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Franziska Frei Gerlach Antik? Oh, nee.Antigone und die Folgen: Sophokles, Hegel, Freud, Butler Abstract: Based on a comprehensive cultural-history approach, this essay argues that the selection of Oedipus as the basic model for psychoanalytical theory represents a negation of Antigone, the relevant sibling relation, and the horizon- tally structured family model. This negation will also be identified in Sigmund Freuds punch line Antik? Oh, nee.Taking Sophocless play as a point of reference, this article reviews different interpretations of Antigone around 1800, 1900, and 2000. They are given a new interpretation regarding the dynamics of horizontally structured relationships: as part of the construction of a sibling dispositive around 1800 (Hegel), as final phase of a period of 100years of enthusiasm for Antigone (Hofmannsthal) and rejection of her dominating role (Freud) and, finally, as alternative vision for the millennium (Butler). DOI: 10.1515/iasl-2014-0001 Antigone, ein Witz In seinen Untersuchungen zum Witz und dessen Beziehung zum Unbewussten erzählt uns Sigmund Freud folgenden Witz: Als in Berlin einmal die Antigone [von Sophokles] aufgeführt wurde, fand die Kritik, daß die Aufführung des anti- ken Charakters entbehrt habe. Der Berliner Witz machte sich diese Kritik in folgender Weise zu eigen: Antik? Oh, nee.1 Es ist dies eines von drei Beispielen, die Freud über die Technik der zweifachen Wortverwendung anbringt. Diese Technik funktioniert laut Freud, wie der Witz grundsätzlich, über die Beteiligung PD Dr. Franziska Frei Gerlach: Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, 8001 Zürich, E-Mail: [email protected] 1 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905). In: S.F.: Studienaus- gabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Bd.IV: Psychologische Schriften. Frankfurt/M.: S.Fi- scher 1970. S.9219, hier S.33. Freud bezieht den Witz nachweislich aus der Aesthetik von Friedrich Theodor von Vischer (Bd.1. 1846, S.429) und aus Über den Witz von Kuno Fischer ( 2 1889, S.75), neben Jean Paul und Theodor Lipps die Referenztheorien seiner Untersuchung, vgl. S.F.: Der Witz, S.13. IASL 2014; 39(1): 130

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  • Franziska Frei Gerlach

    Antik? Oh, nee.Antigone und die Folgen: Sophokles, Hegel, Freud, Butler

    Abstract: Based on a comprehensive cultural-history approach, this essay arguesthat the selection of Oedipus as the basic model for psychoanalytical theoryrepresents a negation of Antigone, the relevant sibling relation, and the horizon-tally structured family model. This negation will also be identified in SigmundFreuds punch line Antik? Oh, nee. Taking Sophocless play as a point ofreference, this article reviews different interpretations of Antigone around 1800,1900, and 2000. They are given a new interpretation regarding the dynamics ofhorizontally structured relationships: as part of the construction of a siblingdispositive around 1800 (Hegel), as final phase of a period of 100years ofenthusiasm for Antigone (Hofmannsthal) and rejection of her dominating role(Freud) and, finally, as alternative vision for the millennium (Butler).

    DOI: 10.1515/iasl-2014-0001

    Antigone, ein Witz

    In seinen Untersuchungen zum Witz und dessen Beziehung zum Unbewusstenerzhlt uns Sigmund Freud folgenden Witz: Als in Berlin einmal die Antigone[von Sophokles] aufgefhrt wurde, fand die Kritik, da die Auffhrung des anti-ken Charakters entbehrt habe. Der Berliner Witz machte sich diese Kritik infolgender Weise zu eigen: Antik? Oh, nee.1 Es ist dies eines von drei Beispielen,die Freud ber die Technik der zweifachen Wortverwendung anbringt. DieseTechnik funktioniert laut Freud, wie der Witz grundstzlich, ber die Beteiligung

    PD Dr. Franziska Frei Gerlach: Universitt Zrich, Deutsches Seminar, Schnberggasse 9,8001 Zrich, E-Mail: [email protected]

    1 Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewuten (1905). In: S.F.: Studienaus-gabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Bd.IV: Psychologische Schriften. Frankfurt/M.: S.Fi-scher 1970. S.9219, hier S.33. Freud bezieht den Witz nachweislich aus der Aesthetik vonFriedrich Theodor von Vischer (Bd.1. 1846, S.429) und aus ber den Witz von Kuno Fischer(21889, S.75), neben Jean Paul und Theodor Lipps die Referenztheorien seiner Untersuchung, vgl.S.F.: DerWitz, S.13.

    IASL 2014; 39(1): 130

  • des Unbewussten. Dabei stellt die witzige zweifache Wortverwendung einenSpezialfall der Bedeutungsverdichtung dar: die Ersparnis. Durch die leichte Ak-zentverschiebung in derWortwiederholung werden grere Zusammenhnge ein-sichtig, ohne umstndlich hergeleitet zu werden. In den Worten von Freud: Waswir im Beispiel Antigone [] ersparen, ist leicht zu sagen. Wir ersparen es, eineKritik zu uern, ein Urteil zu bilden, beides ist im Namen selbst schon gegeben.2

    Freuds Untersuchungen zum Witz sind 1905 erschienen, also zu der Zeit, inder er an der Entwicklung seiner dipus-Theorie schrieb. Dass er zu diesemZeitpunkt einen Witz erzhlt, der in der krzest mglichen Form die Antigone ineine Verneinung berfhrt, mchte ich im Folgenden als eine witzige, und dasheit mit Beteiligung des Unbewussten gesetzte, selbstreflexive Pointe an einementscheidenden Punkt der psychoanalytischen Theoriebildung lesbar machen:als Absage an die Antigone und zugleich Ersparnis einer Erklrung dafr. Dennvom 19.Jahrhundert her gesehen ist die Wahl von dipus als basalem Modellpsychoanalytischer Theorie zugleich eine Entscheidung gegen die Antigone.3

    Wie George Steiner und Hellmut Flashar in ihren Untersuchungen ber dieAntigone-Rezeption herausgearbeitet haben, stand das 19.Jahrhundert ganz imBann der Antigone.4 Nicht Sophokles Knig dipus (ca. 429425 v.Chr.) sondernseine Antigone (442/1 v.Chr.) galt unter Literaten und Philosophen als vollendets-te antike Tragdie. Und sie war auch das meist aufgefhrte Stck: Ausgelstwurde diese Erfolgsserie von Antigone-Auffhrungen durch eine bahnbrechendeInszenierung von 1841 in einer das griechische Versma imitierenden Neuber-setzung von Johann Jakob Christian Donner unter der Regie von Ludwig Tieck.Ausschlaggebend fr den Erfolg dabei war vor allem die Vertonung der Chredurch Felix Mendelssohn Bartholdy.5 Das Konzept der antikisierenden Sprache,Kostme und Choreographie begeisterte das Theaterpublikum, und die Mendels-sohn-Chre gehrten bald zum Standardrepertoire im geselligen Musizieren.6

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    2 Ebd., S.44.3 Dabei aktualisiert diese Verneinung eine der Bedeutungen, die im griechischenNamen Antigo-ne selbst angelegt ist: : an statt, an Stelle; : Nachkommenschaft. Vgl. LangenscheidtsGrowrterbuch Griechisch-Deutsch. Unter Bercksichtigung der Etymologie von Prof. Dr. Her-mann Menge. Berlin/ Mnchen/ Zrich: Langenscheidt 201967, S.72, 150. dipus rckt in dieserlexikalischen Lesart bei Freud an die Stelle seiner Tochter Antigone.4 Vgl. George Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos. Aus dem Eng-lischen vonMartin Pfeiffer. Mnchen/ Wien: Hanser 1988, S.13134; Hellmuth Flashar: Inszenie-rung der Antike. Das griechische Drama auf der Bhne. Von der frhen Neuzeit bis zur Gegenwart.Zweite, berarbeitete und erweiterte Auflage. Mnchen: C.H.Beck 2009, S.58107.5 Premiere war am 28.10.1841; ausfhrlich dazu Flashar: Inszenierung der Antike (Anm.4),S.63ff.6 Vgl. Steiner: Die Antigonen (Anm.4), S.21.

  • Wenn Hugo von Hofmannsthal, der Seismograph fr die Zirkulationen kul-tureller Energie, in seinem Vorspiel zur Antigone des Sophokles von 1900 sagenlsst, dass das griechisch Trauerspiel eine zeitbergreifende Nhe, eine unmit-telbare Gegenwart herstelle, dann fasst er damit eine gut hundertjhrige Anti-gone-Begeisterung in Verse.7 Denn begonnen hatte der Siegeszug der Antigone um1800, mit der zeitgleichen Beschftigung mit ihr durch zahlreiche Exponenten derdamaligen intellektuellen Elite.8

    Vor diesem Hintergrund ist Freuds Akzentverschiebung innerhalb der theba-nischen Herrscherfamilie der Labdakiden, zu der sowohl dipus als auch Antigo-ne gehren, mehr als eine Funote in der Sophokles-Rezeption. Er markiertvielmehr einen Paradigmenwechsel von weitreichenden Folgen. Im Folgendensoll die These diskutiert werden, dass Freuds Entscheidung fr dipus und gegenAntigone Symptom einer kulturellen Wahrnehmung ist, die horizontale Struktu-ren ausblendet, sich deren mgliche Bedeutsamkeit in ihren Erklrungsmusternerspart und allein vertikalen Strukturen Bedeutung zumisst.

    Der Begriff der Horizontalen entstammt der historischen Familienforschung,die die Matrix familirer Struktur ber zwei sich kreuzende Achsen beschreibt:die Vertikale und die Horizontale. Auf der Vertikalen ist die Generationenfolgevon Eltern und Kind, auf der Horizontalen sind innergenerationelle Beziehungenwie diejenigen zwischen Geschwistern situiert. Wie die historische Familienfor-schung herausgearbeitet hat, bildet die definitorische Achse der europischenFamilie etwa seit dem elftenJahrhundert das Geschwisterverhltnis: Ab dann istVerwandtschaft mit zunehmender Tendenz horizontal strukturiert.9

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    7 Hugo von Hofmannsthal: Vorspiel zur Antigone des Sophokles. In: H.v.H.: Gesammelte Werkein zehn Einzelbnden. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Dramen III. Frank-furt/M.: Fischer 1979, S.478484, hier S.479.8 Steiner: Die Antigonen (Anm.4), folgt in seinem ersten Kapitel detailliert der Wirkungs-geschichte der sophokleischen Antigone im 18. und 19.Jahrhundert, mit einem Fokus auf Goethe,Hegel, Hlderlin und Kierkegaard, und kommt zum Schluss, dass es kein anderes literarischesWerk gebe, das zu dieser Zeit eine vergleichbare Wirkung, ja Besessenheit bei Philosophen undLiteraten hervorgerufen habe, auch nicht Hamlet (ebd., S.130). Als einen grundlegenden Passusder Antigone-Welle macht er ein Buch des Abb Jean-Jacques Barthlmy von 1788 aus, Voyagedu jeune Anacharsis, das neben dem Zusammentreffen von Hegel, Hlderlin und Schelling imTbinger Stift und deren hier initiierten Griechen- und Antigone-Auseinandersetzung einebedeutsame Weichenstellung fr die Griechenlandbegeisterung des 19.Jahrhunderts vornahm.Die Geschichte eines jungen Reisenden im nachperikleischen Griechenland erzhlt vom prgen-den Bildungserlebnis einer Antigone-Auffhrung und wirkte nachhaltig auf das kollektive Imagi-nre des Lesepublikums. Vgl. ebd., S.19ff.9 Wie Jack Goody in seiner Untersuchung ber Ehe und Familie in Europa zeigt, bestandengrundstzlich zwei unterschiedliche Systeme zur Berechnung von Verwandtschaftsgraden: Diermische Methode, die die Zahl der Generationenschritte zwischen ego und alter berechnet und

  • Freuds Beschreibung dipaler Strukturen lenkt die analytische Aufmerksam-keit ganz auf die Beziehungsdynamik zwischen Eltern und Kind, und durch dieDeutungsmacht der Psychoanalyse wird bis weit ins 20.Jahrhundert hinein diepsychosoziale Entwicklung vor allem entlang der Eltern-Kind-Beziehung gesehenwerden. Die psychoanalytische Sichtweise privilegiert die Vertikale und weistdiese Perspektive als eine notwendige aus. Aus kulturhistorischer Sicht ist FreudsEntscheidung fr die Vertikale jedoch keine notwendige, sondern eine kontingen-te: Familie ist auch horizontal strukturiert. Diese Horizontale spart Freud aus.

    Sie htte der sich herausbildenden Psychoanalyse als alternative Perspekti-vierung der kindlichen und adoleszenten Beziehungsdynamik und darber hi-naus grundstzlich als Mglichkeit von Wahrnehmung zur Verfgung gestanden.Denn wie Hofmannsthal mit Goethe formuliert: die schwesterlichst[e] Seele, dieAntigone reprsentiert, stellt um 1900 eine Zeiten berbrckende Gegenwarther.10 Diese berzeitliche Geltung der Antigone erscheint dazu prdestiniert, aus

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    also vertikal strukturiert ist, sowie das germanische System, das auf der Einheit der Geschwister-gruppe (Jack Goody: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa. bersetzt von Eva Horn.Frankfurt/M.: Reimer 1986, S.151) und damit der Horizontalen basiert. Mit meinen Geschwisternbin ich nach dieser Zhlweise im ersten Grad verwandt, whrend es gem rmischem Systemnurim zweiten Grad wre. Dieses germanische oder fraternale System hatte sich im elftenJahrhun-dert offiziell durchgesetzt, auchwenn in adligen Kreisen vorerst noch an der rmischen Zhlweisefestgehalten wurde. Letztlich aber war der damit eingeleitete Prozess der Horizontalisierung vonVerwandtschaft unumkehrbar. In diesem Sinn beschreibt Michael Mitterauer die mittelalterlicheGesellschaftsentwicklung Mitteleuropas als eine Geschichte der Horizontalisierung von Ver-wandtschaft, wobei die Bedeutungszunahme genossenschaftlicher Sozialformen in urschlichemZusammenhang mit dem spezifisch europischen Prinzip der geistlichen Verwandtschaft steht.Im 18.Jahrhundert erreicht dieser Prozess der Horizontalisierung einen Hhepunkt. Vgl. dazu: J.G.: Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa (engl. Originalausgabe: The development ofthe family andmarriage in Europe. Cambridge 1983), bes. S.115ff.; DavidWarren Sabean: Kinshipin Neckarhausen. 17001870. Cambridge 1998: Cambridge University Press, S.8/9; D.W.S.: Inzest-diskurse vom Barock bis zur Romantik. Aus dem Englischen von Maria E.Mller. In: Lhomme.Zeitschrift fr feministische Geschichtswissenschaft 1 (2002), S.728; Michael Mitterauer: Mittel-alter. In: Andreas Gestrich/ Jens-Uwe Krause/ Michael Mitterauer: Geschichte der Familie. Stutt-gart: Krner 2003, S.160363. Vgl. zum fraternalen System fr den franzsischen Raum: AndrBurguire/ Franois Lebrun: Die Vielfalt der Familienmodelle in Europa. Der Priester, der Frstund die Familie. In: Andr Burguire u.a. (Hg.): Geschichte der Familie. Bd.3: Neuzeit. Mit einemVorwort von Jack Goody. Frankfurt/M./ New York/ Paris: Campus Verlag 1997, S.13194, hierS.75f. Zur Bedeutung Goodys fr die Verwandtschaftsforschung vgl. Bernhard Jussen: Perspekti-ven der Verwandtschaftsforschung fnfundzwanzig Jahre nach Jack Goodys Entwicklung von Eheund Familie in Europa. In: Karl-Heinz Spie (Hg.): Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters.Stuttgart: Jan Thorbecke Verlag 2009, S.275324.10 Vgl. Hofmannsthal: Vorspiel zur Antigone des Sophokles (Anm.7), S.481, 479. Der Intertextdazu findet sich in Goethes Gedicht Euphrosyne, Vers 135: Wenn Antigone kommt, die schwes-

  • ihr ein universales theoretisches Modell herzuleiten. Dazu ist es aber nicht ge-kommen: Als ihr universales Modell prsentiert die Psychoanalyse dipus.11

    Die folgenden berlegungen situieren Freuds Entscheidung fr die Vertikaleund gegen die Horizontale in einem greren kulturhistorischen Rahmen. Ein-sichtig werden soll, dass die Gegenwrtigkeit der Antigone um 1900 Teileinerhistorisch spezifischen Konstellation ist, die ich als Geschwisterdispositiv be-zeichne. Formiert hatte sich dieses Dispositiv um 1800 und hat sich als Alternati-ve zur vertikalen Strukturierung von Beziehungen im 19.Jahrhundert behauptet.12

    Das Antigone-Narrativ nimmt darin den Status einer Leiterzhlung ein, die para-digmatisch die Regeln von Geschwisterbeziehungen bereitstellt, die so oder hn-lich aktualisiert werden. Zu diesem Grundbestand gehrt, dass die Beziehung derSchwester zum Bruder im familiren Gefge extraordinr ist.

    Im Zentrum der sophokleischen Antigone steht Antigones Tat, ihren BruderPolyneikes trotz des darber ausgesprochenen Verbotes zu begraben. Eine Tat,fr die sie willentlich den eigenen Tod in Kauf nimmt. Sie begrndet ihr Tun mitBerufung auf eine ber dem Bestattungsverbot stehende Satzung:

    Denn niemals htt ich, wenn ich Kindern Mutter ward,noch wenn ein toter Gatte mir hinmoderte,den Brgern trotzend solches Leid mir auferlegt.Zugunsten welcher Satzung sag ich das nun?Fr einen toten Gatten wrd ein andrer mir,ein Kind von einem andren Mann, verlr ich dies,Da aber Mutter mir und Vater ruhn im Grab,so wird ein Bruder niemals wieder mir geschenkt.13

    Die Beziehung zwischen Schwester und Bruder ist von anderem Gewicht als alleanderen familiren Beziehungen, hlt Sophokles Antigone in den Versen 905912

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    terlichste der Seelen. In: JohannWolfgang Goethe: SmtlicheWerke. Frankfurter Ausgabe. Bd.1:Gedichte 17561799. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987, S.633638,hier S.638.11 Laplanche/ Pontalis halten in ihren Ausfhrungen zum dipuskomplex fest, dass er fr diePsychoanalytiker die Hauptbezugsachse der Psychopathologie bilde und die psychoanalyti-sche Anthropologie von seiner Allgemeingltigkeit ausgehe. Jean Laplanche/ Jean-BertrandPontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Aus dem Franzsischen von Emma Moersch. Frank-furt/M.: Suhrkamp 141998, S.351357, hier S.351.12 Die Grundlegung dieser These findet sich in: Franziska Frei Gerlach: Geschwister. Ein Dis-positiv bei Jean Paul und um 1800. Berlin/ Boston: de Gruyter 2012.13 Sophokles: Antigone. Griechisch deutsch. bersetzt von Wilhelm Willige, berarbeitet vonKarl Bayer, mit einem neuen Anhang hrsg. von Bernhard Zimmermann. Zrich: Artemis undWinkler, 1999, Vers 905912.

  • im 5.Jahrhundert v.Chr. folgenreich fest. DieUnersetzlichkeit des eigenenBrudersmacht die Satzung aus, um derentwillen Antigone den eigenen Tod in Kaufnimmt. Die Begrndung provoziert durch die Aufrechnung von Leben ethischenWiderspruchundzeigt doch zugleich auf, dassdieBeziehung zwischenBruder undSchwester als etwas unersetzbar Eigenes in unserem kulturellen Gedchtnis tra-diert wird. Diese Verse der sophokleischenAntigonehaben durch dieJahrhundertehinweg Anlass zu zahlreichen Deutungen und Entwrfen gegeben, in denen sichjeweilsVerhandlungen zentraler zeittypischer Beziehungsdynamiken spiegeln.

    In meiner Analyse mchte ich drei Zeitpunkte von Antigone-Lektren fokus-sieren, die jeweils nicht nur eine Zeitenwende, sondern auch eine Wende imAntigone-Verstndnis bedeuten: dieJahrhundertwenden 1800, 1900 und 2000.These ist, dass diese Vernderungen im Kontext des Geschwisterdispositivs gese-hen werden mssen. Dafr seien nun vorab die systematischen und kulturhis-torischen Grundlagen skizziert.

    Geschwister als kulturhistorisch spezifischesDispositiv und Antigone als basales Narrativ derHorizontalen

    Um 1800 wird Sophokles Antigone fast zeitgleich neu bersetzt, kommentiert unddient als Folie fr stilbildende gesellschaftstheoretische Entwrfe. DieseAntigone-Begeisterung hat vielfltige Grnde. Einer davon ist das zufllige Beisammenseinvon Hlderlin, Schelling und Hegel im Tbinger Stift, das fr die Griechenland-Begeisterung des 19.Jahrhundert als Multiplikator gewirkt hat.14 Dabei ist es ins-besondere Hegel, der fr die sptereAntigone-Rezeption dieWeichen neu stellt.

    Im Folgenden soll die Bedeutung der Antigone um 1800 aber in einemgreren Zusammenhang gesehen und als Teildes sich um 1800 formierendenGeschwisterdispositivs verstanden werden. Im Detail zeigen werde ich das anHegels Antigone-Lektre, die ihre Spuren unter anderem in seiner Phnomenolo-gie des Geistes (1807) hinterlassen hat. Dieser viel interpretierte Text ermglichtdurch seine Verortung im zeitgenssischen Geschwisterdispositiv neue Erkennt-nisse. Zuerst gilt es aber, das postulierte Geschwisterdispositiv herzuleiten.

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    14 Vgl. dazu Steiner: Die Antigonen (Anm.4), Kap.1, zu Hlderlin S.86ff. Hlderlin bringt 1804seineAntigon heraus, die eine nachhaltige Diskussion darber angestoen hat, wie viele Freihei-ten sich eine bersetzung herausnehmen darf (und ab wann bei Hlderlin von einer Zerrttungseines Geisteszustandes auszugehen ist). Schelling hat sich mit der Antigone im Kontext seinersthetischen und religionsphilosophischen berlegungen auseinandergesetzt.

  • Geschwister sind um 1800 von hoher symbolischer, gesellschaftlicher undindividualpsychologischer Relevanz. Dies schlgt sich nieder in Beziehungsdyna-miken, Gefhlsmodellierungen und Identittszuweisungen. Literarisch legen da-von vor allem geschwisterliche Inzestnarrative Zeugnis ab, die sich gegen Endedes 18.Jahrhunderts signifikant hufen.15 Lebensweltlich dokumentieren Ge-schwisterbriefwechsel sowie eine Heiratspraxis, die Cousin-Cousinen-Ehen alsbesonders erstrebenswert erscheinen lsst, eine besondere Attraktion zwischenBruder und Schwester.16 Ausdruck einer Neubewertung geschwisterlicher Struk-turen sind aber auch das gesellschaftliche und politische Egalittsideal fassbarim revolutionren Leitbegriff der fraternit oder die fraternalistische Strukturinstitutionalisierter Sozietten.17 Um 1800 wird so ein Netzwerk horizontalerBeziehungen aus wechselseitig sich sttzenden heterogenen uerungsformensichtbar, das ich mit Foucault ein Dispositiv nenne.

    Als Dispositiv bezeichnet Foucault eine Formation von Aussagen, KrftenundWissensstrukturen, die eine strategische Funktion hat und Machtverhltnissestrukturiert. Foucault umschreibt den von ihm eingefhrten Begriff des Disposi-tivs in einem Gesprch von 1977 folgendermaen:

    Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist erstens eine entschiedenheterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrich-tungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Manahmen, wis-senschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrst-zen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. DasDispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann. [] Daseben ist das Dispositiv: Strategien von Krfteverhltnissen, die Arten von Wissen unterstt-zen und von diesen untersttzt werden.18

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    15 Vgl. grundlegend dazu: Michael Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen.Das Beispiel inzestuser Situationen in der Erzhlliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen imDenksystem der Epoche. In: Jrg Schnert (Hg.): Erzhlte Kriminalitt. Zur Typologie und Funk-tion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770und 1920. Tbingen: Max Niemeyer 1991, S.229281.16 Vgl. Frei Gerlach: Geschwister (Anm.12), S.71ff.17 Vgl. ebd. S.91ff. Christliche und laizistische Bruder- und teilweise auch Schwesternschaften,wie die Freimauer, Illuminaten oder Herrnhuter, erlangen im Verlauf des 18.Jahrhunderts immermehr Bedeutung. Die darin gepflegten Ideologien bestimmen die spezifisch europische Entwick-lung von Herrschaft und Mitbestimmung entscheidend mit. Auch die Parole der fraternit in derFranzsischen Revolution ist ein Ausdruck davon.18 Michel Foucault: Das Spiel des Michel Foucault (Gesprch mit D.Colas u.a., erstmals publi-ziert in Ornicar? Bulletin priodique du champ freudien. Nr.10 [Juli 1977], S.6293). bers. vonHans-Dieter Gondek. In: M.F.: Schriften in vier Bnden (Dits et Ecrits). Hg. von Daniel Defert undFranois Ewald. Bd.3. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S.391429, hier S.392, 395. Vgl. auch ebd.,S.298309.

  • Gem Foucault hat ihn der Begriff des Dispositivs aus jener Sackgasse gefhrt,in die er mit seinem Begriff der Episteme in Die Ordnung der Dinge (frz. 1966)geraten war.19 Im Unterschied zur Episteme subsumiert das Dispositiv nicht nurGesagtes, sondern auch Ungesagtes, und damit beispielsweise auch psy-chische Dispositionen oder Handlungsweisen, die sich nicht diskursiv artikulie-ren.20 Erstmals taucht der Begriff bei Foucault als ein Nebenbegriff seiner Unter-suchung der Sexualitt in Der Wille zum Wissen auf, um sein Verstndnis vonMacht als einem Name[n], den man einer komplexen strategischen Situation ineiner Gesellschaft gibt zu verdeutlichen:21 Der Begriff des Dispositivs ist also mitzwei anderen zentralen foucaultschen Kategorien verknpft, demWissen und derMacht.22 Foucault stellt in seinen Untersuchungen Macht vertikal dar.23 Dochseine in Der Wille zum Wissen gefundene nominalistische Begriffsfassung vonMacht erlaubt es, den Begriff des Dispositivs auch horizontal zu konzipieren. Indiesem Sinne verstehe ich den Komplex der Geschwisterschaft als ein horizontalstrukturiertes Dispositiv, das um 1800 ein alternatives und produktives Dispositivder Macht ist.

    Strukturelle Grundlage fr die These der Formierung eines Geschwisterdis-positivs um 1800 sind die in der historischen Semantik des Geschwisterbegriffsselbst angelegten Schnittstellen zwischen leiblicher Verwandtschaft, institutio-nellen Organisationen und Figuren des kulturellen Imaginren. In seinem Gram-matisch-kritischen Wrterbuch der Hochdeutschen Mundart (17931801) weist Jo-hann Christoph Adelung drei grundstzliche Dimensionen der Begriffsbedeutungaus, die er als eigentliche, weitere und figrliche Rede ber Geschwister von-einander unterscheidet. Von der eigentlichen Bedeutung, der leiblichen Ver-

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    19 Ebd., S.395.20 Das 1977 gefhrte Gesprch mit Psychoanalytikern, aus dem die obigen Zitate sind, dreht sichu.a. um die Fragen, wie Nicht-Diskursives gefasst werden kann und wo der Unterschiedzwischen dem Begriff der Episteme und dem des Dispositivs liege. Als Beispiel des Nicht-Dis-kursiven nennt Foucault Institutionen und przisiert, dass es ihm beim Begriff des Dispositivs imUnterschied zur Episteme um etwas geht, was einerseits heterogener und andererseits allgemei-ner ist: Die Episteme sei demgem ein spezifisch diskursives Dispositiv. Vgl. ebd., S.395.21 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualitt und Wahrheit. Bd.1. bers. von UlrichRaulff und Walter Seitter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S.114 (frz. Originalausgabe 1976). Alsungewohnter Begriff erschien er den bersetzern erklrungsbedrftig, und sie versahen das ersteAuftreten mit der Anmerkung, dass es sich beim franzsischen dispositif um einen Begriff ausjuristischen, medizinischen undmilitrischen Kontexten handle (S.35, vgl. auch S.87, 105).22 Das Dispositiv ist immer in ein Machtspiel eingeschrieben und strukturiert damit seinerseitsMachtverhltnissemit. Vgl. Foucault: Das Spiel desMichel Foucault (Anm.18), S.395.23 Foucault: Der Wille zum Wissen (Anm.21), S.105: Die Macht [] vollzieht sich auf allenEbenen in gleicherWeise. Von oben bis unten, [] vom Staat bis zur Familie, vom Frsten bis zumVater.

  • wandtschaft, abgeleitet sind gem Adelung Bezeichnungspraxen, die geistlicheVerwandtschaft meinen und weiterhin solche, die institutionelle Geschwister-schaften bezeichnen.24 Die figrliche Begriffsverwendung gilt dann Phnomenen,die in einem Verhltnis der hnlichkeit oder sogar der Gleichheit stehen.25

    Die historische Semantik macht evident, dass der Begriff Geschwister einuniversal einsetzbares gedankliches System bietet, um soziale Beziehungen zustrukturieren. Wie die strukturale Anthropologie und ihre poststrukturalistischeFortschreibung gezeigt haben, gilt das fr alle Verwandtschaftsbezeichnungen:Sie bieten eine besonders intelligibleMatrix, umVerhltnisse aller Art zu beschrei-ben.26 In diesem Sinn liegen in der Geschwisterbeziehung die Parameter fr einealternative Strukturierung vonWelt bereit: die auf Egalitt zielendeHorizontale.

    Was wre, wenn die Psychoanalyse statt von dipus von Antigone aus-gegangen wre?27 Wren dann horizontale Strukturen und Kompetenzen im

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    24 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wrterbuch der Hochdeutschen Mundartmit bestndiger Vergleichung der brigenMundarten, besonders aber der Oberdeutschen. Zweytevermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 17931801. Fotomechanischer Nachdruck. Hildes-heim/ Zrich/ New York: Georg Olms Verlag 1990. Diese Ableitung wird von ihrem allererstenAnfang her konkretisiert, von Adam und der Herkunft aller Menschen von einem gemein-schaftlichen Stammvater, so dass in noch weiterer Bedeutung damit das Verhltnis allerMenschen gegen einander bezeichnet werden kann (Art. Bruder, Bd.1, Sp.1215/1216). DieBegriffserklrungen laufen beim Artikel Schwester analog, jedoch ohne die Ausweitung auf dieMenschheit als gesamte (vgl. Bd.3, Sp.1747/1748). Auch der Begriff der institutionellen Bruder-schaft ist zeitgenssisch, die Differenzbestimmung naturelle versus institutionelle findet sichunter dem Stichwort der fraternit im jesuitischen Dictionnaire de Trvoux von 1771, vgl. MarcelDavid: Fraternit et Rvolution franaise. 17891799. Paris: Aubier 1987, S.18ff.25 Vgl. Adelung: Wrterbuch (Anm.24). Bd.1, Sp.1216; Bd.3, Sp.1748. Vgl. auch Jacob undWilhelm Grimm: Deutsches Wrterbuch. Bd.5. Mnchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984[1897]. Art. Geschwister, Sp.40024006, hier Sp.4003: Geschwister bedeutet bildlich undbertragen, von gleichartigem.26 Stilbildend dazu: Claude Lvi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft.bers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 (frz. 1949 und 1967). Die poststruk-turalistische Argumentation von David M.Schneider: A Critique of the Study of Kinship. AnnArbor: The University of Michigan Press 1984, fhrt die Thesen von Lvi-Strauss dahingehend fort,dass Verwandtschaft nicht gegeben, sondern performativ hergestellt wird. Die Einsicht, dassVerwandtschaft ein universal einsetzbares gedankliches System bietet, um soziale Beziehungenaller Art zu strukturieren, formuliert Bernhard Jussen: Knstliche und natrliche Verwandtschaft?Biologismen in den kulturwissenschaftlichen Konzepten von Verwandtschaft. In: Yuri L.Bess-mertny/ Otto Gerhard Oexle (Hg.): Das Individuum und die Seinen. Individualitt in der okziden-talen und in der russischen Kultur in Mittelalter und frher Neuzeit. Gttingen: Vandenhoeck &Ruprecht 2001, S.3958.27 Diese Frage stellt Steiner: Die Antigonen (Anm.4), S.32/33, und im Anschluss an ihn auchJudith Butler: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. bers. von Reiner

  • 20.Jahrhundert wichtiger gewesen? Die Eingangsfrage hat George Steiner auf-geworfen, und ich mchte sie als Leitfaden fr meine Argumentation ber dieAntigone und das Geschwisterdispositiv um 1900 aufnehmen. Bedenkenswertsind hier nmlich Entwrfe, die die mit der Theorieentwicklung parallel laufendeInstitutionalisierung der Psychoanalyse in einer Familienstruktur denken, dienicht vertikal, sondern horizontal organisiert wre. Zudem wird die sophoklei-sche Antigone im beginnenden 20.Jahrhundert nicht nur weiterhin inszeniert,sondern literarisch auch wiederholt neu geschrieben. Darber hinaus sind Ge-schwisterbeziehungen um 1900 auch ganz allgemein ein wichtiges literarischesThema. Besonders sind dies inzestuse Geschwisternarrative, die in Robert Mu-sils Suchanlage nach dem anderen Zustand einen erneuten diskursiven Hhe-punkt erreichen.28

    Theoretisch eingeholt worden ist das horizontale Modell jedoch erst im aus-gehenden 20.Jahrhundert: Eine Reihe von psychoanalytischen Forschungenschreibt in den neunziger Jahren der geschwisterlichen Horizontale struktur-bildende Kraft zu und pldiert fr einen Paradigmenwechsel von der Vertikalenzur Horizontalen.29 Bezeichnend daran ist, dass Geschwisterbeziehungen zueiner Zeit in den Fokus der Forschung gelangen, in der die durchschnittlicheGeschwisterzahl im Sinken begriffen ist: Die Aufmerksamkeit auf das Potentialdes Geschwisters ist auch eine Reaktion auf eine kollektive Verlusterfahrungund steht darber hinaus im Zeichen einer grundstzlicheren gesellschaftlichenDebatte ber die Bedeutung familirer Formen und verwandtschaftlicher Struk-turen.

    In diesem Sinne reflektiert im Jahr 2000 Judith Butler in Antigones Claim dasPotential der Reprsentationsfigur Antigone und kommt zum Schluss, dass sichihre Reprsentationsleistung in einer Krise befinde. In Aufnahme ihres stilbilden-den Begriffs gender trouble nennt Butler die Krise, fr die die Antigone-Figur

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    Ansn. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S.93 (engl. Originalausgabe: J.B.: Antigones Claim. Kin-ship Between Life And Death. NewYork: Columbia University Press 2000).28 Wobei Musil bezeichnenderweise vom altgyptischen Inzestmythos um Isis und Osiris undgerade nicht von Antigone her denkt. Vgl. zu den Geschwisterinzest-Narrativen um 1900 AnjaElisabeth Schoene: Ach wre fern, was ich liebe! Studien zur Inzestthematik in der LiteraturderJahrhundertwende (von Ibsen bis Musil). Wrzburg: Knigshausen&Neumann 1997; Dagmarvon Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart. Kln/ Weimar/Wien: Bhlau 2003, S.111ff., 216ff.29 Vgl. Horst Petri: Geschwister. Liebe und Rivalitt. Die lngste Beziehung unseres Lebens.Zrich: Kreuz Verlag 1994; Katharina Ley (Hg.): Geschwisterliches. Jenseits der Rivalitt. Tbin-gen: edition diskord 1995; Hans Sohni (Hg.): Geschwisterlichkeit. Horizontale Beziehungen inPsychotherapie und Gesellschaft. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999.

  • steht, einen kinship trouble, eine Krise der Verwandtschaft.30 Butler entwickeltihre Thesen an den Sophokles-Lektren von Hegel, Lacan, Irigaray und Derridaund kommt dabei zu berraschenden Befunden, von denen ich einige aufgreifenund diskutieren mchte.

    ber die Antigone spannt sich ein berJahrhunderte hinweg gesponnenesNetz von Bedeutungen, das es unmglich macht, sich auerhalb dieses Netzes zubewegen. Die folgende Argumentation bewegt sich darum bewusst in diesemNetz, greift Fden auf, die von spezifischen Antigone-Lektren ausgehen, undkonfrontiert sowohl verschiedene Lektren mit einander als auch mit dem sopho-kleischen Ausgangstext. Denn als solcher hat sich Sophokles in der Antigone-Rezeption unstrittig erwiesen.31

    Meine eigene Antigone-Lektre ist die eines Narrativs ber Geschwisterbe-ziehungen, das zentrale Momente unseres kulturellen Imaginren und existen-tiellen Erlebens transportiert, und darum stets von neuem aktualisiert werdenkann. Die dafr wichtigen Komponenten der Geschwisterbeziehung seien hierthesenartig aufgelistet, um dann im Verlauf der Argumentation ausgefhrt zuwerden.32

    Geschwister stehen fr eine eigene Beziehungsdynamik zwischen hnlich-keit, Nhe, Gleichheit einerseits und Eigenstndigkeit, Abgrenzung und Diffe-renz andererseits. Wie alle familiren Beziehungen gibt auch die Geschwisterbe-ziehung einen normativen Rahmen vor, in dem lebenslang individuelle Gefhleund soziale Beziehungen konzeptualisiert, verhandelt und gelebt werden. EinGeschwister ist zweitens existentiell gegeben, das eigene Ich hat keinen Einflussauf sein Dasein, die Beziehung zu ihm ist weder whl- noch kndbar und istgewhnlich die lngste Beziehung in unserem Leben. Geschwister reprsentierendrittens ein gewisses Ma an Egalitt und trainieren auf dieser Basis spezifischesoziale Kompetenzen, wie verhandeln, teilen, tauschen einerseits, streiten, riva-lisieren, messen andererseits. Viertens wird der deutschsprachige Begriff Ge-schwister typischerweise verstanden als ein Bruder-Schwester-Paar. Wie an derAntigone paradigmatisch abzulesen ist, sind im abendlndischen kulturellenImaginren Geschwisterpaare homophob und heterophil organisiert. Geschwis-

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    30 Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. bers. von Kathrina Menke. Frankfurt/M.:Suhrkamp 1991 (engl. Originalausgabe: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity.New York: Routledge 1990); J.B.: Antigones Claim (Anm.27), S.62.31 Wenn es auch Zeugnisse gibt, die lter sind (vgl. Christiane Zimmermann: Der Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst. Tbingen: Gunter Narr 1993, S.57ff.) so beziehen sichdoch fast alle Antigone-Lektren auf Sophokles Bearbeitung des Antigone-Stoffes.32 Eine ausfhrliche Herleitung dieser Thesen findet sich in Frei Gerlach: Geschwister (Anm.12),S.1757.

  • ter stehen fnftens ber ihre biologische und kulturelle Begriffsverwendung amSchnittpunkt zwischen Familie und Gesellschaft und bieten durch ihre horizon-tale Struktur eine Basis, vertikale Strukturen zu reformieren oder gar zu revolu-tionieren.

    Innerhalb dieses Deutungsgersts erfolgt nun der detailliertere Durchgangdurch dreiJahrhundertwenden und deren je spezifische Antigone-Aktualisierun-gen. Da die Formierung des Geschwisterdispositivs um 1800 erfolgt, fallen dieberlegungen zu dieserJahrhundertwende umfangreicher denn zu den beidennachfolgenden aus.

    Um 1800

    Bei Sophokles zieht Antigone ihren Bruder Polyneikes allen anderen bestehendenund mglichen familiren Beziehungen vor, namentlich derjenigen zu Mann oderKind. Diese sind austauschbar, so lautet ihre Begrndung, ihre Beziehung zuihrem Bruder jedoch ist einzigartig. Schon immer umstritten, gelten die Verse905912 der sophokleischen Antigone mit Jacques Lacan als Skandalstelle desStcks.33 Positiv gewendet begrndet nun aber genau dieses Skandalon die be-sondere Stellung der Geschwisterbeziehung.

    In diesem Sinn schreibt Hegel in seiner Phnomenologie des Geistes von 1807die Antigone unter Lschung ihres Eigennamens fort und dem Kapitel ber DieSittlichkeit als allgemeine Beziehung der Geschwister ein: Der Verlust desBruders ist daher der Schwester unersetzlich. Bruder und Schwester reprsen-tieren bei Hegel ohne weitere Einschrnkung die Geschwisterbeziehung und sindals einzige der untersuchten familiren Verhltniss[e] in einem Zustand desGleichgewicht[s].34

    In dieser Auszeichnung der Geschwisterbeziehung drfte, so Jacques Derridain seinen Glossen zur Phnomenologie, auch die psychosoziale Energie von

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    33 Lacan prgt die Formulierung vom Skandalcharakter dieser Stelle, vgl. Jacques Lacan: DasWesen der Tragdie. Ein Kommentar zur Antigone des Sophokles. In: J.L.: Die Ethik der Psycho-analyse. Das Seminar.Buch VII (195960). bers. von Norbert Haas.Weinheim/ Berlin: Quadriga1996, S.293343, hier S.308.34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phnomenologie des Geistes (Nachdruck d. Ausgabe Bam-berg/ Wrzburg 1807). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S.338, 335f. Der Name Antigone erscheintin der Phnomenologie zweimal, einmal vor (S.322) und einmal gegen Ende der Argumentationber Die Sittlichkeit (S.348). Dass die sophokleische Antigone als Subtext von Hegels Phnome-nologie fungiert, ist in der Forschung schon vielfach bemerkt und kommentiert worden. Exem-plarisch genannt seien hier die aufschlussreichen Arbeiten von Steiner: Die Antigonen (Anm.4)und Butler: Antigones Verlangen (Anm.27).

  • Hegels eigenem Erleben als Bruder wirksam sein.35 Diese psychosoziale Energieist jedoch nicht als individuelle Disposition zu betrachten, sondern Teiljenerhistorisch spezifischen Konstellation, die Geschwister in auergewhnlichemAusma fokussiert.

    Geschwister beschftigen die kollektive Phantasie um 1800 in hohem Maeund bilden auch in der sozialen Praxis ein wichtiges Orientierungsangebot. Diesnicht zuletzt deshalb, weil der Geschwisterbegriff ber seine leibliche und institu-tionelle Verwendungsweise eine Schaltstelle zwischen Familie und Gesellschaftbesetzt und wie der Begriff Geschlecht biologisch und kulturell zugleich funk-tioniert.36 Der fr das 18.Jahrhundert typische Zusammenhang zwischen politi-schem Denken und Familienstruktur macht die geschwisterliche Horizontale inhumanitr-egalitren Entwrfen zur Umschaltstelle zwischen individuellen undgesellschaftlichen Konzepten. Und fr die symbolische Ordnung um 1800 liefertdie zeitgenssische Semantik signifikante Indizien dafr, dass Geschwister alseine egalitre, horizontal strukturierte und emotional hochgradig positiv besetztesoziale Beziehung von hoher Relevanz konzipiert sind, die im kulturellen Ge-dchtnis tradierte und in der lebensweltlichen Praxis zweifellos bestehende Riva-litten narkotisiert oder allenfalls peripher einbegreift.37 Die eigentliche Geschwis-terbeziehung wird dabei als eine Beziehung zwischen Bruder und Schwesterverstanden.

    Fr diese Prvalenz des Bruder-Schwester-Paars gibt es verschiedene Er-klrungsanstze. Wahrnehmungspsychologisch werden Beziehungen bevorzugtin Zweiheiten gruppiert. Da Brderpaare und Schwesterpaare als etwas je eige-nes wahrgenommen werden, erscheint das Bruder-Schwester-Paar als das hu-figste aller Geschwisterpaare.38 Die Kategorie Geschlecht ist aber auch seman-

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    35 Vgl. Jacques Derrida: Glas. Que reste-t-il du savoir absolu? Paris: Denol/ Gonthier 1981,S.202ff., bes. S.210ff. und S.246ff. Vgl. auch: Hans Christian Lucas: Zwischen Antigone undChristiane. Die Rolle der Schwester in Hegels Biographie und Philosophie und in Derridas Glas.In: Hegel-Jahrbuch 1984/85. Bochum 1988, S.409442.36 Die Geschlechterforschung differenziert die biologischen und soziokulturellen Begrndungs-zusammenhnge von Geschlecht begrifflich mit sex und gender, vgl. einfhrend dazu: Christinavon Braun/ Inge Stephan (Hg.): Gender-Studien. Eine Einfhrung. Stuttgart/ Weimar: Metzler2000. Auch die Frage der Verbindung zwischen Biologie und Kultur von Verwandtschaft ist einviel diskutiertes Problem der Forschung, erhellend dazu Jussen: Knstliche und natrliche Ver-wandtschaft (Anm.26).37 Vgl. Art. Bruder, Schwester, Geschwister bei Adelung: Wrterbuch (Anm.24) undGrimm: DeutschesWrterbuch (Anm.25).38 Der Begriff Geschwister impliziert mindestens eine Zweiheit, ist mengenmig nach obenhin aber prinzipiell offen: geistliche Geschwister umfassen alle getauften Christen. Der kleinstegemeinsame Nenner der Begriffsverwendung ist das Geschwisterpaar, und diese Grundeinheit

  • tisch bedeutsam: Gewhnlich bildet die mnnliche Form im Deutschen dieBasis fr Gruppenbezeichnungen, die Frauen ungenannt mitmeinen. Der Be-griff Geschwister bildet hier eine signifikante Ausnahme: Er basiert wortge-schichtlich auf der weiblichen Form. Es ist also die Schwester, in deren Namendas Geschwisterverhltnis in der deutschen Sprache begrifflich bezeichnetwird.39

    Kulturhistorisch lsst sich fr den Zeitraum zwischen 1740 und 1840 gerade-zu eine Obsession auf die Bruder-Schwester-Beziehung konstatieren.40 Ge-schwisterliches bestimmt die empfindsame Liebeskonzeption und zeitgenssi-sche Liebes- und Ehepraxis in vielfacher Weise mit: Geschwisterliebe stellt dienahe liegende Konkretisierung der empfindsamen Liebe zwischen den Geschlech-tern dar, die sich unter Ausschluss von Sexualitt ganz auf das Gefhl konzen-

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    bestimmt eine zweiwertige Prvalenz unserer Geschwistervorstellung. Dies erscheint insofernsinnvoll, als eine Beziehung zwischen zwei Aktanten gegenber einer Beziehung zwischenmehreren die ntige Komplexittsreduktion bietet, um das Verhltnis zu spezifizieren. Auf einergrundstzlicheren Ebene speist sich die zweiwertige Valenz aus der dualen Logik, der das abend-lndische Denken verpflichtet ist: Sie legt uns nahe, eine Beziehung als Verhltnis des einen zumanderen zu fassen und damit auch Dreier-, Vierer- oder Gruppenbeziehungen paarweise zustrukturieren. Vgl. dazu Ute Guzzoni: Und die Leere Ferne trug. berlegungen zu Nhe undDistanz. In: Meike Penkwitt (Hg.): Beziehungen. Freiburger FrauenStudien. Bd.6. Freiburg/Br.:jos fritz Verlag 2000, S.2135. Geschlecht ist ein wesentlicher Faktor in Geschwisterverhltnissen.Wie die Begriffsbezeichnungen Brder, Schwester und Geschwister zeigen, nehmen wir gleich-geschlechtliche und differentgeschlechtliche Geschwisterpaare unterschiedlich wahr, wobei wirbei den gleichgeschlechtlichen wiederum zwischen mnnlichen und weiblichen Paaren unter-scheiden. Unter der Annahme, dass sich in der mitteleuropischen Population die Anzahl derJungen und Mdchen in etwa die Waage halten, ergibt sich ein Wahrnehmungsmuster, das frdas Bruder-Schwester-Paar eine statistisch signifikante Prvalenz ausweist: Zwar kommen gleich-geschlechtliche Geschwisterpaare gleich hufig vor, da wir aber Brder- respektive Schwestern-paare als zwei verschiedene Konstellationen wahrnehmen, fungiert das Bruder-Schwester-Paar inunserer Wahrnehmung als hufigstes. Andere Sprachen strukturieren Geschwisterverhltnissejedoch anders: das Franzsische kennt neben frres und soeurs keine geschlechterbergreifendeKollektivbezeichnung, ebenso das Italienische; das Englische dagegen schon: sibling (vom Wort-stamm sib: kinhsip, relationship; vgl. Oxford English Dictionary. 2nd ed. Prepared by J.A.Simpsonand E.S.C.Weiner. Bd.15. Oxford: Clarendon Press 1989, S.404ff.) neben brothers und sisters.39 Vgl. Grimm: Deutsches Wrterbuch (Anm.25), Sp.4002: alte pluralistische bildung zuschwester, zufrhest von schwestern, dann mit einschlusz der brder; spter auch als neutralescollectivum aufgefasst und selbst von einer einzelnen person gebraucht, wobei die dann aufgefhr-ten Konkretisierungen zur letzten Verwendungsweise deutlichmachen, dass der kollektive Singu-lar immer ein alter in Beziehung zu einem egomeint.40 So das Fazit des Sozialhistorikers David Warren Sabean, der die Beziehungsdynamiken vonVerwandtschaftsvorstellungen und -praxen in einer mikrohistorischen Langzeitstudie untersuchthat; vgl. D.W.S.: Inzestdiskurse (Anm.9) S.9, sowie grundlegend D.W.S.: Kinship in Neckar-hausen (Anm.9).

  • trieren kann und in der ein bestimmter Grad an Gleichheit ber die Herkunftverbrgt ist. Realhistorisch indiziert eine signifikante Zunahme der Dispenspraxisbei Cousin-Cousinen-Heiraten eine Neubewertung endogamer Heiratspraxen undverweist auf das Bruder-Schwester-Paar als symbolischem Kern von Verwandt-schaft. Die Heirat mit dem Cousin oder der Cousine als genealogisch dem eigent-lichen Geschwister nchststehenden Verwandten erscheint damit als die realeEinlsung der Geschwisterliebe als Geschlechterliebe im Rahmen dessen, was seit Mitte des 18.Jahrhunderts neu mglich und gesellschaftlich legitim ist.41

    Literarisch findet die Verknpfung von Geschwister- und Geschlechterliebeihren Ausdruck in der um 1800 inflationr auftretenden inzestusen Situation: Ineiner Vielzahl von Texten erweist sich das Bruder-Schwester-Paar fr die Aus-handlung der Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern als unverzichtbarund wird anderen narrativen Mglichkeiten vorgezogen, auch wenn dafr dieGrenzen der Wahrscheinlichkeit arg strapaziert werden.

    Kinder werden vertauscht, wachsen unter fremden Namen auf und treffenber aufwendige Erzhlmanver nicht nur aufeinander, sondern verlieben sichauch ineinander, so beispielsweise in Jakob Michael Reinhold Lenz Komdie Derneue Menoza (1774). Darin wird der Sohn der Familie Biederling als kleines Kindgleich zweimal weitergereicht und wchst ohne Wissen seiner Eltern als PrinzTandi im fernen Cumba auf. Whrend einer Europareise verliebt er sich aus-gerechnet in die Tochter der Biederlings. Just nachdem sie sich ihre Liebe gestan-den haben, wird entdeckt, dass sie Geschwister sind. Sie entsagen, doch nicht frlange, denn ein zweites unwahrscheinliches Ereignis fhrt das Paar zum glck-lichen Komdienschluss: Die Tochter der Biederlings war im Kindbett durch ihreAmme vertauscht worden.42

    Dieses [H]erber und [H]inber von Geschwister- und Geschlechterliebeinszeniert besonders schn Goethes zwei Jahre spter geschriebener Einakter DieGeschwister, wobei genau dieser Text das Szenario selbst als ein aus Romanenhinlnglich bekanntes und damit inzwischen triviales Muster reflektiert.43 Dochdas tut seiner Popularitt in allen literarischen Stillagen keinen Abbruch. Bei JeanPaul ist es dann geradezu eine ausformulierte Erzhlregel, dass Geschlechter- aufGeschwisterliebe rekurriert: Es sollte daher immer ein Paar Paare geben, kreuz-

    Antik? Oh, nee. 15

    41 Vgl. Sabean: Kinship in Neckarhausen (Anm.9), S.10ff., 73ff., 208ff., 428ff. und D.W.S.:Inzestdiskurse (Anm.9).42 Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz: Der neue Menoza. Oder Geschichte des cumbanischenPrinzen Tandi (1774). In: J.M.R.L.: Werke und Briefe. Hg. von Sigrid Damm. Bd.1. Frankfurt/M./Leipzig: Insel 1992, S.125190.43 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die Geschwister [1776]. In: J.W.G.: Smtliche Werke. Frank-furter Ausgabe. Bd.5: Dramen 17761790., S.928, hier S.18.

  • weise verschwistert und liebend.44 Leserinnen und Leser um 1800 lasen also mitder Erwartungshaltung, dass Geschwister- und Geschlechterliebe mit einander zutun haben. Dabei ist Geschwisterinzest, wie er etwa noch in Gellerts SchwedischerGrfin von 1747 vorkommt, jene Grenze, die Texte der zweitenJahrhunderthlfteimmer seltener berschreiten. Denn wird dies getan, wie etwa inWilhelm MeistersLehrjahren (1795/6), dann sind die Folgen gravierend: Die Beteiligten sterbeneines gewaltsamen Todes oder verfallen zumindest in Wahnsinn.45

    Angesichts der Evidenz dieser Obsession auf das Bruder-Schwester-Paar istes umso erstaunlicher, dass zugleich mit der Privilegierung der Verse 905912 dersophokleischen Antigone um 1800 die Geschichte eines Flschungsverdachtsbeginnt, der fortan dieser Skandalstelle unlsbar verwoben bleibt. Goethe,hinsichtlich gelebter, imaginierter und erzhlter Beziehungen zwischen Bruderund Schwester wahrlich kein unbeschriebenes Blatt, kanalisiert das Skandalsebesagter Stelle im Gesprch mit Eckermann im Mrz 1827 in dem Wunsch, dieVerse mgen uncht sein: So kommt in der Antigone eine Stelle [V. 90512]vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich vieles geben mchte,wenn ein tchtiger Philologe uns bewiese, sie wre eingeschoben und uncht.46

    Hintergrund dieses Wunsches ist ein Philologenstreit ber die Echtheit derStelle,47 der knftige Kommentatoren dazu herausfordert, Stellung zur Funktion

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    44 Jean Paul: Titan (18001803). In: J.P.: SmtlicheWerke. Hg. von NorbertMiller. Abt. I, Bd.16;Abt. II, Bd.14. Frankfurt/M.:Hanser 1996, hierAbt. I, Bd.3, S.376.45 Das ist in der Forschung schon wiederholt gezeigt worden, grundlegend dazu Titzmann(Anm.15). Darber hinaus: W.Daniel Wilson: Science, Natural Law, and Unwitting Sibling Incestin Eighteenth-Century Literature. In: Studies in Eighteenth Century Culture 13 (1984), S.249270.Moritz Baler: Geschwisterbeziehungen in der Literatur am Beispiel von Inzestdramen der Goe-thezeit. In: Gunther Klosinski (Hg.): Verschwistert mit Leib und Seele. Geschwisterbeziehungengestern heute morgen. Tbingen: Attempto 2000, S.7183. Franziska Frei Gerlach: Geschwis-terliebe. Inzestdiskurse bei Goethe und Jean Paul. In: Jutta Eming/ Claudia Jarzebowski/ ClaudiaUlbrich (Hg.): Historische Inzestdiskurse. Interdisziplinre Zugnge. Knigstein: Ulrike Helmer2003, S.214246, sowie F.F.G.: Geschwister (Anm.12), S.67ff., 89ff.46 Ernst Grumach (Hg.): Goethe und die Antike. Eine Sammlung. Bd.1. Berlin: de Gruyter 1949,S.262ff., hier S.265. Anlass fr das Gesprch ber die Antigone war das eben erschienene BuchDas Wesen der antiken Tragdie in sthetischen Vorlesungen durchgefhrt an den beiden dipusdes Sophokles im allgemeinen und an der Antigone insbesondere von Friedrich Hermann WilhelmHinrichs.47 1821 hatte August Ludwig Jacob die Forschungshypothese formuliert, die Verse 905912 seiennicht original, sondern eine sptere Hinzufgung. Diese Hypothese blieb nicht unwidersprochen,August Boeckh erklrte 1824 die Verse fr echt, entschieden war die Sache damit aber nicht, unddie Frage nach Funktion und Bedeutung dieser Verse gehrt bis heute zu den meist diskutiertenFragen der Antigone. Die Beziehungen und berlagerungen dieser Antigone-Lektren sind an-schaulich dargestellt in Steiner: Die Antigonen (Anm.4), S.60ff. Neben der philologischenArgumentationslinie, mit der die Behauptung nicht gleichwertigen Lebens innerhalb des Famili-

  • und Bedeutung dieser Verse zu beziehen.48 Das will auch ich tun, aber auf einerMetaebene: Die Verhandlungen um die Skandalstelle der Antigone der Zeit um1800 verstehe ich als Indiz fr die hohe psychosexuelle Brisanz des Bruder-Schwester-Themas und als Hinweis auf die Modellfunktion von Literatur fr daspsychische und reale Erleben.

    Diese Modellfunktion der Literatur fungiert im ausgehenden 18.Jahrhundertunter demStichwort LesesuchtalsArgument ineinermedientheoretischenDebat-te, die vor allem das Suchtpotential der Leserinnen sowie derenmangelnde Fhig-keit, zwischen Literatur und Leben zu differenzieren, fokussiert hatte.49 So hlt

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    enverbundes in Frage gestellt wird, beruft sich eine zweite Argumentationstradition auf eineEpisode aus Herodots Geschichtswerk (III,119). Vor die Wahl gestellt, einen ihrer allesamt unter-schiedslos zum Tode verurteilten Familienangehrigen freizubitten, entscheidet sich die Frau desIntaphernes mit derselben Begrndung wie Antigone fr ihren Bruder. Herodots Geschichtswerkwar 442/1 v.Chr. noch nicht erschienen, Sophokles und Herodot waren jedoch persnlich mit-einander bekannt, so dass davon ausgegangenwerden kann, dass Sophokles die Episode gekannthat. Vgl. Marion Giebel: Sophokles: Antigone. Erluterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam1992, S.16f. Kann die Herodot-Episode glaubhaft machen, dass es sich beim Dilemma der Wert-schtzung der engsten Familienangehrigen nicht um ein fremdes Motiv handelt, so ist da essich beidemale um die Beziehung von Bruder und Schwester handelt die eigentliche Fragedamit nicht lsbar: Handelt es sich um ein Einzelfallgesetz, wie Judith Butler in ihrer Antigone-Lektre meint (Butler: Antigones Verlangen [Anm.27], S.26), oder htte Antigone auch fr einanderes Familienmitglied so gehandelt, wie all die Kommentatoren, die Antigone als Hterin desGesetzes der Familie lesen, notwendig annehmenmssen?48 So kommentiert Marion Giebel in den Reclam-Erluterungen 1992: Sicher will Sophoklesdamit nicht sagen, da sich die heiligen, ungeschriebenen Gesetze nur auf Brder und nicht aufandere tote Angehrige beziehen. Vgl. Giebel: Sophokles: Antigone (Anm.47), S.17.49 Wie Dominik von Knig nachweist, ist das Schlagwort der Debatte, die Lesesucht, ein neuerBegriff, der in den siebziger Jahren fassbar wird und ab den achtziger Jahren des 18.JahrhundertsStandard ist. Vgl. D.v.K.: Lesesucht und Lesewut. In: Herbert G.Gpfert (Hg.): Buch und Leser.Vortrge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbtteler Arbeitskreises fr Geschichte des Buch-wesens 13. und 14.Mai 1976. Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell & Co. Verlag 1977, S.89112, hierS.91/92. Eine Definition des neuen Modewortes findet sich bei Campe, der das adelungscheWrterbuch (17931801) in seinem Wrterbuch der Deutschen Sprache von 18071811 zeitgemergnzt, Lesesucht, [] die Sucht, d.h. die unmige, ungeregelte auf Kosten anderer nthigerBeschftigungen befriedigte Begierde zu Lesen, sich durch Bcherlesen zu vergngen. DieLesesucht unserer Weiber Den hchsten Grad dieser Begierde bezeichnet man durch Lesewut.Joachim Heinrich Campe: Wrterbuch der Deutschen Sprache. Bd.3. Braunschweig: Schulbuch-handlung 1809, S.107. Die Lesesuchtsdebatte hat sich von Anfang an vorwiegendmit weiblichemLeseverhalten beschftigt. Dies ist Reflex der Annahme eines geschlechterdifferenten Lesens, dasein als Norm verstandenes mnnliches, von sich absehendes und an der Kunst orientiertesLektreverhalten von einem zu korrigierenden weiblichen, identifikatorischen und subjektiv-emotionalem Lesen abgrenzt. Vgl. Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literatur-rezeption um 1800? Zu zeitgenssischen Goethe-Lektren. Tbingen: Niemeyer 2001, S.29ff. Die

  • etwa Clemens Brentano 1797 seiner Schwester Sophie als pdagogisches Mahnmalvor, dass die Lektre auch von den besten Romanen [] Frauenzimmer [ zu]Copien der Romancharaktere werden lasse.50 Bei der Frage nach der Bedeutungdes Geschwisterpaares lsst sich aber genau diese Durchlssigkeit bei ClemensBrentano selbst beobachten. In seiner Korrespondenz erscheint die Position derSchwester als unersetzlich. Mitte Mrz 1800 schreibt er seiner Schwester SophieWir sinddieMitte unserer ganzenFamilie in jedemSinne.51 Undmehrnoch:

    O geliebte beste! wie wunderbar sind die Empfindungen eines liebenden. Die Liebe zu direrregt in mir den Wunsch bei dir zu sein, und die Vernunft unterdrkt diesen Wunsch.Schon wieder seufze ich nach dir und dann wird mirs so enge um das Herz, ein Stromerleichternder Thrnen enstrzt dem suchenden Auge und izt schwimmt der liebendeBruder imWonnegefhl der reinsten edelsten Liebe.52

    Doch diese innige Geschwisterbeziehung zwischen Clemens und Sophie erweistsich keineswegs als individuell und einzigartig. Vielmehr wird die Stelle der

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    Fokussierung auf die Leserin scheint Effekt des durchschlagenden Erfolges der frhaufklreri-schen Bildungsoffensive der Selbstbildung durch Lektre beim weiblichen Zielpublikum zu sein:Im spten 18.Jahrhundert geht es den Autoren der diversen Frauenzimmerlexika und Taschenb-cher fr Damen nun darum, die weibliche Lesesucht oder gar Lesewut zu reglementieren und dasInteresse der Leserinnen von Romanen auf Ntzlicheres, wie gute Kenntnisse in der Religion,Erziehungskunst der Kinder, und allem was zum huslichen Leben gehret zu lenken. Vgl.Frauenzimmer-Lexicon (1773). Art. Frauenzimmer. Sp.1075, zitiert nach Brbel Cppicus-Wex:Der Verlust der Alternative. Zur Disqualifizierung weiblicher Bildungsideale im letzten Drittel des18.Jahrhunderts am Beispiel zweier Ausgaben des Nutzbaren, galanten und curisen Frauen-zimmer-Lexicons. In: Claudia Opitz/ Ulrike Weckel/ Elke Kleinau (Hg.): Tugend, Vernunft undGefhl. Geschlechterdiskurse der Aufklrung und weibliche Lebenswelten. Mnster u.a.: Wax-mann 2000, S.271285, hier S.277. Die publizistische Lesesuchtdebatte lsst jedoch nur bedingtRckschlsse auf tatschliches Leseverhalten zu. So gehen Kiesel und Mnch in ihrer soziologi-schen Studie zur Entstehung des literarischenMarktes in Deutschland davon aus, dass tatschlicheine Zunahme an Lesern und Leserinnen auszumachen ist, das Lesepublikum faktisch aberbedeutend geringer war, als die Lesesuchtsdebatte suggeriert. Vgl. Helmuth Kiesel/ Paul Mnch:Gesellschaft und Literatur im 18.Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischenMarkts in Deutschland. Mnchen: C.H.Beck 1977, S.154ff. Auch v.Knig: Lesesucht und Lesewut(s.o.), S.98, legt dar, dass sich die Klagen ber Lesesucht und ber die damit verbundenenKonsequenzen falscher Lebensfhrung nur in geringem Mae auf tatschliche Erfahrungensttzen. Vgl. dazu auch Albrecht Koschorke: Krperstrme und Schriftverkehr. Mediologie des18.Jahrhunderts. Mnchen: Fink 1999, S.398ff.50 Clemens Brentano an Sophie Brentano vom 14.August 1797. In: C.B.: Smtliche Werke undBriefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd.29: Briefe 1 (17921802). Hg. von Lieselotte Kinskofer u.a.Stuttgart: 1988, S.128.51 Ebd., S.210.52 Brief vom 22.12.1793. Ebd., S.31f.

  • einzig geliebten Schwester nach Sophies Tod (1800) gleich wieder besetzt: Jetzt istes die sieben Jahre jngere Schwester Bettine, die die Position der geliebtenSchwester einnimmt, und mit ihr wird die Sprache des Gefhls noch gesteigert.Offenbar handelt es sich bei der geliebten Schwester um eine funktionale Not-wendigkeit fr die Gefhlswelt des Bruders, die weniger konkret denn literarischund imaginr verankert ist: Die Schwester ist fr Clemens Brentano unersetzlich nicht als Individuum, aber als Aktantenposition.

    Wird diese Korrespondenz in einer erotisch gefrbten Sprache gefhrt, sowehrt Hegel in seiner Argumentation ber die Unersetzlichkeit des Bruders fr dieSchwester jede Form eines Begehrens ab. In seinen Thesen zur Sittlichkeit be-trachtet Hegel die Beziehungskonstellationen der Kernfamilie und gliedert diesenach den Kriterien des Sich-Erkennens im Bewusstsein und des Erkennens desgegenseitigen Anerkanntseins.53 Fr das Verhltnis der Ehegatten zueinanderund dasjenige zwischen Eltern und Kindern hlt er fest, dass beide innerhalb desbergehens und der Ungleichheit der Seiten stehen, die an sie verteilt sind.54 ImUnterschied dazu befindet sich die Beziehung von Bruder und Schwester imGleichgewicht:

    Das unvermischte Verhltnis aber findet zwischen Bruder und Schwester statt. Sie sinddasselbe Blut, das aber in ihnen in seine Ruhe und Gleichgewicht gekommen ist. Siebegehren daher einander nicht, noch haben sie dies Frsichsein eines dem anderen gegebennoch empfangen, sondern sie sind freie Individualitt gegeneinander. [] [D]as Moment desanerkennenden und anerkannten einzelnen Selbsts darf hier sein Recht behaupten, weil esmit dem Gleichgewicht des Blutes und begierdeloser Beziehung verknpft ist.55

    Die Konzeption einer gleichgewichtigen Geschwisterbeziehung weist Hegel alshistorischen Vordenker der Horizontalitt aus, die als Spezifikum der Geschwis-terbeziehung begrifflich erst im ausgehenden 20.Jahrhundert gefasst wird.

    Mit dieser Horizontalitt wre eine Basis fr ein Anerkennungsmodell auchzwischen den Geschlechtern gegeben. Doch diesen Weg nimmt Hegels Argumen-tation nicht. Mit der Thematisierung der Geschlechtsidentitt kommt zugleichauch das zuvor ausgeschlossene Begehren wieder ins Spiel. Damit verschiebensich die Gewichte gem dominierender zeitgenssischer Geschlechterauffas-sung: Als Frau entbehrt die vormalige Schwester das Moment, sich als diesesSelbst im Anderen zu erkennen, die Weiblichkeit reprsentiert den inneren

    Antik? Oh, nee. 19

    53 Dabei geht es um Beziehungsstrukturen, nicht um Gefhle: [D]ie sittliche Beziehung derFamilienglieder [ist] nicht die Beziehung der Empfindung oder das Verhltnis der Liebe. Hegel:Phnomenologie des Geistes (Anm.34), S.331.54 Ebd., S.336.55 Ebd., S.3368.

  • Feind, die ewige Ironie des Gemeinwesens, die zum Wohl des Gemeinwesensunterdrckt werden muss.56 Hegel wird denn auch von der feministischen Kritik,und hier insbesondere von Luce Irigaray, vor allem als Vertreter einer misogynenGeschlechterauffassung und phallogozentrischen Haltung rezipiert:

    Also, fr einenMoment erkennen sich der Bruder unddie Schwester in ihremeinzelnenSelbstan, und jeder darf sein Recht behaupten, gem der Macht eines jeden, die sich in und durchden anderen im Gleichgewicht befindet []. Der Krieg der Geschlechter findet hier nicht statt.Doch dieser Moment ist natrlich ein mythischer, und der Hegelsche Traum ist bereits einErgebnis einer durch den Diskurs des Patriarchats hervorgebrachten Dialektik. Eine be-schwichtigende Phantasie, einWaffenstillstand in einemKampfmit ungleichenWaffen, eineLeugnungder schwerenSchuld, die schonaufdemWerdendesGeistes lastet [].57

    Ich gehe mit Irigaray einig, dass die Konsequenzen, die Hegel aus dem gesetztenGleichgewicht zieht, radikal asymmetrisch sind und er im Fortgang phallogozen-trisch argumentiert. Ich mchte aber den Moment des Gleichgewichts anders alsIrigaray nicht als schon zerstrt58 sondern als echte Strungmit Argumentqua-litt verstehen. Denn Hegel nimmt dafr Inkonsequenzen in Kauf: Nicht nur strtdie Darstellung der Schwester die Grundlinie der Argumentation ber Weiblich-keit als negative Praxis, mit dem geschwisterlichen, begierdefreien Anerkennenwiderspricht Hegel auch seiner zuvor gegebenen Definition von Anerkennung alseiner wie es Judith Butler formuliert kultivierte[n] Form des Begehrens.59

    Diese Strung wird allerdings nicht produktiv, weder fr die Geschlechts-identitt noch fr das Gemeinwesen nutzt Hegel das Potential der Horizontalen,obwohl mit der Ideologie der fraternit ein republikanisches Modell in der zeitge-nssischen Enzyklopdie bereitstehen wrde.60 Vielmehr bleibt die Horizontaleeine Strung, die bergangslos in die vertikal strukturierte Ordnung berfhrt

    20 Franziska Frei Gerlach

    56 Ebd., S.337, 352.57 Vgl. Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. bers. von Xenja Rajewskyu.a.. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980 (frz. Originalausgabe 1974), S.266ff., hier S.269. Vgl. auchSeyla Benhabib: Hegel, die Frauen und die Ironie. In: S.B.: Selbst im Kontext. KommunikativeEthik im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmoderne. bers. vonIsabella Knig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S.258276.58 Irigaray: Speculum (Anm.57), S.274.59 Butler: Antigones Verlangen (Anm.27), S.33. Vgl. Hegel: Phnomenologie des Geistes(Anm.34), S.145ff. Butler streicht an Hegels wirkungsmchtiger Definition von Anerkennung imKapitel ber Herrschaft und Knechtschaft heraus, dass dort Anerkennung vom Begehren nachAnerkennung durch den anderenmotiviert und also Anerkennung per definitionemmit Begehrenverknpft ist.60 Zur Parole der fraternit als Teildes Geschwisterdispositivs um 1800 vgl. Frei Gerlach: Ge-schwister (Anm.12), S.107ff.

  • wird: Der Bruder verlsst die Sphre der Familie und geht auer sich, in dasGemeinwesen. Die Schwester aber wird oder die Frau bleibt der Vorstand desHauses und die Bewahrerin des gttlichen Gesetzes.61

    Dieser abrupte aber konfliktfreie bergang vom Gesetz der Familie zu demje-nigen des Gemeinweisens ist erstaunlich, da ja Antigone die verschwiegeneSchwesterfigur ist, die als Subtext die hegelschen berlegungen steuert.62 Folgenwir dieser Lesart, so agiert hier eine Symbolfigur des Widerstandes, die im Namender Familie gegen das Gemeinwesen opponiert und deren Drama gerade darinbesteht, ewig Schwester zu sein und nicht Frau werden zu knnen: Denn wennSophokles Antigone etwas bedauert dann nicht vermhlt zu sein. Das zieht sichals repetitives Moment durch ihre Klage im dritten Stasimon.63

    Wie also ist dieser bergang von der Schwester zur Frau zu erklren, der inHegels Text bis in die Syntax hinein als Bruch lesbar ist Die Schwester aberwird oder die Frau bleibt? Derrida liest Antigone bei Hegel als das nicht integrier-bare Auen, Butler sieht in der Verallgemeinerung der Schwester zur Weiblich-keit einen Gewaltakt, der Antigone und die durch sie verkrperte Kontingenzauslsche.64 Voraussetzung beider Lektren ist, dass Sophokles Antigone alleines ist, die den abrupten bergang zwischen Schwester und Frau bei Hegel steuert.Doch es gibt noch eine andere Mglichkeit.

    Mglich ist auch, dass dieser bergang von der Schwester zur Frau von derzeitgenssischen literarischen Szenographie der inzestusen Situation gesteuertwird: Hegel und seine lesenden Zeitgenossen verfgten in ihrer enzyklopdischenKompetenz ber das Wissen, dass ein [H]erber und hinber65 von Schwesterund Braut umstandslos mglich ist.

    Gleichzeitig insistiert Hegel nun aber gerade darauf, dass die Beziehungzwischen Bruder und Schwester durch die Abwesenheit von Begehren charakteri-siert ist und wehrt damit von allem Anfang an die inzestuse Isotopie ab. Das istum 1800 nur bedingt ein Widerspruch, vielmehr ist beides Teilder kulturellenEnzyklopdie: Es sind die zeitgenssischen Verhandlungen zwischen der emo-tional hochgradig positiv besetzten Bruder-Schwester-Beziehung und dem stets

    Antik? Oh, nee. 21

    61 Hegel: Phnomenologie des Geistes (Anm.34), S.338.62 Vgl. Derrida: Glas (Anm.35), S.231ff.; Irigaray: Speculum (Anm.57), S.266ff.; Butler: Antigo-nes Verlangen (Anm.27) sowie das NachWort von BettineMenke in: ebd., S.139ff.63 Vgl. Sophokles: Antigone (Anm.13), Verse 81316: und kein Brautlied/ erklang mir, auchkein Gesang/ ward zu meiner Vermhlung ge-/ sungen: Acherons Braut nun soll ich sein. Vgl.auch Verse 847, 866/867, 876: Beweint nicht, niemandem lieb, nicht vermhlt, Verse 890f.: OGrab, o Brautgemach, o unterirdischer/ Behausung ewige Haft, Verse 917f.: kein Brautlied,keine Hochzeit, keines Ehebunds/ Beglckung.64 Vgl. Derrida: Glas (Anm.35), S.227; Butler: Antigones Verlangen (Anm.27), S.63.65 Goethe: Die Geschwister (Anm.43), S.18.

  • als illegitim sanktionierten Geschwister-Inzest, die als komplexer Subtext diehegelsche Argumentation steuern. Zugleich berfhrt Hegel damit das Drama derAntigone aus der antiken Tragdie zu einem Schluss, wie ihn die zeitgenssischenKomdien prsentieren: einer Heirat, die aus der Schwester eine Frau macht.

    Die gleichgewichtige Horizontale ist damit notwendig an die Schwester ge-knpft. Wird sie Frau, dann verschieben sich die Gewichte. Auch wenn Hegelletztlich die Horizontale nicht weiter fruchtbar macht, so kommt ihm doch dasVerdienst zu, ihr Potential bedacht zu haben.

    Dieses Potential der Horizontalen manifestiert sich um 1900 in Hofmanns-thals Schwester-Superlativ, der 100Jahre Faszinationsgeschichte der Antigoneim Allgemeinen und eine goethesche Verszeile im Besonderen aufnimmt: derschwesterlichsten Seele Schattenbild [], Antigone, [] ist Wirklichkeit, und allesandre ist Gleichnis und ein Spiel in einem Spiegel.66

    Um 1900

    Fr die Antigone-Inszenierung im Berliner Lessingtheater am 28.Mrz 1900 hatHofmannsthal ein Vorspiel verfasst, das auf noch verdunkelter Bhne gesprochenwurde:

    Dies strahlende Geschpf ist keines Tages!Sie hat einmal gesiegt und sieget fort.[]mein Unvergngliches rhrt sich in mir:aus den Geschpfen tritt ihr tiefstes Wesenheraus und kreist funkelnd ummich her:ich bin der schwesterlichen Seele nahganz nah, die Zeit versank [].67

    Zu Hofmannsthals Strken gehrt, Mythen zu aktualisieren und als psychosozialeDramen der Gegenwart vorzufhren.68 In diesem Sinn hat er auch die Gegen-wrtigkeit der Antigone szenisch umgesetzt, den Zeitgeist damit aber offenbarverfehlt. Die Inszenierung der sophokleischen Antigone war ein grosser Erfolg,Hofmannsthals Vorspiel jedoch nicht: Des Herrn von Hofmannsthal der Antigone

    22 Franziska Frei Gerlach

    66 Hofmannsthal: Vorspiel zur Antigone des Sophokles (Anm.7), S.481. Vgl. Goethe: Euphrosy-ne (Anm.10).67 Hofmannsthal: Vorspiel zur Antigone des Sophokles (Anm. 7), S. 484.68 Das zeigt insbesondere seine Elektra, die der literaturwissenschaftlichen Interpretation immerwieder neue Inspiration ist.

  • vorausgeschickten, ebenso berflssigen wie unverstndlichen Prolog bergehtman am besten mit Stillschweigen,69 heisst es etwa in einem zeitgenssischenUrteil.

    Freuds Witz ber die Antik? Oh, nee.70 bezieht sich nachweislich auf einefrhere Berliner Auffhrung.71 Doch ist nicht auszuschliessen, dass im Erzhlenausgerechnet dieses Witzes wenige Jahre nach Hofmannsthals Berliner Misserfolgauch ein Seitenhieb auf einenWiener Konkurrenten im Transponieren mythischerStoffe zu endopsychischen Dramen steckt. Freuds dipus-Transposition jeden-falls war fraglos von beispiellosem Erfolg gekrnt, dient sie der klassischenfreudschen Psychoanalyse doch als Beispiel einer Universalen.72 Die folgendenberlegungen fokussieren das, was dieser Erfolgsgeschichte als Verneinung zuGrunde liegt, und suchen dessen unausgeschpftes Potential um 1900 zu rekon-struieren: Was wre, wenn Antigone Freuds Evidenzerlebnis ausgelst htte?Wenn die Psychoanalyse statt von dipus von Antigone ausgegangen wre?73

    Es gibt kulturhistorische Indizien, dass die geschwisterliche Horizontale beider Herausbildung der Psychoanalyse als mgliche Perspektive zur Verfgunggestanden hat. Zeigen lsst sich das nicht nur fr die Wahl des basalen Modells,sondern auch fr die Form der Institutionalisierung der Psychoanalye: Bei beidenhat eine analoge Bewegung der Verwerfung der Horizontalen und der Vereindeu-tigung zur Vertikalen stattgefunden.

    So pldierte Sndor Ferenczi in seiner programmatischen Schrift Zur Orga-nisation der psychoanalytischen Bewegung von 1910 dafr, dass die Homologievon Vereins- und Familienstruktur in der entstehenden psychoanalytischen Ver-einigung genutzt werde, um einen Verband von vereinigten jngeren undlteren Geschwistern zu institutionalisieren. Ferenczi geht zwar nicht so weit,einen radikaldemokratischen Geschwisterverband zu fordern, er sieht immernoch eine Vaterfigur vor, aber eine, der keine dogmatische Autoritt zukom-men soll.74

    Ebenfalls auf der Ebene der Horizontalen erzhlt Franz Wellendorf die Grn-dungsgeschichte der Psychoanalyse: als eine Reihe von Geschwisterkmpfen, in

    Antik? Oh, nee. 23

    69 Heinrich Stmcke: Von den Berliner Theatern (1899/1900) XIV. In: Bhne und Welt 2 (18991900), S.605f., hier S.606. Zitiert nach Flashar: Inszenierung der Antike (Anm.4), S.378.70 Freud: DerWitz (Anm.1), S.33.71 Freuds Referenztexte fr den Antigone-Witz, die Aesthetik von Friedrich Theodor von Vischerundber denWitz von Kuno Fischer, sind 1846 bzw. 1889 erschienen. Vgl. Anm.1.72 Vgl. Anm.11.73 Vgl. Anm.27.74 SndorFerenczi: ZurOrganisation derpsychoanalytischenBewegung (1910). In: S.F.: Schriftenzur Psychoanalyse I.Hg. und eingel. von Michael Balint. Frankfurt/M.: S.Fischer 1970, S.4858,hier S.53. ZuFerenczishorizontalemEntwurf vgl. auchSohni:Geschwisterlichkeit (Anm.29), S.6.

  • der es um die Auslschung der Rivalen ging. So interagierten in der Grndungs-zeit fachliche, institutionelle und persnliche Fragen und Konflikte und lstensich homolog zur dominierenden Fachmeinung: als Verschiebung von der hori-zontalen Ebene der Bruderkonflikte (zwischen Ernest Jones, Karl Abraham undMax Eitingon einerseits und Sndor Ferenczi sowie Otto Rank andererseits) aufdie vertikale Ebene der Vater-Sohn-Beziehung (wobei Freud die Vaterpositioneinnimmt und Jones aus dem Kampf der Shne siegreich hervorgeht).75

    Eine analogeBewegung lsst sich fr Freuds persnliche Entscheidung fr dasModell dipus zeigen:Wenige Tage vor der ersten Erwhnung desdipus in jenemviel zitierten Brief an Flie76 schreibt Freud von seinem nur wenige Monate altgewordenen Bruder Julius und den bsenWnschen, mit denen er ihmbegegnetwar; dieser bestimme seither dasNeurotische an seinen Freundschaften:

    Ich kann nur andeuten, [] da ich meinen 1 Jahr jngeren Bruder (der mit wenigenMonaten gestorben) mit bsen Wnschen und echter Kindereifersucht begrt hatte, undda von seinem Tode der Keim zu Vorwrfen in mir geblieben ist. [] Dieser Neffe [eshandelt sich um Freuds Neffen John, F.F.G.] und dieser jngere Bruder bestimmen nun dasNeurotische, aber auch das Intensive an allen meinen Freundschaften.77

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    75 Vgl. Franz Wellendorf: Zur Psychoanalyse der Geschwisterbeziehung. In: Forum der Psycho-analyse 11 (1995), S.295310. Der Konflikt eskalierte im Anschluss an Otto F.Ranks 1924 erschie-nenes Buch Das Trauma der Geburt und endete in erbitterten persnlichen Feindschaften. Ent-larvend in Bezug auf das Konfliktlsungsschema ist Jones Nachrede ber Rank in seiner groenFreud-Biographie: Mir war bekannt, da Rank in seiner Kindheit unter einer stark verdrngtenFeindseligkeit gegenber seinemBruder sehr gelitten hatte, eine Haltung, hinter der sich gewhn-lich entsprechende Gefhle gegen den Vater verbergen. Diese lud er nun auf mich ab, und meineHauptsorge bestand darin, Freud vor den Auswirkungen zu schtzen []. Drei Jahre hindurchlebte ich in der Angst, Ranks Bruder-Feindseligkeit knnte auf die tieferliegende Vater-Bruder-Feindseligkeit regredieren, trotz allem hoffend, da dies nicht zu Freuds Lebzeiten geschehenwerde. Ernest Jones: Das Leben undWerk von Sigmund Freud. bers. von Katherine Jones. Bd.3.Bern: Huber 1962, S.64.76 In seinem Brief vom 15.10.1897 schreibt Freud an Flie erstmals vom dipus-Komplex: Eineinziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in dieMutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt fr einallgemeines Ereignis frher Kindheit []. Wenn das so ist, so versteht man die packende Machtdes Knigs dipus []. Jeder der Hrer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcherdipus und vor der hier in die Realitt gezogenen Traumerfllung schaudert jeder zurckmit demganzen Betrag der Verdrngung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt. Briefan Wilhelm Flie vom 15.Oktober 1897. In: S.F.: Aus den Anfngen der Psychoanalyse. Briefe anWilhelm Flie. Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 18871902. Frankfurt/M.: S.Fischer1962, S.191194, hier S.193.77 Brief an Wilhelm Flie vom 3.Oktober 1897. In: Freud: Aus den Anfngen der Psychoanalyse(Anm.76), S.189191, hier S.189f.

  • Diesen Kern der Neurosewird Freud aber nicht in sein Theoriegebude integrieren.ImFamilienromander Psychoanalyse agieren allein die Eltern, nicht die Geschwis-ter des egos.78 Die Psychoanalyse wird hier als eine Mnnergeschichte erzhlt, beider dieBrder bis zur gegenseitigenAuslschung rivalisierenund ihreRivalitt nurdurch eineEntscheidung fr einehierarchischeStruktur lsenknnen.

    Auch die Brderrivalitt ist basaler Teilder Antigone, und darin wre wohlder Ansatzpunkt fr ein frhes psychoanalytisches Geschwistermodell zu situie-ren, wie es aus Freuds sprlichen Bemerkungen ber seinen Bruder ablesbar ist,theoretisch aber ohne Folgen geblieben ist.79 Die Figur der Antigone dagegenkehrt nach ihrer frhen Verneinung beim spten Freud wieder in einer vertikalen,nicht der horizontalen Struktur: Freud nennt in seiner Korrespondenz seineTochter Anna seine treu[e] Antigone-Anna.80 Und integriert die Figur Antigonedamit in die dipale Beziehungsdynamik, wie sie im sophokleischen dipus aufKolonos (401 v.Chr.) dramatisiert wird, wo Antigone den geblendeten dipus biszu dessen Tod begleitet.

    In Sophokles Antigone dagegen steht die horizontale Dynamik im Zentrum,und diese ist homophob und heterophil organisiert. Polyneikes, dessen unbe-grabener Leichnam den Konflikt der Antigone auslst, ist im Kampf der um dieMacht in Theben rivalisierenden Brder gefallen: Die beiden Brder Eteokles undPolyneikes haben sich dabei gegenseitig gettet. Als Aggressor der Stadt wirdPolyneikes ber den Tod hinaus bestraft: Der machthabende Kreon verweigertihm das Begrbnis und setzt auf eine Zuwiderhandlung gegen sein Gebot dieTodesstrafe. Im Wissen darum nimmt Antigone die Begrbnishandlung vor: Fr

    Antik? Oh, nee. 25

    78 Vgl. Wellendorf: Zur Psychoanalyse der Geschwisterbeziehung (Anm.75), S.300. Juliustaucht denn auch in Freuds Schriften namentlich nicht mehr auf.79 Eine neue These zur Bedeutung von Freuds Bruder Julius stellt Franz Maciejewski: Der Mosesdes Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder. Gttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, auf.Maciejewski bringt Freuds traumatische, in seinen Schriften aber nur verdeckt lesbare Erinnerungan seinen frh verstorbenen Bruder ber eine minutise Indizienkette mit Freuds obsessiverBeschftigung mit der Figur Moses in Zusammenhang: Julius, dessen zweiter Name Moses war,stehe als Vexierbild hinter Freuds kulturtheoretischen Studien Der Moses des Michelangelo (1914)undDerMannMoses und die monotheistische Religion (1939).80 Postkarte an Sndor Ferenczi vom 12.10.1928, in: Sigmund Freud Sndor Ferenczi: Brief-wechsel.Band III/2 (19251933). Hg. von Ernst Falzeder u.a. Wien/ Kln/ Weimar: Bhlau 2005,S.192f., hier S.193. Vgl. auch den Brief an Arnold Zweig vom 25.2.1934: Aber es ist ihnen dochnicht verborgen geblieben, da das Schicksal mir zur Entschdigung fr manches Versagte denBesitz einer Tochter gewhrt hat, die unter tragischen Verhltnissen hinter einer Antigone nichtzurckgestandenwre. In: Sigmund Freud Arnold Zweig: Briefwechsel. Hg. von Ernst L.Freud.Frankfurt/M.: S.Fischer 1968, S.7677, hier S.77. Die Fundstellen verdanke ich Barbara Diepold:Psychoanalytische Aspekte von Geschwisterbeziehungen. In: Praxis der Kinderpsychologie undKinderpsychiatrie 37/8 (1988), S.274280, hier S.275.

  • die Erlsung des Bruders nimmt die Schwester den eigenen Tod in Kauf. DieSchwestern Antigone und Ismene, die im ersten Vers der Tragdie nicht nurinhaltlich, sondern auch formal als innige Zweiheit eingefhrt werden,81 entzwei-en sich in der Frage des Widerstandes gegen das Begrbnisverbot. Diese Ent-zweiung wird im Textverlauf von Antigone gegen alle Vershnungsangebote ihrerSchwester hartnckig verfochten und gipfelt schlielich in der Aufkndigung derschwesterlichen Verwandtschaft.82

    Verknpfen wir diese basale Logik der Geschwisternarrative mit der Prva-lenz bei Geschwisterpaaren, so ergibt sich eine Validierung des Bruder-Schwes-ter-Paares und der zugehrigen Geschwisterliebe. Dies lsst sich auch als Effektjener Begehrensregulierung verstehen, die im feministischen Diskurs Zwangs-heterosexualitt genannt wird.83 Unter diesem Fokus prsentiert Judith Butler imJahr 2000 ihre Thesen zu Antigone.

    Um 2000

    Butlers Argumentation basiert auf einem Durchgang durch die Antigone-LektrenHegels, Lacans und Irigarays. Bei Hegel reprsentiert Antigone die gttlichenGesetze der Blutsverwandtschaft, die mit der Staatsrson in Konflikt stehen, beiIrigaray ist Antigone die Figur des weiblichen Widerstandes gegen das phallogo-zentrische politische System, und bei Lacan steht Antigone an der Grenze desSymbolischen und konstituiert dieses als ein Gefge von Regeln und Normen, dasbestimmte Verwandtschaftsstrukturen zur Sprachstruktur formt. Butler streichtnun gegen Hegel, Irigaray und Lacan heraus, dass Antigone weder die Gesetze

    26 Franziska Frei Gerlach

    81 O du, geschwisterlich vertraut, Ismenes Haupt!, zitiert in der bersetzung von WilhelmWillige (Anm.13). Dieser erste Vers gibt einige bersetzungsprobleme auf, da er in der Formulie-rung schon zweifach Verwandtschaftsbegriffe einsetzt und darber hinaus imDual formuliert ist, fr den es im Deutschen keine grammatikalische Entsprechung gibt.82 Vgl. zur Aufkndigung von Verwandtschaft Vers 876ff. und 940ff., in denen sich Antigone alsletzte ihres Stammes sieht, sowie Vers 531ff., in denen Antigone die von Kreon als Mittterinverdchtigte und sich selbst bezichtigende Ismene von der Tat ausnimmt und ihr dasWeiterlebennahelegt.83 Vgl. z.B.Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (Anm.30), S.46. Fr die breitenwirksameEtablierung des ursprnglich von Sndor Ferenczi geprgten, dann in Vergessenheit geratenenund 1975 von Alice Schwarzer fr den deutschsprachigen und Gayle Rubin fr den englisch-sprachigen Diskurs erneut erfundenen Begriffes haben vor allem die Arbeiten Judith Butlersgesorgt. Vgl. Gudrun Hauer/ Petra M.Paul: Begriffsverwirrung. Zwangsheterosexualitt versusHeteronormativitt: Annherungen an eine Begriffsgeschichte und Definitionsversuch. In: Gigi.Zeitschrift fr sexuelle Emanzipation. Nr.44. Berlin 2006, S.813.

  • der Verwandtschaft noch die Einsetzung des Symbolischen reprsentiere, son-dern deren Krise, die zugleich eine Krise der Reprsentation sei und als solcheneue Mglichkeiten erffne. Butler positioniert das subversive Potenzial derAntigone damit neu und dies analog zu ihrer stilbildenden Argumentationber einen gender trouble:84 Antigone, in ein inzestuses Erbe verstrickt und inder Interpretation Butlers wiederum selbst in inzestuser Bindung zu ihremBruder85 , hat weder eine verwandtschaftlich, noch geschlechtlich, noch sym-bolisch gesicherte Position, sondern steht fr den kontingenten Charakter vonVerwandtschaft und damit zugleich auch von Geschlecht und Sprache: And soweve arrived at something like kinship trouble at the heart of Sophocles.86

    Antigones Satzung in dieser Situation des kinship trouble beinhaltet den Schutzund die Bewahrung der Einzigartigkeit der Beziehung zu ihrem Bruder, daranrichtet sie ihr Handeln und Sprechen aus, dafr widersetzt sie sich dem macht-habenden Kreon, selbst um den Preis des eigenen Todes.87

    Diese Satzung ist nun aber gemss Butler kein Gesetz, weil ihr die dafrnotwendige Verallgemeinerbarkeit fehlt, vielmehr kennt die Satzung nur eineneinzigen Anwendungsfall. Als Motor dieses Einzelfallgesetzes liest Butler eininzestuses Begehren zwischen Antigone und Polyneikes. Sie geht dabei vonHegel aus, dessen Bestehen auf einer begierdefreien Beziehung zwischen Bruderund Schwester ihr als Symptom dient, gerade das Verneinte als Motor des Texteszu sehen, nicht nur des hegelschen, sondern auch des sophokleischen:88

    Nun aber ist es ganz besonders interessant zu sehen, wie viele Deutungen des Sophoklei-schen Stcks darauf beharren, dass hier keine inzestuse Liebe im Spiel ist, und man fragtsich schon, ob die Lektre des Stcks hier nicht geradezu zur Gelegenheit wird, auf ebendieser Leugnung zu bestehen: Es gibt hier keinen Inzest, es kann hier keinen Inzest geben.89

    Butler entwickelt ihr Argument aus der inzestusen Genealogie der Labdakiden,doch liefert der sophokleische Text keinen Hinweis darauf, dass sich der kinshiptrouble der Kinder respektive Geschwister des dipus inzestus konkretisiere. ImUnterschied zu Butler mchte ich darum festhalten, dass die Antigone-Lektren

    Antik? Oh, nee. 27

    84 Vgl. Butler: Gender Trouble (Anm.30).85 Zur Kritik an dieser Lesart vgl. unten.86 Butler: Antigones Claim (Anm.27), S.62. Vgl. Butler: Antigones Verlangen (Anm.27), S.100.Butler bezieht sich dabei explizit auf Sophokles Antigone, Vers 328, 1365ff. Ich zitiere diese Stellenach dem englischen Original, da die deutsche bersetzung die begriffliche Verwandtschaft zuButlers gender trouble nicht prsent halten kann.87 Sophokles: Antigone (Anm.13), Vers 909.88 Butler: Antigones Verlangen (Anm.27), S.1989 Ebd., S.37f.

  • einen Inzest nicht leugnen knnen, da ein solcher im sophokleischen Text nichtangelegt ist: das lsst sich sowohl lexikalisch als auch in einem intratextuellenVergleichmit sophokleischen Inzestnarrativen belegen.90 Die inzestuse Thematik

    28 Franziska Frei Gerlach

    90 Um diese These zu sttzen, gilt es zu klren, inwieweit die inzestuse Lesart vom Text selbststimuliert respektive reguliert wird. Dies sei im Folgenden in einer altphilologischen und einerinterpretatorisch-intratextuellen Argumentation ausgefhrt. Fr die fachkundige Untersttzungbei dieser Argumentation danke ichMagdalene Stoevesandt.Die Art der Liebe vonAntigone undPolyneikes wird bei Sophokles stets mit dem Wortfeld / ausgedrckt, analog zurBeziehung Antigones zu anderen Familienmitgliedern. Nun weist ein weites Spektrum anBedeutung auf (vgl. Henry George Liddell/ Robert Scott: A Greek-English Lexicon. With a revisedsupplement. Oxford: Clarendon Press 1996, Sp.1936ff.) und ein bei Sophokles can beanything froma close relative to a political ally (AndrewBrown [Hg.]: Sophocles Antigone. Editedwith translation and notes. Warminster: Aris & Philips 1987, S.137). Die Konnotation sexuellerLiebe hat einzig, und zwar bei Homer (Liddell/ Scott: A Greek-English Lexicon, Sp, 1940),in der sophokleischenAntigone steht dafr jedochder Begriff des (vgl. Vers 781ff.), und dieserwird nicht fr die Beziehung zwischen Antigone und Polyneikes verwendet. Die wichtigste Stellefr die Qualifizierung der Liebe zwischen Antigone und Polyneikes ist Vers 73, in der bersetzungvonWillige: Von ihm geliebt, lieg ich bei ihm, dem Lieben, dann, in dem / zweifach(mnnlichundweiblich)undals ein beieinander Liegenvorkommt.Mit unsererheutigenLektre-haltung legt diesebersetzung in der Tat einen inzestusen Subtext nahe. Entsprechend reagierenauch die Kommentatoren darauf und qualifizieren dieMglichkeit eines Inzest-Subtextes vonVers73 als preposterous (Jan CoenraadKamerbeek [Hg.]: The Plays of Sophocles. Commentaries. PartIII.The Antigone. Leiden: E.J.Brill 1978, S.48) respektive als keine zeitgenssische Implikation(Brown: Antigone, S.141) oder verweisen darauf, dass eine eventuell faintly incestuous []devotioneinDiskussionspunkt indenAntigone-Lektrenseinkann(MarkGriffith [Hg.]: SophoclesAntigone. Cambridge: Cambridge University Press 1999, S.33), wobei Griffith (S.63) dafr spezi-fischaufAntigone-Transpositionen (Anouilhz.B.) verweist. Zugleichgilt inBetrachtzuziehen,dassdie Engfhrung vonGrabundBrautgemach (vgl. Verse 654, 804, 888, 891, 899), die die These einesinzestusen Subtextes in Butlers Lektre sttzt, historisch auf einer tendenziellen bereinstim-mung der bergangsriten Heirat und Begrbnis im antiken Griechenland beruht und damit frdie zeitgenssischen Zuschauer ein anderes Konnotationsfeld erffnete (dazu Brown: Antigone,S.189; Griffith: Antigone, S.266/267). Philologisch ist damit eine inzestuse Auslegung der Bezie-hung Antigone-Polyneikes nicht stichhaltig. Unmissverstndlich ist hier Christiane Zimmermann:Der Antigone-Mythos in der antiken Literatur und Kunst. Tbingen: Gunter Narr 1993, S.320, dieaufgrund ihrer grndlichen Analyse der antiken Quellen zur Antigone und spezifisch auch derZuordnung von und eine inzestuse Auslegung fr falsch hlt. Im intratextuellenVergleich zu den anderen sohpokleischen Stcken wird darber hinaus evident, dass sich Sopho-kles nicht scheut, Inzest offen als solchen zu thematisieren. Auch in der Antigone selbst ist dieinzestuse Genealogie der Labdakiden Thema (Vers 863ff.) undwird ausnahmslos auchwenn erunwissend begangen worden ist (wie in Knig dipus) aufs Schrfste sanktioniert. Sollte alsoAntigone in [e]inen Inzest (Butler: Antigones Verlangen [Anm.27], S.38) verstrickt sein, sowiderspricht dasderHandlungslogikdesStcks:Unter dieserPrsuppositionwrenicht erklrbar,weshalb am Schluss allein Kreon als derjenige erscheint, der gegen heilige Gesetze verstoen hat.AuchdieEngfhrungvonGrabundBrautgemach,die zuBeginnnochauf dasZusammenliegender

  • ist vielmehr eine Anreicherung der Zeit um 1800, bedingt durch eine literarischeKumulation inzestuser Situationen zwischen Geschwistern, durch eine emotio-nal-lebensweltliche und eine empfindsam-diskursive Fokussierung auf die Bru-der-Schwester-Dyade sowie durch eine endogame Heiratspraxis, die das Bruder-Schwester-Paar symbolisch in der Cousin/ Cousinen-Heirat zu realisieren sucht.Diese zeitgenssische Enzyklopdie steuert Hegels Antigone-Lektre an den dis-kutierten Stellen und hat durch ihre stilbildende Wirkung sptere Lesende immerwieder dazu veranlasst, zu der inzestusen Thematik Stellung zu nehmen, obwohldiese bei Sophokles als Lesart nicht angelegt ist. Der Verweis auf Inzestnarrativeum 1800, den Butler als einzigen Beleg fr ihre These bringt, macht evident, dassauch Butler selbst sich bei ihrer Interpretation an der hegelschen und nicht dersophokleischenZeit orientiert.91

    Butler geht es bei der Frage nach dem Inzest in der Antigone aber weniger umdie Ebene der Geschwister, denn vielmehr um die der Sexualitt. Und dies in demgrundstzlichen Sinn, als gemss Butler durch das Inzesttabu und die darineingeschriebene heterosexuelle Matrix gewisse Verwandtschaftsformen als intel-ligible und lebbare allererst geschaffen werden.92 Sie versteht dabei die Psycho-analyse als eine Theorie der inzestusen Besetzungen und zugleich als Deutungdes Familienfluchs der Labdakiden.93

    George Steiners Frage, wie eine psychoanalytische Theorie aussehen wrde,die statt von dipus von Antigone ausgehen wrde, beantwortet Butler darummitder These, dass Antigone keinen heterosexuellen Abschluss des Dramas hervor-bringe und damit Heterosexualitt aussetze.94 Damit gliedert sie ihre Antigone-Lektre in die von ihr an anderer Stelle berzeugender dargelegte Argumentationeines dem Inzesttabu vorgngigen Tabus gegen Homosexualitt ein.95 Sophokles

    Antik? Oh, nee. 29

    Geschwister hin angelegt erscheint, realisiert sich im Textverlauf in einer nicht-inzestusen Kon-stellation: Es sind Haimon (der von Butler nicht bercksichtigt wird) und Antigone, die tatsch-lichen Brautleute, die zum Schluss zusammen im Grab vereint sind. Beide Argumentationenzusammen verdeutlichen, dass es in der Frage um einen inzestusen Subtext der Antigone nichtdarum geht, eine Lesart zu leugnen, wie Butler insinuiert, sondern darum, Implikationen aus-zuschlieen, die nicht im sophokleischen Text selbst angelegt sind und unserer heutigen undmageblich von den Antigone-Transpositionen der Zeit um 1800 geprgten Lektrehaltungentspringen.91 Butler verweist allein auf Steiners Erluterungen zu inzestusen Geschwisterbindungen zwi-schen 1780 und 1914 und nicht etwa auf sophokleische Textstellen. Vgl. Butler: Antigones Ver-langen (Anm.27), S.38.92 Vgl. ebd., S.112.93 Vgl. ebd., S.104.94 Vgl. ebd., S.122f.95 Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter (Anm.30), S.93122.

  • Antigone lsst sich in diese Argumentation aber nicht einpassen: Die Figur Haimonund ihre Vereinigung mit Antigone im Tod, eine Szenographie, die nachmaligdurch Shakespeares Romeo und Julia ins kollektive Bewusstsein gelangt ist, stehtder butlerschenLesart diametral entgegen.

    Treibende Kraft fr den heterosexuellen Abschluss des Dramas ist zweifellosHaimon, dessen umfangreiche Reden ber seine Braut Antigone96 Butler weit-gehend ignoriert. Antigone selbst hingegen ussert nur grundstzlich einen Ehe-wunsch, ohne diesen fr einen spezifischen Partner zu konkretisieren. Insofernist der heterosexuelle Abschluss der Tragdie von Seiten der Antigone tatschlichein offen gehaltener.97

    Diese Offenheit hat nun die jngste Aktualisierung geschlossen: Der Philo-soph Burkhard Niesert lsst in seinem 2011 geschriebenen Stck Antigone hei-raten und aus ihrer bald zweitausendfnfhundertjhrigen Rolle der todgeweihtenSchwester heraustreten. Dabei ist Antigone selbst die treibende Kraft, die dieTragdie beenden will und einen Neuanfang als Komdie vorschlgt:

    Antigone: Es muss Schluss sein mit Tod und Verzweiflung, mit Hass und Gegenhass, mitdreifachem Selbstmord und einem verzweifelten Kreon. Die Tragdie muss ein Ende finden.[]Bis zum Ende der Tage Antigone zu spielen, das wre eine wirkliche Tragdie. Wir mssenAntigone beenden. Die Tragdie hat keine Zukunft mehr. Sie