∫∂G〈W,dX〉 =

∫∂G(x4 − y3) dx+ (x3 − y4) dy (3.2.3)

zu berechnen, kann man den Satz von Green anwenden und stattdessen berechnen∫G(3x2 + 3y2)λ2(d(x, y)) = 3

∫ 1

0

∫ 2π

0r2r dϕ dr =

3π2.

Eine direkte Berechnung von (3.2.3) ist zwar auch moglich, abe etwas aufwendiger.

(3) Der Satz von Gauß im R3.

Hier liegt ein orientierter, glatt berandeter Bereich G mit geeignet orientiertem Rand ∂Gzugrunde. Ferner sei V = (v1, v2, v3) ein glattes Vektorfeld im R3. Dann gilt∫

Gdiv V dλ3 =

∫∂G〈V,N〉 dO,

wobei die Randflache X so zu orientieren ist, daß N = (X1 ×X2)/‖X1 ×X2‖ in das Außerevon G zeigt.

Beispiel. Sei G die obere Halbkugel

G := (x, y, z) ∈ R3 : x2 + y2 ≤ 1, 0 ≤ z ≤√

1− x2 − y2

undV (x, y, z) := (xz2, x2y − z3, 2xy + y2z).

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3.2. FLACHEN, FLACHENINTEGRALE UND INTEGRALSATZE 133

Um (das in unserem Sinn eigentlich gar nicht erklarte Integral)∫∂G〈V,N〉 dO

zu berechnen, kann man∫G divV dλ3 berechnen und den Satz von Gauß verwenden. Dieser

ist hier tatsachlich anwendbar, auch wenn ∂G nicht glatt ist. Man erhalt so∫G

div V dλ3 =∫G(z2 + x2 + y2)λ3(d(x, y, z)) =

25π,

wie man durch Einfuhren von Polarkoordinaten bestatigt.

(4) Der Satz von Stokes fur Flachen im R3.

Jetzt sei S eine Flache im R3. Genauer sei U ⊂ R2 ein Gebiet und X : U → R3 eineparametrisierte Flache der Klasse C1. Sei G ein Gebiet mit G ∪ ∂G ⊂ U . Sei ∂G die Spureiner einfach geschlossenen parametrisierten Kurve F der Klasse C1, die so orientiert sei, daß(N , F ′) positiv orientiert ist, wobei N der außere Normalenvektor von G im entsprechendenRandpunkt sei. Dann ist F := X F eine Parametrisierung einer orientierten Kurve K derKlasse C1 im R3. Der Satz von Stokes im R3 ergibt nun∫

S〈rotV,N〉 dO =

∫K〈V, dF 〉,

wobei S die durch X | G parametrisierte Flache und N deren Normalenvektor ist, d.h. wirhaben N = (X1 ×X2)/‖X1 ×X2‖.

Beispiel. Sei S die obere Hemisphare vom Radius 2, d.h.

U := (x, y) ∈ R2 : x2 + y2 < 4

undX(u, v) :=

(u, v,

√4− u2 − v2

), (u, v) ∈ U.

Man erhalt fur V (x, y, z) := (−y, x, 1) sofort

rotV (x, y, z) = (0, 0, 2).

Ferner gilt

N(u, v) =

(−∂x3

∂u ,−∂x3∂v , 1

)√

1 +(∂x3∂u

)2+(∂x3∂v

)2,

also

〈rotV,N〉 = 2

(1 +

(∂x3

∂u

)2

+(∂x3

∂v

)2)− 1

2

.

Es folgt daher ∫S〈rotV,N〉 dO =

∫U

2dλ2 = 8π.

Andererseits berechnet man auch direkt:

F (ϕ) = (2 cosϕ, 2 sinϕ),

d.h.F (ϕ) = X F (ϕ) = (2 cosϕ, 2 sinϕ, 0)

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134 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

und damit ∫K〈V, dF 〉 =

∫ 2π

0

⟨V F (ϕ), F ′(ϕ)

⟩dϕ

=∫ 2π

0〈

−2 sinϕ2 cosϕ

1

,

−2 sinϕ2 cosϕ

0

〉 dϕ=

∫ 2π

04 dϕ = 8π,

was die Aussage des Satzes von Stokes im betrachteten Beispiel bestatigt.

Der Satz von Stokes in einer allgemeinen Fassung laßt sich in der knappen Form∫Gdω =

∫∂Gω

ausdrucken, wobei G eine (k + 1)-dimensionale orientierte Untermannigfaltigkeit des Rn mitgeeignet orientierter Randmannigfaltigkeit ∂G ist. Ferner ist ω eine Differentialform vomGrad k und dω deren außeres Differential. Der Satz von Stokes druckt also einen bemerkens-werten globalen Zusammenhang zwischen Analysis (außere Ableitung von ω) und Topologie(Randbildung von G) aus. Das genauere Verstandnis des Satzes von Stokes setzt eine Reihevon Vorbereitungen voraus. Die fur die Formulierung des Satzes erforderlichen Begriffe wieDifferentialformen aus der multilinearen Algebra mussen zunachst eingefuhrt und der Zu-sammenhang mit der Integration hergestellt werden. Dann laßt sich eine erste Version desSatzes von Stokes behandeln. Um schließlich die vorgestellte allgemeine Fassung zu erhalten,mussen weitere Begriffe (Untermannigfaltigkeiten, Orientierung), Konzepte (Integration aufUntermannigfaltigkeiten) und Methoden (Zerlegung der Eins) entwickelt werden.20.01.2004

3.3 Multilineare Algebra

In diesem Abschnitt sind V,W stets endlich-dimensionale reelle Vektorraume. Fur p ∈ Nsei V p := V × · · · × V das p-fache kartesische Produkt von V . Schließlich sei V ∗ der dualeVektorraum der Linearformen auf V . Wir werden Tensoren und alternierende Tensoren aufelementarem Weg einfuhren und die Bildung von Restklassen sowie die Verwendung univer-seller Eigenschaften vermeiden.

Definition. Ein p-Tensor uber V ist eine multilineare Abbildung T : V p → R. Die MengeT p(V ) aller p-Tensoren uber V ist mit den Operationen

(S + T )(v1, . . . , vp) := S(v1, . . . , vp) + T (v1, . . . , vp)

(λS)(v1, . . . , vp) := λS(v1, . . . , vp)

fur v1, . . . , vp ∈ V ein reeller Vektorraum. Wir setzen T 0(V ) := R.

Die aufgestellten Behauptungen gelten offensichtlich. Ferner ist V ∗ = T 1(V ).

Eine wichtige Verknupfung von Tensoren ist gegeben durch das Tensorprodukt.

Definition. Fur S ∈ T p(V ), T ∈ T q(V ) ist das Tensorprodukt S ⊗ T erklart durch

(S ⊗ T )(v1, . . . , vp, vp+1, . . . , vp+q) := S(v1, . . . , vp)T (vp+1, . . . , vp+q)

fur v1, . . . , vp+q ∈ V . Es gilt S ⊗ T ∈ T p+q(V ) (leicht!).

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3.3. MULTILINEARE ALGEBRA 135

Satz 3.3.1. Fur S, Si ∈ T p(V ), T, Ti ∈ T q(V ), U ∈ T r(V ) und λ ∈ R gilt

(a) (S1 + S2)⊗ T = S1 ⊗ T + S2 ⊗ T ,

(b) S ⊗ (T1 + T2) = S ⊗ T1 + S ⊗ T2,

(c) (λS)⊗ T = S ⊗ (λT ) = λ(S ⊗ T ),

(d) (S ⊗ T )⊗ U = S ⊗ (T ⊗ U).

Wegen (d) konnen wirS ⊗ T ⊗ U := (S ⊗ T )⊗ U

erklaren.

In der linearen Algebra erklart man zu einer linearen Abbildung f : V →W die duale lineareAbbildung f∗ : W ∗ → V ∗. Dies wird jetzt verallgemeinert.

Definition. Sei f : V → W eine lineare Abbildung. Die Abbildung f∗ : T p(W ) → T p(V )werde definiert durch

(f∗T )(v1, . . . , vp) := T (f(v1), . . . , f(vp))

fur v1, . . . , vp ∈ V und T ∈ T p(W ). Die Abbildung f∗ ist linear (leicht!).

Man beachte, daß f∗ eigentlich von p abhangt.

Definition. Ein p-Tensor ω ∈ T p(V ) (p ≥ 2) heißt alternierend, wenn

ω(v1, . . . , vi, . . . , vj , . . . , vp) = −ω(v1, . . . , vj , . . . , vi, . . . , vp) fur i 6= j

und v1, . . . , vp ∈ V gilt. Sei Ωp(V ) die Menge aller alternierenden p-Tensoren; sei fernerΩ0(V ) := R und Ω1(V ) := T 1(V ). Dann ist Ωp(V ) ein linearer Unterraum von T p(V ); seineElemente heißen auch p-Kovektoren uber V .

Beispiel. Inst n := dim(V ), so ist det ∈ Ωn(V ).

Sei Sp die Gruppe der Permutationen (Bijektionen) von 1, . . . , p. Sie hat p! Elemente. Mit(i, j) ∈ Sp wird die Permutation bezeichnet, die i und j vertauscht und die ubrigen Elementefest laßt. Jede solche Permutation heißt Transposition. Jedes σ ∈ Sp (p > 1) laßt sich als Pro-dukt von Transpositionen schreiben. Ob die Anzahl der dabei verwendeten Transpositionengerade oder ungerade ist, hangt nur von σ ab. Im geraden Fall nennt man σ gerade und setztsgn(σ) = 1, im ungeraden Fall heißt σ ungerade und man setzt sgn(σ) = −1. Die Abbildungsgn ist ein Gruppenhomomorphismus von (Sp, ) nach (−1, 1, ·).

Definition. Fur T ∈ T p(V ) sei

Alt(T )(v1, . . . , vp) :=1p!

∑σ∈Sp

sgn(σ)T (vσ(1), . . . , vσ(p))

fur v1, . . . , vp ∈ V .

Satz 3.3.2. Die Abbildung Alt: T p(V ) → Ωp(V ) ist eine lineare Projektionsabbildung, d.h.

(a) T ∈ T p(V ) ⇒ Alt(T ) ∈ Ωp(V );

(b) ω ∈ Ωp(V ) ⇒ Alt(ω) = ω.

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136 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. Die Linearitat ist offensichtlich gegeben.

(a) Sei i 6= j (fest), (i, j) ∈ Sp die zugehorige Transposition und σ′ := σ (i, j) fur σ ∈ Sp.Dann ist

Alt(T )(v1, . . . , vj , . . . , vi, . . . , vp)

=1p!

∑σ∈Sp

sgn(σ)T (vσ(1), . . . , vσ(j), . . . , vσ(i), . . . , vσ(p))

=1p!

∑σ∈Sp

sgn(σ)T (vσ′(1), . . . , vσ′(i), . . . , vσ′(j), . . . , vσ′(p))

=1p!

∑σ∈Sp

−sgn(σ′)T (vσ′(1), . . . , vσ′(i), . . . , vσ′(j), . . . , vσ′(p))

= −Alt(T )(v1, . . . , vi, . . . , vj , . . . , vp).

(b) Fur ω ∈ Ωp(V ) und σ = (i, j) gilt

ω(vσ(1), . . . , vσ(p)) = −ω(v1, . . . , vp) = sgn(σ)ω(v1, . . . , vp).

Da jede Permutation Produkt von Transpositionen ist und da sgn multiplikativ ist, gilt dieseGleichung fur jede Permutation σ. Also ist

Alt(ω)(v1, . . . , vp) =1p!

∑σ∈Sp

sgn(σ)ω(vσ(1), . . . , vσ(p))

=1p!

∑σ∈Sp

1

ω(v1, . . . , vp) = ω(v1, . . . , vp).

Jetzt wird die Bildung des Tensorprodukts mit der Alt-Operation verknupft. Man beachte,daß i.a. ω ⊗ η /∈ Ωp+q(V ) fur ω ∈ Ωp(V ), η ∈ Ωq(V ). Daher wendet man noch einmal denAlt-Operator an und normiert geeignet, um auf diesem Weg wieder zu einem alternierendenTensor zu gelangen.

Definition. Fur ω ∈ Ωp(V ), η ∈ Ωq(V ) ist das alternierende (oder außere) Produkt ω ∧ ηerklart durch

ω ∧ η :=(p+ q)!p!q!

Alt(ω ⊗ η).

Es gilt ω ∧ η ∈ Ωp+q(V ).

Als nachstes halten wir die wichtigsten Eigenschaften des alternierenden Produktes fest.

Satz 3.3.3. Fur ω, ωi ∈ Ωp(V ), η, ηi ∈ Ωq(V ), λ ∈ R und fur eine lineare Abbildung f : W →V gilt

(a) (ω1 + ω2) ∧ η = ω1 ∧ η + ω2 ∧ η,

(b) ω ∧ (η1 + η2) = ω ∧ η1 + ω ∧ η2,

(c) (λω) ∧ η = ω ∧ (λη) = λ(ω ∧ η),

(d) ω ∧ η = (−1)pqη ∧ ω,

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3.3. MULTILINEARE ALGEBRA 137

(e) f∗(ω ∧ η) = f∗(ω) ∧ f∗(η).

Beweis. Die Aussagen (a), (b), (c) und (e) folgen leicht, der Nachweis zu (d) ist eineUbungsaufgabe.

Fur das alternierende Produkt von drei Kovektoren gilt auch das Assoziativgesetz. Der Nach-weis erfordert eine Vorbereitung.

Lemma 3.3.4. Es gilt:

(a) Fur S ∈ T p(V ), T ∈ T q(V ) mit Alt(S) = 0 ist

Alt(S ⊗ T ) = Alt(T ⊗ S) = 0.

(b) Fur ω ∈ Ωp(V ), η ∈ Ωq(V ), θ ∈ Ωr(V ) ist

Alt(Alt(ω ⊗ η)⊗ θ) = Alt(ω ⊗ η ⊗ θ) = Alt(ω ⊗Alt(η ⊗ θ)).

Beweis. (a) Sei G ⊂ Sp+q die Untergruppe aller Permutationen von 1, . . . , p + q, die p +1, . . . , p+ q fest lassen. Fur τ ∈ Sp+q ist dann τG eine Linksnebenklasse und LNK := τG :τ ∈ Sp+q ist die Menge aller Linksnebenklassen von G. Setze vτ(i) =: wi fur i = 1, . . . , p+ qund ein fest gewahltes τ ∈ G. Dann gilt∑

σ∈τGsgn(σ)S(vσ(1), . . . , vσ(p))T (vσ(p+1), . . . , vσ(p+q))

=∑σ′∈G

sgn(τ σ′)S(vτ(σ′(1)), . . . , vτ(σ′(p)))T (vτ(σ′(p+1)), . . . , vτ(σ′(p+q)))

= sgn(τ)

(∑σ′∈G

sgn(σ′)S(wσ′(1), . . . , wσ′(p))

)T (wp+1, . . . , wp+q)

= sgn(τ)(p!Alt(S)(w1, . . . , wp))T (wp+1, . . . , wp+q)

= 0.

Da die Linksnebenklassen von G eine disjunkte Zerlegung von Sp+q bilden, folgt

(p+ q)!Alt(S ⊗ T )(v1, . . . , vp+q)

=∑

σ∈Sp+q

sgn(σ)S(vσ(1), . . . , vσ(p))T (vσ(p+1), . . . , vσ(p+q))

=∑

τG∈LNK

∑σ∈τG

sgn(σ)S(vσ(1), . . . , vσ(p))T (vσ(p+1), . . . , vσ(p+q))

= 0.

Analog folgt Alt(T ⊗ S) = 0.

(b) Es ist

Alt(Alt(ω ⊗ η)⊗ θ)−Alt(ω ⊗ η ⊗ θ)

= Alt(Alt(ω ⊗ η)⊗ θ − (ω ⊗ η)⊗ θ)

= Alt([Alt(ω ⊗ η)− ω ⊗ η]⊗ θ)

= 0

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138 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

nach (a), da Alt(Alt(ω ⊗ η)− (ω ⊗ η)) = 0 ist.

Satz 3.3.5. Fur ω ∈ Ωp(V ), η ∈ Ωq(V ), θ ∈ Ωr(V ) gilt

(ω ∧ η) ∧ θ = ω ∧ (η ∧ θ).

Beweis. Es gilt

(ω ∧ η) ∧ θ =(p+ q + r)!(p+ q)!r!

Alt((ω ∧ η)⊗ θ)

=(p+ q + r)!(p+ q)!r!

Alt(

(p+ q)!p!q!

Alt(ω ⊗ η)⊗ θ

)=

(p+ q + r)!p!q!r!

Alt(ω ⊗ η ⊗ θ),

wobei Lemma 3.3.4 (b) verwendet wurde. Fur die rechte Seite der behaupteten Gleichungerhalt man denselben Ausdruck.

In der Folge konnen wir somit

ω ∧ η ∧ θ := (ω ∧ η) ∧ θ = ω ∧ (η ∧ θ)

setzen und Klammern weglassen. Die im Beweis gewonnene Gleichung

ω ∧ η ∧ θ =(p+ q + r)!

p!q!r!Alt(ω ⊗ η ⊗ θ)

ubertragt sich sofort auf mehr als drei Faktoren. Insbesondere gilt fur ω1, . . . , ωp ∈ Ω1(V ) =V ∗ die Gleichung

Alt(ω1 ⊗ · · · ⊗ ωp) =1p!ω1 ∧ · · · ∧ ωp.

Voraussetzung. Nachfolgend schreiben wir n fur die Dimension des Vektorraums V .

Zur Erinnerung. Sei (e1, . . . , en) eine Basis von V . Definiere ϕi ∈ V ∗ durch

ϕi(ej) := δij =

1, fur i = j,0, fur i 6= j

fur i, j = 1, . . . , n und lineare Erweiterung, d.h.

ϕi

n∑j=1

ajej

=n∑j=1

ajϕi(ej) = ai.

Dann ist (ϕ1, . . . , ϕn) eine Basis des Dualraumes V ∗. Sie heißt die zu (e1, . . . , en) duale Basis.Fur f ∈ V ∗ und v =

∑ni=1 aiei ∈ V gilt

f(v) = f

(n∑i=1

aiei

)=

n∑i=1

aif(ei) =n∑i=1

f(ei)ϕi(v) =

(n∑i=1

f(ei)ϕi

)(v).

Also ist

f =n∑i=1

f(ei)ϕi,

was man auch einfach durch Einsetzen von e1, . . . , en bestatigen kann.

Wir verallgemeinern nun diese Vorgehensweise, um eine Basis von Ωp(V ) anzugeben.

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3.3. MULTILINEARE ALGEBRA 139

Satz 3.3.6. Sei (e1, . . . , en) eine Basis von V und (ϕ1, . . . , ϕn) die hierzu duale Basis vonV ∗. Dann ist die Menge

B := ϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip : 1 ≤ i1 < · · · < ip ≤ n

eine Basis von Ωp(V ); sie heißt die Standardbasis von Ωp(V ) bezuglich (e1, . . . , en). Insbeson-dere gilt

dim Ωp(V ) =(n

p

).

Beweis. Sei zunachst T ∈ T p(V ). Sei v1, . . . , vp ∈ V und

vi =n∑j=1

aijej , i = 1, . . . , p.

Dann gilt

T (v1, . . . , vp) = T

n∑i1=1

a1i1ei1 , . . . ,

n∑ip=1

apipeip

=

n∑i1,...,ip=1

a1i1 · · · apipT (ei1 , . . . , eip).

Nun istϕi1 ⊗ · · · ⊗ ϕip(v1, . . . , vp) = ϕi1(v1) · · ·ϕip(vp) = a1i1 · · · apip ,

also

T =n∑

i1,...,ip=1

T (ei1 , . . . , eip)ϕi1 ⊗ · · · ⊗ ϕip .

Jetzt sei speziell T = ω ∈ Ωp(V ). Dann erhalt man

ω = Alt(ω) =n∑

i1,...,ip=1

ω(ei1 , . . . , eip)Alt(ϕi1 ⊗ · · · ⊗ ϕip)

=1p!

n∑i1,...,ip=1

ω(ei1 , . . . , eip)ϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip .

Fur σ ∈ Sp giltϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip = sgn(σ)ϕiσ(1)

∧ · · · ∧ ϕiσ(p)

sowieω(ei1 , . . . , eip) = sgn(σ)ω(eiσ(1)

, . . . , eiσ(p)).

Die zweite Gleichung haben wir schon gezeigt, die erste folgt analog durch wiederholte An-wendung von Satz 3.3.3 (d) auf 1-Kovektoren. Insbesondere ist

ω(ei1 , . . . , eip) = 0 und ϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip = 0,

falls zwei der Indizes i1, . . . , ip gleich sind. Man erhalt somit

ω =∑

1≤j1<···<jp≤nω(ej1 , . . . , ejp)ϕj1 ∧ · · · ∧ ϕjp .

Dies zeigt, daß B ein Erzeugendensystem ist. Sei nun eine Linearkombination∑1≤i1<···<ip≤n

ai1...ipϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip = 0

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140 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

gegeben. Sei 1 ≤ j1 < · · · < jp ≤ n. Dann ist

ϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip(ej1 , . . . , ejp) = p!Alt(ϕi1 ⊗ · · · ⊗ ϕip)(ej1 , . . . , ejp)

=∑σ∈Sp

sgn(σ)ϕi1(ejσ(1)) · · ·ϕip(ejσ(p)

).

Hier ist

ϕi1(ejσ(1)) · · ·ϕip(ejσ(p)

) =

1, falls i1 = jσ(1), . . . , ip = jσ(p)

0, sonst

=

1, falls i1 = j1, . . . , ip = jp, σ = id0, sonst,

da die Indizes der Große nach geordnet sind. Es folgt

0 =∑

1≤i1<···<ip≤nai1...ipϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip(ej1 , . . . , ejp) = aj1...jp .

Dies zeigt die lineare Unabhangigkeit von B.

Aus Satz 3.3.6 folgt insbesondere

Ωp(V ) = 0 fur p > n

unddim Ωn(V ) = 1.

Satz 3.3.7. Sei (e1, . . . , en) eine Basis von V, sei ω ∈ Ωn(V ) und sei vi =∑n

j=1 aijej furi = 1, . . . , n. Dann ist

ω(v1, . . . , vn) = det(aij)ni,j=1ω(e1, . . . , en).

Beweis. Fur vi =∑n

j=1 aijej , i = 1, . . . , n definiere

η(v1, . . . , vn) := det(aij)ni,j=1.

Dann gilt η ∈ Ωn(V ). Wegen dim Ωn(V ) = 1 ist ω = λη mit einem λ ∈ R. Ferner gilt

ω(e1, . . . , en) = λη(e1, . . . , en) = λ.

Bezeichnung. Im folgenden verwenden wir gelegentlich die Abkurzung∑1≤i1<···<ip≤n

ai1...ipϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip =:∑I∈Mn

p

aIϕI .

Dabei durchlauft der Multi-Index I die Menge

Mnp := (i1, . . . , ip) ∈ 1, . . . , np : 1 ≤ i1 < · · · < ip ≤ n.

Insbesondere seiϕI := ϕi1 ∧ · · · ∧ ϕip

fur I = (i1, . . . , ip).22.01.2004

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3.4. DIFFERENTIALFORMEN 141

3.4 Differentialformen

In diesem Abschitt betrachten wir Funktionen, deren Werte alternierende Tensoren sind.

Definition. Sei M ⊂ Rn und p ∈ N0. Eine Differentialform vom Grad p (eine p-Form) aufM ist eine Abbildung von M in Ωp(Rn).

Eine Differentialform vom Grad 0 ist also einfach eine reellwertige Funktion. Ist ω eine p-Form auf M , so ist ω(X) ∈ Ωp(Rn) fur jedes X ∈ Rn ein p-Kovektor uber Rn. AlgebraischeOperationen werden nun wieder punktweise erklart.

Definition. Seien ωi, ω, η Differentialformen auf M (ω1, ω2 vom selben Grad), sei f : M → Reine Funktion. Dann werden die Differentialformen ω1 + ω2, fω und ω ∧ η erklart durch

(ω1 + ω2)(X) := ω1(X) + ω2(X),

(fω)(X) := f(X)ω(X) =: (f ∧ ω)(X),

(ω ∧ η)(X) := ω(X) ∧ η(X).

Beispiel.

• Sei f : M → R eine differenzierbare Funktion und M ⊂ Rn offen. Fur X ∈ M ist dasDifferential DfX : Rn → R eine lineare Abbildung mit

limH→0

f(X +H)− f(X)−DfX(H)‖H‖

= 0.

Fur das Differential einer reellwertigen Funktionen schreiben wir kunftig dfX statt DfX .Insbesondere gilt also dfX ∈ Ω1(Rn) = T 1(Rn) fur X ∈ M . Das Differential df von f ,d.h. die Abbildung

df : M → Ω1(Rn), X 7→ dfX

ist eine Differentialform vom Grad 1 auf M .

• Eine spezielle differenzierbare Abbildung auf Rn ist die Projektionsabbildung

pi : Rn → R, (x1, . . . , xn) 7→ xi,

wobei i ∈ 1, . . . , n. Anstelle von dpi schreiben wir pragnanter dxi, i = 1, . . . , n. Diessind also sehr spezielle Differentialformen vom Grad 1 mit

(dxi)X = pi fur X ∈ Rn

und(dxi)X(Ej) = δij ,

wenn (E1, . . . , En) die Standard-Orthonormalbasis des Rn ist. Insbesondere ist also((dx1)X , . . . , (dxn)X) die zu (E1, . . . , En) duale Basis, und zwar fur alle X ∈ Rn. AusSatz 3.3.6 erhalten wir folglich zu jedem X ∈ Rn eine Basis von Ωp(Rn) und konnen ωXfur eine gegebene p-Form ω in dieser Basis ausdrucken.

Definition. Sei ω eine Differentialform vom Grad p auf M . Dann gibt es Funktionen ai1...ip :M → R fur 1 ≤ i1 < · · · < ip ≤ n, die Koordinatenfunktionen von ω, mit

ωX =∑

1≤i1<···<ip≤nai1...ip(X)(dxi1)X ∧ · · · ∧ (dxip)X , X ∈M,

abgekurztω =

∑1≤i1<···<ip≤n

ai1...ipdxi1 ∧ · · · ∧ dxip =

∑I∈Mn

p

aIdxI . (3.4.4)

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142 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Ist M offen, so heißt die Form ω von der Klasse Cr (mit r ∈ N0), wenn ihre Koordinaten-funktionen von der Klasse Cr sind.

Bemerkungen.

• Gilt (3.4.4), so kann man die Koordinatenfunktion von ω ausdrucken in der Form

ai1...ip(X) = ωX(Ei1 , . . . , Eip).

• Fur eine differenzierbare Funktion f : M → R erhalt man insbesondere

df =n∑i=1

df(Ei)dxi =n∑i=1

(∂if)dxi.

Wir hatten fur eine lineare Abbildung L : V → W und p ∈ N die duale Abbildung L∗ :T p(W ) → T p(V ) erklart durch

(L∗T )(v1, . . . , vp) := T (Lv1, . . . , Lvp), T ∈ T p(W ), vi ∈ V.

Fur p = 0 ist L∗ sinngemaß als die Identitat auf R erklart. Nun sei M ⊂ Rn offen undF : M → Rk eine differenzierbare Abbildung. Fur jedes X ∈ M ist dann DFX : Rn → Rk

eine lineare Abbildung. Somit ist fur p ∈ N auch

(DFX)∗ : Ωp(Rk) → Ωp(Rn)

eine lineare Abbildung. Daß (DFX)∗(T ) fur T ∈ Ωp(Rk) ein alternierender Tensor ist, folgtdirekt aus der Definition. Wir konnen auf diese Weise jeder p-Form auf F (M) eine p-Formauf M zuordnen.

Definition. Sei M ⊂ Rn offen und F : M → Rk eine differenzierbare Abbildung. Fur einep-Form ω auf F (M) ist die p-Form F ∗ω auf M erklart durch

(F ∗ω)X := (DFX)∗ωF (X), X ∈M.

Man sagt, F ∗ω entstehe aus ω durch Zuruckholen mittels F .

Speziell fur p = 0 bedeutet dies, daß

F ∗ω = ω F

gilt, da (DFX)∗ fur p = 0 die Identitat auf R ist.

Wir halten einige Rechenregeln fest.

Satz 3.4.1. Sei M ⊂ Rn offen und F : M → Rk eine differenzierbare Abbildung mit F =(f1, . . . , fk). Sei dyi das i-te Koordinatendifferential auf Rk. Dann gilt fur p-Formen ωi, ω,Funktionen g und q-Formen η, die jeweils auf F (M) erklart sind,

(a) F ∗dyi = dfi, i = 1, . . . , k,

(b) F ∗(ω1 + ω2) = F ∗ω1 + F ∗ω2,

(c) F ∗(gω) = g F F ∗(ω),

(d) F ∗(ω ∧ η) = F ∗ω ∧ F ∗η.

(e) Ist N ⊂ Rk offen, F (M) ⊂ N und G : N → Rm differenzierbar, dann gilt jede p-Formω auf G F (M)

(G F )∗ω = F ∗G∗ω.

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3.4. DIFFERENTIALFORMEN 143

Beweis. Sei X ∈ Rn, H ∈ Rn und (E′1, . . . , E

′k) die Standardbasis des Rk. Dann gilt

(F ∗dyi)X(H) = (DFX)∗(dyi)F (X)(H)

= (dyi)F (X)(DFX(H))

= (dyi)F (X)

k∑j=1

(Dfj)X(H)E′j

= (dfi)X(H).

(b) und (c) gelten nach Definition, (d) folgt aus Satz 3.3.3 (e).

(e) folgt aus

((G F )∗ω)X = (D(G F )X)∗ωGF (X)

= (DGF (X) DFX)∗ωG(F (X))

= (DFX)∗((DGF (X))

∗ωG(F (X))

)= (DFX)∗

((G∗ω)F (X)

)= (F ∗(G∗ω))X = (F ∗G∗ω)X .

Wir kombinieren jetzt obige Rechenregeln und erhalten so

F ∗(∑

ai1...ipdyi1 ∧ · · · ∧ dyip

)=∑

ai1...ip F dfi1 ∧ · · · ∧ dfip (3.4.5)

mit

dfi =n∑j=1

(∂jfi) dxj . (3.4.6)

Man kann (3.4.6) in (3.4.5) einsetzen, um eine Darstellung bezuglich der Standardbasis zuerhalten. Wir betrachten explizit nur den folgenden Spezialfall.

Satz 3.4.2. Sei M ⊂ Rn offen und F : M → Rn differenzierbar. Dann ist fur eine Funktiona : F (M) → R

F ∗(adx1 ∧ · · · ∧ dxn) = a Fdet (JF ) dx1 ∧ · · · ∧ dxn.

Beweis. Wir erhalten

F ∗(adx1 ∧ · · · ∧ dxn) = a F df1 ∧ · · · ∧ dfn

= a F

(∑i1

(∂i1f1)dxi1 ∧ · · · ∧∑in

(∂infn)dxin

)

= a Fn∑

i1,...,in=1

∂i1f1 · · · ∂infn dxi1 ∧ · · · ∧ dxin

= a F∑σ∈Sn

∂σ(1)f1 · · · ∂σ(n)fn dxσ(1) ∧ · · · ∧ dxσ(n)

= a F∑σ∈Sn

sgn(σ)∂σ(1)f1 · · · ∂σ(n)fn dx1 ∧ · · · ∧ dxn

= a Fdet(∂ifj)ni,j=1 dx1 ∧ · · · ∧ dxn.

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144 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Alternativ kann man mit Satz 3.3.7 argumentieren:

F ∗(dx1 ∧ · · · ∧ dxn)X(E1, . . . , En)

= (dx1)X ∧ · · · ∧ (dxn)X(DFX(E1), . . . , DFX(En))

= (dx1)X ∧ · · · ∧ (dxn)X

(n∑i=1

(∂1fi)XEi, . . . ,n∑i=1

(∂nfi)XEi

)

= det(∂ifj(X))ni,j=1(dx1 ∧ · · · ∧ dxn)X(E1, . . . , En),

d.h.F ∗(dx1 ∧ · · · ∧ dxn) = det(∂ifj)ni,j=1 dx

1 ∧ · · · ∧ dxn.

Von grundlegender Bedeutung ist der folgende Differentiationsprozeß fur Differentialformen.

Definition. Sei M ⊂ Rn offen und

ω =∑

1≤i1<···<ip≤nai1...ipdx

i1 ∧ · · · ∧ dxip =∑I∈Mn

p

aIdxI

eine Differentialform vom Grad p der Klasse C1 auf M . Die außere Ableitung oder das außereDifferential von ω ist die (p+ 1)-Form

dω :=∑

1≤i1<···<ip≤ndai1...ip ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

=∑I∈Mn

p

daI ∧ dxI

=∑

1≤i1<···<ip≤n

n∑j=1

(∂jai1...ip)dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip .

Die angegebene Definition ist konsistent mit dem Fall p = 0, wo fur f : M → R von derKlasse C1 gilt

df =n∑j=1

(∂jf) dxj .

Der folgende Satz faßt die wichtigsten Rechenregeln fur die außere Differentiation von Diffe-rentialformen zusammen.

Satz 3.4.3. Die p-Formen ω, ωi und eine q-Form η seien auf der offenen Menge M ⊂ Rn

jeweils von der Klasse C1. Dann gilt

(a) d(ω1 + ω2) = dω1 + dω2,

(b) d(ω ∧ η) = dω ∧ η + (−1)pω ∧ dη,

(c) ddω = 0, falls ω von der Klasse C2 ist.

(d) Ist M ⊂ Rn offen, F : M → Rk eine Abbildung von der Klasse C2 und ω eine p-Formder Klasse C1 auf einer offenen Obermenge von F (M), so gilt F ∗dω = dF ∗ω.

Beweis. (a) ist klar. Zusammen mit (b) im Fall einer 0-Form ω zeigt dies die Linearitat deraußeren Ableitung.

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3.4. DIFFERENTIALFORMEN 145

(b) Sei f : M → R differenzierbar. Ist I ∈Mnp , J ∈Mn

q , so gilt

d(f dxI ∧ dxJ) = df ∧ dxI ∧ dxJ . (3.4.7)

Sind die Indexmengen zu I, J nicht disjunkt, dann sind beide Seiten Null. Sonst gibt es m ∈ Nund Indizes 1 ≤ k1 < · · · < kp+q ≤ n mit

dxI ∧ dxJ = (−1)mdxk1 ∧ · · · ∧ dxkp+q ,

so daß die Behauptung nach Definition gilt.

Nun seiω =

∑I∈Mn

p

aIdxI , η =

∑J∈Mn

q

bJ dxJ ,

alsod(ω ∧ η) =

∑I,J

d(aIbJ dx

I ∧ dxJ).

Mit (3.4.7) und der gewohnlichen Produktregel folgert man

d(aIbJ dx

I ∧ dxJ)

= d(aIbJ) ∧ dxI ∧ dxJ

= (bJdaI + aIdbJ) ∧ dxI ∧ dxJ

= daI ∧ dxI ∧ (bJdxJ) + dbJ ∧ (aIdxI) ∧ dxJ

= daI ∧ dxI ∧ bJdxJ + (−1)1·paIdxI ∧ dbJ ∧ dxJ .

Summation liefert daher

d(ω ∧ η) =

(∑I

daI ∧ dxI)∧

(∑J

bJdxJ

)+ (−1)p

(∑I

aIdxI

)∧

(∑J

dbJ ∧ dxJ)

= dω ∧ η + (−1)pω ∧ dη.27.01.2004

(c) Fur eine Funktion f der Klasse C2 gilt zunachst

df =n∑i=1

(∂if)dxi,

und weiter

d(df) =n∑i=1

d(∂if) ∧ dxi

=n∑i=1

n∑j=1

∂j(∂if) ∧ dxj ∧ dxi

=∑i<j

(∂i∂j − ∂j∂i) dxi ∧ dxj

= 0.

Wir erhalten also fur ω =∑

I aIdxI

dω =∑I

daI ∧ dxI ,

ddω =∑I

(ddaI ∧ dxI + (−1)daI ∧ d1 · dxI

)= 0.

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146 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

(d) Seien F und ω wie beschrieben mit F = (f1, . . . , fk). Ist ω = g eine Funktion, d.h. p = 0,so gilt

F ∗dω = F ∗dg = F ∗

k∑j=1

(∂jg)dxj

=

k∑j=1

(∂jg) F dfj

=k∑j=1

(∂jg) Fn∑i=1

(∂ifj) dxi

=n∑i=1

k∑j=1

(∂jg) F∂ifj

dxi

=n∑i=1

∂i(g F ) dxi

= d(g F ) = d(F ∗g) = d(F ∗ω).

Sei schließlich r ∈ N0 und die Behauptung schon bewiesen fur alle r-Formen. Um die Gleichungfur alle (r + 1)-Formen zu beweisen, die auf einer offenen Umgebung von F (M) erklart sind,genugt es, spezieller (r+1)-Formen der Form ω∧ dyi zu betrachten, wobei ω eine r-Form aufeiner offenen Umgebung von F (M) und dyi ein Koordinatendifferential im Rk ist. Es gilt

F ∗(d(ω ∧ dyi)) = F ∗(dω ∧ dyi + (−1)rω ∧ ddyi)

= F ∗(dω ∧ dyi) = F ∗dω ∧ F ∗dyi

= dF ∗ω ∧ dF ∗yi,

wobei die Induktionsannahme verwendet wurde. Mit Hilfe von Teil (c) folgt

dF ∗(ω ∧ dyi) = d(F ∗ω ∧ F ∗dyi)

= dF ∗ω ∧ F ∗dyi + (−1)rF ∗ω ∧ dF ∗dyi

= dF ∗ω ∧ F ∗dyi + (−1)rF ∗ω ∧ ddfi

= dF ∗ω ∧ F ∗dyi.

Ein Vergleich ergibt die Behauptung im betrachteten Fall.

Mit Hilfe des Differentialformen-Kalkuls lassen sich die Operationen der klassischen Vektor-analysis ubersichtlich zusammenfassen.

Beispiel. Sei M ⊂ R3 offen und V : M → R3 ein Vektorfeld der Klasse C2. Wir definierenhierzu

(V ) := v1dx1 + v2dx

2 + v3dx3

((V )) := v1dx2 ∧ dx3 + v2dx

3 ∧ dx1 + v3dx1 ∧ dx2.

Dann bestatigt man leicht

d(V ) = ((rotV )), d((V )) = div(V )dx1 ∧ dx2 ∧ dx3.

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3.4. DIFFERENTIALFORMEN 147

Fur f : M → R von der Klasse C2 gilt

df = (∇f).

Hiermit erhalt man

0 = dd(V ) = d((rotV )) = (div rot(V ))dx1 ∧ dx2 ∧ dx3,

also div rot(V ) = 0. Außerdem gilt

0 = ddf = d(∇f) = ((rot∇f)),

folglich rot∇f = 0.

Allgemein ist klar, daß wenn ω eine p-Form ist mit ω = dη fur eine (p− 1)-Form η der KlasseC2, dann gilt dω = 0. Dies wurde oben ausgenutzt.

Definition. Man nennt eine Differentialform ω der Klasse C1 geschlossen, falls dω = 0 gilt.Ferner heißt eine p-Form ω der Klasse C0 exakt, falls es eine (p − 1)-Form η der Klasse C1

gibt mit ω = dη (hier ist p ≥ 1).

Bei der Definition einer geschlossenen Differentialform wird man in der Regel an die Situationp ≥ 1 denken, auch wenn p = 0 zugelassen ist. Der Fall p = 0 ist namlich trivial, da dω = 0 fureine 0-Form ω (d.h. eine Funktion) impliziert, daß ω auf jeder Zusammenhangskomponentekonstant ist. In der somit eingefuhrten Terminologie konnen wir nun sagen, daß jede exakteDifferentialform geschlossen ist.

Gilt hiervon die Umkehrung, d.h. ist eine geschlossene Differentialform stetsexakt?

Wir wissen schon (etwa fur p = 1, ω = (V )), daß dies im allgemeinen nicht richtig ist.Unter geeigneten Voraussetzungen an den zugrundeliegenden Definitionsbereich (etwa fursternformige Mengen) gilt dagegen der folgende Satz.

Satz 3.4.4 (Poincare). Sei M ⊂ Rn ein sternformiges Gebiet und p ≥ 1. Dann ist jedegeschlossene p-Form der Klasse C1 auf M exakt.

Beweis. O.B.d.A. sei M sternformig bezuglich 0. Wir schreiben die p-Form ω auf M in derForm

ω =∑

1≤i1<···<ip≤nai1...ip dx

i1 ∧ · · · ∧ dxip

und definieren eine (p− 1)-Form Iω auf M durch

(Iω)X :=∑

1≤i1<···<ip≤n

(∫ 1

0ai1...ip(tX)tp−1 dt

) p∑k=1

(−1)k−1xikdxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip .

Dabei ist X = (x1, . . . , xn) gesetzt, dxik bedeutet, daß dxik weggelassen werden soll. Nun istω eine p-Form der Klasse C1 auf M , fur die wir d(Iω) und I(dω) berechnen. Als Ergebnisdieser Rechnung werden wir

d(Iω) + I(dω) = ω (3.4.8)

erhalten. Wegen dω = 0, folgt die gewunschte Behauptung d(Iω) = ω, d.h. die Exaktheit vonω.

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148 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Einerseits gilt

d(Iω)X = p∑

i1<···<ip

(∫ 1

0ai1...ip(tX)tp−1 dt

)dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

+∑

i1<···<ip

p∑k=1

(−1)k−1n∑j=1

(∫ 1

0∂jai1...ip(tX)tp dt

)xik

dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip .

Andererseits erhalt man aus

dω =∑

i1<···<ip

n∑j=1

∂jai1...ipdxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

mit Hilfe einer elementaren, aber umstandlich aufzuschreibenden Zusatzuberlegung (j mußin i1 < · · · < ik eingereiht werden, bevor I gebildet wird)

I(dω)X =∑

i1<···<ip

n∑j=1

(∫ 1

0∂jai1...ip(tX)tp dt

)xjdx

i1 ∧ · · · ∧ dxip

−∑

i1<···<ip

n∑j=1

(∫ 1

0∂jai1...ip(tX)tp dt

) p∑k=1

(−1)k−1xik

dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip .

Addition ergibt nun

d(Iω)X + I(dω)X =∑

i1<···<ip

p(∫ 1

0ai1...ip(tX)tp−1 dt

)+

n∑j=1

(∫ 1

0∂jai1...ip(tX)tpxj dt

)dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

=∑

i1<···<ip

(∫ 1

0

d

dt

[ai1...ip(tX)tp

]dt

)dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

=∑

i1<···<ip

ai1...ipdxi1 ∧ · · · ∧ dxip

= ωX .

Dies zeigt gerade (3.4.8).

Wer die besagten umstandlichen Zusatzuberlegungen zur Bildung von I(dω)X sehen mochte,lese einfach weiter:

Wir halten i1, . . . , ip und j fest, wobei es genugt, den Fall j /∈ i1, . . . , ip zu betrachten. Wirerklaren j1 < · · · < jp+1 durch j1, . . . , jp+1 = j, i1, . . . , ip. Steht jetzt j an m-ter Stelle in(j1, . . . , jp+1), so gilt

∂jai1...ip dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip

= ∂jai1...ip(−1)m−1 dxj1 ∧ · · · ∧ dxjp+1 .

Wir erhalten also

I(∂jai1...ip dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip)

= (−1)m(∫ 1

0∂jai1...ip(tX)tp dt

) p+1∑k=1

(−1)k−1xjk dxj1 ∧ · · · ∧ dxjk ∧ · · · ∧ dxjp+1 .

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3.5. INTEGRATION VON DIFFERENTIALFORMEN 149

Nun werden drei Falle unterschieden:

(a) jk = j. Dann ist m = k und

(−1)m−1(−1)k−1xjk dxj1 ∧ · · · ∧ dxjk ∧ · · · ∧ dxjp+1 = xj dx

i1 ∧ · · · ∧ dxip .

(b) j < jk. Dann gilt mit j = jm < jk:

(−1)m−1(−1)k−1xjk dxj1 ∧ · · · ∧ dxjk ∧ · · · ∧ dxjp+1

= (−1)m+kxjk(−1)m−1 dxj ∧ dxj1 ∧ · · · ∧ dxjm ∧ · · · ∧ dxjk ∧ · · · ∧ dxjp+1

= (−1)k−1xik−1dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik−1 ∧ · · · ∧ dxip

= −(−1)k−2xik−2dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik−1 ∧ · · · ∧ dxip .

(c) j > jk. Dann gilt mit j = jm > jk:

(−1)m−1(−1)k−1xjk dxj1 ∧ · · · ∧ dxjk ∧ · · · ∧ dxjp+1

= (−1)m+kxik dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxj ∧ · · · ∧ dxip

= (−1)m+k(−1)m−2xik dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip

= −(−1)k−1xik dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip .

Insgesamt folgt daher

I(∂jai1...ip dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxip)

= xj dxi1 ∧ · · · ∧ dxip −

p∑k=1

(−1)k−1xik dxj ∧ dxi1 ∧ · · · ∧ dxik ∧ · · · ∧ dxip ,

so daß die gewunschte Behauptung durch Summation folgt.

3.5 Integration von Differentialformen

In den Abschnitten 3.1 und 3.2 wurden Integrale uber geometrische Objekte wie (parame-trisierte) Kurven und Flachen erklart. Man kann diese Integrale als Integrale geeigneter1- bzw. 2-Formen auffassen. Unser Ziel ist es, Integrale von p-Formen auf p-dimensionalenUntermannigfaltigkeiten im Rn zu erklaren. Zunachst betrachten wir allerdings Integrale vonspeziellen parametrisierten Mengen.

Sei p ∈ N und [0, 1]p der p-dimensionale abgeschlossene Einheitswurfel. Speziell setzen wir[0, 1]0 := 0.

Definition. Sei ω eine stetige p-Form auf [0, 1]p, also

ω = f dx1 ∧ · · · ∧ dxp

mit einer stetigen Funktion f auf [0, 1]p. Dann sei∫[0,1]p

ω :=∫

[0,1]pf =

∫ 1

0. . .

∫ 1

0f(x1, . . . , xp) dx1 . . . dxp.

In einem zweiten Schritt soll das Integral uber allgemeine Mengen im Rn erklart werden.

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150 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition. Sei M ⊂ Rn. Ein singularer Wurfel in M ist eine Abbildung c : [0, 1]p →M derKlasse C2.

Die Differenzierbarkeitsvoraussetzung soll bedeuten, daß c Einschrankung einer C2-Funktionmit offenem Definitionsbereich ist. Die Voraussetzung der zweimaligen Differenzierbarkeitist zunachst eigentlich zu stark, einmalige stetige Differenzierbarkeit ware ausreichend. Diestarkere Voraussetzung wurde im Hinblick auf den Satz von Stokes getroffen.

Beispiele.

• Ein singularer 0-Wurfel c : 0 →M .

• Ein singularer 1-Wurfel c : [0, 1] →M ist eine parametrisierte Kurve der Klasse C2, dienicht regular zu sein braucht.

• Ein singularer 2-Wurfel c : [0, 1]2 → M ist i.a. nicht regular, d.h. keine Flache. Insbe-sondere ist c i.a. nicht lokal injektiv. Man kann c auch konstant wahlen. Dies begrundetdie Bezeichnungsweise ”singular“.

Definition. Sei M ⊂ Rn offen, ω eine stetige p-Form auf M und c ein singularer p-Wurfel inM . Das Integral von ω uber den singularen p-Wurfel c ist definiert durch∫

cω :=

∫[0,1]p

c∗ω, p ≥ 1

und ∫cω := ω(c(0)), p = 0.

Sind nun M, c, ω wie oben und ist τ : [0, 1]p → [0, 1]p eine bijektive Abbildung der Klasse C2

mit det Jτ ≥ 0, so gilt ∫cω =

∫[0,1]p

c∗ω =∫

[0,1]p(c∗ω)Y dY

=∫

[0,1]p(c∗ω)τ(X)det Jτ(X) dX

=∫

[0,1]pτ∗(c∗ω)X dX

=∫

[0,1]p(c τ)∗ω

=∫cτ

ω,

d.h. es liegt eine spezielle Form der Parametrisierungs-Invarianz vor.

Beispiele. • Sei n ≥ 2 und p = 1. Wir schreiben F : [0, 1] → Rn fur einen singularen 1-Wurfelder Klasse C2 und ω = v1dx

1 + · · ·+ vndxn fur eine stetige 1-Form auf Rn. Dann gilt∫

Fω =

∫[0,1]

F ∗ω.

Sei F = (f1, . . . , fn) und dt1 das Koordinatendifferential im R1. Mit V := (v1, . . . , vn) erhaltman fur die 1-Form F ∗ω auf [0, 1]:

F ∗ω = F ∗(v1dx1 + · · ·+ vndxn)

= v1 F df1 + · · ·+ vn F dfn

= v1 Ff ′1 dt1 + · · ·+ vn Ff ′n dt1

= 〈V F, F ′〉 dt1.

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3.5. INTEGRATION VON DIFFERENTIALFORMEN 151

Es folgt ∫Fω =

∫[0,1]

〈V F, F ′〉 dt1 =∫ 1

0〈V F (t), F ′(t)〉 dt.

Dies stellt den Zusammenhang mit Abschnitt 3.1 und Analysis II her.

• Sei n = 3, p = 2. Sei F : [0, 1]2 → R3 ein singularer 2-Wurfel im R3 und

ω = v1dx2 ∧ dx3 + v2dx

3 ∧ dx1 + v3dx1 ∧ dx2

eine stetige 2-Form im R3. Nach Definition ist∫Fω =

∫[0,1]2

F ∗ω.

Mit F = (f1, f2, f3) und du1, du2 als Koordinatendifferentialen im R2 erhalt man fur die2-Form F ∗ω auf [0, 1]2:

F ∗ω = (v1 F )df2 ∧ df3 + (v2 F )df3 ∧ df1 + (v3 F ) df1 ∧ df2

= (v1 F )[∂1f2du1 + ∂2f2du

2] ∧ [∂1f3du1 + ∂2f3du

2] + . . .

= (v1 F )(∂1f2 · ∂2f3 − ∂1f3 · ∂2f2)du1 ∧ du2 + . . .

=[v1 F

∂(f2, f3)∂(u1, u2)

+ v2 F∂(f3, f1)∂(u1, u2)

+ v3 F∂(f1, f2)∂(u1, u2)

]du1 ∧ du2.

Es folgt∫Fω =

∫ 1

0

∫ 1

0

(v1 F

∂(f2, f3)∂(u1, u2)

+ v2 F∂(f3, f1)∂(u1, u2)

+ v3 F∂(f1, f2)∂(u1, u2)

)du1 du2

=∫〈V,N〉 dO,

wobei die letzte Gleichung nur dann gilt, falls F regular ist.29.01.2004

In Abschnitt 3.2 hatten wir schon angedeutet, daß sich der Satz von Stokes in der Form∫Mdω =

∫∂M

ω

schreiben laßt. Nun haben wir aber zunachst noch nicht das Integral einer Differentialformuber eine Untermannigfaltigkeit M zur Verfugung, stattdessen steht das Integral uber sin-gulare Wurfel zur Verfugung. Wir versuchen daher, fur solche singularen Wurfel einen Rand-begriff zu erklaren, so daß schließlich ∫

cdω =

∫∂cω

gultig wird. Es ist naheliegend, daß man dafur den Rand des Parameterbereichs verwendenwird. Andererseits ist aber auch eine geeignete Orientierung festzulegen. Der auf diesem Wegschließlich zustandekommende Satz von Stokes wird spater beim Beweis der geometrischenFassung des Satzes wieder verwendet werden.

Beispiel. Sei ω = fdx1 + gdx2 eine stetig differenzierbare 1-Form auf [0, 1]2. Man erhalt

dω = df ∧ dx1 + dg ∧ dx2 = (∂1g − ∂2f) dx1 ∧ dx2.

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152 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Wir betrachten den singularen 2-Wurfel c = I2 : [0, 1]2 → R2, X 7→ X. Dann gilt∫I2dω =

∫[0,1]2

(I2)∗ dω =∫

[0,1]2dω

=∫

[0,1]2(∂1g − ∂2f) dx1 ∧ dx2

=∫ 1

0

∫ 1

0(∂1g(x, y)− ∂2f(x, y)) dx dy

=∫ 1

0

(∫ 1

0∂1g(x, y) dx

)dy −

∫ 1

0

(∫ 1

0∂2f(x, y) dy

)dx

=∫ 1

0(g(1, y)− g(0, y)) dy −

∫ 1

0(f(x, 1)− f(x, 0)) dx.

Die so erhaltenen Integrale lassen sich als Integrale der 1-Form ω uber singulare 1-Wurfeldarstellen. Wir definieren zu diesem Zweck

I21,0 : [0, 1] → R2, t 7→ (0, t),

I21,1 : [0, 1] → R2, t 7→ (1, t),

I22,0 : [0, 1] → R2, t 7→ (t, 0),

I22,1 : [0, 1] → R2, t 7→ (t, 1).

Dann gilt etwa ∫I22,1

ω =∫

[0,1](I2

2,1)∗ω =

∫ 1

0f(t, 1) dt

oder ∫I21,0

ω =∫

[0,1](I2

1,0)∗ω =

∫ 1

0g(0, t) dt

u.s.w., d.h. ∫I2dω = −

(∫I21,0

ω −∫I21,1

ω

)+

(∫I22,0

ω −∫I22,1

ω

).

Dieses und weitere Beispiele legen es nahe, den Rand ∂I2 als formale Linearkombination vonsingularen 1-Wurfeln zu schreiben, d.h.

∂I2 := −(I21,0 − I2

1,1) + (I22,0 − I2

2,1),

und das Integral uber eine solche Linearkombination als die entsprechende Linearkombinationder Integrale der 1-Wurfel zu erklaren.

Anstatt von ”formalen Linearkombinationen“ zu sprechen, sollte man besser den Begriff einerfrei erzeugten abelschen Gruppe verwenden. Sei A eine nichtleere Menge und

F(A) := f : A→ Z : f(x) 6= 0 fur hochstens endlich viele x ∈ A.

Fur f, g ∈ F(A) sei(f ± g)(x) := f(x)± g(x), x ∈ A.

Man nennt F(A) die von A erzeugte freie abelsche Gruppe. Fur x ∈ A sei x ∈ F(A) erklartals

x(y) :=

1, fur y = x,0, sonst.

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3.5. INTEGRATION VON DIFFERENTIALFORMEN 153

Somit gilt fur f ∈ F(A) geradef =

∑x∈A

f(x)x.

Statt x schreibt man auch einfach x, d.h. die Elemente von F(A) sind von der Form∑x∈A

nxx

mit nx ∈ Z, wobei nur endlich viele dieser Zahlen 6= 0 sind. Die Elemente von F(A) kann mandaher auch als formale Linearkombinationen mit ganzzahligen Koeffizienten der Elemente vonA auffassen.

Definition. Sei M ⊂ Rn und p ∈ N0. Sei Kp(M) die von der Menge der singularen p-Wurfel in M erzeugte freie abelsche Gruppe. Die Elemente von Kp(M) (endliche formaleLinearkombinationen von singularen p-Wurfeln in M mit ganzzahligen Koeffizienten) heißenp-Ketten in M .

Definition. Das Integral der stetigen p-Form ω auf M uber die p-Kette c =∑aici mit ai ∈ Z

und singularen p-Wurfeln ci in M wird erklart durch∫cω =

∑ai

∫ci

ω.

Randbildung.

Definition.

• Der singulare p-Wurfel Ip : [0, 1]p → Rp sei erklart durch Ip(X) := X fur X ∈ [0, 1]p.

• Die singularen (p − 1)-Wurfel Ipi,0 : [0, 1]p−1 → Rp und Ipi,1 : [0, 1]p−1 → Rp fur p ≥ 2und i ∈ 1, . . . , p sind erklart durch

Ipi,0(X) := (x1, . . . , xi−1, 0, xi, . . . , xp−1),

Ipi,1(X) := (x1, . . . , xi−1, 1, xi, . . . , xp−1)

fur X = (x1, . . . , xp−1) ∈ [0, 1]p−1.

• Setze I11,0(0) := 0 und I1

1,1(0) = 1.

• Der Rand des singularen p-Wurfels c ist erklart durch

∂c :=p∑i=1

(−1)i[c Ipi,0 − c Ipi,1

].

• Der Rand der p-Kette∑aici ist erklart durch

∂(∑

aici

):=∑

ai∂ci.

Man kann zeigen, daß stets ∂∂c = 0 fur Ketten c gilt. Wir werden dies nicht benotigen. Eineanaloge Aussage gilt fur Untermannigfaltigkeiten M des Rn, d.h. hier gilt ∂∂M = ∅.

Satz 3.5.1 (Stokes fur Ketten). Sei M ⊂ Rn offen, p ∈ N, ω eine (p−1)-Form der KlasseC1 auf M und c eine p-Kette in M . Dann gilt∫

cdω =

∫∂cω.

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154 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. Sei p = 1, also ω = f eine Funktion der Klasse C1 auf M . Sei c ein singularer 1-Wurfelin M . Dann ist

df = f1dx1 + · · ·+ fndx

n

und ∫cdf =

∫ 1

0〈∇f c(t), c′(t)〉 dt =

∫ 1

0(f c)′(t) dt = f c(1)− f c(0).

Andererseits gilt∫∂cf = (−1)

∫cI11,0

f +∫cI11,1

f = −f(c I11,0(0)) + f(c I1

1,1(0))

= −f(c(0)) + f(c(1)).

Dies zeigt die behauptete Gleichheit fur singulare 1-Wurfel, die Ausdehnung auf 1-Kettenfolgt wegen Linearitat.

Sei jetzt p ≥ 2. Wir betrachten zunachst den Fall n = p und c = Ip sowie

ω = fdx1 ∧ · · · ∧ dxi ∧ · · · ∧ dxp (3.5.9)

fur i ∈ 1, . . . , p. Dann gilt

dω = (−1)i−1∂if dx1 ∧ · · · ∧ dxp

und ∫Ip

dω =∫

[0,1]pdω

= (−1)i−1

∫[0,1]p

∂if

= (−1)i−1

∫ 1

0. . .

∫ 1

0

(∫ 1

0∂if(x1, . . . , xp) dxi

)dx1 . . . dxi . . . dxp

= (−1)i−1

∫ 1

0. . .

∫ 1

0[f(x1, . . . , xi−1, 1, xi+1, . . . , xp)

−f(x1, . . . , xi−1, 0, xi+1, . . . , xp)]dx1 . . . dxi . . . dxp.

Andererseits gilt ∫∂Ip

ω =p∑j=1

(−1)j[∫

Ipj,0

ω −∫Ipj,1

ω

].

Wir formen die Integrale in den Klammern um. Zunachst ist∫Ipj,0

ω =∫

[0,1]p−1

(Ipj,0

)∗ω.

Mit Ipj,0 = (g1, . . . , gp) folgt(Ipj,0

)∗ω = f Ipj,0 dg1 ∧ · · · ∧ dgi ∧ · · · ∧ dgp.

Seien du1, . . . , dup−1 die Koordinatendifferentiale von Rp−1. Dann gilt nach Definition vonIpj,0 offenbar

dgk =

duk, k = 1, . . . , j − 1,0, k = j,duk−1, k = j + 1, . . . , p.

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3.5. INTEGRATION VON DIFFERENTIALFORMEN 155

An der Stelle U = (u1, . . . , up−1) erhalt man also[(Ipj,0

)∗ω]U

=

0, j 6= i,f(u1, . . . , ui−1, 0, ui, . . . , up−1) du1 ∧ · · · ∧ dup, j = i.

Es folgt ∫Ipj,0

ω =

0, j 6= i,∫ 10 . . .

∫ 10 f(u1, . . . , ui−1, 0, ui, . . . , up−1) du1 . . . dup−1, j = i.

Mit einem ahnlichen Ausdruck fur∫Ipj,1

erhalt man schließlich

∫∂Ip

ω = (−1)i∫ 1

0. . .

∫ 1

0[f(u1, . . . , ui−1, 0, ui, . . . , up−1)−

f(u1, . . . , ui−1, 1, ui, . . . , up−1)] du1 . . . dup−1.

Es folgt also ∫Ip

dω =∫∂Ip

ω. (3.5.10)

Da jede (p − 1)-Form auf [0, 1]p Summe von (p − 1)-Formen der Gestalt (3.5.9) ist, gilt(3.5.10) fur jede (p− 1)-Form ω der Klasse C1 auf [0, 1]p.

Sei schließlich c ein beliebiger singularer p-Wurfel inM ⊂ Rn und ω eine stetig differenzierbare(p− 1)-Form auf M . Dann gilt zunachst wegen (3.5.10)∫

cdω =

∫[0,1]p

c∗ dω =∫Ip

c∗ dω =∫Ip

dc∗ω =∫∂Ip

c∗ω.

Ferner ist ∫cIp

i,0

ω =∫

[0,1]p−1

(c Ipi,0)∗ω =

∫[0,1]p−1

(Ipi,0)∗(c∗ω) =

∫Ipi,0

c∗ω,

und analog fur Ipi,1. Es folgt also

∫∂cω =

p∑i=1

(−1)i[∫

cIpi,0

ω −∫cIp

i,1

ω

]

=p∑i=1

(−1)i[∫

Ipi,0

c∗ω −∫Ipi,1

c∗ω

]

=∫∂Ip

c∗ω

=∫cdω.

Ist schließlich c =∑aici eine p-Kette in M , so folgt∫

cdω =

∑ai

∫ci

dω =∑

ai

∫∂ci

ω =∫∂cω.

Wir betrachten zur Illustration ein abschließendes Beispiel, das in den Ubungen besprochenwerden kann.

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156 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beispiel. Sei c der singulare 2-Wurfel im R3 mit

c : [0, 1]2 → R3, (u, v) 7→ (u2 − v3, u,−v2)

und ω die 2-Form auf R3 mit

ωX = 4(dx1)X ∧ (dx3)X − x1(dx2)X ∧ (dx3)X

sowie η die 1-Form auf R3 mit

ηX = 2(dx1)X − x21(dx

3)X .

Zunachst gilt mit c = (c1, c2, c3)∫cω =

∫[0,1]2

c∗ω =∫

[0,1]2(4dc1 ∧ dc3 − c21dc2 ∧ dc3)

=∫

[0,1]2

[4∂(c1, c3)∂(u, v)

− (u2 − v3)∂(c2, c3)∂(u, v)

]du dv

=∫ 1

0

∫ 1

0[−16uv + 2v(u2 − v3)] du dv

= −6115.

Mit dη = −2x1dx1 ∧ dx3 gilt analog∫

cdη =

∫[0,1]2

−2(u2 − v3)∂(c1, c3)∂(u, v)

du dv

= −2∫ 1

0

∫ 1

0(−4uv)(u2 − v3) du dv

=15.

Andererseits erhalt man wegen

∂c = c I21,1 − c I2

1,0 + c I22,0 − c I2

2,1

und

c I21,1 : [0, 1] → R3, t 7→ (1− t3, 1,−t2),

c I21,0 : [0, 1] → R3, t 7→ (−t3, 0,−t2),

c I22,0 : [0, 1] → R3, t 7→ (t2, t, 0),

c I22,1 : [0, 1] → R3, t 7→ (t2 − 1, t,−1)

auch ∫∂cη =

∫cI21,1

η −∫cI21,0

η +∫cI22,0

η −∫cI22,1

η

=∫ 1

0[2(−3t2)− (1− t3)2(−2t)] dt−

∫ 1

0[2(−3t2)− t6(−2t)] dt

+∫ 1

02 · 2t dt−

∫ 1

02 · 2t dt

=15,

was den Satz von Stokes exemplarisch bestatigt.03.02.2004

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3.6. DIFFERENZIERBARE UNTERMANNIGFALTIGKEITEN 157

3.6 Differenzierbare Untermannigfaltigkeiten

In diesem Abschnitt werden niederdimensionale glatte geometrische Teilmengen des Rn

untersucht, uber die schließlich integriert werden soll. Die dabei betrachteten k-dimensionalenUntermannigfaltigkeiten des Rn konnen zugleich als Einstieg in die Theorie der abstraktenMannigfaltigkeiten verstanden werden. Dies ist dann etwa Gegenstand einer Vorlesung uberDifferentialgeometrie.

Um die Darstellung moglichst einfach zu halten, nehmen wir an, daß alle Abbildungen vonder Klasse C∞ sind, falls nichts anderes vorausgesetzt wird. Ferner sei fur k ∈ 0, . . . , n

Rnk := X ∈ Rn : xk+1 = · · · = xn = 0,

Hnk := X ∈ Rn : x1 ≥ 0, xk+1 = · · · = xn = 0,

∂Hnk := X ∈ Rn : x1 = 0, xk+1 = · · · = xn = 0.

Grob gesprochen werden durch die nachfolgende Definition Mengen erklart, die lokal nachAnwendung einer geeigneten differenzierbaren Transformation wie Rn

k oder Hnk aussehen.

Definition. Sei M ⊂ Rn und k ∈ N0. Die Menge M heißt k-dimensionale Mannigfaltigkeitim Rn, wenn fur jedes X ∈ M gilt: Es gibt eine offene Umgebung URn von X, eine offeneMenge V ⊂ Rn und einen Diffeomorphismus h : U → V mit

h(U ∩M) = V ∩ Rnk (a)

oderh(U ∩M) = V ∩Hn

k und h(X) ∈ ∂Hnk . (b)

Gilt (a), so heißt X innerer Punkt von M ; gilt (b), so heißt X Randpunkt von M .

Bemerkungen.

• Die Begriffe innerer Punkt und Randpunkt beziehen sich nicht auf die Topologie desRn.

• Ein Punkt X ∈M kann nicht zugleich innerer Punkt und Randpunkt sein. Sonst gabees offene Umgebungen U1, U2 ⊂ Rn von X, offene Mengen V1, V2 ⊂ Rn und Diffeomor-phismen

h1 : U1 → V1 und h2 : U2 → V2

mit

h1(U1 ∩M) = V1 ∩ Rnk , h2(U2 ∩M) = V2 ∩Hn

k und h2(X) ∈ ∂Hnk .

Die Abbildungh2 h−1

1 : h1(U1 ∩ U2) → h2(U1 ∩ U2)

ist ein Diffeomorphismus, der also offene Mengen auf offene Mengen abbildet. Insbeson-dere ist auch h2 h−1

1 | h1(U1∩U2)∩Rnk eine differenzierbare Abbildung in Rn

k mit nichtverschwindender Funktionaldeterminante und

h2 h−11 (h1(U1 ∩ U2) ∩ Rn

k) = h2 h−11 (V1 ∩ Rn

k ∩ h1(U1 ∩ U2))

= h2(U1 ∩M ∩ U2)

⊂ V2 ∩Hnk ⊂ Rn

k .

Also ware h2h−11 | h1(U1∩U2)∩Rn

k ein Diffeomorphismus zwischen offenen Teilmengendes Rn

k . Andererseits ware h2 h−11 (h1(X)) kein innerer Punkt der Bildmenge dieser

Abbildung bezuglich Rnk als dem umgebenden Raum, ein Widerspruch.

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158 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Definition. Ist M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit im Rn, so wird die Menge der Rand-punkte von M mit ∂M bezeichnet. Ist ∂M = ∅, so heißt M unberandet. Ist ∂M = ∅ und Mkompakt, so heißt M geschlossen.

Beispiele.

• 0-dimensionale Mannigfaltigkeiten, d.h. diskrete Punktmengen.

• Ein Ball Bn ist eine n-dimensionale Mannigfaltigkeit mit ∂Bn = Sn−1.

• Eine Sphare Sn−1 ist eine kompakte (n−1)-dimensionale Mannigfaltigkeit mit ∂Sn−1 =∅, d.h. Sn−1 ist geschlossen.

• Der Volltorus im R3 (Rettungsring) ist eine kompakte 3-dimensionale Mannigfaltigkeit,deren Rand gerade der 2-Torus T 2 ist. Dieser erfullt wieder ∂T 2 = ∅.

• Eine Hemisphare Sn−1+ := Sn−1 ∩ E⊥

n ist eine (n − 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit,und es gilt ∂Sn−1

+ = Sn−2.

• Eine 2-Mannigfaltigkeit ist beispielsweise (u, v, 4−u2−v2) : (u, v) ∈ R2∩B2(0, 2). All-gemeiner ist jeder Graph einer glatten Funktion f : Rn−1 → R eine (n−1)-dimensionaleMannigfaltigkeit in Rn.

• Mobiusband. ”Ein Zeigervektor a(ϕ) beschreibe eine Kreislinie, um welche sich wiederummit halber Geschwindigkeit ein zweiter Zeiger windet, dessen Mitte auf der Kreislinieund dessen Anfangs- und Endpunkt auf dem Rand des Mobiusbands liegt“.

Seia(ϕ) := (cosϕ, sinϕ, 0), ϕ ∈ [−π, π]

undbϕ(ψ) := cos(ψ)a(ϕ) + sin(ψ)e3, ψ ∈

[−π

2,π

2

].

Sei R > 1 und φ : [−π, π]× (−1, 1) → R3 mit

φ(ϕ, t) := Ra(ϕ) + tbϕ

(ϕ2

)

= R

cosϕsinϕ

0

+ t

cos ϕ2 cosϕcos ϕ2 sinϕ

sin ϕ2

.

Die Menge Bild(φ) ist eine 2-dimensionale Mannigfaltigkeit im R3 (Mobiusband), dienicht orientierbar ist (vgl. spater).

Die erforderlichen Nachweise zu den vorangehenden Beispielen werden durch die nachfolgen-den drei Satze erheblich vereinfacht.

Satz 3.6.1. Ist M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit im Rn und k ≥ 1, so ist ∂M eine(k − 1)-dimensionale unberandete Mannigfaltigkeit.

Beweis. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit in Rn (k ≥ 1). Sei X ∈ ∂M . Dann gibtes eine offene Umgebung U von X, eine offene Menge V ⊂ Rn und einen Diffeomorphismush : U → V mit h(U ∩M) = V ∩Hn

k und h(X) ∈ ∂Hnk .

Behauptung. h(U ∩ ∂M) = V ∩ ∂Hnk .

Nachweis. Sei Y ∈ U∩∂M . Ware h(Y ) /∈ ∂Hnk , so gabe es eine offene Umgebung V ′ ⊂ V von

h(Y ) mit V ′∩Rnk ⊂ Hn

k \∂Hnk . Die Menge U ′ := h−1(V ′) ist eine offene Umgebung von Y mit

h(U ′∩M) = V ′∩Rnk . Also ist Y ∈M \∂M , ein Widerspruch. Dies zeigt h(U∩∂M) ⊂ V ∩∂Hn

k .

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3.6. DIFFERENZIERBARE UNTERMANNIGFALTIGKEITEN 159

Sei Z ∈ V ∩ ∂Hnk . Dann gibt es ein Y ∈ U ∩M mit h(Y ) = Z. Nun muß aber Y ∈ ∂M

gelten, da sonst h(Y ) = Z /∈ ∂Hnk ware. Dies zeigt V ∩ ∂Hn

k ⊂ h(U ∩ ∂M).

Sei L : Rn → Rn ein (linearer) Automorphismus mit L(∂Hnk ) = Rn

k−1. Die AbbildungL h : U → L(V ) ist ein Diffeomorphismus der offenen Umgebung U von X auf die offeneMenge L(V ) ⊂ Rn mit L h(U ∩ ∂M) = L(V )∩Rn

k−1. Da X ∈ ∂M beliebig war, ist ∂M eine(k − 1)-dimensionale unberandete Mannigfaltigkeit des Rn.

Wir zeigen jetzt, daß sich Mannigfaltigkeiten lokal als parametrisierte Flachen beschreibenlassen. Hierzu setzen wir speziell

Hk := X ∈ Rk : x1 ≥ 0 = Hkk .

Satz 3.6.2. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit in Rn. Dann gibt es zu jedem X ∈Meine offene Umgebung U von X, eine offene Menge W ⊂ Rk, falls X /∈ ∂M , bzw. einerelativ offene Menge W ⊂ Hk, falls X ∈ ∂M , und eine injektive, differenzierbare AbbildungF : W → Rn mit folgenden Eigenschaften:

(a) F (W ) = M ∩ U und X = F (Z) mit Z ∈ ∂Hk, falls X ∈ ∂M ,

(b) F−1 : F (W ) →W ist stetig bezuglich der Spurtopologie,

(c) DFZ ist vom Rang k fur alle Z ∈W .

Jede solche Abbildung F wird als ein Koordinatensystem der Mannigfaltigkeit um den PunktX bezeichnet.

Beweis. Sei X ∈M und X /∈ ∂M . Dann gibt es eine offene Menge U ⊂ Rn um X, eine offeneMenge V ⊂ Rn und einen Diffeomorphismus h : U → V mit h(U ∩M) = V ∩ Rn

k . Setze

W := Z ∈ Rk : (z1, . . . , zk, 0, . . . , 0) ∈ V

und definiere eine injektive Abbildung F : W → Rn durch

F (Z) := h−1(z1, . . . , zk, 0, . . . , 0), Z = (z1, . . . , zk).

Nach Konstruktion gilt F (W ) = U ∩M . Mit h ist auch F−1 = h|U ∩M stetig. DefiniereH : U → Rk durch

H(Y ) := (h1(Y ), . . . , hk(Y ))

mit h = (h1, . . . , hn). Fur Z ∈ W gilt H(F (Z)) = Z und damit DHF (Z) DFZ = idRk , d.h.rangDFZ = k.

Im Fall X ∈ ∂M ist die Argumentation dieselbe.

Man kann Satz 3.6.2 auch umkehren.

Satz 3.6.3. Sei M ⊂ Rn. Zu jedem X ∈ M gebe es eine offene Umgebung U ⊂ Rn vonX, eine offene Menge W ⊂ Rk oder eine relativ offene Menge W ⊂ Hk und eine injektivedifferenzierbare Abbildung F : W → Rn mit (a), (b), (c) wie in Satz 3.6.3. Dann ist M einek-dimensionale Mannigfaltigkeit im Rn.

Beweis. Wir betrachten wieder nur den Fall eines Punktes X ∈M , zu dem eine offene MengeW ⊂ Rk und eine Abbildung F : W → Rn mit den behaupteten Eigenschaften existiert.

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160 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Sei X = F (Z). Aus dem Satz von der Umkehrabbildung folgert man mit (c) die Existenzeiner offenen Umgebung W1 von Z in W , einer offenen Umgebung W2 von 0 in Rn−k, eineroffenen Umgebung U1 von F (Z) in Rn und eines Diffeomorphismus g : W1 × W2 → U1

mit g(Y, 0) = F (Y ) fur Y ∈ W1. Sei h : U1 → W1 ×W2 die Umkehrabbildung von g. DaF−1 : F (W ) → W stetig ist, gibt es eine offene Menge U2 ⊂ Rn mit F (W1) = U2 ∩ F (W ).Setze U0 := U ∩ U1 ∩ U2 und V := g−1(U0). Dann gilt wegen (a)

h(U0 ∩M) = h(U ∩ U1 ∩ U2 ∩M)

= h(F (W ) ∩ U0 ∩ U2)

= h(F (W1) ∩ U0)

= g−1(F (W1) ∩ U0)

= g−1(g(W1 × 0) ∩ U0)

= V ∩ (W1 × 0)

= V ∩ Rnk .

Zuletzt wurde benutzt, daß

V = g−1(U0) = h(U0) ⊂ h(U1) = W1 ×W2

gilt.

Satz 3.6.4. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit. Seien F1 : W1 → Rn und F2 : W2 →Rn Koordinatensysteme um einen Punkt von M . Dann ist die Abbildung

F−12 F1 : F−1

1 (F2(W2)) → Rk

differenzierbar und vom Rang k.

Beweis. Sei Y ∈ F−11 (F2(W2)) und X = F1(Y ). Dann gibt es in einer Umgebung von X einen

Diffeomorphismus H mit

F−12 (F1(Z)) = H(F1(Z)) fur Z ∈ F−1

1 (F2(W ′2)),

wobei W ′2 eine passende Umgebung von F−1

2 (X) ist. Mit H,F1 ist also auch F−12 F1 differen-

zierbar (im Definitionsbereich). Ferner ist rang(D(F−12 F1)Y ) = k, da rang(DHF1(Y )) = n

und rang((DF1)Y ) = k gilt.

Wir erklaren nun zunachst den Tangentialraum an M in einem Punkt X ∈M und schließlichDifferentialformen auf M .

Definition. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit in Rn, X ∈M und F : W → Rn einKoordinatensystem um X. Dann wird der k-dimensionale Unterraum

TMX := DFF−1(X)(Rk) ⊂ Rn

als der Tangentialraum von M in X bezeichnet.

Damit diese Terminologie gerechtfertigt ist, sollte TMX von der Wahl des Koordinatensystemsunabhangig sein. Zum Nachweis sei also F : W → Rn ein weiteres Koordinatensystem um X.Nach Satz 3.6.4 ist

D(F−1 F )F−1

(X): Rk → Rk

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3.6. DIFFERENZIERBARE UNTERMANNIGFALTIGKEITEN 161

bijektiv. Wegen F (F−1 F ) = F (auf geeignetem Definitionsbereich) folgt so

DFF−1

(X)(Rk) = DFF−1(X) D(F−1 F )

F−1

(X)(Rk) = DFF−1(X)(Rk),

was zu zeigen war.05.02.2004

Definition. Sei M eine Mannigfaltigkeit in Rn, sei p ∈ N0. Eine Differentialform vom Gradp (kurz: p-Form) auf M ist eine Abbildung, die jedem X ∈ M ein Element von Ωp(TMX)zuordnet.

Beispiel. Sei A ⊂ Rn offen, M ⊂ A eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit im Rn und ω einep-Form auf A. Fur X ∈ A und insbesondere fur X ∈M ist ωX ∈ Ωp(Rn), d.h.

ωX : Rn × · · · × Rn︸ ︷︷ ︸p−mal

→ R

ist eine alternierende multilineare Abbildung. Einschrankung von ωX , X ∈ M , auf dasp-fache Produkt TMX × · · · × TMX ergibt eine Differentialform vom Grad p auf M .

Sei nun ω eine p-Form auf der k-dimensionalen Mannigfaltigkeit M , sei X ∈M und F : W →Rn ein Koordinatensystem um X sowie Z ∈ W mit F (Z) = X. Sei ferner F : W → Rn einweiteres Koordinatensystem um X und Z ∈W mit F (Z) = X. Wegen DFZ : Rk → TMX ist

(DFZ)∗ : Ωp(TMX) → Ωp(Rk)

erklart, und wir setzen(F ∗ω)Z := (DFZ)∗ωX .

Auf diese Weise wird eine p-Form F ∗ω auf W erklart. Nach Satz 3.6.4 ist die AbbildungG := F−1 F in einer Umgebung von Z ein Diffeomorphismus. Aus F = F G folgt daher

(F ∗ω)Z = (DFZ)∗ωX = (DFZ DGZ)∗ωX

= (DGZ)∗ ((DFZ)∗ωX) = (DGZ)∗(F ∗ω)Z

= G∗(F ∗ω)Z ,

also F ∗ω = G∗(F ∗ω) im gemeinsamen Definitionsbereich. Mit F ∗ω ist also auch F∗ω diffe-

renzierbar.

Definition. Die p-Form ω auf der Mannigfaltigkeit M heißt differenzierbar, wenn fur jedesKoordinatensystem F von M die Form F ∗ω differenzierbar ist.

Wir uberlegen uns jetzt, daß man auch fur p-Formen auf M eine außere Ableitung erklarenkann.

Satz 3.6.5. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit in Rn und ω eine differenzierbarep-Form auf M . Dann gibt es eine eindeutig bestimmte (p + 1)-Form dω auf M , das außereDifferential von ω, so daß

F ∗(dω) = d(F ∗ω)

fur jedes Koordinatensystem F der Mannigfaltigkeit M gilt.

Beweis. Sei F : W → Rn ein Koordinatensystem um X ∈M und Z ∈ W mit F (Z) = X. Zubeliebigen Vektoren Y1, . . . , Yp+1 ∈ TMX gibt es eindeutig bestimmte Vektoren V1, . . . , Vp+1 ∈

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162 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Rk mit DFZ(Vi) = Yi fur i = 1, . . . , p + 1. Falls dω tatsachlich existiert mit der gefordertenEigenschaft, so folgt

(dω)X(Y1, . . . , Yp+1) = (dω)X(DFZ(V1), . . . , DFZ(Vp+1))

= [(DFZ)∗ dωX ] (V1, . . . , Vp+1)

= (F ∗ dω)Z(V1, . . . , Vp+1)

= d(F ∗ω)Z(V1, . . . , Vp+1).

Dies zeigt, daß dω eindeutig bestimmt ist durch die geforderte Eigenschaft. Wir definierennun

(dω)X(Y1, . . . , Yp+1) := d(F ∗ω)Z(V1, . . . , Vp+1).

Wir rechnen nun nach, daß diese Definition nicht von der Wahl des Koordinatensystemsabhangt und die gewunschte Eigenschaft besitzt.

Wahlunabhangigkeit: Seien F : W → M , F : W → M Koordinatensysteme von M umX mit F (Z) = F (Z) = X. Sei G := F−1 F in einer geeigneten Umgebung von Z, d.h.G(Z) = Z. Schließlich seien Vi, V i ∈ Rk mit

DFZ(Vi) = Yi = DFZ(V i), i = 1, . . . , p+ 1.

Wegen F = F G gilt DFZ(V i) = DFZ(DGZ(V i)) und damit DGZ(V i) = Vi. Nun folgt

d(F ∗ω)Z(V 1, . . . , V p+1) = d((F G)∗ω)Z(V 1, . . . , V p+1)

= d(G∗(F ∗ω))Z(V 1, . . . , V p+1)

= (G∗d(F ∗ω))Z(V 1, . . . , V p+1)

= d(F ∗ω)Z(DGZ(V 1), . . . , DGZ(V p+1))

= d(F ∗ω)Z(V1, . . . , Vp+1).

Geforderte Eigenschaft: Wir verwenden obige Notation, die Definition von F ∗(dω) undschließlich die Definition von dω, um so zu erhalten

F ∗(dω)Z(V1, . . . , Vp+1) = (dω)X(DFZ(V1), . . . , DFZ(Vp+1))

= d(F ∗ω)Z(V1, . . . , Vp+1),

also in der Tat d(F ∗ω) = F ∗(dω).

Orientierung.

In Abschnitt 3.2 hatten wir gesehen, daß die klassischen Satze der Vektoranalysis einegeeignete Orientierung der betrachteten Kurven und Flachen voraussetzen. Der Begriff einerOrientierung ist jetzt auf Mannigfaltigkeiten und deren Rander zu ubertragen.

Sei V ein n-dimensionaler reeller Vektorraum mit Basen (e1, . . . , en) und (e1, . . . , en). Istei =

∑nj=1 αjiej fur i = 1, . . . , n, so setzen wir

∆ := det (αij)ni,j=1.

Man nennt (e1, . . . , en) und (e1, . . . , en) aquivalent, falls ∆ > 0 gilt. Hierdurch ist eine Aqui-valenzrelation auf den geordneten Basen von V gegeben mit genau zwei Aquivalenzklassen.Die Aquivalenzklasse zu (e1, . . . , en) wird mit

[e1, . . . , en]

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3.6. DIFFERENZIERBARE UNTERMANNIGFALTIGKEITEN 163

bezeichnet, die davon verschiedene Aquivalenzklasse wird mit −[e1, . . . , en] bezeichnet. EineOrientierung auf V ist eine Aquivalenzklasse geordneter Basen.

Definition. Sei M eine k-dimensionale Mannigfaltigkeit in Rn. Eine Orientierung auf M isteine Abbildung o, die jedem X ∈M eine Orientierung oX des Tangentialraumes TMX zuord-net, so daß gilt: Fur jedes Koordinatensystem F : W → Rn von M mit zusammenhangendemW gilt

entweder [DFZ(E1), . . . , DFZ(Ek)] = oF (Z) fur Z ∈W

oder [DFZ(E1), . . . , DFZ(Ek)] = −oF (Z) fur Z ∈W.

Im ersten Fall heißt F orientierungstreu, im zweiten Fall orientierungsumkehrend. Ist o eineOrientierung auf M , so heißt (M,o) orientierte Mannigfaltigkeit.

Beispiele.

• Der Rn als orientierte n-dimensionale Mannigfaltigkeit, offene Teilmengen davon. Dis-kussion des Zusammenhangs der Menge W in der vorangehenden Definition.

• Regulare Kurven; zumindest lokal: parametrisierte Flachen.

• Wir hatten schon erwahnt, daß das Mobiusband im R3 ein Beispiel fur eine Mannig-faltigkeit ist, auf der keine Orientierung existiert. Fur eine (n − 1)-dimensionale Man-nigfaltigkeit im Rn gibt es genau dann eine Orientierung (wie man zeigen kann), wennM ein stetiges Einheitsnormalenvektorfeld besitzt. Dies kann man verwenden, um dieNichtorientierbarkeit des Mobiusbandes einzusehen.

Bemerkung. Die Orientierbarkeit einer k-dimensionalen Mannigfaltigkeit M ist aquivalentzur Existenz einer nirgends verschwindenden stetigen k-Form auf M oder auch zur Existenzeines orientierten Atlas. Ein Atlas ist hierbei eine Familie von Koordinatensystemen vonM , deren Bilder M uberdecken. Ein Atlas heißt orientiert, wenn je zwei seiner Elementegleichorientiert sind.

Bei der folgenden Aussage ist die Argumentation im Beweis ebenso wichtig wie die Aussageselbst.

Lemma 3.6.6. Sei (M,o) eine k-dimensionale orientierte Mannigfaltigkeit im Rn, seienF, F zwei orientierungstreue Koordinatensysteme um X, sei F (Z) = X = F (Z). Dann istdetD(F−1 F )Z > 0.

Beweis. Nach Voraussetzung gilt

[DFZ(E1), . . . , DFZ(Ek)] = oX = [DFZ(E1), . . . , DFZ(Ek)].

Zwei aquivalente Basen bleiben nach Anwendung eines beliebigen Isomorphismus aquivalent.Also folgt durch Anwendung des Isomorphismus (DFZ)−1 : TMX → Rk[

D(F−1 F )Z(E1), . . . , D(F−1 F )Z(Ek)]

= [E1, . . . , Ek],

was die Behauptung zeigt.

Aufgrund von Satz 3.6.1 ist bekannt, daß der Rand ∂M einer k-dimensionalen Mannigfaltig-keit M von Rn eine (k − 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit ist. Ist (M,o) orientiert, so kannman auch auf ∂M eine (induzierte) Orientierung einfuhren.

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164 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 3.6.7. Sei (M,o) eine k-dimensionale orientierte Mannigfaltigkeit in Rn. Dann gibt eseine Orientierung o′ auf ∂M , so daß gilt: Fur X ∈ ∂M , jedes Koordinatensystem F : W → Rn

von M um X und fur alle Vektoren Y1, . . . , Yk−1 ∈ T∂MX mit

[DFZ(−E1), Y1, . . . , Yk−1] = oX , Z = F−1(X)

gilt[Y1, . . . , Yk−1] = o′X .

Man nennt o′ die von o induzierte Orientierung.

Beweis. Sei X ∈ ∂M . Es gibt ein Koordinatensystem F von M um X, so daß fur die Basis(DFZ(−E1), DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)) von TMX gilt

oX = [DFZ(−E1), DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)].

Dann ist zunachst F (0, ·) ein Koordinatensystem von ∂M um X und(DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)) ist eine Basis von T∂MX . Wir definieren

o′X := [DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)].

Wohldefiniertheit: Sei F ein weiteres Koordinatensystem von M um X mit F (Z) = X und

oX = [DFZ(−E1), DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)].

Wie im Beweis zu Lemma 3.6.6 folgt det(D(F−1 F )Z) > 0. Ferner gilt

〈E1, D(F−1 F )Z(E1)〉 = limt↓0

1t〈F−1 F (Z + tE1), E1〉 ≥ 0.

WegenD(F−1 F )Z(Ei) ∈ linE2, . . . , Ek

fur i = 2, . . . , k, folgt schließlich mit E⊥1 = linE2, . . . , Ek

det(D(F−1 F )Z | E⊥1 ) > 0

und damit[DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)] = [DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)].

Ist nun Y1, . . . , Yk−1 ∈ T∂MX und

oX = [DFZ(−E1), Y1, . . . , Yk−1],

wobei F wie in der Definition von oX gewahlt sei, so gilt

Yi =k∑j=2

αjiDFZ(Ej), i = 1, . . . , k − 1,

mit det(αji) > 0. Daher folgt

o′X = [DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)] = [Y1, . . . , Yk−1].

Wir zeigen nun noch, daß o′ eine Orientierung von ∂M ist. Sei hierzu G : W → Rn eine Kartevon ∂M mit zusammenhangender Menge W . Sei Z0 ∈W und X0 := G(Z0). Sei F eine Kartevon M um X0, die wie in der Definition von o′ orientiert sei. Sei i : Rk−1 → Rk, i(x) := (0, x).

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3.6. DIFFERENZIERBARE UNTERMANNIGFALTIGKEITEN 165

Ferner setze F := F i auf einen passenden Definitionsbereich. Dann gilt zunachst lokal umZ0:

[DGZ(E1), . . . , DGZ(Ek−1)]

=[D(F (F−1 G))Z(E1), . . . , D(F (F−1 G))Z(Ek−1)

]=

[DFF−1(X)(D(F−1 G)Z(E1)), . . . , DFF−1(X)(D(F−1 G)Z(Ek−1))

]= sgn(det(D(F−1 G)Z))[DFF−1(X)(E1), . . . , DFF−1(X)(Ek−1)]

= f(z) · [DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek−1)]

= f(z)o′G(z),

wobeif(z) := sgn(det(D(F G)Z)).

Die bewiesene Gleichung zeigt, daß f unabhangig von der lokalen Darstellung ist undf(z) ∈ −1, 1. Ferner ist f aufgrund der lokalen Darstellung stetig. Dies zeigt die Konstanzvon f auf der zusammenhangenden Menge W .

Bemerkung. Ist (M,o) eine orientierte Mannigfaltigkeit, so laßt man gelegentlich dieAngabe des Symbols o weg, wenn dieses aus dem Zusammenhang klar ist.

Zerlegung der Eins.

Haufig liegt in geometrischen, topologischen oder analytischen Fragestellungen die folgendeSituation vor. Ein Objekt laßt sich lokal gut beschreiben bzw. definieren, und man will dieselokalen Beschreibungen global ”glatt“ zusammensetzen. Ein nutzliches Hilfsmittel hierfur istdie nachfolgend beschriebene Konstruktion, die zu einer Menge von nichtnegativen Funktionenfuhrt, die sich an jeder Stelle zu Eins aufsummieren. Die Vorgehensweise hier ist speziellerals ublicherweise bei der Untersuchung parakompakter Raume in der Topologie. Allerdingskonnen die zerlegenden Funktionen zusatzlich differenzierbar gewahlt werden.

Lemma 3.6.8. Sei U ⊂ Rn offen und C ⊂ U kompakt. Dann gibt es eine kompakte MengeD ⊂ U mit C ⊂ D0.

Beweis. Zu jedem X ∈ C gibt es ein aX > 0 mit

W (X, aX) := Y ∈ Rn : ‖Y −X‖max ≤ aX ⊂ U.

Das System W (X, aX)0 : X ∈ C ist eine offene Uberdeckung von C, enthalt also eineendliche Teiluberdeckung W (Xi, aXi) : i = 1, . . . ,m. Die Menge

D :=m⋃i=1

W (Xi, aXi)

leistet das Gewunschte.

Lemma 3.6.9. Sei U ⊂ Rn offen und C ⊂ U kompakt. Dann gibt es eine kompakte MengeD ⊂ U mit C ⊂ D0 und eine differenzierbare Funktion ϕ : Rn → [0, 1] mit

ϕ(X) =

1, fur X ∈ C,0, fur X ∈ Rn \D.

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166 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. (1) Die Funktion f : R → R ist erklart durch

f(x) :=

exp−(x− 1)−2exp−(x+ 1)−2, x ∈ (−1, 1),0, sonst.

Dann ist f > 0 auf (−1, 1) und f = 0 auf R \ (−1, 1). Ferner ist f von der Klasse C∞.

(2) Fur Z ∈ Rn und a > 0 sei g : Rn → R erklart durch

g(X) :=n∏j=1

f

(xj − zja

).

Dann ist g von der Klasse C∞, g > 0 auf W (Z, a)0 und g = 0 auf Rn \W (Z, a)0.

(3) Seien W (Xi, aXi) : i = 1, . . . ,m und D wie im Beweis von Lemma 3.6.8 konstruiert. Zui ∈ 1, . . . ,m sei gi die Funktion, die zu Xi, aXi so erklart ist wie oben g zu Z, a. Definiereψ : Rn → R durch

ψ(X) :=m∑i=1

gi(X).

Dann ist ψ von der Klasse C∞. Zu X ∈ C gibt es ein j ∈ 1, . . . ,m mit X ∈ W (Xj , aXj )0

und somit ψ(X) ≥ gj(X) > 0. Fur X ∈ Rn \ D gilt X /∈ W (Xi, aXi), also gi(X) = 0,fur i = 1, . . . ,m, d.h. ψ(X) = 0. Da ψ stetig und C kompakt ist, gibt es ein ε > 0 mitψ(X) ≥ ε > 0 fur alle X ∈ C.

(4) Sei f : R → R eine Funktion der Klasse C∞ mit f(x) > 0 fur x ∈ (0, ε) und f(X) = 0sonst (siehe (1)). Setze

h(x) :=∫ x

0f/

∫ ε

0f, x ∈ R.

Dann ist h : R → [0, 1] differenzierbar, und es gilt h(x) = 0 fur x ≤ 0 und h(x) = 1 fur x ≥ ε.

(5) Die Funktion ϕ := h ψ : Rn → [0, 1] ist von der Klasse C∞, ϕ(X) = 1 fur X ∈ C undϕ(X) = 0 fur X ∈ Rn \D. Dies zeigt samtliche Behauptungen.

Das im folgenden Satz konstruierte Funktionensystem ϕ1, . . . , ϕm nennt man eine derUberdeckung U1, . . . , Um untergeordnete Zerlegung der Eins.

Satz 3.6.10. Sei M ⊂ Rn kompakt und U1, . . . , Um eine offene Uberdeckung von M. Danngibt es differenzierbare reelle Funktionen ϕ1, . . . , ϕm auf Rn mit den folgenden Eigenschaften:

(a) 0 ≤ ϕi ≤ 1 fur i = 1, . . . ,m,

(b) ϕ1(X) + · · ·+ ϕm(X) = 1 fur alle X ∈M ,

(c) es gibt eine kompakte Menge Ai ⊂ Ui mit ϕi(X) = 0 fur X ∈ Rn \Ai fur i = 1, . . . ,m.

Beweis. Zunachst werden kompakte Mengen Di ⊂ Ui konstruiert, so daß M ⊂ D01 ∪ · · · ∪D0

m

gilt. Hierzu zeigen wir allgemeiner, um vollstandige Induktion verwenden zu konnen: Furk ∈ 0, . . . ,m gibt es kompakte Mengen Di ⊂ Ui (i = 1, . . . , k) mit

M ⊂ D01 ∪ · · · ∪D0

k ∪ Uk+1 ∪ · · · ∪ Um.

Beweis durch vollstandige Induktion uber k. Fur k = 0 ist nichts zu zeigen. Seien D1, . . . , Dk

schon konstruiert. Dann ist

Ck+1 := M \(D0

1 ∪ · · · ∪D0k ∪ Uk+2 ∪ · · · ∪ Um

)

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3.7. DER SATZ VON STOKES 167

eine kompakte Teilmenge von Uk+1. Nach Lemma 3.6.8 gibt es eine kompakte TeilmengeDk+1 ⊂ Uk+1 mit Ck+1 ⊂ D0

k+1, also

M ⊂ D01 ∪ · · · ∪D0

k ∪D0k+1 ∪ Uk+2 ∪ · · · ∪ Um.

Dies beendet den Induktionsschluß.

Insbesondere gilt mit obigen Mengen Di, i = 1, . . . ,m:

M ⊂ D01 ∪ · · · ∪D0

m =: U

Nach Lemma 3.6.9 gibt es eine kompakte Menge Ai ⊂ Ui mit Di ⊂ A0i und eine Funktion

ψi : Rn → [0, 1] der Klasse C∞ mit ψi(X) = 1 fur X ∈ Di und ψi(X) = 0 fur X ∈ Rn \ Ai,i = 1, . . . ,m.

Zu X ∈ U gibt es ein j ∈ 1, . . . ,m mit X ∈ D0j , d.h. ψj(X) > 0. Somit gilt ψ1(X) +

· · ·+ ψm(X) > 0. Nach Lemma 3.6.9 gibt es eine kompakte Menge A ⊂ U mit M ⊂ A0 undeine differenzierbare Funktion f : Rn → [0, 1] mit f(X) = 1 fur X ∈ M und f(X) = 0 furX ∈ Rn \A. Setze

ϕi(X) :=

f(X) · ψi(X)

ψ1(X)+···+ψm(X) , X ∈ U,0, X ∈ Rn \ U.

Die Funktionen ϕ1, . . . , ϕm leisten das Gewunschte.

3.7 Der Satz von Stokes

Bevor wir den Satz von Stokes formulieren konnen, muß die Integration von Differentialformenuber Mannigfaltigkeiten erklart werden. Alle Differentialformen seien als stetig vorausgesetzt.Ferner sei M stets eine k-dimensionale orientierte Mannigfaltigkeit. Fur eine auf einer offenenMenge M ⊂ Rn erklarte Differentialform ω vom Grad p und einen singularen p-Wurfel in Mhatten wir ∫

cω :=

∫[0,1]p

c∗ω

definiert. Wir verallgemeinern dies jetzt auf den Fall einer Mannigfaltigkeit M ⊂ Rn.

Definition. Fur eine p-Form ω auf M und einen singularen p-Wurfel c in M sei∫cω :=

∫[0,1]p

c∗ω.

Im folgenden werden wir tatsachlich ausschließlich p-Formen uber p-Mannigfaltigkeitenintegrieren.

Definition. Ein singularer k-Wurfel c : [0, 1]k → M heißt orientierungstreu, wenn es einorientierungstreues Koordinatensystem F : W → Rn in M gibt mit c = F | [0, 1]k. In diesemFall nennen wir c einen orientierungstreuen k-Wurfel.

Der folgende Hilfssatz zeigt an, daß das Integral einer k-Form auf M uber einen singularenWurfel ”im wesentlichen“ von der Wahl des singularen Wurfels unabhangig ist.

Lemma 3.7.1. Seien c1, c2 : [0, 1]k → M orientierungstreue k-Wurfel in M . Sei ω einek-Form auf M mit ωX = 0 fur X /∈ c1([0, 1]k) ∩ c2([0, 1]k) =: B. Dann ist∫

c1

ω =∫c2

ω.

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168 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Beweis. Sei c∗2ω =: f dx1 ∧ · · · ∧ dxk und G := c−12 c1 auf c−1

1 (B). Dann gilt auf c−11 (B):

c∗1ω = [c2 (c−12 c1)]∗ω = G∗c∗2ω

= G∗(f dx1 ∧ · · · ∧ dxk)

= f G det JGdx1 ∧ · · · ∧ dxk

= f G |det JG| dx1 ∧ · · · ∧ dxk,

wobei zuletzt benutzt wurde, daß detJG > 0 gilt wegen Lemma 3.6.6. Mit dem Transforma-tionssatz fur Gebietsintegrale, angewandt mit dem Diffeomorphismus G : c−1

1 (B) → c−12 (B)

erhalt man nun∫c−12 (B)

c∗2ω =∫c−12 (B)

f =∫c−11 (B)

f G |det JG| =∫c−11 (B)

c∗1ω.

Da ω außerhalb von B ohnehin verschwindet, folgt∫c1

ω =∫

[0,1]kc∗1ω =

∫c−11 (B)

c∗1ω =∫c−12 (B)

c∗2ω =∫

[0,1]kc∗2ω =

∫c2

ω,

was zu zeigen war.

Lemma 3.7.1 stellt gerade die fur die folgende Definition erforderliche Wohldefiniertheitsaus-sage bereit.

Definition. Sei c ein orientierungstreuer k-Wurfel in M und ω eine k-Form auf M mit ωX = 0fur X /∈ c([0, 1]k). Dann sei ∫

Mω :=

∫cω.

Der singulare k-Wurfel c in M heißt orientierungsumkehrend, wenn es ein orientierungsum-kehrendes Koordinatensystem F : W → Rn gibt mit c = F | [0, 1]k. Ist dies der Fall und istω eine k-Form auf M , die außerhalb c([0, 1]k) verschwindet, so ist∫

cω = −

∫Mω.

Zum Nachweis sei

F : [0, 1]k → Rn, F (x1, . . . , xn) := F (x1, . . . , xk−1, 1− xk)

und c := F | [0, 1]k. Dann ist F und somit c orientierungstreu, d.h.∫Mω =

∫cω.

Andererseits folgt wie im Beweis Lemma 3.7.1, daß∫cω = −

∫cω,

da nun |det JG| = −det JG gilt.

Definition. Sei c ein singularer k-Wurfel inM . Dann heißt c normal, wenn c orientierungstreuist und wenn

c([0, 1]k) ∩ ∂M = ∅ oder c([0, 1]k) ∩ ∂M = c Ik1,0([0, 1]k−1)

gilt.

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3.7. DER SATZ VON STOKES 169

Lemma 3.7.2. Sei M kompakt. Dann gibt es eine offene Uberdeckung U1, . . . , Um von Mderart, daß zu jedem i ∈ 1, . . . ,m ein normaler k-Wurfel ci existiert mit

Ui ∩M ⊂ ci([0, 1]k).

Beweis. Zu X ∈ M existiert ein Koordinatensystem F : W → Rn, das o.B.d.A. so gewahltwerden kann, daß F orientierungstreu ist, [0, 1]k ⊂W und

X =

F(

12 , . . . ,

12

), falls X /∈ ∂M,

F(0, 1

2 , . . . ,12

), falls X ∈ ∂M

erfullt. Die Einschrankung c := F | [0, 1]k ist dann ein normaler Wurfel. Da F−1 stetig ist, gibtes eine offene Umgebung UX von X mit F−1(UX ∩M) ⊂ [0, 1]k, also mit UX ∩M ⊂ c([0, 1]k).Das System UX : X ∈ M ist eine offene Uberdeckung von M , enthalt also wegen derKompaktheit von M eine endliche Teiluberdeckung von M .

Nun sind alle Vorbereitungen abgeschlossen, um die Definition des Integrals einer k-Formuber eine kompakte k-dimensionale orientierte Mannigfaltigkeit geben zu konnen.

Definition. Sei M kompakt und ω eine k-Form auf M . Sei U1, . . . , Um eine Uberdeckungvon M wie in Lemma 3.7.2 und hierzu ϕ1, . . . , ϕm eine der Uberdeckung untergeordneteZerlegung der Eins. Dann definiert man∫

Mω :=

m∑i=1

∫Mϕiω.

Nachweis. Zunachst ist festzustellen, daß das Integral∫Mϕiω

schon definiert ist. Zu Ui existiert ja ein normaler k-Wurfel ci mit Ui ∩M ⊂ ci([0, 1]k). DieFunktion ϕi und damit die Form ϕiω verschwindet außerhalb von Ui, also erst recht außerhalbci([0, 1]k). Ist schließlich V1, . . . , Vr eine weitere offene Uberdeckung vonM wie in Lemma 3.7.2und ψ1, . . . , ψr eine zugehorige Zerlegung der Eins, so ist wegen der Linearitat des Integrals∑

i

∫Mϕiω =

∑i

∑j

∫Mϕiψjω =

∑j

∑i

∫Mϕiψjω =

∑j

∫Mψjω,

was die Wohldefiniertheit zeigt.

Wir kommen schließlich zum Satz von Stokes.

Satz 3.7.3. Sei (M,o) eine kompakte orientierte k-dimensionale Mannigfaltigkeit und ω eine(k − 1)-Form der Klasse C1 auf M. Der Rand ∂M sei mit der induzierten Orientierungversehen. Dann gilt ∫

Mdω =

∫∂M

ω.

Beweis. Sei zunachst c ein normaler k-Wurfel in M , und ω verschwinde außerhalb vonc([0, 1]k). Dann gilt∫

Mdω =

∫cdω =

∫[0,1]k

c∗dω =∫

[0,1]kdc∗ω =

∫Ik

dc∗ω =∫∂Ik

c∗ω =∫∂cω,

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170 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

wobei fur die vorletzte Gleichheit der Satz von Stokes fur Ketten verwendet wurde.

Fall 1: c([0, 1]k) ∩ ∂M = ∅.

Dann gilt ωX = 0 fur X ∈ c Iki,α([0, 1]k−1) fur i = 1, . . . , k und α = 0, 1, da c Einschrankungeines Koordinatensystems ist und somit X Haufungspunkt von Punkten Y ∈M mit ωY = 0.Es folgt daher ∫

∂cω = 0 =

∫∂M

ω,

wobei auch fur das Integral auf der rechten Seite verwendet wird, daß ω außerhalb c([0, 1]k)verschwindet.

Fall 2: c([0, 1]k) ∩ ∂M = c Ik1,0([0, 1]k−1).

Dann gilt ∫∂cω =

k∑i=1

(−1)i(∫

cIki,0

ω −∫cIk

i,1

ω

)= −

∫cIk

1,0

ω.

Daß die ubrigen Integrale verschwinden, sieht man wie in Fall 1. Da c ein normaler k-Wurfelist, gibt es ein orientierungstreues Koordinatensystem F : W → Rn mit c = F | [0, 1]k. DaFall 2 vorliegt, ist W eine relativ offene Teilmenge von Hk. Definiere

W ′ := (x1, . . . , xk−1) ∈ Rk−1 : (0, x1, . . . , xk−1) ∈W

und F ′(x1, . . . , xk−1) := F (0, x1, . . . , xk−1) mit (x1, . . . , xk−1) ∈ W ′. Dann ist F ′ ein Koordi-natensystem von ∂M mit F ′ | [0, 1]k−1 = c Ik1,0. Fur Z ∈W mit z1 = 0 gilt

[DFZ(E1), . . . , DFZ(Ek)] = oF (Z),

da F orientierungstreu ist. Nach Definition der induzierten Orientierung o′ von ∂M gilt

o′F (Z) = −[DFZ(E2), . . . , DFZ(Ek)].

Hieraus folgt, daß F ′ orientierungsumkehrend ist. Also erhalt man

−∫cIk

1,0

ω =∫∂M

ω.

In beiden Fallen ist also ∫∂cω =

∫∂M

ω.

Sei schließlich ω eine beliebige (k − 1)-Form der Klasse C1 auf M . Wahle eine offeneUberdeckung U1, . . . , Um von M wie in Lemma 3.7.2 mit zugehorigen normalen k-Wurfelnc1, . . . , cm. Sei schließlich ϕ1, . . . , ϕm eine untergeordnete Zerlegung der Eins.

Fur jedes i ∈ 1, . . . ,m verschwindet die Form ϕiω außerhalb ci([0, 1]k). Nach dem schonBewiesenen gilt damit ∫

Md(ϕiω) =

∫∂M

ϕiω.

Wegen∑m

i=1 ϕi = 1 auf M ist mit naheliegenden Rechenregeln fur Differentialformen aufMannigfaltigkeiten

m∑i=1

d(ϕiω) =m∑i=1

(dϕi ∧ ω + ϕi dω) = d

(m∑i=1

ϕi

)∧ ω +

(m∑i=1

ϕi

)dω =

(m∑i=1

ϕi

)dω

= dω.

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3.7. DER SATZ VON STOKES 171

Hiermit folgert man aufgrund der Linearitat des Integrals∫Mdω =

∫M

m∑i=1

d(ϕiω) =m∑i=1

∫Md(ϕiω) =

m∑i=1

∫∂M

ϕiω =∫∂M

ω,

was zu zeigen war.

Als eine abschließende Anwendung zeigen wir einen Satz uber die ”Unmoglichkeit einer Re-traktion“. Hieraus kann man mit Zusatzuberlegungen den Brouwerschen Fixpunktsatz her-leiten.

Satz 3.7.4. Sei M ⊂ Rn eine kompakte zusammenhangende n-dimensionale Mannigfaltigkeit.Dann gibt es keine Abbildung F : M → ∂M der Klasse C2, die den Rand punktweise festlaßt.

Beweis. Wir nehmen indirekt an, F ware doch so eine Abbildung. Dann erklaren wir dieAbbildung G(x, t) := x + t(F (x) − x) fur x ∈ M und t ∈ [0, 1] sowie G =: (g1, . . . , gn).Die Funktionen gi : M → R sind 0-Formen auf M , dgi ist deren außeres Differential. DaM als offene Teilmenge von Rn in kanonischer Weise orientierbar ist, kann die n-Form ω =dg1 ∧ · · · ∧ dgn auf M integriert werden. Wir definieren also

ϕ(t) :=∫Mdg1 ∧ · · · ∧ dgn =

∫M

[dx1 + t(df1 − dx1)] ∧ · · · ∧ [dxn + t(df1 − dxn)]

Differentiation nach t und Anwendung des Satzes von Stokes ergibt

ϕ′(t) =∫M

n∑i=1

dg1 ∧ · · · ∧ (dfi − dxi) ∧ · · · ∧ dgn

=n∑i=1

(−1)i−1

∫M

(dfi − dxi) ∧ dg1 ∧ · · · ∧ dgi ∧ · · · ∧ dgn

=n∑i=1

(−1)i−1

∫Md[(fi − xi)dg1 ∧ · · · ∧ dgi ∧ · · · ∧ dgn]

=n∑i=1

(−1)i−1

∫∂M

(fi − xi)︸ ︷︷ ︸=0

dg1 ∧ · · · ∧ dgi ∧ · · · ∧ dgn

= 0,

wobei F (x) = x fur x ∈ ∂M verwendet wurde. Nun gilt aber

ϕ(0) =∫Mdx1 ∧ · · · ∧ dxn = λn(M) > 0

und

ϕ(1) =∫Mdf1 ∧ · · · ∧ dfn =

∫M

det JF dx1 ∧ · · · ∧ dxn

=∫M

det JF (x)λn(dx) = 0,

da detJF (x) = 0 fur alle x ∈ M gelten muß. Hier wird verwendet, daß F (M) ⊂ ∂M gilt,∂M eine (n− 1)-dimensionale Mannigfaltigkeit ohne innere Punkte im Rn ist (und der Satzvon der Umkehrabbildung). Da ϕ′ = 0 auf [0, 1] gilt, muß andererseits ϕ konstant sein, einWiderspruch.

Als Folgerung erhalten wir fur B := X ∈ Rn : ‖X‖ ≤ 1:

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172 KAPITEL 3. GEOMETRISCHE INTEGRATIONSTHEORIE

Satz 3.7.5. Jede Abbildung F : B → B der Klasse C2 hat einen Fixpunkt.

Beweis. Hatte F keinen Fixpunkt, d.h. wurde F (X) 6= X fur alle X ∈ B gelten, so konnteman eine Abbildung definieren durch

f : B → ∂B, f(x) = x+ λ(x)(x− F (x))

mit λ(x) ≥ 0 so, daß f(x) ∈ ∂B gilt. Wegen

〈x+ λ(x)(x− F (x)), x+ λ(x)(x− F (x))〉 = 1

erhalt man

λ(x) =−〈x, x− F (x)〉+

√〈x, x− F (x)〉2 + (1− ‖x‖2)‖x− F (x)‖2

‖x− F (x)‖2.

Die Abbildung f ist dann eine Retraktion von B auf ∂B der Klasse C2, im Widerspruch zuSatz 3.7.4.

Mit Hilfe eines Approximationsarguments (Weierstraßscher Approximationssatz) sieht manein, daß es auch keine stetige fixpunktfreie Abbildung von B auf sich geben kann. Damiterhalt man schließlich den folgenden Satz als einfache Konsequenz.

Satz 3.7.6 (Brouwerscher Fixpunktsatz). Ist A ⊂ Rn homoomorph zu einer n-dimensionalen abgeschlossenen Kugel, so hat jede stetige Abbildung von A in sich einen Fix-punkt.

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Literaturverzeichnis

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[4] Jurgen Elstrodt. Maß- und Integrationstheorie, Springer, 2. Auflage 1999.

[5] Kurt Endl, Wolfgang Luh. Analysis I, Studientext, Akademische Verlagsgesellschaft,Wiesbaden, 1980.

[6] Kurt Endl, Wolfgang Luh. Analysis II, Studientext, Akademische Verlagsgesellschaft,Wiesbaden, 1981.

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[8] Harald Holmann, Hansklaus Rummler. Alternierende Differentialformen, B.I., 2. Auflage1981.

[9] Rolf Schneider. Skriptum zur Analysis II, Sommersemester 2000.

[10] Rolf Schneider. Skriptum zur Analysis III, Wintersemester 2000/01.

173

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Index

Lp-Raum, 116σ-Additivitat, 30σ-Algebra, 54σ-additiv, 59σ-endlich, 59außere Ableitung, 144außeres Differential, 144außeres Lebesgue-Maß, 73außeres Maß, 65

absolut stetig, 108additiv, 58Algebra, 54

Bogenlange, 123Borelmenge, 73

Deformationsschar, 127Differentialform, 141, 161Divergenz, 131Divergenzsatz, 132Durchmesser, 2durchschnittsstabil, 55Dynkin-System, 55

Egorov, 113einfach zusammenhangend, 127endlich, 59erzeugende Folge, 8Erzeugendensystem, 56exakt, 125exakte Differentialform, 147

fast uberall definiert, 14Flacheninhalt, 129Fubini, 15, 18

geschlossen, 126, 158geschlossene Differentialform, 147Gradientenfeld, 125

Hausdorff-Maß, 80Holder-Ungleichung, 117

Indikatorfunktion, 5Inhalt, 13, 59Integrabilitatsbedingungen, 126Integral, 11

Integralsatz von Gauß, 132Intervall, 2isodiametrische Ungleichung, 82

Jordan-Hahn-Zerlegung, 106Jordan-meßbar, 13

Ketten, 153Kolmogoroff, 105konsistent, 104Konvergenz dem Maße nach, 114Konvergenz im Mittel, 115Koordinatensystem, 159Kurve, 122Kurvenintegral, 124

Lange einer Kurve, 122Lebesgue-integrierbar, 11Lebesgue-Stieltjes-Maße, 76Lebesgue-Zerlegung, 111Lebesguesches Maß, 29Lemma von Sard, 41Limes inferior, 22Limes superior, 22Lipschitz-Abbildung, 32Lipschitz-stetig, 32Lange, 122

Mannigfaltigkeit, 157Maß, 2, 30Maßerweiterungssatz, 68maßerzeugende Funktion, 77Maßraum, 59metrisches außeres Maß, 78meßbar, 28meßbarer Raum, 54Meßraum, 54Minkowski-Ungleichung, 117monotone Klasse, 55monotones Funktional, 7monotones System, 55Mobiusband, 158

Norm, 2Normalenvektor, 129

Oberes Riemann-Darboux-Integral, 3Oberfunktion, 8

174

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INDEX 175

Obersumme, 2orientierte Flache, 129orientierte Kurve, 122Orientierung, 163orientierungstreu, 121

Parametergebiet, 128Parametertransformation, 121, 129parametrisierte Flache, 128parametrisierte Kurve, 121Partition, 2Peano-Jordan, 13Potential, 125Produkt-σ-Algebra, 96Produktraum, 96Projektionsabbildung, 96projektive Familie, 104Punktmaß, 60

quadrierbar, 13quellenfrei, 131

Radon-Nikodym, 108Rand, 153Randpunkt, 158Regularitat, 74regular, 121rektifizierbar, 122Riemann-Darboux-integrierbar, 3Riemann-integrierbar, 3Riemannsche Summe, 2Ring, 53Rotation, 131

Satz von Green, 132Schnitte, 97singularer Wurfel, 150Spur, 122Stammfunktion, 125stetig deformierbar, 127stochastische Konvergenz, 114Stutztupel, 2

Tangentialebene, 128Tangentialraum, 128, 160

unberandet, 158uneigentliches Integral, 27Unteres Riemann-Darboux-Integral, 2Untersumme, 2

Vektorfeld, 123Vektorpotential, 131Verteilungsfunktion, 77Vervollstandigung, 63vollstandig, 63

Volumen, 13

Wahrscheinlichkeitsmaß, 59Wahrscheinlichkeitsraum, 59wegunabhangig, 125wirbelfrei, 131

Zerlegung der Eins, 166Zahlmaß, 60