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Universiteit Gent Academiejaar 2012-2013 „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel und Gäste nur sind wir auf dieser Erde“ Eine Analyse des Verhältnisses zwischen dem Heimatbegriff und dem Motiv des Gasthauses bei Joseph Roth. Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits door Liesbeth Dermaux Promotor : Prof. Dr. Benjamin Biebuyck

„Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel - lib.ugent.belib.ugent.be/fulltxt/RUG01/002/060/253/RUG01-002060253_2013_0001_AC.pdf · braucht, aber beliebig ausfüllen kann: Mendel

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Universiteit Gent

Academiejaar 2012-2013

„Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel

– und Gäste nur sind wir auf dieser Erde“ Eine Analyse des Verhältnisses zwischen dem Heimatbegriff und

dem Motiv des Gasthauses bei Joseph Roth.

Verhandeling voorgelegd aan de

Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde:

Duits

door

Liesbeth Dermaux

Promotor :

Prof. Dr. Benjamin Biebuyck

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Danksagung

Mein Dank gebührt in erster Linie dem Fachbereich Deutsche Literaturwissenschaft an

der Universität Gent, der mir während meines Bachelor- und Masterstudiengangs nicht

nur eine Leidenschaft für die Deutsche Sprache, Kultur und Literatur beigebracht hat,

sondern mich auch immer als zusammenhängendes Team begleitet hat. Insbesondere

möchte ich mich bei meinem Betreuer, Prof. Dr. Benjamin Biebuyck, für seine

hilfreichen Anregungen, die Engelsgeduld, mit der er auf meine zahlreichen Fragen

einging, und seine außerordentliche Verfügbarkeit bedanken. Das Engagement, das er

im Laufe meines Studiums als Professor gezeigt hat, hat er als Betreuer beim

Schreibprozess dieser Arbeit nicht nur bestätigt, sondern noch übertroffen.

In Momenten, in denen Zweifel und Stress aufkamen, hatte ich das Glück, immer auf

Freunde stützen zu können. Daher möchte ich Simon Oosterlynck, meinen WG-

Mitbewohner, Dankbarkeit zeigen, der mit seinem relativierenden Blick auf die Welt

und seiner friedlichen Persönlichkeit nicht nur Ruhe in unsere Wohnung brachte,

sondern mich auch immer wieder beruhigen konnte. Insbesondere soll an dieser Stelle

auch Ruth Botterman erwähnt werden, welcher ich für ihre jahrelange Verbundenheit

danke. Ich schätze mich glücklich eine beste Freundin zu haben, deren Güte über die

einer besten Freundin hinausgeht und die folglich nicht nur eine Inspiration als

Freundin, sondern auch als Mensch ist.

Mein ganz besonderer Dank gilt Petra Weiermann, die bei der Korrektur der

Magisterarbeit sehr hilfreich zur Seite stand. Schließlich danke ich meiner Familie –

meinen Eltern, Großeltern, Schwestern und meinem Bruder – und meinem Freund, ohne

deren Unterstützung und Liebe die Arbeit nicht zustande gekommen wäre. An dieser

Stelle möchte ich mich im Besonderen bei meiner Mutter, die ihre Arbeit für ihre

Kinder aufgegeben hat, und bei meinem Vater, dessen Fleiß keine Grenzen kennt,

bedanken. Sie haben mir das Studium überhaupt erst ermöglicht und ihre Hilfe hat sich

als bedingungslos erwiesen. Demzufolge widme ich meinen Eltern diese Arbeit.

Liesbeth Dermaux,

August 2013.

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Inhaltsverzeichnis

0. Einführung .................................................................................................................... 7

1. Der Heimatbegriff ....................................................................................................... 10

1.1. Heimatbegriff historisch ....................................................................................... 10

1.1.1. Bis zum 19. Jahrhundert ....................................................................................... 10

1.1.2. Heimatliebe, transzendentale Heimatlosigkeit und Unordnung

im 20. Jahrhundert .................................................................................................. 12

1.2. Heimatbegriff-Theorien ....................................................................................... 15

1.2.1. Territorium, Gemeinschaft und Heimatgefühl ................................................... 15

1.2.2. Heimat und Politik ................................................................................................. 17

1.2.3. Heimat bei Jean Améry ......................................................................................... 20

1.2.4. Heimat und Grenze ................................................................................................ 22

2. Heimat und Joseph Roth ............................................................................................. 24

2.1. Forschungspositionen ........................................................................................... 24

2.2. Heimat und Fremde .............................................................................................. 26

2.3. Heimatinszenierung in Tarabas ........................................................................... 29

3. Hotel in der Literatur .................................................................................................. 31

3.1. Geschichte des Hotels und der Hotelliteratur ....................................................... 31

3.2. Das Hotelfeuilleton bei Roth ................................................................................ 33

4. Gasthaus als Zwischenraum ........................................................................................ 36

4.1. Territorialität ............................................................................................................ 36

4.1.1. Heimat und Utopie................................................................................................. 36

4.1.2. „An den Toren Europas” ...................................................................................... 37

4.1.3. Peripherie vs. Zentrum im Hotel ......................................................................... 40

4.2. Die Welt vs. das Heim ......................................................................................... 42

4.2.1. Öffnungen und Schließungen ............................................................................... 42

4.2.1.1. Der Gasthof „Zum weißen Adler“ .......................................................... 44

4.2.1.2. Die Beziehung zwischen Kristianpoller und Tarabas ............................. 46

4.2.1.3. Die Polyfunktion des Gasthofs „Zum weißen Adler“ ............................ 50

4.2.2. Das Fenster und die andere Welt ......................................................................... 54

4.3. Mythologie vs. Realität ........................................................................................ 55

4.3.1. Mythische Anspielungen in Roths Romanen ..................................................... 56

4.3.2. Aufklärung .............................................................................................................. 60

4.3.3. Mythos und Realität im Raum ............................................................................. 62

4.3.3.1. Das Vaterland Amerika .......................................................................... 62

4.3.3.2. Mythos und Realität im Gasthaus ........................................................... 66

4.3.3.2.1. Die Rolle des Spiegels ........................................................................ 66

4.3.3.2.2. Die Tendenz zu Erneuerung bei Ignatz/Kaleguropulos und dem Brand ... 70

4.4. Leben vs. Tod ....................................................................................................... 74

4.4.1. Heimat vs. Leben und Tod in Hiob ..................................................................... 74

4.4.2. Das Grab ................................................................................................................. 76

4.4.3. Das Gasthaus als Übergangsort zwischen Leben und Tod .............................. 79

4.4.3.1. Der Liftknabe und der Fahrstuhl ............................................................. 79

4.4.3.2. Gast-Wirt-Metaphorik ............................................................................ 84

5. Schlussfolgerung ......................................................................................................... 89

6. Bibliographie .............................................................................................................. 92

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0. Einführung

„Wo Böses geschieht, ist nicht unsere Heimat. Dazu hat uns Gott die Füße gegeben,

damit wir eine Heimat verlassen, in der Böses geschieht.“1 Diesen Rat gibt der Ich-

Erzähler einem Mann in Der Antichrist, einem polemischen Traktat2, das Joseph Roth

im Jahre 1934 schrieb. In diesem Werk reist ein Ich-Erzähler durch eine durch Technik

zerstörte und gottlose Welt und kommentiert seine Wahrnehmungen. Diese Geschichte

kann nicht gelesen werden, ohne Rücksicht auf Roths persönliche Situation zu nehmen.

Im Jahre 1933 musste er gezwungenermaßen ins Exil gehen: Er wurde heimatlos.3

Trotzdem nuanciert Ilse Josepha Lazaroms das Exiljahr als Wendepunkt: Roth sei schon

vor 1933 durch einen „inner exile“4 geprägt. So schrieb Roth 1932 im Vorwort seines

berühmten Romans Radetzkymarsch, dass der Untergang der österreichischen

Monarchie der Verlust seiner Heimat gewesen sei.5 Roth hat durch seinen Beruf als

Journalist nie eine feste Wohnung gehabt – und anscheinend nie eine gewollt.6 Wenn

Roth 1929 in seinem Hotelfeuilleton den Ich-Erzähler sagen lässt: „Ich bin ein

Hotelbürger, ein Hotelpatriot“7, liegt eine biografische Interpretation nahe. Dieser

Gedanke bestätigt sich im folgenden Zitat aus einem Brief an seinem Verleger Gustav

Kiepenhauer aus dem Jahre 1930: „Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland.

1 Joseph Roth: Der Antichrist. Amsterdam: Allert De Lange 1934, S. 242.

2 Frank Joachim Eggers weist darauf hin, dass „die Gattungsfrage in Bezug auf diesen Text nicht zu

klären [ist]: Roth verschwistert einen aus der Ich-Perspektive entwickelten episodischen Reiseroman, der

an mythisierte Räume gebunden und in dessen Handlungsablauf eine autobiographische Dimension

integriert ist, mit Predigtpassagen und Versatzstücken seiner früheren journalistischen Arbeiten.“ (Frank

Joachim Eggers: „Ich bin ein Katholik mit jüdischem Gehirn": Modernitätskritik und Religion bei Joseph

Roth und Franz Werfel; Untersuchungen zu den erzählerischen Werken. Frankfurt am Main: Peter Lang

1996, S. 81). In vorliegender Arbeit werde ich die Gattungsbezeichnung „polemisches Traktat“, die

Müller-Funk in Bezug auf diesen Text benützt, anwenden. (vgl. Wolfgang Müller-Funk: „Der Antichrist.

Joseph Roths Dämonologie der Moderne“ In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 119). 3 Els Snick: Waar het me slecht gaat is mijn vaterland. Joseph Roth in Nederland en België. Amsterdam:

Bas Lubberhuizen 2013, S. 8. 4 Ilse Josepha Lazaroms: The grace of misery : Joseph Roth and the politics of exile, 1919-1939. Leiden:

Koninklijke Brill 2013, S. 105. 5 Joachim Reiber: „‹Ein Mann sucht sein Vaterland.› Zur Entwicklung des Österreichbildes bei Joseph

Roth“. In: Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 105. 6 Snick erwähnt eine vorübergehende Ausnahme. 1934 versucht Roth mit seiner Freundin Andrea Manga

Bell und Hermann Kesten, Heinrich Mann und deren Freundinnen eine Wohnung zu teilen. Das

Experiment gelingt nicht. (vgl. Snick: Joseph Roth in Nederland en België, S. 33). 7Joseph Roth: Panoptikum. Gestalten und Kulissen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1983, S. 43.

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Gut geht es mir nur in der Fremde.“8 Diese Zitate zeigen, dass Roth nicht auf der Suche

nach einer Heimat war.

Nichtsdestotrotz fallen sowohl in seinen journalistischen Werken als auch in

seinen Romanen die zahllosen Anspielungen auf das Verlangen nach einer Heimat auf.

Stefan H. Kaszyński spricht in diesem Zusammenhang von einer Idealisierung des

Heimatbegriffs, wobei er die Romane Hotel Savoy (1924) und Hiob (1930) als

prototypische Beispiele erwähnt: „Die Heimat ist allgemein Vergangenheit, betrachtet

aus der Entfernung wird sie bewußt idealisiert und zum Mythos kreiert.“9 Jedoch fällt

auf, dass Roth den Heimatbegriff vielfach in ironisierenden Kontexten benützt, wie im

folgenden Zitat aus Hiob, wo sich Heimat als ein leeres Konzept zeigt, das man zwar

braucht, aber beliebig ausfüllen kann: Mendel Singer versucht seinen Sohn „Schemarjah

noch schnell mit der Heimat vertraut [zu] machen, ehe der junge Mann auszog, eine

neue zu suchen.“10

Zweitens hat der Heimatbegriff nicht immer Vergangenheit, sondern

auch Zukunft vor Augen, wie in Der Antichrist, wo mit der Vergangenheit abgerechnet

wird: „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel – und Gäste nur sind wir auf

dieser Erde“.11

Aufgrund Roths persönlicher Situation und der vielfachen Hervorrufung

des Heimatbegriffs erstaunt es nicht, dass die Funktion von Heimat in Roths Werken

zur zentralen Forschungsfrage gehört. Die Forschung ist sich allerdings nicht einig, wie

Heimat in Roths Werken zu verstehen ist. Wo Kaszyński Heimat bei Roth in der

Vergangenheit sieht, sucht Wolfgang Müller-Funk sie in der Fremde.12

Ute Gerhard

schlägt einen anderen Kurs ein, wenn sie die Forschungsfrage, die auf der Heimatsuche

der Rotschen Figuren basiert, ablehnt und Heimat bei Roth im Rahmen der

Wandererdiskurse der Weimarer Republik betrachtet.13

In der vorliegenden Arbeit wird

erneut die Frage nach der Funktion von Heimat in Roths Werken gestellt, und zwar

anhand einer Analyse der Funktion des Hotels und der hotelähnlichen Räume.14

Anlass

8 Roth an Gustav Kiepenheuer, 10. Juni 1930 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939. Hg. v. Hermann Kesten.

Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 165). 9 Kaszyński, Stefan H.: „Die Mythisierung der Wirklichkeit im Erzählwerk von Joseph Roth“. In:

Literatur und Kritik 243/244 (April/ Mai 1990), S. 139. 10

Joseph Roth: Hiob. Köln: Kiepenheuer & Witsch 200040

, S. 56. 11

Roth: Der Antichrist, S. 150. 12

Wolfgang Müller-Funk: Joseph Roth. München: C. H. Beck 1989, S. 22. 13

Ute Gerhard: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der

Weimarer Republik. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 205. 14

Diese Arbeit wird ab jetzt den Terminus „Gasthäuser“ verwenden, weil beide Teile dieses Wortes –

Gast und Haus – den Fokus dieser Arbeit veranschaulichen: Ist der Mensch im Hotel oder in

hotelähnlichen Räumen nur Gast oder werden solche Räume zum Wohnort?

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dazu sind zunächst die Tatsache, dass das Hotel für Roth als Wohnort fungiert hat, und

die explizite Verbindung von Heimat und Hotel im Hotelfeuilleton in Panoptikum: „Das

Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe“15

. Der andere Beweggrund zur Untersuchung

des Gasthauses in seiner Verbindung mit Heimat liegt in einer auffallenden Lücke im

Forschungsstand, denn es wird entweder nach Heimat oder nach Hotel geforscht, und

wenn ausnahmsweise beide in Verbindung gebracht werden, werden nur die

nächstliegenden Werke, das Hotelfeuilleton und das Hotel Savoy, berücksichtigt.16

Mit

einem einseitigen Fokus auf das Hotel in Bezug auf Roths Heimatbegriff verzichtet die

Forschung auf das Konzept des Gasthauses im Allgemeinen. Daher geht vorliegende

Arbeit von der zentralen Frage aus: Wie verhält sich das Motiv des Gasthauses zu Roths

Heimatdiskurs?

Meine Arbeitshypothese lautet, dass der Heimatbegriff – im konventionellen

Sinne einer Suche nach einem idealen Wohnort – in Roths Werken dekonstruiert wird,

insofern das Gasthaus als Ort des Übergangs die Romanfiguren in eine vorwärtsgehende

Bewegung treibt und die Struktur des Romans beeinflusst.

Dabei stehen fünf Werke Roths im Mittelpunkt der Untersuchung, die alle den

Heimatbegriff hervorrufen und in denen ein Gasthaus – zentral oder am Rande –

thematisiert wird. Der Roman Hotel Savoy (1924) und das Hotelfeuilleton (1929), das

1929 zum ersten Mal in der Frankfurter Zeitung publiziert wurde und Roth 1930

zusammen mit anderen journalistischen Texten in den Sammelband Panoptikum

aufnehmen lässt, können in dieser Untersuchung nicht unterbleiben, weil die

Darstellungen dieser Hotels, wie soeben gesagt, bis jetzt in der Forschung das

Verhältnis von Heimat und Hotel in Roths Werken begründen. In Hiob (1930), „Roths

‹jüdischster› Roman“17

, kommt am Ende der Geschichte eine Hotelszene vor, die den

Roman in ein anderes Licht rückt. Die Auswahl des Romans Tarabas mit dem

Untertitel „Ein Gast auf dieser Erde“18

(1934), der Roth während des Exils schreibt und

zu Roths späterem Werk gehört, begründe ich mit dem Argument, dass der Roman kein

15

Roth: Panoptikum, S. 40. 16

Siehe Telse Hartmann: Kultur und Identität. Szenarien der Deplazierung im Werk Joseph Roths.

Tübingen: Narr Francke Attempto 2006, S. 184-194; Müller-Funk: Joseph Roth, S. 40-50. 17

Eva Raffel: Vertraute Fremde: das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig.

Tübingen:

Gunter Narr 2002, S. 203; Raffel kommt zu dieser Bezeichnung, indem sie den Roman wie folgt

zusammenfasst: „In Hiob wird aus der Existenzfrage eines einzelnen Menschen die Schicksalsfrage des

ostjüdischen Volkes.“ (Raffel: Vertraute Fremde, S. 202). 18

Joseph Roth: „Tarabas“. In: Joseph Roth Werke. Band 2. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, S. 139.

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10

Hotel, sondern einen Gasthof als bedeutendsten Ort des Romans inszeniert. Anders als

die anderen Werke, die in dieser Arbeit noch einer Analyse unterzogen werden,

thematisiert Der Antichrist (1934), das Traktat, das Roth nach eigener Aussage aus „der

persönlichen Not geschrieben“19

hat, kein wahrnehmbares Gasthaus, in dem sich die

Geschichte entfaltet, sondern bringt das Gasthaus als Konzept zur Sprache.

Die Gasthäuser werde ich in vorliegender Arbeit einer foucaultianischen

Analyse unterwerfen, insofern, sie als Heterotopien, als „tatsächlich realisierte

Utopien“20

zu verstehen sind. Diese Räume weichen von alltäglichen Räumen ab, mit

denen sie dennoch eine Verbindung erhalten.21

Ausgehend von dem heterotopischen

Charakter des Gasthauses, soll sich auch die Spannung herausstellen, mit der Roths

Heimatbegriff aufgeladen ist. Roths Heimatdiskurs ist aber erst dann zu verstehen, wenn

deutlich wird, worauf die traditionellen Konnotationen des Heimatbegriffs beruhen. Das

Motto „Heimat bedeutet für verschiedene Leute Verschiedenes“22

, mit dem

Heimatforscher Gunter Gebhard sein Standardwerk Heimat: Konturen und

Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts anfängt, macht deutlich, dass sich ein

breitdiskutiertes Thema eröffnet.

1. Der Heimatbegriff

1.1. Heimatbegriff historisch

1.1.1. Bis zum 19. Jahrhundert

Andrea Bastian legt in ihrem Werk Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche

Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache viel Wert

auf den Ursprung der Bedeutungselemente des Heimatbegriffs, weil sie glaubt, dass der

Begriff Heimat erst deutlich wird, wenn sich herausstellt, welche Teilbedeutungen des

Begriffs sich im Lauf der Zeit manifestiert haben und welche zu Konstanten geworden

19

Roth an Stefan Zweig, 14. Juni 1934 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939, S. 339). 20

Michel Foucault: „Andere Räume“. In: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen

Ästhetik. Essais. Hg. v. Karlheinz Barck, Peter Gent, u.a. Leipzig: Reclam 1990, S. 39. 21

Foucault: Andere Räume, S. 38-39. 22

Alfred Schutz in Der Heimkehrer (1945) nach Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter:

„Heimatdenken: Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“. In: Heimat. Konturen und

Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Bielefeld: Transcript 2007, S. 9.

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11

sind.23

Die Entstehungshintergründe der Heimatbedeutungen sucht Bastian im politisch-

gesellschaftlichen und im literarischen Bereich.24

Anders als Bastian interessieren mich

nicht die Auswirkungen des Heimatbegriffs im Alltagsbereich, sondern die

Bedeutungsexistenzen in der Weimarer Republik und insofern auch bei Joseph Roth.

Etymologisch geht „Heimat“ auf die althochdeutsche Form ‹heimuot(e)› zurück,

die etwa ‹Stammsitz› bedeutet.25

Das Wort „Heimat“ lässt sich ab dem 15. Jahrhundert

nachweisen und überwiegt schon im 16. Jahrhundert.26

Bis zum 18. Jahrhundert wurde

die Bedeutung des Begriffs Heimat territorial geprägt, zunächst durch die Landschaft

um den konkreten Ort herum, in dem man wohnte, und durch das Elternhaus.27

Zur Zeit

der Romantik entwickelte sich Heimat zu einem offenen Raum, weil die Reisen in die

Fremde der Romantiker eine Vermengung von dem Eigenen und dem Fremden

hervorbrachten. Die Impulse aus der Fremde werden zunächst positiv beurteilt.28

Die

Forschung ist sich darüber einig, dass das 19. Jahrhundert den großen Wendepunkt in

Bezug auf den Heimatbegriff bedeutet, und zwar auf verschiedenen Ebenen. Wo

Gebhard am Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine Kontinuität mit der Romantik sieht,

stellt er fest, dass man sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr von der Fremde

abwendet, die man jetzt als bedrohlich erfährt.29

Die zunehmende Spaltung zwischen

dem Eigenen und dem Fremden zeigt sich nach Karl Schlögel durch die Kartierung der

Welt und die Unterwerfungen der Kolonialmächte im Imperialismus, wobei er ein

immer aggressiveres Territorialbewusstsein erkennt.30

Nach Bastian begründet sich die

Entwicklung des Heimatbegriffs im 19. Jahrhundert im Sozialen, denn der

Heimatbegriff sei nach der Wanderbewegung vom Land in die Stadt, die sich im Zuge

der Industrialisierung vollzieht, durch Heimweh nach dem Land geprägt, was die

ökonomischen Probleme der Großstadt noch verstärkt.31

Aus den

23

Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen

Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 15. 24

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 81. 25

Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hg. v. Friedrich Kluge. 24.

Auflage. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin: De Gruyter 2002, S. 402. 26

Art.: „Heimat“. In: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Band I. Hg. v. Wolfgang Pfeifer. 2.

Auflage. Berlin: Akademie 1993, S. 525. 27

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 82. 28

Gebhard: Heimatdenken, S. 18. 29

Gebhard: Heimatdenken, S. 18-19. 30

Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt am

Main: Fischer Taschenbuch Verlag 20093, S. 46-47.

31 Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 82-83.

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Entfremdungserfahrungen, die mit der Industrialisierung einhergehen, entsteht nach

Behschnitt ein Identitätsdiskurs, indem eine emotionale und politische Aufladung des

Heimatbegriffs hinzukommt.32

Behschnitt erwähnt zudem, dass nach Homi K. Bhabha

das Entstehen der Idee der Nation dem Verlust der lokalen Bindung im 19. Jahrhundert

zuzuschreiben ist.33

Nach Bausinger wird Heimat schließlich am Ende des 19.

Jahrhunderts das Gegenbild zur Großstadt, deren Kontrast sich am stärksten in der neu

geformten Heimatbewegung zeigt.34

So entsteht eine Heimatkunst, die auf Tradition

setzt und den Großstadtmenschen als krank darstellt.35

Bausinger hebt zwei Tendenzen

der Heimatbewegung hervor. Einerseits wird Heimat immer mehr mit der Vorstellung

des Bäuerlichen verbunden, entwickelt sich sogar, mit Bausinger gesprochen, zu einer

„ideologische[n] Verhätschelung der Bauern“.36

Bausingern zufolge verbindet sich das

ideologisierte Ländliche bis heute mit dem Heimatbegriff.37

Die zweite Tendenz der

Heimatbewegung liegt im Anti-Internationalismus. Aufgrund dessen sieht Bausinger

Heimat und Vaterland verschmelzen, indem Heimat sich immer mehr an der eigenen

Nation orientiert.38

1.1.2. Heimatliebe, transzendentale Heimatlosigkeit und Unordnung im 20. Jahrhundert

Der Erste Weltkrieg ist die Kulmination der allgegenwärtigen Beschäftigung mit

Heimat: „der Wille zum Krieg und die Heimatliebe [fanden sich] aufs engste

verschaltet“.39

Gebhard beschreibt, wie sich im Lauf des Krieges die Soldaten von ihrer

Heimat entfremden:

Vielen Soldaten scheint aber in dem Moment, wo sie sich, durch die unerwartete

Dauer des Krieges, in dem Ausnahmezustand einzurichten beginnen, jene

Heimat, für die sie in den Krieg gezogen sind, sukzessive abhanden zu kommen.

Es lässt sich eine Dissoziation des Soldaten von der Heimatfront beobachten, in

32

Wolfgang Behschnitt: „Die Konstruktion von Heimat in der Literatur. Zu Fredrika Bremers Roman Die

Mitsommerreise“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg v. Monika Fludernik und Hans-

Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 350. 33

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 349. 34

Hermann Bausinger: „Heimat und Identität“. In: Heimat. Sehnsucht nach Identität. Hg. v. Elisabeth

Moosmann. Berlin: Ästhetik und Kommunikation 1980, S. 18. 35

Gebhard: Heimatdenken, S. 26. 36

Bausinger: Heimat und Identität, S. 18. 37

Bausinger: Heimat und Identität, S. 18. 38

Bausinger: Heimat und Identität, S. 18- 19. 39

Gebhard: Heimatdenken, S. 28.

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13

deren Folge vielfach die Front zum Ort des Vertrauten und Erwartbaren

avanciert.40

Roth thematisiert die Verbindung von Heimat und Krieg in Tarabas, wie folgendes

Zitat veranschaulicht: „[d]er Krieg wurde seine Heimat. Der Krieg wurde seine große,

blutige Heimat.“41

Die große Tragik, Gebhard zufolge, ist, dass es den Soldaten nach

dem Krieg nicht mehr gelingt an ihre Heimat, deren Verteidigung allerdings der Grund

für das militärische Auftreten war, anzuknüpfen.42

In Opposition zur Kriegsbegeisterung und der damit zusammenhängenden

Entfremdung entstand Georg Lukács‘ im Jahre 1916 veröffentlichte Theorie des

Romans.43

Nach Lukács, der den Roman dem griechischen Epos gegenüberstellt, ist der

Roman Ausdruck der „transzendentalen Heimatlosigkeit.“44

Lukács verbindet die

fundamental suchende Romanfigur mit dem Fehlen von Wegen und Zielen in der

modernen Welt.45

Wenn er darauf hindeutet, dass „die selbstgeschaffene Umwelt für

den Menschen kein Vaterhaus mehr ist“46

, macht er deutlich, dass der gesellschaftliche

Paradigmenwechsel im frühen 20. Jahrhundert in der Entfernung des Menschen von

seiner Natur liegt. Interessant ist, dass Bettina Matthias den berühmten Begriff von

Lukács der „transzendentalen Heimatlosigkeit“ als Titel für ihren Artikel

„‹Transzendental heimatlos›. Zum Kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer

Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“47

erwähnt und

somit das Hotel in der Literatur unmittelbar mit der Krise der Moderne in Verbindung

bringt. Matthias, die die Hotels in der Literatur soziologisch analysiert, kommt neben

Lukács auch auf die Modernitätskritiker Georg Simmel und Siegfried Kracauer in

Bezug auf die transzendentale Heimatlosigkeit des frühen 20. Jahrhunderts zu sprechen.

Obwohl Simmel den Terminus nicht explizit benützt, spricht seine soziologische

Theorie, Matthias zufolge, jedoch von einer transzendentalen Heimatlosigkeit des

Menschen, wenn er betont, dass das Geld – obwohl treibende Kraft der Modernität –

40

Gebhard: Heimatdenken, S. 29. 41

Roth: Tarabas, S. 161. 42

Gebhard: Heimatdenken, S. 32. 43

Jens Kruse: „Lukács' Theorie des Romans und Kafkas In der Strafkolonie: eine Konstellation im Jahre

1914“. In: German Studies Review 10:2 (Mai 1987), S. 240-241. 44

Georg Lukács: Die Theorie des Romans: ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der

großen Epik. Neuwied/Rhein: Luchterhand 1965, S. 59. 45

Lukács: Die Theorie des Romans, S. 58. 46

Lukács: Die Theorie des Romans, S. 62. 47

Bettina Matthias: „‹Transzendental heimatlos›. Zum kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer

Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts“. In: Arcadia 40:1 (2005), S. 117.

Page 14: „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel - lib.ugent.belib.ugent.be/fulltxt/RUG01/002/060/253/RUG01-002060253_2013_0001_AC.pdf · braucht, aber beliebig ausfüllen kann: Mendel

14

keine Qualitäten besitzt und somit eine Upper Class nur oberflächlich zusammenhalten

kann.48

Wenn Kracauer den Angestellten, die durch die Konsumsphäre den Bezug zur

Realität der Gesellschaft und ihrer Identität verloren haben, vorwirft „geistig

obdachlos“49

zu sein, versteht Matthias die Aussage als eine explizite Anspielung auf

Lukács, die auch im Sinne Lukács als eine existenzielle Unbehaustheit zu verstehen

sei.50

So stellt sich heraus, dass nach den Theoretikern der Weimarer Republik die

transzendentale Heimatlosigkeit durch die modernisierte Welt hervorgebracht wird.

Beschwört Roth im polemischen – und, nach eigener Aussage, persönlichen – Traktat

Der Antichrist mit dem Zitat „So ist es: unsere Sattheit ist immer noch Hunger und

Durst; unsere Heimat ist immer noch Obdachlosigkeit; und das, was wir Wirklichkeit

nennen, ist immer noch Trug: denn alles, was wir Erkenntnis nennen, ist Lüge“51

,

anhand der Verbindung von „Heimat“ und „Obdachlosigkeit“ eine gleiche

Modernitätskritik wie Lukács, Simmel und Kracauer herauf, oder ist die

Heimatlosigkeit eher im Rahmen der jüdischen Diaspora oder sogar noch anders im

Sinne Frank Joachim Eggers als religiös motiviert zu verstehen?52

Diese Frage wird

vorliegende Arbeit noch beantworten.

Nicht nur die Auswirkung der modernen Umwelt auf das Individuum, sondern

auch das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im politischen Sinne ergibt sich

nach Gebhard immer mehr als unsicher: „Die Zeitdiagnosen der Zwanziger Jahre sind

Diagnosen der Unordnung.“53

Das Verlangen nach Ordnung verkörpert der prototypisch

desorientierte Weimarer-Mensch Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz aus dem

Jahre 1929: “Franz handelt nun völkische Zeitungen. Er hat nichts gegen die Juden, aber

er ist für Ordnung. Denn Ordnung muß im Paradiese sein, das sieht ja wohl ein jeder

ein.“54

Aus diesem Satz geht hervor, dass für Biberkopf weniger eine gerechte Welt,

vielmehr eine geordnete Welt vorherrscht. Die Beobachtung am Ende des 19.

Jahrhunderts, dass Heimat sich immer mehr an der Nation orientiert, entwickelt sich

48

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 130. 49

Siegfried Kracauer in Die Angestellten (1971) zitiert nach Matthias: Transzendental heimatlos, S. 118. 50

Matthias: Transzendental heimatlos, S.118. Gebhard dagegen betont, dass Kraucauer die Formulierung

Lukács zwar wieder aufgenommen hat, aber ohne sich auf diese zu beziehen. (Gebhard: Heimatdenken, S.

35-36). 51

Roth: Der Antichrist, S. 25. 52

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 85. 53

Gebhard: Heimatdenken, S. 37. 54

Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. München: Deutscher

Taschenbuch 200948

, S. 82.

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15

somit weiter in der Weimarer Republik, indem das Verlangen nach Ordnung

beherrschend wird.

1.2. Heimatbegriff-Theorien

1.2.1. Territorium, Gemeinschaft und Heimatgefühl

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass zwei große Kategorien in Bezug auf den

Heimatbegriff nicht übersehen werden können: die räumliche und die soziale. Bastian

reduziert die komplexe räumliche Kategorie auf Territorium und versteht Raum in dem

Sinne nicht als Lebensraum.55

Die soziale Kategorie definiert sie anhand von Ferdinand

Tönnies Begriff Gemeinschaft.56

Nach Bastian sieht Tönnies den Menschen in seiner

Spannung zwischen Natur und Geist, und aus diesem Antagonismus erkläre er den

menschlichen Willen zur sozialen Bindung.57

Oder anders gesagt: Sowohl der

menschliche Wille selber als auch der Wille eines Menschen, ein Teil eines Kollektivs

zu sein, ist ein Naturzustand. Tönnies stellt das Phänomen der Gemeinschaft aber

radikal dem der Gesellschaft gegenüber: „In Gemeinschaft mit den Seinen befindet man

sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. Man geht in die

Gesellschaft wie in die Fremde.“58

Obwohl Tönnies die Möglichkeit einer friedlich

nebeneinander wohnenden Gesellschaft nicht verneint59

, bleibt sie nach ihm eine ideelle

und mechanische, während die Gemeinschaft eine reale und organische Bindung sei.60

Die zwei zentralen Bedeutungskategorien, das Räumliche und das Soziale, sieht

Bastian auch bei Ina Maria Greverus und Hermann Bausinger betont, deren

Schwerpunkt jedoch unterschiedlich liegt, weil jene Heimat primär als ein räumliches

Bedürfnis des Menschen betrachtet, während dieser auf den sozialen Aspekt des

Heimatbegriffs fokussiert.61

Nach Bastian geht Greverus einen Schritt weiter als sie

selber, da Greverus nicht die räumliche Teilbedeutung des Heimatbegriffs, sondern den

55

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 56

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 57

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 25. 58

Ferdinand Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. 2.,

durchgesehener und berichtigter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1963. Darmstadt:

Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 3. 59

Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 40. 60

Tonnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 3. 61

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 85.

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16

Begriff Heimat durch Territorialität ersetzt.62

Nach Greverus werden Heimaträume

dadurch geschaffen, dass der Mensch „sich aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und

sich in ihm einrichtet – d. h. ihn zu Heimat macht“.63

In Der Territoriale Mensch. Ein

literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen entwickelt Greverus‘

zunächst ihre Heimatidee, wobei sie das Bedürfnis des Menschen, ein Territorium in

Besitz zu nehmen und Grenzen zu ziehen, mit dem territorialen Verhalten eines Tieres

vergleicht.64

Sie betont, dass der Mensch nur seine Identität finden kann in einem

Territorium, das er selber zu Lebenswelt macht und das sowohl Schutzraum als auch

Aktionsraum für den Menschen bedeutet.65

Obwohl Bausinger erwähnt, dass Heimat

auf eine räumliche Relation zielt: sie sei „zwar nicht strikt begrenzbar, aber doch

lokalisierbar im Raum“66

, liegt sein Schwerpunkt auf dem sozial-psychologischen

Aspekt des Heimatbegriffs, was sich in seiner unmittelbaren Verbindung von Identität

und Heimat zeigt.67

Unter der Voraussetzung, dass Heimat als „‹Ort tiefsten

Vertrauens›, als ‹Welt des intakten Bewußtseins› zu verstehen ist“68

, meint Bausinger,

dass „Heimat nicht nur eine Basis für Identität, sondern gewissermaßen das Wesen der

Identität“69

ist. Somit zeigt sich, dass sowohl Bausinger als auch Greverus die

Identitätsbildung des Menschen als wesentliches Merkmal des Heimatphänomens

hervorheben, dass aber Bausinger ein abstrakteres Konzept von Raum als Greverus hat

und insofern dem territorialen Aspekt der Heimat weiniger Aufmerksamkeit schenkt. Im

folgenden Kapitel wird das Verhältnis von Heimat und Identität weiter ausgeführt.

Wenn Heimat und Identität verknüpft sind, zeigt sich, dass Heimat mehr als das

Verlangen des Menschen nach Territorium und Gemeinschaft ist. Auch Bastian, die

zwar das Räumliche und das Soziale als die zentralen Bedeutungskategorien des

Heimatbegriffs betrachtet, erkennt, dass „um das Phänomen von ‹Heimatgefühl› in

angemessener Weise miteinbeziehen zu können“70

noch eine wesentliche Kategorie zu

unterscheiden ist: die emotionale Kategorie des Heimatbegriffs. Als Auslöser

62

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 37. 63

Ina Maria Greverus in Auf der Suche nach Heimat (1979) zitiert nach Bastian: Der Heimat-Begriff, S.

85. 64

Ina Maria Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum

Heimatphänomen. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1972, S. 23-24. 65

Greverus: Der territoriale Mensch, S. 382. 66

Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 67

Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 68

Bausinger: Heimat und Identität, S. 13. 69

Bausinger: Heimat und Identität, S. 13 70

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 218.

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17

heimatlicher Gefühle führt sie die heimatliche Sprache, Anblick eines Gegenstandes,

Nennung eines Namens, usw. an.71

Spezifisch deutsche Heimatssymbole seien Natur-

und Landschaftskomponenten.72

Bastian erklärt anhand von Walter Ludwig Bühls

Struktur und Dynamik des menschlichen Sozialverhaltens, dass Heimatgefühle mit dem

Selbstbild des Menschen verglichen werden, welches sich aus der Kindheit entwickelt

und dass die Gehirnorganisation des Menschen so aufgebaut ist, dass man sich an

Gefühle, die mit Heimat assoziiert werden, noch nach vielen Jahren erinnern kann.73

Neben genetischen Voraussetzungen bedingt auch die Lebenswelt, in der das Kind den

Prozess von Kenntnis über die Welt anfängt, was das Kind als Vertraut und Fremd

erfährt und erfahren wird. So erklärt Bastian das Grundbedürfnis des Menschen nach

Geborgenheit, mit der sie am meisten das Heimatgefühl assoziiert und somit als

zentrales Element der emotionalen Kategorie einstuft.74

1.2.2. Heimat und Politik

Behschnitt hat sich, um das Verhältnis von Heimat und Nation angemessen erklären zu

können, in seinem Artikel „Die Dekonstruktion von Heimat in der Literatur“ dafür

entschieden, die kritische Idee der Nation von Homi K. Bhabha im Rahmen der

postkolonialistischen Literaturtheorie kurz zu beleuchten. Genau wie Tönnies die

Gesellschaft, versteht Bhabha die Nation als „ein Gemeinschafts-Konstrukt“75

. Im

Gegensatz zu Tönnies unterstreicht er aber, dass die Menschen, die sich in diesem

Konstrukt befinden, nicht problemlos zusammengehören, weil sich das Individuum

nicht mit einer konstruierten Gesellschaft identifizieren kann.76

Die Problematisierung

von Nation und Identität im Sinne Bhabhas hat Behschnitt auf das Verhältnis von

Heimat und Nation übertragen.77

Es wurde bereits gesagt, dass Heimat sich einerseits

auf das Regionale bezieht und sie so der Großorganisation einer Nation gegenübersteht,

aber andererseits ab dem 19. Jahrhundert häufig von der Nation in den Dienst

71

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 34. 72

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 36. 73

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 47. 74

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 48. 75

Homi K. Bhabha in DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation (1990)

paraphrasiert nach Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 350. 76

Homi K. Bhabha in DissemiNation: time, narrative, and the margins of the modern nation (1990)

paraphrasiert Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 350. 77

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351.

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18

genommen wurde. Aufgrund der Annäherung von Nation und Heimat plädiert

Behschnitt dafür, Heimat genau wie Nation als eine Konstruktion zu betrachten.78

Im

Bereich der Räume aber existieren nach Behschnitt deutliche Unterschiede.79

Die

Heimat sei viel enger mit der Individualität des Subjektes verknüpft; die individuelle

Erinnerung, die beispielsweise auf Kindheit und Herkunft beruht, spiele eine viel

größere Rolle.80

Demzufolge habe der Raum der Heimat viel mehr als der Raum der

Nation seinen Weg in die Kunst gefunden.81

Bausinger, der die mit Identität verbundene Heimat als Lebenszusammenhang

versteht, erkennt dasselbe Problem der Annäherung zwischen Heimat und Nation, sieht

Heimat aber keinesfalls als Konstruktion. Er verinnerlicht den Heimatbegriff, ohne auf

die Vergangenheit Bezug zu nehmen.82

Zur Hervorhebung dieses Gedanken führt er als

Motto seines Artikels „Heimat und Identität“ das berühmte Zitat von Ernst Bloch an:

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch

vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am

Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft

und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der

Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende

und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung

und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas,

das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.83

Im Gegensatz zu Bastian, die, wie sich gerade herausgestellt hat, das Heimatgefühl mit

der vertrauten Welt der Kindheit in Verbindung bringt, teilt Bausinger mit Bloch die

Idee, dass Heimat nicht in der Vergangenheit liegt. Da Bloch zwar nicht die

Massenmobilisierung, aber doch die individuell politische Kraft des Menschen fordert,

werden Politik und Heimat im Zitat implizit miteinander verknüpft. Blochs Absicht ist

keinesfalls, die Politik über die Heimat zu stellen, sondern eher umgekehrt eine neue

Idee von Heimat zu entwickeln: eine humanisierte Gesellschaft mit Blick in die

Zukunft.84

Bausinger folgt dieser Idee, da er gerade davor warnt, wenn Heimat im

78

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 79

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 80

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 81

Behschnitt: Die Konstruktion von Heimat in der Literatur, S. 351. 82

Bausinger: Heimat und Identität, S. 26. 83

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Band III. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 1628

(Hervorhebung von Bloch). 84

Bastian erwähnt ebenfalls Blochs Zitat, das sie als Ausdruck einer “konkreten Utopie“ versteht:

„‹Heimat› meint dabei die konkreten Lebensbedingungen eines kleinen regionalen Raumes, in dem jedem

einzelnen Bürger die Möglichkeit zur politischen Einflußnahme gegeben ist. Ein politischer Heimat-

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19

Zeichen der Politik manipuliert wird.85

Demzufolge bemüht Bausinger sich, einerseits

den Heimatbegriff von der Kulisse bzw. von der „Veräußerlichung des Heimatbegriffs,

d[er] kommerzielle[n] Wendigkeit“86

zu befreien, sodass wieder Wärme – keine alte

falsche Sentimentalisierung – über den Heimatbegriff vermittelt wird. Andererseits ist

Bausinger bestrebt den Heimatbegriff von seiner Rückwärtsgewandtheit – denn gerade

sie ist einfach ideologisch umzudeuten – zu lösen und auf den noch zu erschaffenden

Lebensraum zu fokussieren.87

Bausinger erkennt, dass die Mehrdeutigkeit des Heimatbegriffs dessen

Manipulation vereinfacht.88

Im Kapitel „Zusammenfassung der wichtigsten

Verflechtungen zwischen der politischen Praxis und dem Heimat-Begriff“89

erklärt

Bastian, wie die Manipulation des Heimatbegriffs sich entwickeln konnte. Im Laufe des

19. Jahrhunderts wurden die positiven Begriffsinhalte von Heimat auf größere politische

Systeme übertragen, wie Nation und Staat. Die beiden, die in Deutschland zu dieser Zeit

noch nicht identisch waren, wurden so immer positiver und gleichermaßen gewertet. Da

Vaterland viele semantische Merkmale mit Heimat teilt, nimmt es nicht wunder, dass

gegen Ende des 19. Jahrhunderts Vaterland im politischen Bereich häufig als Synonym

für Heimat verwendet wurde.90

Der Manipulation des Heimatbegriffs im politischen

Bereich wurde folglich Vorschub geleistet, einerseits durch die Möglichkeit, Vaterland

und Heimat als Synonyme zu verwenden und andererseits durch die Vielfältigkeit der

Bedeutungskomponenten des Heimatbegriffs, wobei man die Bedeutung wählt, die

ideologisch am Besten in den Kram passt. Obwohl die vorliegende Arbeit nicht nach

dem Unterschied zwischen Vaterland und Heimat in Roths Werken forschen wird,

scheint mir die historische Betrachtung als Hintergrund für die Analyse förderlich zu

sein.

Begriff dieser Qualität, der nach realen Bedingungen fragt, beinhaltet schon in der Betonung der Realität

eine Aktivitätsaufforderung und ein gemeinschaftsbildendes Element.“ (Bastian: Der Heimat-Begriff, S.

145-146). 85

Bausinger: Heimat und Identität, S. 28. 86

Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 87

Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 88

Bausinger: Heimat und Identität, S. 22. 89

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 144. 90

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 144.

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20

1.2.3. Heimat bei Jean Améry

„Heimat ist Sicherheit“91

äußert sich Jean Améry in seinem Essay „Wieviel Heimat

braucht der Mensch?“ Améry ist für das vorliegende Projekt in zweierlei Hinsicht

interessant. Erstens beleuchtet er die Heimatfrage aus einer anderen Perspektive als

Bastian und Bausinger, die das Problem des Begriffs theoretisch-objektiv betrachten,

während er als Exilautor persönlich mit dem Phänomen Heimat – oder mit dem Fehlen

einer Heimat – konfrontiert wurde. Zweitens teilt er als Jude und Österreicher denselben

Hintergrund wie Roth. Améry betont, dass ein Jude die Zeit im Exil ganz anders als

derjenige, der freiwillig in das Exil geht, erlebt. Dies illustriert er anhand einer

Anekdote: Ein wegen seiner Gesinnung ins Exil gegangener Mann, wurde häufig darum

gebeten, heimzukehren: „Ja, Mann, um Gottes willen, haben Sie denn kein

Heimweh?“92

, worauf der Mann antwortete: „Heimweh, wieso? […] bin ich denn ein

Jude?“93

Doppelt heimatlos fühlt Améry sich als Österreicher. In seinem Werk

Örtlichkeiten stellt Améry Österreich bereits vor der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929

als verloren dar. Man war teils von der monarchistischen Nostalgie erfüllt, teils war man

von Deutschland und teils von der Sowjetunion begeistert.94

Cafégänger – das Café

nennt Améry die „eigentlich[e] Heimat des Wieners“95

– ignorierten die verteilte

politische Situation und hielten sich mit kulturellen Fragen auf.96

Daraus folgt, dass man

als Jude und Österreicher sowieso in den 1920er und 1930er Jahren eine komplexe

Heimatsituation hat.

Weil Améry Heimat mit Sicherheit verknüpft, lässt er auf den ersten Blick die

räumliche Kategorie des Heimatbegriffs außer Betracht: „Schrecken war es allein

schon, daß man die Gesichter der Menschen nicht entziffern konnte.“97

Seine

Ahnungslosigkeit während der Exilzeit bedeutete für ihn nicht nur eine ständige

Unsicherheit, sondern sogar den Verlust der Identifikation als Individuum mit seiner

91

Jean Améry: „Jenseits von Schuld und Sühne“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v. Irene

Heidelberger-Leonard. Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 95. 92

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 89. 93

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 89. 94

Jean Améry: „Örtlichkeiten“. In: Jean Améry Werke. Band II. Hg. v. Irene Heidelberger-Leonard.

Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 365. 95

Améry: Örtlichkeiten, S. 364. 96

Améry: Örtlichkeiten, S. 364-366. 97

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 94-95.

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21

Umgebung: „Ich war ein Mensch, der nicht mehr ‹wir› sagen konnte“.98

Das Heimweh

in der Exilzeit beschreibt er ebenfalls aus dem „wir und ich“-Rahmen. „Das traditionelle

Heimweh“99

erlebe man in der Gruppe, wenn man zusammen Lieder singt und Alkohol

trinkt100

, „[d]as echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es

bestand in der stückweisen Demontierung unserer Vergangenheit und Haß gegen das

verlorene Ich.“101

Oder anders gesagt: „Das echte Heimweh“ spürt man, wenn man

allein ist. Obwohl Améry Sicherheit als die wichtigste Voraussetzung eines

Heimatgefühls betrachtet, braucht das Ich nach ihm auch eine politische Verwurzelung.

Bemerkenswert ist, dass Améry nicht die Gefahr einer Orientierung der Heimat an der

Nation, sondern im Gegenteil ihrer Verbindung sogar beistimmt, indem er Vaterland

und Heimat gleichsetzt:

Wer kein Vaterland hat, will sagen, kein Obdach in einem selbständigen, eine

unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat, so glaube

ich, auch keine Heimat.“ […] Als mein Land am 12. März 1938 seine staatliche

Unabhängigkeit verlor und ans Großdeutsche Reich kam, wurde es mir

wildfremd.102

Folgendes Zitat fasst den Gedanken Amérys zusammen: „Man muß Heimat haben, um

sie nicht nötig zu haben“.103

Aus diesem Zitat geht hervor, dass der heimatlose Mensch

nie vollständig sein kann. Améry hat während der Exilzeit so nach Heimat verlangt,

dass er nicht verstehen kann, dass die herumreisenden Menschen bewusst ein

heimatloses Leben wählen: „Der moderne Mensch tauscht Heimat gegen Welt ein.“104

Dass Améry immer ein Heimatsloser bleiben wird, drückt er im folgenden Zitat aus:

„Es gibt keine neue Heimat. Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland.“105

Nichtsdestoweniger nuanciert Améry die allgemeine Hoffnungslosigkeit: Es gebe ja

eine Ersatzheimat wie Religion, Geld und Ruhm.106

Zu den Exilautoren, die sich durch

Ruhm und Ansehen ‚gerettet‘ hatten, gehöre Heinrich Mann.107

Aus dieser Meinung

lässt sich offensichtlich ableiten, dass die Ersatzheimat trügerisch und unmoralisch sei.

98

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 90. 99

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 101. 100

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 101. 101

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 102. 102

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 107-108. 103

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 94. 104

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 109. 105

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 97. 106

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 92. 107

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 92.

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22

Dennoch macht Améry einen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Exilgängern,

wobei jene Gruppe sich von der Erinnerung an die Vergangenheit beherrschen lässt,

während diese eine gewisse Hoffnung behält.108

Auch Bastian unterscheidet in ihrem

Kapitel „Die Bedeutung von ‹Heimat› für die Literaten im Exil“ zwischen zwei Arten

von Exilautoren: Manche bekommen aus der Entfernung des Exils einen objektiveren

und kritischeren Blick auf die Heimat, während andere vom Heimweh beherrscht

werden.109

Dass Améry zu dieser letzten Gruppe gehört, steht außer Frage. Roth lässt

sich aber nicht in die Kategorien von Exilautoren, die Améry und Bastian hervorheben,

einstufen. Es wird sich nie herausstellen, wie Roth auf seine Exilzeit zurückblicken

würde, denn er starb im Jahre 1939. Auch die Frage, wie sich der Blick auf die Heimat

aus der Entfernung ändert, ist bei Roth weniger relevant, da er bereits vor der Exilzeit

das Hotelleben bevorzugte. Aus Amérys Analyse von Heimat aber geht hervor, dass die

Heimat ein unverzichtbarer Teil des Menschen ist. So lässt sich vermuten, dass Roth in

seinem heimatlosen Leben eine Kompensation für Heimat gesucht hat. Was war Roths

Ersatzheimat; was hat ihm und seinen Figuren Halt geboten?

1.2.4. Heimat und Grenze

Hans-Joachim Gehrke versteht Heimat als das Spannungsverhältnis zwischen Identität

und Alterität, wobei die Trennung zwischen dem Eigenen und dem Anderen auf

Grenzen beruht.110

Gehrke macht den Unterschied zwischen der Grenze als Linie, der

Grenze als Raum und der Grenze als wissenschaftliches Konzept.111

Die als strikt

markierte Linie soll in Konfliktfällen deutlich machen, was wem gehört. Diese Grenze

geht auf die Römerzeit zurück. Es zeichnet sich eine deutliche Trennung zwischen dem

Inneren, dem Zuhause und der Heimat (domi) und dem Draußen, dem Feindlichen

(militiae) ab.112

Die Grenze als Raum versteht Gehrke als eine Grenze zwischen

Räumen, die einander nicht unmittelbar berühren; die Grenze „zu den ganz Anderen“113

.

108

Améry: Jenseits von Schuld und Sühne, S. 112. 109

Bastian: Der Heimat-Begriff, S. 198. 110

Hans-Joachim Gehrke: „Artifizielle und natürliche Grenzen in der Perspektive der

Geschichtswissenschaft“. In: Grenzgänger zwischen Kulturen. Band I. Hg v. Monika Fludernik und

Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon 1999, S. 27. 111

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 27-28. 112

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 27. 113

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28.

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23

In diesem Bereich werden Zivilisation und Kultur der Natur und Barbarei

gegenübergestellt.114

Als wissenschaftliches Konzept bezieht die Grenze sich auf den

Zusammenhang von Geographie und Geschichtswissenschaft bzw. Lebensraum und

Charakter.115

Obwohl die Grenzziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden ein uraltes

Phänomen ist, ergibt sich die Disziplin Geographie, die um 1900 im Zeitraum des

europäischen Kolonialismus und Imperialismus entstanden ist, als ziemlich neu.116

Die

Debatte über Raum und Grenze verschärfte sich auch in der Soziologie und in der

Anthropogeographie. So sagt Georg Simmel 1903 in seiner Soziologie des Raumes:

„Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern

eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“117

und versteht Ratzel 1906

„de[n] Kampf ums Dasein unter Menschen vor allem [als] ein Kampf um Raum.“118

In

den 1920er Jahren, den Anfangsjahren des Rothschen Schreibens, herrschte nach

Versailles in Deutschland der Revisionismus.119

Der Grenzdiskurs kulminiert im Jahre

1935, als Karl Haushofer die verschiedenen Arten von Grenzen definiert –

„Angriffsgrenzen, Lauergrenzen, Gleichgewichtsgrenzen, Schutzgrenzen,

Zersetzungsgrenzen“120

– , wobei der Einfluss auf die Lebensraumideologie der

Nationalsozialisten nicht zu übersehen sei.121

So zeigt sich, dass Roth als Schriftsteller

in einer Zeit aktiv war, die sich durch eine Allgegenwart des Grenzendiskurses

kennzeichnet.

Auch Bernhard Waldenfels betrachtet Heimat in seinem Artikel „Heimat in der

Fremde“ als eine Spannung zwischen Identität und Alterität. Dabei liegt Waldenfels‘

114

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28. 115

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 28-29. 116

Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 56. 117

Georg Simmel in Soziologie des Raumes (1903) zitiert nach Klaus Müller-Richter: „Einleitung –

Imaginäre Topografien. Migration und Verortung“. In: Imaginäre Topografien. Migration und Verortung.

Hg. v. Klaus Müller-Richter und Ramona Uritescu-Lombard. Bielefeld: Trancript Verlag 2007, S. 18. 118

Friedrich Ratzel in Kleine Schriften (1906) zitiert nach Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S.

29; In diesem Zusammenhang scheine ich Ratzel und Simmel über einen Leisten zu schlagen. Schlögel

macht aber deutlich, dass Simmel und Ratzel die klassischen Kontrahenten hinsichtlich der

Raumauffassung sind. Simmel versteht Raum als eine soziologische Tatsache, während Ratzel über eine

natürliche Grenze spricht. Der Unterschied sehe man auch in ihrer Auswirkung: Mit der Soziologie des

Raumes konnten sich die Juden identifizieren, während Ratzels Anthropogeographie mit dem

nationalsozialistischen Gedankengang verbunden wurde. (vgl. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S.

144). 119 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 58. 120

Haushofer in Pflicht und Anspruch der Geopolitik als Wissenschaft (1935) zitiert nach Gehrke:

Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 30. 121

Gehrke: Artifizielle und natürliche Grenzen, S. 30.

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24

Fokus aber anders als bei Gehrke: Wo dieser die Dynamik von Grenzziehung erforscht

und Heimat als Beispiel anführt, steht bei jenem die Untersuchung des

Heimatphänomens im Mittelpunkt, in der er Abgrenzung als wesentliches Merkmal der

Heimatwelt bewertet. Waldenfels erwähnt, dass bei der Abgrenzung gegen Fremdes ein

„totales Hier“122

entsteht. Das Ich eignet sich nicht nur eine bestimmte Identität an,

sondern fühlt sich auch mit dieser Identität identisch. Waldenfels behauptet, dass, wenn

die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden verschwimmen, folglich auch

die Raumerfahrung stockt.123

Dass die Dynamik von Grenzziehung über die Erfahrung

der Heimatwelt hinausgeht, macht er deutlich, indem er erwähnt, dass man sich beim

Erlernen der Muttersprache unvermeidlich von anderen Sprachen entfernt.124

Waldenfels schließt seinen Artikel mit der Behauptung, dass Heimischwerden

impliziert, dass Grenzen gezogen werden bzw. Fremdheit markiert wird.125

Deswegen

verknüpft er Heimat und Fremdheit und bestimmt Heimat als einen Ort „worin noch

niemand war […] und niemand sein wird“126

, gerade weil Heimat nicht ohne Fremdheit

existiert. Treffender als Schlögel kann man das Paradoxale der Grenzziehung nicht

ausdrücken: „Was abgrenzt, schließt aus. Was trennt, verbindet. Was sich berührt, ist

immer auch Distanz. Wir können diesem Paradox nicht entgehen.“127

2. Heimat und Joseph Roth

2.1. Forschungspositionen

Die Roth-Forschung ist sich in Bezug auf das Thema Heimat nicht einig (cf. supra

Einführung). Die ältere Roth-Forschung betont die Heimatssuche in Verbindung mit der

Identitätsfrage. Zu dieser Gruppe gehören David Bronsen und Kaszyński. Dieser geht

von einer Idealisierung des Heimatbegriffs aus: Die heimatslosen Figuren Roths suchen

seiner Meinung nach ihre Heimat in der Vergangenheit und ersetzen die zeitig

122

Bernhard Waldenfels: „Heimat in der Fremde“. In: Worin noch niemand war: Heimat : eine

Auseinandersetzung mit einem strapazierten Begriff. Historisch – philosophisch – architektonisch. Hg. v.

Eduard Führ. Wiesbaden: Bauverlag 1985, S. 36. 123

Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 37. 124

Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 125

Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 126

Waldenfels: Heimat in der Fremde, S. 40. 127

Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 143.

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25

unerreichbar gewordene Heimat durch eine mythische.128

Bronsen verbindet Roths

Themen und Figuren unmittelbar mit Roths Biographie. 129

So meint er auch, dass Roths

Motiv des Heimkehrers

aus [Roths] tiefster Seele kam und seinem literarischen Schaffen zugrunde

liegen sollte. Es ist die bittersüße resignierende Melodie des Spätgeborenen, der

nicht mehr zurück kann, der auf seinem Weg in die Zukunft unversehens kehrt

macht und rückwärts schreiten in eine nie erreichbare Vergangenheit.130

Telse Hartmann stellt sich aber die Frage, ob der Verlust einer Heimat entsprechend zur

Folge hat, dass sich eine Identitätskrise vollzieht.131

Sie ist exemplarisch für die jüngere

Roth-Forschung, die viel stärker von der Ambivalenz der Ortlosigkeit bei Roth ausgeht.

Ute Gerhards Verdienst ist es, die Frage nach Heimat und Identität auf der Ebene des

Diskurses zu beantworten:

Die bewegten und bewegenden Momente der Rotschen Texte verdanken sich

dabei häufig genug nicht der Suche nach Identität, sondern der Formulierung

von Positionen, die sich den neuen Identifizierungsstrategien widersetzen oder

wenigstens entziehen. Gerade die Irritation der binären Ausrichtung der

Symbolik der Wanderungsbewegung spielt für viele seiner Feuilletons, Essays

und Romane eine konstitutive Rolle.132

Gebhard meint, dass die Heimat, die Roth in seinen Werken darstellt, als eine „Heimat

für Heimatlose“133

zu verstehen ist, keine Identität stiften kann und auch nicht muss,

denn gerade anhand der Heimatdarstellung widersetze sich Roth der Identitätspolitik der

Weimarer Republik. Im Sinne Gerhards hebt auch Hartmann, zwar weniger negativ134

,

in Bezug auf Roths Werke eine Rhetorik der Deplatzierung hervor:

In Roths Diaspora-Szenarien geht es um den Zusammenschluss von Heimat und

Heimatlosigkeit, von Gebundenheit und Entbundenheit, von kultureller

Entgrenzung und Authentizität – nicht im Sinne einer Aufhebung der

128

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140. 129

So behauptet Bronsen, dass „[v]iele Personen und Elemente von Personen, aus denen er Romanfiguren

zusammensetzte, die in Hotel Savoy, Tarabas, Der Leviathan, Die Büste des Kaisers, Hiob und

Radeztzkymarsch auftreten, […] Menschen [entsprechen], denen er in Brody begegnet war.“ (David

Bronsen: „Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich“ In: Joseph Roth und die Tradition. Hg.

v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975, S. 4.) 130

Bronsen: Roth und sein Lebenskampf um ein inneres Österreich, S. 10. 131

Hartmann: Kultur und Identität, S. 15. 132

Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 205. 133

Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 209. 134

Aus der Dichotomie der Wanderungsbewegungen – die negativ konnotierte zerstreute Masse der

Nomaden und die positiv konnotierte organisierte Massenformation des NS, die an Konzepten von

Subjekt und Identität orientiert sind – hat sich nach Gerhard die totalitäre Politik des NS durchsetzen

können. (vgl. Gerhard: Nomadische Bewegungen, S. 255).

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Gegensätze, sondern als Verfügung zu einem ambivalenten

Spannungsverhältnis.135

Nach Hartmann deutet die Ambivalenz der Rothschen Diaspora-Szenarien darauf hin,

dass die kollektive Bewegung scheitert, allerdings nicht, dass auf eine individuelle

Bewegung verzichtet werden muss.136

2.2. Heimat und Fremde

Müller-Funk bringt Heimat und Fremde bei Roth miteinander in Verbindung: „Eine

seltsame Heimat scheint die Fremde zu sein. Nie weiß man wo man hingehört und

zugleich kann man sich aussuchen, wer man ist: Heimat ohne Boden, fern und

symbolisch.“137

Undeutlich ist, ob Funk mit seiner Meinung über Heimat in die Gruppe

der alten Roth-Forschung oder der neuen Roth-Forschung einzustufen ist. Einerseits

deutet er darauf hin, dass Entwurzelung und Zweifel an der Identität bei Roth

zusammenhängen und scheint insofern genau wie Bronsen und Kaszyński die

Heimatssuche und die Identitätsfrage zu verknüpfen.138

Andererseits hebt er den

Diskurs der Epoche hervor „[ü]berall fremd und überall heimisch zu sein“139

und

nuanciert die eigene Aussage, wenn er nachgibt, dass die Fremdheitserfahrung der

Figuren in Roths Werken mehr als nur die verlorene Heimat ist.140

Als Beleg für die Verbindung von Heimat und Fremde gilt zunächst Roths

berühmtes Zitat aus einem Brief an Kiepenheuer: „Ich habe keine Heimat, wenn ich von

der Tatsache absehe, daß ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch

fühle. Wo es mir schlecht geht, dort ist mein Vaterland. Gut geht es mir nur in der

Fremde.“141

Zur Analyse der Begriffe „Heimat“, „Fremde“ und „Vaterland“ in diesem

135

Hartmann: Kultur und Identität, S. 197. 136

Hartmann: Kultur und Identität, S. 198. 137

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 37. 138

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22. 139

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22; Müller-Funk deutet diese Aussage mit der folgenden Erweiterung:

„Ströme freiwilliger und unfreiwilliger Wanderer hat dieses Jahrhundert erlebt.“ (Müller-Funk: Joseph

Roth, S. 22). An dieser Stelle wird nicht deutlich, ob er dieselben Wanderungsbewegungen – die jüdische

und die nationalsozialistische – wie Gerhard vor Augen hat. Es könnte sein, dass Müller-Funk auf die

Spaltung innerhalb des Judentums hinweist, wobei die zionistische Gruppe nach einer jüdischen Heimat

strebt und die ahasverische Tradition, zu der er Roth einordnet (vgl. Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36),

die ewige Wanderung betont. 140

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 22. 141

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 51; Roth an Gustav Kiepenheuer, 10. Juni 1930 (Joseph Roth, Briefe

1911-1939. Hg. v. Hermann Kesten. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1970, S. 165).

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Zitat scheint es mir notwendig zu sein auf einige Beobachtungen aus den theoretischen

Kapiteln in Bezug auf den Heimatbegriff zurückzugreifen. Im romantischen Sinne ist

die Fremde als Ort der Verschmelzung von dem Eigenen und dem Anderen zu

verstehen. Fremde und Heimat haben sich aber im 19. und 20. Jahrhundert immer mehr

voneinander entfernt. So hat sich ergeben, dass Vaterland sich als Synonym für Heimat

durchgesetzt hat, was ihrer politischen Konnotation Vorschub geleistet hat. Auf der

theoretischen Ebene hat Waldenfels behauptet, dass Heimat nur existieren kann, wenn

sie sich gegen die Fremde wendet. Wenn Roth die Begriffe „Heimat“, „Vaterland“ und

„Fremde“ benützt, tritt er in einen aufgeladenen Diskurs ein.

Darüber hinaus sind die Begriffe ebenfalls in Bezug auf Roths Hintergrund

schwer zu deuten. Vaterland und Fremde in Roths Leben erweisen sich hinsichtlich

ihrer geographischen Fixierung keinesfalls als eindeutig. Das Vaterland könnte sich auf

Roths Herkunftsort beziehen, die galizische Grenzstadt Brody, Roths „literarische

Heimat“142

, so Kaszyński, aber auch auf Wien mit der symbolischen Vaterfigur Kaiser

Franz Joseph. Wenn Kaszyński von einer literarischen Heimat spricht, setzt er Heimat

weniger als geographischen Ort, denn als Konstrukt voraus. Die Fremde im Sinne des

Unbekannten lässt sich nicht geographisch spezifizieren, denn sie weist auf die Orte, die

noch zu entdecken sind, hin. Trotzdem kann die Fremde bei Roth auch gerade den

Herkunftsort implizieren, und sie ist in dem Sinne schon geographisch definiert. Roth

war als Jude und Deutschsprachiger in Brody, einem slawischen Siedlungsgebiet,

minorisiert und somit ein Fremder.143

Wenn Roth fürs Studium nach Wien zieht und

später am Ersten Weltkrieg teilnimmt, wird er folglich doppelt von Galizien entfremdet.

Daher muss die Fremde bei Roth mit Vorsicht betrachtet werden, denn sie beruht auf

zwei verschiedenen Konzepten. Einerseits hat sie den Herkunftsort, d. h. ein

rückwärtsgewandtes Konzept im Blick, andererseits bezieht sie sich auf einen noch

unbekannten Ort in der Zukunft. Ob jetzt die etymologisch-historische oder sozial-

historische Bedeutung von Vaterland und Fremde vorherrscht, deutlich wird, dass die

Ambivalenz da ist.

Obwohl Roth die Begriffe in obigem Zitat als existenzbedingend inszeniert,

erweist sich, dass er weniger über seine Existenz aussagt. Vielmehr legt er, indem er

„Vaterland“ mit „schlecht“ und „Fremde“ mit „gut“ verbindet und dabei die gängige

142

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 137. 143

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36.

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28

Bedeutung umdreht, die Transparenz der Begriffe frei. Die komplizierte

Wechselbeziehung von räumlichen Gegensatzpaaren ist im Rahmen der „Polyphonie

der Räume“144

zu verstehen. Den Begriff übernimmt Wiebke Amthor von Jurij M.

Lotman, der Folgendes dazu sagt: „Helden können nicht nur zu verschiedenen Räumen

gehören, sondern auch mit verschiedenen bisweilen unvereinbaren Typen der

Raumaufteilung gekoppelt sein. [...] Es entsteht sozusagen eine Polyphonie der Räume,

ein Spiel mit den verschiedenen Arten ihrer Aufteilung.“145

Amthor versteht die

räumlichen Gegensatzpaaren nicht nur als konkrete Räume, wie Russland und Europa,

sondern auch Typen von Räumen wie Revolution und Bürgerlichkeit.146

Das Hotel

Savoy, das als Heterotopie selber schon die Polyphonie der Räume heraufbeschwört,

verortet auch die gesellschaftlichen Typen von Räumen wie Reichtum und Armut: je

höher das Zimmer sich befindet, desto ärmer ist sein Bewohner. Die contradictio in

terminis „Wie hoch kann man noch fallen?“147

kritisiert die Klassifizierung der Gäste

im Hotel aufgrund ihres Reichtums. Im Hotel-Feuilleton unterstreicht Roth die

komplizierte Wechselbeziehung dieser Gegensatzpaare nicht durch ihre Ironie, sondern

durch ihre Metaphorik: „Sie [die Hotelhalle] ist die Heimat und die Welt, die Fremde

und die Nähe“.148

Einerseits hat die vorliegende Arbeit zum Ziel, Roths Textstrategien,

die er anwendet um die Polyphonie der Räume hervorzuheben, herauszufinden. Das

Hotel hat meiner Meinung nach in dieser Hinsicht eine textorganisierende Rolle, denn

als Heterotopie bringt sie die Polyphonie der Räume schlechthin hervor. Andererseits

stellt sich auch die Frage, wie Heimat sich zum Konzept der Polyphonie der Räume

verhält. Als Einstieg zu diesem Thema wird im Folgenden das Anfangskapitel des

Romans Tarabas analysiert.

144

Wiebke Amthor: „An den Toren Europas. Heterotopie und Passage im Werk Joseph Roths“. In:

Joseph Roth – Zur Modernität des melancholischen Blicks. Hg. v. Wiebke Amthor und Hans Richard

Brittnacher. Berlin: Walter de Gruyter 2012, S. 120. 145

Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt v. Rolf-Dietrich Keil. München: Wilhelm

Fink 1972, S. 328-329; Genau wie Amthor werde ich in vorliegender Arbeit die Bezeichnung

„Polyphonie der Räume“ anwenden, um den heterotopischen Charakter der Rotschen Raumdarstellung

hervorzuheben. 146

Amthor: An den Toren Europas, S. 120. 147

Joseph Roth: „Hotel Savoy“. In: Joseph Roth Werke. Band I. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1956, S.

818. 148

Roth: Panoptikum, S. 44.

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2.3. Heimatinszenierung in Tarabas

Auf der ersten Seite des Romans Tarabas verlässt der junge Tarabas „die Heimat,

unbesonnen, wie er zwei Jahre vorher Revolutionär geworden war. Er folgt der Neugier,

dem Ruf der Ferne, sorglos und kräftig und voller Zuversicht auf ein „‹neues

Leben›.“149

Heimat in dieser Textstelle trägt noch die Hauptbedeutungen, wie sie von

Bastian unterschieden wurden: das Territoriale – die Nähe von Petersburg – und das

Soziale – die dort wohnende Familie. Auch der emotionale Aspekt wird anschließend

hinzugefügt: „Allein schon zwei Monate nach seiner Ankunft in der großen steinernen

Stadt [New York] erwachte das Heimweh in ihm.“150

Tarabas lernt eine Frau kennen,

die „zwar nicht aus seiner Gegend [stammte]. Aber er verstand ihre Sprache.“151

Katharina wird als Ersatzheimat inszeniert:

Tarabas liebte sie, wie seine verlorene Heimat. Er konnte mit ihr sprechen, er

durfte sie lieben, schmecken und riechen. Sie erinnerte ihn an die väterlichen

Felder, an den heimischen Himmel, an den süßen Duft bratender Kartoffeln auf

den herbstlichen Äckern der Heimat.152

Die Aussage beschwört zwei weitere Teilbedeutungen bzw. Assoziationen des

Heimatbegriffs herauf: die Sprache, die Vertrautheit hervorbringt, und das Bäuerliche,

das der Großstadt New York gegenübersteht. Diese positiven Konnotationen des

Heimatbegriffs werden aber wenig später schon dekonstruiert, indem die Liebe für die

Heimat so flüchtig erscheint wie die Liebe für eine Frau: Tarabas spürt, dass Katharina

„ihm fremd geworden war.“153

Nichtsdestotrotz wird an dieser Textstelle die Opposition

zwischen dem Vertrauten und dem Fremden noch im ‚normalen‘, d.h. nicht

ironisierenden Rahmen analysiert: Katharina wird ihm fremd mit der Folge, dass sie

nicht mehr in der Lage ist, ihm die Heimat zu ersetzen. Fremde und Heimat stehen

einander gegenüber. Nach zwei kurzfristigen Erfahrungen mit einer Ersatzheimat –

Katharina und New York – ist Tarabas richtig heimatlos. Folgendes Zitat zeigt, wie

Roth anfängt, mit der Opposition zwischen dem Fremden und dem Vertrauten zu

spielen: „Gebräunt, gekräftigt, neugierig auf die Heimat und begierig auf den Krieg,

149

Roth: Tarabas, S. 141. (Hervorhebung von Roth) 150

Roth: Tarabas, S. 141. 151

Roth: Tarabas, S.142. 152

Roth: Tarabas, S.142; Tarabas wiederholt später mal buchstäblich, Katharina „hatte ihm die Heimat

ersetzt.“ (Roth: Tarabas, S. 152). 153

Roth: Tarabas, S.144.

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verließ Tarabas eines Morgens im Hafen von Riga das Schiff.“154

Die Textstelle ist in

vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens erscheinen Heimat und Krieg dadurch als

umgedreht, dass Heimat mit neugierig bzw. mit Unbekanntem und Krieg mit begierig

bzw. mit Bekanntem verknüpft werden. Nach Gebhard „fanden sich [im Ersten

Weltkrieg] der Wille zum Krieg und die Heimatliebe aufs engste verschaltet“.155

Gerade

auf diesen Kontext des Ersten Weltkriegs spielt das Wortspiel im Zitat an. Zweitens

lassen sich deutlich einige mythische Elemente erkennen: Der Held wird als „gebräunt“

und „gekräftigt“ beschrieben, und das Geschehen vollzieht sich „eines Morgens“. Zu

den mythischen Aspekten in Roths Werk sagt Kaszyński: „Die Heimat ist allgemein

Vergangenheit, betrachtet aus der Entfernung wird sie bewußt idealisiert und zum

Mythos kreiert.“156

Dass die Geschichte mit mythischen Elementen aufgefüllt ist, muss

meiner Meinung nach aber nicht dazu führen, dass der Heimatbegriff idealisiert wird.

Im Gegenteil: eine Idealisierung würde eine utopische Verknüpfung mit sich bringen,

und der ironisierende Kontext macht diese Annäherung unmöglich. Dass Tarabas –

nach New York und Katharina – bereits zum dritten Mal seine Hoffnung auf eine neue

Heimat projiziert, verstärkt die Ironie. Somit betrachte ich die Aussage in Bezug auf

Heimat als entmythisierend. Zur Verstärkung dieser Idee setzt Roth das Schiff der

Heimat gegenüber, das von Foucault folgendermaßen beschrieben wird:

wenn man daran denkt, daß das Schiff ein schaukelndes Stück Raum, ein Ort

ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig

dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist […] , dann versteht man, warum

das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage nicht

nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist […],

sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Das Schiff, das ist die Heterotopie

schlechthin.157

Obwohl – und gerade weil – das Schiff ein großes „Imaginationsarsenal“ mit sich

bringt, und dennoch ein real existierender Ort ist, erweist es sich als sehr geeignete

Figur, den Kontrast mit der Heimat als entmythisiertem Ort hervorzuheben. Im

Folgenden werde ich diesen Kontrast deutlich machen anhand der Heterotopie Hotel,

die sich als Raum ständig in die Werke Roths eingeschlichen hat. Wie überträgt sich die

154

Roth: Tarabas, S.152. 155

Gebhard: Heimatdenken, S. 26. 156

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 139. 157

Foucault: Andere Räume, S. 46.

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Diskrepanz des Hotels zwischen Ort und Nicht-Ort auf den Heimatbegriff und wie

unterminiert sie die Heimatsuche in Roths Werken?

3. Hotel in der Literatur

3.1. Geschichte des Hotels und der Hotelliteratur

Bettina Matthias stellt fest, dass zahlreiche Hoteltexte am Anfang des 20. Jahrhunderts

entstehen: Thomas Manns Tod in Venedig, Kafkas Der Verschollene, ein Großteil der

Novellen Stefan Zweigs (u.a. „Untergang eines Herzens“) und auch Hotel Savoy von

Joseph Roth.158

Matthias sieht das Motiv des Zerfalls der Familie, das sich am Ende des

19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts in den europäischen bürgerlichen

Literatur in Romanen wie Anna Karenina und Die Buddenbrooks aufzeigt, letztendlich

in die Hotelliteratur des späteren 20. Jahrhunderts einmünden.159

Die schon vorhandene

Tradition des 19. Jahrhunderts, über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu

reden – an dieser Stelle lässt sich Tönnies‘ Magnum Opus Gemeinschaft und

Gesellschaft (1887) nennen – wird nach Matthias weitergeführt und lässt sich im Hotel,

einer „Sonderform der Heimatlosigkeit“160

, weiter diskutieren. Obwohl Matthias es

nicht explizit so sagt, geht aus ihrem Artikel hervor, dass der Aufschwung der

Hoteltexte im 20. Jahrhundert parallel mit einer geänderten Funktion des Hotels in der

europäischen Gesellschaft verläuft. Im 18. Jahrhundert spielt das Hotel noch keine

bedeutende Rolle:

Man reiste, um Handel zu treiben, möglicherweise Bildung zu erwerben […], als

Abenteurer oder einfach um auf seinem (Fuß-) Weg durch die Lande, sich selbst,

aber auch [wie die Reisende der Romantik] seine Situation als Mensch in der

Welt zu suchen oder zu spiegeln. […] Reisen war anstrengend, zeitraubend und

mit einer ganzen Reihe von Gefahren wie etwa Über- oder Unfällen verbunden.

Wer nicht musste oder umgetrieben wurde, blieb lieber zuhause [...].161

Erst im 19. Jahrhundert, nach der Einführung der Eisenbahn, entsteht die Möglichkeit

für das breite Publikum zu reisen, richten die ersten Hotels sich auf, und wird das

Zusammenkommen in einem Hotel eine Prestigeangelegenheit der Aristokratie.162

Am

158

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 159

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 160

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 119. 161

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 123. 162

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 122-123.

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Ende des 19. Jahrhunderts und sicherlich am Anfang des 20. Jahrhunderts hat die

Aristokratie aber viel von ihrer Dominanz verloren und ziehen auch bürgerliche

Neureiche in die Hotels ein, was nach Matthias dazu führt, dass „Adel […] als Geldadel

neu definiert“163

wird. Gerade diese Entwicklung zeige sich in den Hotelgeschichten, in

denen das Hotel als „durch und durch kapitalisierter Raum“164

erscheint. Matthias wird

auch Roths Roman Hotel Savoy mit der Krise der Moderne in Verbindung bringen (cf.

infra 4.2.1.3.).

Im Gegensatz zu Matthias geht Thomas Mueller in seinem Artikel

„Hotelgeschichte und Hotelgeschichten“ nicht von der transzendentalen Heimatlosigkeit

im Sinne Lukács aus, sondern von einer Tradition „unheilvoller oder verzauberter Orte,

Gebäude und Räume“165

, in der beispielsweise der Gastgeber die Geborgenheit der

Herberge durchbricht, indem er sich als Mörder aufzeigt.166

So zeigt sich, dass Mueller,

anders als Matthias, das Hotel in der Literatur nicht als ein plötzliches Phänomen des

20. Jahrhunderts betrachtet. Zudem scheint er so nicht nur das Hotel, sondern auch die

Gasthäuser in seine Analyse einzubeziehen. Dies wird sich aber als leere Hoffnung

ergeben, denn genau wie Matthias kommt er nur auf Roths Hotel Savoy zu sprechen.

Jedoch ergibt sich, dass der unterschiedliche Ausgangpunkt der Tradition der

Hotelliteratur Muellers Analyse einigermaßen beeinflusst, denn, obwohl er ebenso wie

Matthias Hotel Savoy als Abbild der modernen Gesellschaft sieht, er verzichtet nicht auf

den Horror-Aspekt: „eine unbekannte und unerkannte Macht“167

hält Gabriel Dan im

Hotel fest. Diese Beobachtung scheint mir sehr wichtig zu sein, weil sie uns darauf

aufmerksam macht, dass Hotels bei Joseph Roth nicht immer als kapitalistische Räume

gestaltet worden sind, aber häufig als hotelähnliche Räume wie der Gasthof „Zum

weißen Adler“168

in Tarabas, in dem Geld nun nicht mehr als dominierendes Prinzip

163

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 125. 164

Matthias: Transzendental heimatlos, S. 127. 165

Thomas Mueller: „Hotelgeschichte und Hotelgeschichten“. In: Natur, Räume, Landschaften. 2.

Internationales Kingstoner Symposium. Hg. v. Burkhardt Krause und Ulrich Scheck. München: Iudicium

1996, S. 189. 166

Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189; Die Verletzung des Gastrechts wird nicht nur

ein literarisches Motiv, sondern wird auch im Horrorgenre eingesetzt. Ein bekanntes Beispiel ist der Graf

Drakula, der seine Gäste bewirtet, um ihnen Nachts den Lebenssaft zu rauben. (vgl. Mueller:

Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189). 167

Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 190. 168

Roth: Tarabas, S. 175; Das Wort „weißen“ im Namen des Gasthofs „Zum weißen Adler“ , tritt

manchmal als „Weißen“ im Roman auf. Ich werde die Kleinschreibung „weißen“ anwenden.

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gilt: „Sie fraßen und tranken, aber sie zahlten nicht, seitdem dieses neue Land

auferstanden war.“169

3.2. Das Hotelfeuilleton bei Roth

Aus biografischer Perspektive lässt sich die Verbindung von Heimat und Hotel bei

Joseph Roth deutlich erkennen. Els Snick behauptet, dass das Hotel sogar eine

Voraussetzung für Roths künstlerisches Schaffen war.170

Trotzdem sagt diese

Beobachtung noch nichts aus über das Hotel als literarisches Phänomen bei Roth. Wird

das Hotel für die heimatslosen Figuren Roths zu einem langfristigen Aufenthaltsort oder

nicht? Inwieweit lässt sich das Hotel noch mit Heimat verbinden?

Matthias schreibt Roths empathische Beschreibung des Hotellebens im

Hotelfeuilleton, in dem der Ich-Erzähler sich als „ein Hotelbürger, ein Hotelpatriot“171

definiert, der Biografie zu, indem sie den Ich-Erzähler als Roths Alter Ego versteht.172

In diesem Zusammenhang beschreibt Telse Hartmann einerseits, in welchem Maße das

Hotel im Feuilleton Merkmale einer Heimat annimmt: „Erstens bietet das Hotel dem

Narrator-Ich Geborgenheit […]. Zweitens gilt dem Narrator die Ankunft im Hotel als

eine Heimkehr. […] Drittens präsentiert sich die Hotelwelt als eine Gemeinschaft.“173

Andererseits macht Hartmann deutlich, dass das Hotel als Heimat im Hotelfeuilleton

sich dadurch von einem Vaterland unterscheidet, dass nicht das Traditionelle bzw. das

Lokale, sondern das Weltliche hervorgehoben wird.174

Zudem wird nach Hartmann der

Geborgenheit im Sinne einer Heimat in Roths Hotelzyklus dadurch geschadet, dass das

Hotel nicht das Vertraute, sondern die Fremdheit voraussetzt.175

Daraus schließt

Hartmann, dass die traditionelle Opposition von den Konzepten Gemeinschaft und

Gesellschaft bei Roth dekonstruiert wird.176

Oder anders gesagt: Wenn Gemeinschaft

169

Roth: Tarabas, S. 179. 170

Snick: Joseph Roth in Nederland en België, S. 33. 171

Joseph Roth: Panoptikum, S. 43. 172

Bettina Matthias: The hotel as setting in early twentieth-century German and Austrian literature:

checking in to tell a story. Rochester: Camden House 2006. S. 126. 173

Hartmann: Kultur und Identität, S. 184. 174

Hartmann: Kultur und Identität, S. 186. 175

Hartmann: Kultur und Identität, S. 186. 176

Hartmann: Kultur und Identität, S. 191; Bei der Unterscheidung zwischen den traditionellen

Konzepten von Gemeinschaft und Gesellschaft bezieht sich Hartmann nicht auf Tönnies, sondern auf

Helmut Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Sie betont, dass Plessner sein Konzept von Gemeinschaft

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Distanz bedeutet, ähnelt die Erfahrung in der Gemeinschaft immer mehr der Erfahrung

in der Gesellschaft.

Obwohl das Hotel im Hotelfeuilleton unmittelbar mit Roths Biografie verknüpft

wird und insofern eine Ablehnung des Heimatbegriffs im Sinne Sesshaftigkeit und

lokales Denken voraussetzt, wird sich zeigen, dass der Heimatbegriff im Hotelzyklus

immerhin durch eine Ambivalenz geprägt ist. Bei der Ankunft im Hotel steht der Ich-

Erzähler – oder im Sinne Matthias‘ Roth selber – patriotischen Gefühlen eher skeptisch

gegenüber: Die Leute ziehen in das Hotel, „von der Dumpfheit ihrer patriotischen

Gefühle gelöst.“177

Auch in Der Antichrist, Roths persönlichem Traktat, stuft er den

Patrioten, der, obwohl Schlechtes in seinem Vaterland geschieht, immer noch sein

Vaterland liebt, als einen Antichristen ein.178

Demzufolge lässt sich vermuten, dass,

wenn der Ich-Erzähler sich als ein „Hotelpatriot“ definiert, der Patriotismus im Hotel

eine neue Bedeutung gewinnt. Diese Idee bestätigt sich im folgenden Zitat: „Sie [das

Hotelpersonal] sind die wahrhaft internationalen! (Der Patriotismus beginnt erst bei den

Aktionären des Hotels.)“179

Der Patriotismus ruft nicht mehr eine nationale, sondern

eine internationale Begeisterung hervor und insofern scheint die gängige Bedeutung des

Patriotismus im Hotel radikal umgedreht zu sein. Jedoch zeigt die dieser Aussage

vorangehende Stelle schon, dass Roth den Patriotismus im alten Sinne des Wortes nicht

völlig abgelehnt hat:

Wie kann der Portier so ruhig lächeln, während er mir die Post übergibt? Seine

Ruhe ist die Folge einer langen Erfahrung, einer väterlichen, bittersüßen

Weisheit. Er weiß schon, daß nichts Überraschendes kommt, er weiß von der

Monotonie des bewegten Lebens, und niemand kennt so gut wie er die

Lächerlichkeit meiner vagen, romantischen Vorstellungen.180

Erstens vollzieht sich eine radikale Annäherung zwischen Portier und Erzähler, denn

der Portier gleicht einer Vaterfigur. Der väterliche Aspekt des Portiers stellt folglich den

Patriotismus in ein anderes Licht, indem die Bedeutung des Vaterlandes wieder

einschleicht. Oder anders gesagt: Die traditionelle Bedeutung des Patriotismus gewinnt

wieder an Kraft. Komplexer aber ist die Aussage „Monotonie des bewegten Lebens“.

dort abgrenzt, wo Liebe und gemeinsame Abstammung aufhören (vgl. Hartmann: Kultur und Identität, S.

191). 177

Roth: Panoptikum, S. 42. 178

Roth: Der Antichrist, S. 241. 179

Roth: Panoptikum, S. 44. 180

Roth: Panoptikum, S. 43.

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Hat sie Bezug auf die Situation des ständigen Kommens und Gehens der Gäste, die der

Portier offensichtlich seit Jahren beobachtet? Oder ist der Erzähler dermaßen vom Hotel

begeistert, dass er sogar die Nomadenexistenz, die Roth immer hervorgehoben hat181

,

als langweilig bezeichnet? Wo befindet sich Roth jetzt hinsichtlich der Opposition

zwischen Nomadenexistenz und Sesshaftigkeit? Dass der Ich-Erzähler lächerliche

„romantisch[e] Vorstellungen“ hegt, könnte darauf hinweisen, dass er sich noch nicht

von „der Enge der Heimatliebe“182

befreit hat. Somit zeigt sich, dass der Ich-Erzähler

sich zwar für ein unabhängiges, internationales Hotelleben entschieden hat, dass aber

die Spannung mit der diese Entscheidung einhergeht, immerhin hervorgerufen wird.

Dass das Hotel im Hotelfeuilleton positiv dargestellt wird, steht aber außer Frage.

Die Forschung ist sich darüber einig, dass die anderen Texte Roths, in denen

Hotels und hotelähnliche Räume auftreten, ein völlig anderes, d.h. komplexeres Bild des

Hotels zeigen.183

Wo im Hotelfeuilleton vor allem eine Faszination für das Hotelleben

thematisiert wird, liegt der Fokus in Roths Romanen, die ein Gasthaus darstellen, auf

der Identität und der Entwicklung der Figuren. Folgende Einsicht Hartmanns kann an

dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben:

Die Identität des Hotelgastes – interpretiert als diasporische Form – hat mit der

Diasporagemeinschaft des Judentums nichts mehr gemein, denn sie konstituiert

sich in Roths Szenarien ohne Bezug auf ein kulturelles Kollektiv. […]

[K]ulturelle Differenzen werden von der Gemeinsamkeit des Hotellebens

überlagert.184

Es wurde bereits erwähnt, dass Hartmann, die in Bezug auf Roths Romane zwar eine

Rhetorik der Deplatzierung hervorhebt, die kollektive Diasporabewegung bei Roth

jedoch als gescheitert empfindet: Der Diasporagedanke gilt nur für das Individuum (cf.

supra 2.1). Diese Idee hat sie im obigen Zitat weitergeführt und hinsichtlich des Hotels

analysiert. Es stellt sich heraus, dass Hartmann Roths Hotelgast als die gelungene

diasporische Identität schlechthin betrachtet. Die Distanzierung vom Judentum scheint

mir in Bezug auf die Hotelanalyse sehr gerecht zu sein. Obwohl die jüdische Tradition

unbestreitbar ein Teil der Rothschen Thematik ist und ich in vorliegender Arbeit

mehrfach kurz auf den Judentum zu sprechen kommen werde, scheint es mir jedoch

181

Die Idee des Zionismus hat Roth immer verworfen: die Juden sollten ihren Universalismus nicht

verlieren. Siehe dazu Lazaroms: The grace of misery, S. 113. 182

Roth: Panoptikum, S. 42. 183

Exemplarisch dazu Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 197. 184

Hartmann: Kultur und Identität, S. 198.

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wesentlich, anzuerkennen, dass Roths Hoteldarstellung nicht nach der jüdischen – oder

gegen die jüdische – Tradition konzipiert ist.

4. Gasthaus als Zwischenraum

4.1. Territorialität

4.1.1. Heimat und Utopie

Nach dem Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft hat Thomas More den

Neologismus Utopia aus einer Zusammensetzung von dem griechischen οὐ – nicht –

und τόπος – Ort –, also wörtlich ein Nicht-Ort, gebildet.185

Aufgrund der identischen

Aussprache von [eu] – εὐ bedeutet gut oder schön im Griechischen – und [u] im

Englischen, sei neben der Bedeutung von Nicht-Ort auch die Konnotation von gutem

oder schönem Ort hinzugetreten.186

Mit Foucault gesprochen sind Utopien „die

Platzierungen ohne wirklichen Ort: die Platzierungen, die mit dem wirklichen Raum der

Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten.“187

Eine Utopie kann allerdings auf einen bestimmten geografischen Ort zielen, wobei

Israel als utopischer Staat für die Juden als Schulbeispiel gilt.188

Roth hat aber

zeitlebens die Idee einer jüdischen Heimat bekämpft, weil „er, der assimilierte Jude,

darin einen Verrat an der jüdischen Tradition ahasverischer Heimatlosigkeit

erblickte.“189

Kaszyński hebt hinsichtlich Roths Romanen die Verbindung von Heimat

und Utopie hervor: „was im Erzählvorgang hergestellt wird, sind rückgewandte

Utopien, die als Realitäten vorgetäuscht werden und wirksam gemacht werden.“190

Obwohl Vieles dafür spricht, in Roths Werken eine Mythologisierung der

Vergangenheit zu erblicken, scheint mir die Schlussfolgerung, die Verbindung bringe

eine Idealisierung des Heimatbegriffs mit sich, nicht stichhaltig zu sein. Erstens hat die

Mythologisierung oft eine ironisierende Wirkung. Zweitens wird Heimat mehrfach in

Kontexten eingesetzt, die nicht die Vergangenheit, sondern, wie wir bereits kurz

185

Hans-Edwin Friedrich: „Utopie“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Hg. v.

Jan-Dirk Müller u.a. Berlin u. New York: de Gruyter 2003, S. 739-740. 186

Hans-Edwin Friedrich: Utopie, S. 740. 187

Foucault: Andere Räume, S. 38. 188

Philip V. Bohlman: „Jüdische Lebenswelten zwischen Utopie und Heterotopie, jüdische Musik

zwischen Schtetl und Ghetto“. In: Lied und populäre Kultur 47 (2002), S. 35. 189

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 36. 190

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140.

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37

erwähnt haben und später weiterführen werden, die Zukunft einbeziehen: „Unsere

wahre Heimat ist nämlich der Himmel“191

Drittens evoziert Heimat häufig bloß die

Polyphonie der Räume. Dazu setzt Roth unter anderem Strategien der räumlichen

Umkehrung oder der auffallenden Verbindung ein (cf. supra 2.2.). Im Gegensatz zu

Heterotopie ist die Utopie nach Philip V. Bohlman homogen und uniform: „Wenn eine

Utopie auf Übereinstimmung besteht, gestaltet sich im Gegensatz dazu die Heterotopie

aus Differenz und Widerspruch.“192

Aus dieser Unterscheidung lässt sich ableiten, dass

auch die geografische Fixierung einer Utopie homogener bzw. eindeutiger ist. Da Roths

Hotels im vorangehenden Kapitel als heterotopisch charakterisiert wurden, lässt sich

vermuten, dass sie in Hinblick auf ihre geografische Fixierung zwar „tatsächlich

geortet“ sind, aber nach Bohlmans Definition entweder geografisch nicht eindeutig

dargestellt sind oder nicht mit ihrer Umgebung interagieren. Die Frage, ob und

inwieweit Roths Hotels geografisch fixiert sind, scheint mir wesentlich zu sein, um

herauszufinden, ob die Polyphonie der Räume beim Hotel gerade durch ihre

geografische Fixierung oder durch ihre Nicht-Fixierung heraufbeschwört wird. Auch

die Frage nach der psychologischen Fixierung stellt sich: inwieweit wird dem

transitorischen Charakter des Hotels geschadet, wenn das Hotel, wie es für Roth selber

war, zum Dauerdomizil wird? Ergibt sich dann nicht eine Utopie innerhalb der

Heterotopie?

4.1.2. „An den Toren Europas”

Gabriel Dan situiert das Hotel bei seiner Ankunft „an den Toren Europas.“193

Das Hotel

liegt im Osten, aber erscheint als „[e]uropischer als alle anderen Gasthöfe des

Ostens“.194

Nach Amthor ist die Grenzziehung zwischen dem Osten und dem Westen

dadurch nur scheinbar konkret, dass weder die Grenzen Europas klar definiert werden,

noch die Ambivalenz des Kontinents aufgeklärt wird: „Europa das ist der Westen

betrachtet aus der Perspektive des Ostens. Europa ist aber auch die Welt, die angesichts

der Herrschaft des Nationalsozialismus kaltes Blut bewahren zu müssen glaubt“.195

191

Roth: Der Antichrist, S. 150. 192

Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 37. 193

Roth: Hotel Savoy, S. 899. 194

Roth: Hotel Savoy, S. 900. 195

Amthor: An den Toren Europas, S. 119.

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Obwohl die Textstelle „an den Toren Europas“ Amthors Einstieg ist, die

Grenzmetaphorik bei Roth zu untersuchen, mag wohl deutlich sein, dass ihre Analyse

Europas sich nicht nur auf dieses Zitat beziehen kann. Nichtsdestotrotz sagt die kurze

Aussage im Anfangskapitel von Hotel Savoy Vieles. Das Hotel liegt offensichtlich an

der Grenze Europas. Obwohl die Tore eine deutlich markierte Linie voraussetzen, wird

die Trennung dadurch untergraben, dass die Europäisierung sich schon im Grenzgebiet

über die Grenze hinaus durchgesetzt hat. Der Einfluss Europas wirkt anscheinend

positiv, denn das Hotel „verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift,

Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre“.196

Das Hotel

steht aber in schroffem Kontrast mit der Beschreibung der Stadt: „Am Vormittag war

sie grau, Kohlendunst naher Fabriken wälzte sich über sie aus riesigen Schornsteinen,

schmutzige Bettler krümmten sich an den Straßenecken, und Unrat und Mostkübel

waren in engen Gäßchen gehäuft.“197

Diese Beschreibung bildet die Schattenseite des

fortschrittlichen Westens. Manche Forscher wie Matthias erkennen in „den Toren

Europas“ die polnische Industriestadt Lodz.198

Diese Interpretation geht aus ihrer These

hervor, die nicht so sehr die Symbolik der Räume, sondern die Symbolik des

Kapitalismus und seine Ungerechtigkeit betont. Müller-Funk, der zwar in Bezug auf

Der Antichrist von einer „Dämonologie der Moderne“199

spricht, betont jedoch mit

Rücksicht auf Roths Gesamtwerk, dass Roth der Moderne nur „vorsichtig ablehnend“200

gegenübersteht. So legt er im Gegensatz zu Matthias mehr Wert auf die räumliche

Dimension in Roths Werken, die er als „eine imaginäre Geographie“201

bestimmt. In

dieser Hinsicht betrachtet er die Industriestadt in Hotel Savoy als eine Grenzstadt im

Osten, wie sie auch in anderen Romanen vorkommt als „eine Variante ein und

desselben Ortes.“202

Dies so zu berücksichtigen, liegt nahe, denn die wenig präzise

Information über die Stadt „an den Toren Europas“, verstärkt einerseits die Präsenz des

Gegensatzpaars Osten-Westen. Andererseits bringt den Mangel an Information über die

Stadt mit sich, dass das Hotel nicht ein Teil der Stadt ist bzw. der Stadt nicht

untergeordnet wird: Das moderne Hotel und die triste Industriestadt bilden zusammen

196

Roth: Hotel Savoy, S. 800. 197

Roth: Hotel Savoy, S. 802. 198

Matthias: The hotel as setting, S. 127. 199

Müller-Funk: Joseph Roths Dämonologie der Moderne, S. 115. 200

Müller-Funk: Joseph Roth, S.17. 201

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 52. 202

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 53.

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39

den Paradox des Westens, verortet im Osten. Gabriel Dan kann am Ende der Geschichte

weder zwischen Hotel und Stadt, noch zwischen Westen und Osten wählen:

Wir lebten fast so gut wie Bloomfield und gingen in die Armenküche, wenn es

uns gefiel. Und wenn es uns nicht gefiel, aßen wir im Hotel. Und nie ging uns

das Geld aus. Einmal sage ich zu Zwonimir: ‹Ich packe und gehe zu Fuß weiter!

Wenn du nicht willst, bleib hier!› Da weinte Zwonimir. Es waren ehrliche

Tränen. ‹Zwonimir› sage ich, ‹dies ist mein letztes Wort: sieh im Kalender nach,

heute ist Dienstag, heute in zwei Wochen reisen wir.›203

Gabriel Dan hat im Laufe des Romans schon viele Male damit gedroht, aus dem Hotel

wegzuziehen, aber es gelingt ihm nie. Diese Tatsache ruft die Frage hervor, ob das

Hotel – und nicht die „Tor[e] Europas“ – in Hotel Savoy zu der zu überwindenden

Barriere für das Fortsetzen der Bewegung in westliche Richtung wird. Oder anders

gesagt: Ist das Hotel – ein Durchgangsort – gerade der Ort geworden, der den

Durchgang blockiert? Denn, wenn das Hotel für Gabriel Dan und Zwonimir zum

Dauerdomizil wird, unterminiert es ihre Funktion als Passage. Zwei Argumente

nuancieren aber diesen Gedanken. Der obige Textabschnitt macht deutlich, dass Gabriel

Dan und Zwonimir sich ständig zwischen Hotel und Stadt bewegen. Im Gegensatz zum

ersten Kapitel, in dem Gabriel Dan vom Hotel begeistert ist und kaum die Stadt besucht,

fungiert die Stadt im zweiten und dritten Kapitel als Ort, von dem aus es möglich wird,

das Hotel kritisch zu betrachten. Gerade durch die Symbiose des Westens – das sich im

Zusammenspiel von Hotel und Stadt vollzieht – und des Ostens – territorial – gestaltet

sich schlechthin das Hotel als Zwischenraum. Zweitens wird die Möglichkeit, das Hotel

als definitives Domizil zu betrachten, dadurch zerstört, dass die Heimkehrer das Hotel

anzünden. Soll man diese Handlung verstehen als einen Versuch vom Osten aus – „die

Revolution […] kommt aus dem Osten“ – sich der Verwestlichung zu widersetzten?204

Die Heimkehrer kommen aber gerade aus dem Westen. Hätte Gabriel Dan Recht, wenn

er sich beim Anschauen des Zustroms der Heimkehrer Folgendes überlegte: „Wären sie

[die Heimkehrer] nicht lieber in der großen Heimat geblieben, statt in die kleine

heimzukehren, zu Weib und Kind und Ofenwärme?“205

Kehren die Heimkehrer sich

gegen das westliche Hotel, gerade weil es sie an das kleine Heim erinnert, zu dem sie –

im Gegensatz zu dem was der Name der Gruppe verheißt – nicht zurückkehren wollen?

203

Roth: Hotel Savoy, S. 866 -867. 204

Roth: Hotel Savoy, S. 884. 205

Roth: Hotel Savoy, S. 851.

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40

Oder wenden sie sich als revolutionäre Sozialisten, durch Armut gezwungen, gegen das

kapitalistische Hotel? Die Funktion der symbolischen Tat des Ansteckens verlangt eine

Antwort, die hier noch nicht geleistet werden kann. Ich werde später darauf

zurückkommen (cf. infra 4.3.3.2.2.) Wichtig ist es, an dieser Stelle anzuerkennen, dass

Roth einerseits mit der geografischen Situierung „an den Toren Europas“ die

Polyphonie der Räume hervorhebt. Andererseits hat sich gezeigt, dass Roth mit der

psychologischen Spannung der Figuren zwischen langfristigem Aufenthalt und

Bewegung, verschiedene Strategien eingesetzt hat, um das Hotel nicht zu fixieren,

sondern im Gegenteil ihre Funktion als Zwischenraum zu bestätigen.

4.1.3. Peripherie vs. Zentrum im Hotel

Roth selber stammt aus der Peripherie, gleichwie seine literarischen Figuren Mendel

Singer in Hiob und Nikolaus Tarabas in Tarabas. Gabriel Dan aus Hotel Savoy dagegen

kommt nicht aus der Peripherie, sondern reist nach einer Kriegserfahrung in der

Peripherie in die umgekehrte Richtung wieder zum Zentrum, zu den „Toren“. Genau

wie Amthor hebt Joachim Beug die Dominanz der Grenze in Roths Romanen hervor,

die er anhand der Grenzschenke untersucht.206

Beug unterscheidet zwei Typen von

Grenzschenken. Zum einen unterscheidet er die Grenzschenke, die tatsächlich an der

Grenze liegt, wie Roths Herkunftsstadt Brody. Zum anderen erwähnt er die

Grenzschenke, die sich nicht in einer Stadt an der Grenze, sondern an der Peripherie der

bürgerlichen Sozietät befindet.207

Obwohl man nicht darauf verzichten kann, dass Beugs

Grenzschenke eine andere Funktion als das Hotel hat, glaube ich, dass sich auch die

Hotels in Roths Romanen anhand der Kategorien Zentrum und Peripherie analysieren

lassen. Die Spannung zwischen Peripherie und Zentrum wurde in Bezug auf das Hotel

Savoy im vorangehenden Kapitel nicht explizit, aber schon implizit dargestellt, indem

sich gezeigt hat, dass das Hotel sich geografisch an der Peripherie und gesellschaftlich

im Zentrum befindet. Jetzt stellt sich die Frage, wie das „Astor Hotel“208

in Hiob

positioniert ist.

206

Joachim Beug: „Die Grenzschenke. Zu einem literarischen Topos”. In: Co-Existent contradictions.

Joseph Roth in Retrospect. California: Ariadne press, S. 148. 207

Beug: Die Grenzschenke, S. 149. 208

Roth: Hiob, S. 210.

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Im Gegensatz zum Hotel Savoy spielt das Astor Hotel eine weniger zentrale

Rolle im Hinblick auf die ganze Geschichte. Trotzdem ist es für den Roman Hiob ein

wichtiger Schauplatz. Zum einen endet die Geschichte in diesem bedeutungsvollen

Raum. Außerdem rückt das Hotel Mendel Singer zum ersten Mal in seinem Leben in

das Zentrum. Bevor Mendel in das Hotel kommt, hat er zuerst in Zuchnow, in einem

fiktiven Schtetl in Russland, und später in einem Ghetto in New York gelebt. Mendels

Bewegung von Schtetl in das Ghetto gilt nach Bohlman „als einer der bekanntesten

Topoi für den historischen Weg der mittel- und osteuropäischen Juden in das [sic] 20.

Jahrhundert, aus ihrer von der Diaspora begrenzten Kultur in die europäische

Moderne.“209

Nach Bohlman hat das Schtetl sich für die Juden „aufgrund einer

imaginären Authentizität“210

zu einer Utopie entwickelt. Die fragwürdige Authentizität

des Schtetls macht auch Roth in Hiob spottend deutlich: „Es war als wollte er [Mendel

Singer] Schemarjah noch schnell mit der Heimat vertraut machen, ehe der junge Mann

auszog, eine neue zu suchen“.211

Daneben erwähnt Bohlman, dass das Schtetl im Laufe

der modernen Geschichte immer weiter an die Peripherie gedrängt wurde. Das Ghetto

aber bestimmt Bohlman „als eine Heterotopie, d.h. als eine ‹unerwartete› Mischkultur,

die aus dem Kulturkampf zwischen jüdischem Dorf und nicht jüdischer Großstadt

entsteht.“ Weiter meint Bohlman, dass das Ghetto „[i]m Gegensatz zum Schtetl […]

metaphorisch zum Zentrum der modernen Geschichte der jüdischen Moderne

erhoben“212

werden kann. Die „Mischkultur“, von der Bohlman spricht, sehe ich

keinesfalls im Ghetto in Hiob. Vielmehr hat sich das Ghetto zu Schtetl entwickelt und

rückt in dieser Hinsicht immer weiter in die Peripherie. Wenn Mendel den Glauben

verliert, steht er nicht nur an der Peripherie der Gesellschaft New Yorks, sondern jetzt

auch in seiner jüdischen Gemeinschaft.

Nach dem wunderbaren Wiedersehen mit dem totgeglaubten Sohn Menuchim

fahren beide ins „Astor Hotel“. Mendel Singer betrachtet Amerika von dem

Hotelfenster aus: „Wie es seine Gewohnheit war, trat er [Mendel Singer] sofort zum

Fenster. Da sah er zum erstenmal die Nacht von Amerika aus der Nähe“.213

Aus dieser

Textstelle geht hervor, dass Mendel „zum erstenmal“ die Bewegung von der Peripherie

209

Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 29. 210

Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 30. 211

Roth: Hiob, S. 56. 212

Bohlman: Jüdische Lebenswelten, S. 31. 213

Roth: Hiob, S. 211.

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aus in Richtung Zentrum gemacht hat. Vom Fenster aus, beobachtet er jetzt das Gesicht

eines Mädchens auf einem Reklamebrett als die „vollkommenste Darstellung des

nächtlichen Glücks und der goldenen Gesundheit.“214

Nicht im Ghetto, sondern im

Hotel, in der Anerkennung des Kapitalismus Amerikas, erhält „die Mischkultur“ im

Sinne Bohlmans ihre vollendetste Form. Trotzdem bleibt das Hotel immerhin ein

anderer Raum als Amerika, denn das Hotel bringt Mendel Ruhe und Amerika steht für

Lärm: „er hörte den lärmenden Gesang Amerikas, das Hupen, das Tuten, das Dröhnen,

das Klingeln, das Kreischen, das Knarren, das Pfeifen und das Heulen.“215

Die nicht-

spezifizierte „Nähe“ macht zwar deutlich, dass Mendel sich jetzt in der nähe des

Herzens New Yorks befindet, aber Amerika selbst immer noch vom Fenster aus erfährt.

Somit fungiert das Astor Hotel als Heterotopie: über das Fenster verbindet es sich mit

der Stadt, aber widerspricht diesem Raum zugleich. Genau wie Gabriel Dan erst in der

Lage war, von der Stadt aus seine Meinung über das Hotel Savoy anzupassen, bekommt

auch Mendel Singer erst vom Hotel aus einen kritischen Blick auf Amerika, das Land,

das er nicht mehr wie früher dämonisiert, aber dem er sich ebenfalls nicht unbesonnen

hingibt. Schlögels Aussage „Die Grenze bietet einen [sic] Erkenntnisprodukt besonderer

Qualität. An der Peripherie sieht man anders und anderes als im Zentrum, das sich oft

selbst genügt“216

trifft auf Roths Romane zu. Roth lässt seine Figuren anhand des Hotels

zwar in die Nähe des Zentrums kommen, aber betont immerhin die Bedeutsamkeit der

Peripherie.

4.2. Die Welt vs. das Heim

4.2.1. Öffnungen und Schließungen

Heterotopien setzen nach Foucault „immer ein System von Öffnungen und

Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht.“217

Heterotopien sind im Allgemeinen „nicht ohne weiteres zugänglich“218

. Hinsichtlich der

Gasthäuser Roths denke ich in diesem Zusammenhang etwa an das Geld, das den

Eintritt im Hotel Savoy bedingt: „Viele, die kein Geld fürs Hotel Savoy hatten, richteten

214

Roth: Hiob, S. 211. 215

Roth: Hiob, S. 211. 216

Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 144. 217

Foucault: Andere Räume, S. 44. 218

Foucault: Andere Räume, S. 44.

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sich in den Baracken ein.“219

Dass Roths Gasthäuser tatsächlich eine Dynamik der

Öffnungen und Schließungen im Sinne Foucaults aufweisen, zeigt sich, wenn Zwonimir

das Hotel Savoy bildhaft als „ein[en] reiche[n] Palast und ein Gefängnis“ umschreibt.

Ein „reicher Palast“ ist das Hotel einerseits, weil es von Luxus geprägt ist und nur

bemittelte Leute eintreten können. Andererseits wird das Hotel ein „Gefängnis“, wenn

das Geld, das anfangs die Voraussetzung für den Eintritt war, nicht mehr vorhanden ist.

Im Tausch für Geld verpfändet Ignatz, der Liftknabe, die Koffer der Leute und bindet

sie so an das Hotel Savoy. Das System von Öffnungen und Schließungen ist meiner

Meinung nach in Roths Gasthäusern nicht nur von ökonomischen Bedingungen

abhängig. Vielmehr zeigt sich das System auf der psychologischen Ebene der Figuren.

Deshalb werde ich im Folgenden dafür argumentieren, dass die Dynamik der Öffnungen

und Schließungen bei Roth dazu dient, die Spannung zwischen Heim und Welt

hervorzuheben.

Der Heimatbegriff beschwört nach Bastian und Améry die zentrale Emotion

Geborgenheit herauf (cf. supra 1.2.1 bzw. 1.2.3.). Im Gegensatz zu Heimat, die ihre

Geborgenheitspotenz durch persönliche Beziehungen und bekanntes Territorium

ermöglicht, erfährt das Konzept der Geborgenheit im Hotelfeuilleton dadurch eine

Umdeutung, dass es sich, so Hartmann, als „eine Geborgenheit im Unpersönlichen“220

manifestiert. Unpersönlichkeit ist an dieser Stelle als Austauschbarkeit zu verstehen:

„Wenn meine Koffer weg sind, werden andere hier stehen. […] Wenn ich nicht mehr an

diesem Fenster stehen werde, wird ein anderer hier stehen.“221

Zweitens betont

Hartmann, dass die Geborgenheitserfahrung im Hotelzimmer nicht bedeutet, dass der

Hotelgast von der Welt abgeschlossen ist, denn über das Fenster erhält er den Kontakt

mit der Außenwelt.222

Zur Illustration dieses Gedanken führt sie folgendes Zitat aus

dem Hotelfeuilleton an: „Wenn ich das Fenster öffne, ist die Welt bei mir zu Gast. Von

Weither dröhnen die heiseren Sirenen der Schiffe. Ganz nahe klingeln die törichten

Schellen der Straßenbahnen.“223

Meines Erachtens weisen die Transportmittel „Schiffe“

und „Straßenbahnen“ darauf hin, dass der Hotelgast immer fliehen kann. Das Schiff, das

nach Foucault „in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres

219

Roth: Hotel Savoy, S. 852. 220

Hartmann: Kultur und Identität, S. 185. 221

Roth: Panoptikum, S. 67. 222

Hartmann: Kultur und Identität, S. 185. 223

Roth: Panoptikum, S. 41.

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44

ausgeliefert ist“224

, verstärkt damit die Idee des Hotelzimmers als gleichzeitig

geschlossenen bzw. privaten und offenen bzw. weltbezogenen Raum.

Die „väterlich[e] bittersüß[e] Weisheit“225

des Portiers deutet darauf hin, dass

Heim und Welt im Hotelfeuilleton in einem harmonischen Verhältnis zueinander

stehen, denn familiale Bedingungen werden auf die Hotelsituation projiziert. Die

Annäherung zwischen Heim und Welt wird sogar explizit, wenn der Empfangschef

sagt: „Sie sind unser Gast und unser Kind!“226

Obwohl sich der Erzähler im

Hotelfeuilleton am Ende vom Hotel verabschiedet, und aufgrund dessen es nicht als

Dauerdomizil zu verstehen sei, wird jedoch die Ankunft im Hotel viel mehr als in den

fiktionalen Werken als eine Heimkehr beschrieben. Wo sich die Spannung zwischen der

Welt und dem Heim im Hotelfeuilleton durch Annäherung aufhebt, wird sich dagegen

zeigen, dass diese Spannung sich in Roths Romanen durch das Wechselspiel von

Öffnungen und Schließungen verstärkt, wobei mit Öffnung das Weltliche und mit

Schließung das Heim gemeint ist.

4.2.1.1. Der Gasthof „Zum weißen Adler“

Der Roman Tarabas steht exemplarisch für das Wechselspiel zwischen Öffnungen und

Schließungen. Was die Untertitel des Romans „Ein Gast auf dieser Erde“ von Anfang

an voraussetzt, ist die Weltbürgerschaft Tarabas‘ und somit auch die Tendenz zur

Offenheit. Jedoch ist diese Lebensphilosophie für Tarabas keine Selbstverständlichkeit,

sondern ein Erkenntnisprozess. So ist die Nacht vor dem Tag, an dem Tarabas aus dem

elterlichen Haus wegzuziehen geplant hat, durch das Wechselspiel zwischen Öffnungen

und Schließungen geprägt.

Er ging in sein Zimmer. Er legte sich, so wie er war, Schlamm an den Stiefeln,

aufs Bett. Er schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten

Geräusches, sah, daß seine Tür offen war, ging hin, um sie zu schließen. Ein

Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war offen. Er konnte

nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind

gewesen sein mußte. Hatte Maria versucht, ihn wiederzutreffen? – Warum

schlief sie nicht mit ihm, in der letzten Nacht, die er in diesem Hause

verbrachte? […] Er öffnete die Tür. […] Jetzt öffnete er Marias Tür. […] Und er

verließ das Zimmer […] Tarabas griff nach Säbel und Mantel und wandte sich

224

Foucault: Andere Räume, S. 46. 225

Roth: Panoptikum, S. 43. 226

Roth: Panoptikum, S. 43.

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zur Tür. Er öffnete sie, zögerte einen Augenblick, kehrte noch einmal um und

spuckte aus. Dann schlug er die Tür zu und hastete hinaus.227

Der schwankende offene und geschlossene Zustand der Tür und des Fensters

veranschaulicht Tarabas‘ Spannung zwischen einem Leben in der offenen Welt und

einem im geschlossenen Heim. Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass nicht Tarabas

selber die Tür des Zimmers geöffnet hat, denn er stellt nur fest, dass „seine Tür offen

war“, sondern eine unbekannte Kraft verantwortlich ist. Diese unbestimmte Kraft werde

ich später verdeutlichen (cf. infra 4.4.3.2). Festzustellen ist, dass die offene Tür Tarabas

das Geleit gibt, schon in derselben Nacht in die Welt zu treten. Es wird sich aber zeigen,

dass die Spannung zwischen Welt und Heim nicht mit Tarabas‘ Entscheidung, das

elterliche Haus zu verlassen, aufhört. Sie zieht sich dagegen wie ein roter Faden den

Roman hindurch.

Der Gasthof „Zum weißen Adler“, der als Gasthaus sowohl Heim bzw.

Geschlossenheit als auch Welt bzw. kosmopolitische Offenheit voraussetzt, fungiert in

Tarabas als Ort, der die Spannungssituation zwischen Offenheit und Geschlossenheit

gleichzeitig radikalisiert und auflöst und somit die Geschichte strukturiert. Die

Spannung zeigt sich schon in der ersten Beschreibung des Gasthofs:

Er [Nathan Kristianpoller] war in diesem alten Gasthof aufgewachsen, hinter der

dicken, verfallenden, von vielen Sprüngen gezeichneten, von wildem Weinlaub

bewachsenen Mauer, die ein großes, rotbraun gestrichenes, zweiflügeliges Tor

unterbrach und gleichzeitig verband, wie ein Stein einen Ring unterbricht und

verbindet. Vor diesem Tor hatten der Großvater und der Vater Nathan

Kristianpollers die Bauern erwartet und begrüßt, die Donnerstag und Freitag auf

den Markt nach Koropta kamen.228

Der Gasthof, der sich „hinter der dicken, verfallenden“ Mauer befindet, knüpft an die

durch Mueller beschriebene Tradition der „unheilvolle[n] oder verzauberte[n] Orte,

Gebäude und Räume“229

an und erscheint folglich als ein extrem geschlossener Raum.

Der Gedanke, dass die Gäste möglichst den Gasthof nicht mehr verlassen werden

können, steigert sich, wenn Kristianpoller zugibt „im stillen jedem Gast, ohne

Ausnahme, einen qualvollen Tod“230

zu wünschen. Das Motiv des mordlustigen

Gastgebers bringt das Horrorgenre in Erinnerung, wobei der Gast hilflos dem Wirt

227

Roth: Tarabas, S. 160-161. 228

Roth: Tarabas, S. 175-176. 229

Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189. 230

Roth: Tarabas, S.179.

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ausgeliefert ist.231

Die Geschlossenheit des Gasthofs, die das Horrormotiv hervorruft,

wird aber unterminiert, weil deutlich wird, dass die Gefahr mehr von den Gästen als

vom Wirt ausgeht: Kristianpoller wird ein Fremder in seinem eigenen Haus (cf. infra

4.2.1.2). Daneben weisen die „Sprüng[e]“ in der Mauer darauf hin, dass die Gefahr von

außen statt von innen kommt und verheißt der Gasthof eine Geborgenheit, insofern der

Wirt seine Gäste vor dem Tor aufwartet. Außerdem unterbricht das Tor, das gerade

zustandsbedingt entweder Offenheit oder Geschlossenheit mit sich bringt, die

Geschlossenheit der Mauer. Im Vergleich mit dem Stein und dem Ring wird aber

deutlich, dass, wenn ein Objekt ein anderes Objekt unterbricht, sich gerade eine

Verbindung herstellt. Wo das Heim Geschlossenheit und Verbundenheit mit einer

beschränkten Gruppe, die Welt Offenheit und Verbundenheit mit allen voraussetzt,

vereint der Gasthof Geschlossenheit und Offenheit und verwandelt Verbundenheit unter

dem Einfluss des Tors um, denn es stellt sich heraus, dass die Unterbrechung bzw. die

Zerstörung einer Verbindung eine neue Verbindung bewirken kann.

4.2.1.2. Die Beziehung zwischen Kristianpoller und Tarabas

Die Spannung zwischen Offenheit und Geschlossenheit, die die Bildsprache bei der

Beschreibung des Gasthofs inszeniert hat, lässt sich auf die Ebene der Figuren, und

zwar auf die Beziehung zwischen dem Wirt Kristianpoller und dem Gast Tarabas,

übertragen. Die Bedingungen für eine Verbindung zwischen den beiden Figuren sind

am Anfang der Geschichte keineswegs erfüllt. Tarabas wird als ein Mann vorgestellt,

der alles andere als Verbundenheit verheißt:

Als die Kunde von der Ankunft des schrecklichen Tarabas und seiner

schrecklichen Begleiter in den Gasthof ‹Zum Weißen Adler› gedrungen war,

beschloß der Wirt, der Jude Nathan Kristianpoller, unverzüglich seine Wohnung

zu räumen und seine Frau sowie seine sieben Kinder zu den Schwiegereltern

nach Kyrbitki zu schicken.232

Obwohl schon vor „der Ankunft des schrecklichen Tarabas“ der Gasthof von Offizieren

der neuen Armee bewohnt wurde233

, führt die Ankunft Tarabas‘ zur Auflösung von

Kristianpollers Familie und vertreibt Tarabas damit für längere Zeit die Familie

231

Mueller: Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, S. 189. 232

Roth: Tarabas, S. 175. 233

Roth: Tarabas, S. 176.

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Kristianpollers aus dem Gasthof. Tarabas selbst „fühlte sich immer wohler und

heimischer [im Gasthof]. Mehr noch als der Schnaps wärmte ihn die untertänige

Freundschaft der Offiziere, Eitelkeit wärmte sein Herz.“234

Die „untertänige

Freundschaft“ weist darauf hin, dass die Gäste keinesfalls harmonisch verbunden sind.

Eitelkeit, nicht Verbundenheit, löst das heimische Gefühl bei Tarabas aus. Dass der

Wirt Kristianpoller sich bemühen wird, eine Verbundenheit herzustellen, lässt sich nicht

erhoffen, denn er hat schon während des Kriegs immerhin versucht „mit List und mit

Hilfe Gottes der Gewalt heimischer und fremder Soldaten die angeborene und eingeübte

Schlauheit entgegenzuhalten, wie einen Schild, und, was das wichtigste war, das nackte

Leben zu bewahren, das eigene und das der Familie.“235

Interessant ist, dass „heimischer“ in diesem Textabschnitt eine andere

Bedeutung als „heimischer“ im obigen Zitat bei Tarabas bekommt. Wenn dieser den

Gasthof immer „heimischer“ empfindet, ist das eine Äußerung, die unmittelbar mit

seiner Identität verbunden ist, denn Tarabas wird durch die Haltung der Offiziere in

seiner Macht bestätigt, was ihn erlaubt, sich selbst zu identifizieren. Die Unterscheidung

zwischen „heimische[n]“ und „fremde[n]“ Soldaten dagegen beruht auf Territorium.

„[H]eimisch[e]“ Soldaten stammen aus dem eigenen Land, während „fremd[e]“

Soldaten, die Feinde, anderswo herkommen. Der Text beschwört ein wenig danach eine

weitere Bedeutung von ᾽heimisch᾽ herauf: „Eine neue Bangnis erfüllte sein

[Kristianpollers] Herz, das sich schon mit den heimischen, gewohnten Bangnissen

vertraut gemacht hatte.“236

So ergibt sich, dass für Kristianpoller ᾽heimisch᾽ als

Synonym für vertraut gilt. Aus der Analyse der verschiedenen Bedeutungen von

᾽heimisch᾽ geht hervor, dass das Heimische ohne Kontext ein leerer Begriff ist und

folglich stark von der Perspektive einer Figur abhängt.

Die Geschlossenheit Kristianpollers, die sich durch den Schutzmechanismus in

Hinblick auf seine Familie erkennen lässt, ist unmittelbar mit des Wirts Idee von

᾽heimisch᾽ zu verbinden. Die Geschlossene Haltung Kristianpollers steigert sich noch,

wenn sich herausstellt, dass der Wirt ein Geheimnis mit sich trägt:

Nicht ohne ein gewisses Schaudern hatte Kristianpoller in seiner ersten Jugend

dieses Gebäude betreten. Manche erzählten nämlich, vor undenklichen Zeiten,

234

Roth: Tarabas, S. 181. 235

Roth: Tarabas, S. 176. 236

Roth: Tarabas, S. 176.

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als noch die ersten christlichen Missionare in dieses hartnäckige heidnische

Land gekommen waren, hätten sie an dieser Stelle, just in diesem Hofe, eine

Kapelle errichtet. Diese Erzählungen bewahrte der Jude Kristianpoller wohl in

seiner Brust, er verriet sie nicht, denn er ahnte, daß sie eine Wahrheit enthielten.

[…] Man möge kein törichtes Märchen wiederholen.237

Genau wie bei der ersten Beschreibung des Gasthofs schleicht auch in diesem

Textabschnitt das Horrormotiv ‒ „ein gewisses Schaudern“ ‒ ein. Interessant ist, dass

nach Kristianpollers Darstellung des Heimischen im Sinne von Territorium und

Vertrautheit, eine Textstelle folgt, in der er implizit das Unheimliche des Gasthauses

hervorruft. Beide Begriffe, die sich zwar hinsichtlich des Konzeptes von Geborgenheit

gegenüberstehen, weisen auf die Geschlossenheit des Gasthofs hin. Die verstärkt sich

am Ende des Textabschnitts noch mal durch die Haltung des Wirts, der deutlich macht,

dass er das Geheimnis nicht enthüllen wird. Obwohl Kristianpoller keinesfalls

vorgeworfen werden kann, er schade Gastfreiheit, ändert sich seine geschlossene

Haltung erst, wenn, wie in den älteren Zeiten, nochmals ein Schweinemarkt in Koropta

stattfindet. Die Ankunft der Bauern, der „heimischen Gestalten“238

, der alten Gäste des

Gasthofs, nährt bei Kristianpoller wieder die Hoffnung auf die Rückkehr seiner Familie.

In diesem Zitat zeigt sich erneut, dass ‘heimisch‘ für Kristianpoller vertraut bedeutet.

Die Hoffnung drückt sich bildhaft aus: Kristianpoller öffnet „beide Flügel des Tores“239

wieder. Es ist bemerkenswert, dass gerade Bauern, die grundsätzlich Verwurzelung

repräsentieren, bei einem Juden, dem ewigen Wanderer, als Auslöser des Heimatgefühls

dienen. Ich glaube, dass diese Merkwürdigkeit, genau wie auch die Betonung des

Heimischen und dessen verschiedene Bedeutungen, zeigt, wie Roth sich mit dem

Heimatbegriff auseinandersetzt und die traditionellen Konnotationen ironisiert. Die

Ironie kulminiert, denn gerade die Bauern wenden sich am Stärksten gegen den Juden

Kristianpoller, wenn sie ihn verdächtigen, ein Muttergottesbild unter dem Kalk an der

Wand des Gasthofs versteckt zu haben. Während „alle in die Knie [fielen], die kleinen

Bauern, die mächtigen Soldaten, die Deserteure sowohl als auch die Getreuen

Tarabas'“240

, muss der Jude Kristianpoller sich außerhalb des Gasthofs verbergen. Wo

sich zwischen den Gästen und den Bauern im Gasthof eine plötzliche Verbundenheit

entwickelt, wird der Wirt von seiner eigenen Wohnung ausgeschlossen. So erfahren die

237

Roth: Tarabas, S. 177. 238

Roth: Tarabas, S. 203. 239

Roth: Tarabas, S. 203. 240

Roth: Tarabas, S. 210.

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Konzepte von Geschlossenheit, Offenheit und damit auch Verbundenheit im Gasthof

„Zum weißen Adler“ eine Umdeutung.

Die Wut, die sich anfangs nur gegen den Juden Kristianpoller richtete,

entwickelt sich zu einem Hass gegen alle Juden in Koropta. Nicht die „heimischen“

Bauern, sondern der „schrecklich[e] Tarabas“, unterdrückt den Aufruhr. Obwohl

Tarabas selber angibt, dass nicht so sehr der Schutz der Juden, sondern das Verlangen

nach Ordnung sein militärisches Auftreten begründet241

, hat Tarabas, der am Anfang

des Romans noch die Ursache war, dass die Familie Kristianpollers weggeschickt

wurde, durch die Ordnungsstiftung, den Juden Kristianpoller jetzt wieder in sein Heim

gebracht. Trotz der oberflächlichen Abneigung beider Männer einander gegenüber

erstaunt diese Entwicklung nicht ganz. Von Anfang an ist die Beziehung zwischen

Kristianpoller und Tarabas auf Annäherung angelegt. Der Wirt zeigt sich als ein treuer

Diener: „Wort für Wort wiederholte nun Kristianpoller alle Wünsche des Obersten

Tarabas. Ja, es war ihm ein leichtes, sie zu wiederholen. Eingegraben hatten sich die

Worte Tarabas‘ in den Kopf Kristianpollers, wie harte Nägel in Wachs. Für ewige

Zeiten steckten sie drin.“242

Die „harte[n] Nägel in Wachs“ scheinen auf den ersten

Blick den „ ewige[n] Zeiten“ zu widersprechen. Jedoch kann die Aussage nicht darauf

hindeuten, dass, sobald Kristianpollers Gast verschwunden ist, der Wirt ihn vergessen

wird, denn es wird sich herausstellen, dass gerade Kristianpoller die Erinnerung an

Tarabas wachhalten wird.243

Demzufolge meine ich, dass der Wachs nicht das

Auswischbare, sondern das Knetbare der Worte hervorhebt. Dieser Gedanke lässt sich

zweifach bestätigen. Einerseits wird so das geänderte Verhältnis zwischen

Kristianpoller und Tarabas – wobei der Wirt die führende Rolle übernimmt –

vorweggenommen (cf. infra 4.3.3.2.1.). Andererseits, insofern Kristianpoller die

Geschichte Tarabas‘ weitererzählt, ist das Knetbare der Worte als Metareflexion über

das Erzählen zu verstehen: Eine Geschichte ‒ umso mehr wenn sie [f]ür ewige Zeiten

gilt – mischt unvermeidlich wirkliche und unwirkliche Sachen. Wie Roth in seinen

Romanen Realität und Mythos bewusst anrührt, werde ich weiter in dieser Arbeit

darlegen (cf. infra 4.3.).

241

Roth: Tarabas, S. 223. 242

Roth: Tarabas, S. 179. 243

Roth: Tarabas, S. 284.

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Die Annäherung, die sich zunächst von Seiten Kristianpoller herausstellt,

entwickelt sich im Laufe der Geschichte in beide Richtungen:

Von Zeit zu Zeit blickten beide Männer nach dem Fenster, auf das schmale

Rechteck des dunkelblauen, gestirnten Himmels. Hierauf begegneten einander

ihre Augen. Und je häufiger ihre Augen sich trafen, desto vertrauter schienen die

Männer miteinander zu werden. Ja, ja, du Jude! sagten die Augen des Obersten

Tarabas. Und: Ja, ja, du armer Held! sagte das eine, das gesunde Auge des Juden

Kristianpoller.244

Obschon Tarabas anfangs die Verbindung Kristianpollers mit seiner Familie zerstört

hat, geht aus dem Textabschnitt eine andere Verbindung hervor, die ebenso sehr auf

Vertrauen stützt und „[f]ür ewige Zeiten“ gilt. Bemerkenswert ist, dass die Annäherung

zwischen Tarabas und Kristianpoller im Gasthof über das Fenster und den Kontakt mit

dem Himmel läuft. Das Fenster macht die Spannung zwischen der grundsätzlich

geschlossenen Haltung beider Männer und der Tendenz zur Offenheit, die sich im

Textabschnitt manifestiert, bildhaft. Der Himmel verstärkt das Ewige dieser speziellen

Verbindung. Auf die Bedeutung der Kombination von Fenster und Himmel werde ich in

diesem Kapitel noch zu sprechen kommen. Auch die Funktion der speziellen

Verbindung zwischen Kristianpoller und Tarabas werde ich noch vertiefen (cf. infra

4.4.3.2.).

4.2.1.3. Die Polyfunktion des Gasthofs „Zum weißen Adler“

Es hat sich gezeigt, dass der Gasthof „Zum weißen Adler“ zwischen einer heimischen

und einer kosmopolitischen Welt schwankt. Eine Annäherung zwischen Heim und

Welt, wie sie im Hotelfeuilleton geschieht, findet aber nicht statt: Die Spannung

zwischen beiden bleibt. Der Gasthof übernimmt aber nicht nur die Funktion eines

Heims oder eines Ortes der kosmopolitischen Versammlung, er fungiert auch kurzfristig

als Kirche: „Dieser Raum hier ist eine Kirche.“245

Das Muttergottesbild kommt ans

Licht nach einer spielerischen Schießerei, die wie folgt entsteht:

Allmählich wurde aus der falschen Brüderlichkeit, die Tarabas' Getreue

gegenüber den Deserteuren zuerst geheuchelt hatten, eine flüchtige, verlogene,

aber immerhin rührselige Freundschaft. Von beiden Seiten wurden gar viele

244

Roth: Tarabas, S. 198. 245

Roth: Tarabas, S. 210.

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falsche, heiße Tränen vergossen. Man hatte sich einfach betrunken. ‹Wir wollen

ein bißchen schießen, nur damit wir sehen, ob wir noch zielen können›.246

Die „falsch[e] Brüderlichkeit“ macht deutlich, dass die Gäste des Gasthofs nicht richtig

miteinander verbunden sind. Auch Kracauer beschreibt die Hotelgäste in seinem Essay

„Die Hotelhalle“ als die „schlechthin beziehungslosen“247

: „Als bloßes Außen aber

entschwinden sie sich selber und drücken ihr Nicht-sein durch die schlecht-ästhetische

Bejahung der zwischen ihnen gesetzten Fremde aus.“248

Im Gasthof „Zum weißen

Adler“ versucht man mit Alkohol die „zwischen ihnen gesetzt[e] Fremde“ zu

verleugnen. Durch die spielerische und sinnlose Schießerei, die aus der Betrunkenheit

folgt, verwandelt sich der Gasthof in eine Kirche, wenn unter dem Kalk an der Wand

das Muttergottesbild entdeckt wird. So gibt zuerst der Alkohol und jetzt auch die Kirche

Anlass zur Aufhebung der Beziehungslosigkeit. Mit der Umwandelung des Gasthofs in

eine Kirche beschreibt Roth treffend die Problematik der menschlichen Beziehungen

zur Zeit der Weimarer Republik: der Weimarer Mensch ist fundamental desorientiert.

Er folgt damit Kracauer, Kritiker der Weimarer Sozialverhältnisse, der das Hotel in

„Die Hotelhalle“ als „negative Kirche“249

bestimmt, wobei die Menschen im Gotteshaus

die mentale Erhebung kollektiv zu erreichen versuchen, während sich „die schlechthin

Beziehungslosen“ im Hotel zwar ebenfalls vom Alltag ablösen, aber keinen Sinn stiften

können.250

Es wird sich aber erweisen, dass der Gasthof in Tarabas nicht, im

Unterschied zum Hotel bei Kracauer, negativ geprägt ist.

Die Entstehung der Kirche in Tarabas geht mit einer allgemeinen

Judenverfolgung einher. Obwohl Tarabas beim Sehen des Muttergottesbildes sichtbar

gerührt ist, beendet er, wenn er den Aufstand gegen die Juden niederschlägt,

gleichzeitig das Fungieren des Gasthofs als Kirche.251

Während des Kampfes zwischen

auf der einen Seite Tarabas‘ Getreuen und auf der anderen Seite Bauern und Soldaten,

fungiert der Gasthof auch als Versteck:

246

Roth: Tarabas, S. 206. 247

Siegfried Kracauer: „Die Hotelhalle”. In: Das Ornament der Masse. Essays mit einem Nachwort von

Karsten Witte. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 160. 248

Kracauer: Die Hotelhalle, S. 168. 249

Kracauer: Die Hotelhalle, S. 159. 250

Kracauer: Die Hotelhalle, S. 161. 251

Roth: Tarabas, S. 222.

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Von den wenigen unversehrt gebliebenen Häusern Koroptas enthielt nur eines

noch lebendige Bewohner: der Gasthof ‹Zum Weißen Adler›; der Gasthof des

verschwundenen Juden Kristianpoller. Hier im Hof und in den Stuben, im

geräumigen Gastzimmer und im Keller drängten sich die Juden und die Bauern.

Manche hatten Schrecken und Müdigkeit, Alkohol, Betäubung und Schmerzen

eingeschläfert.252

Die Geschlossenheit des Gasthofs, die sich sowohl bei der ersten Beschreibung des

Gasthofs und der Haltung des Wirtes herausgestellt hat, kommt in diesem Textabschnitt

als eine Undurchdringbarkeit zum Ausdruck, die sowohl Juden als auch Bauern das

Leben rettet.

Die verschiedenen Funktionen die der Gasthof im Laufe der Geschichte

angenommen hat ‒ Heim, kosmopolitischer Platz, Kirche, Versteck ‒, werden am Ende

des Romans keinesfalls aufgehoben. Ich werde in diesem Zusammenhang von der

Polyfunktion des Gasthofs sprechen, wobei ich die Bezeichnung Polyfunktion

ausgewählt habe, weil sie durch ihre Zusammenstellung aus dem Griechischen und dem

Lateinischen die ungewöhnliche Kombination von Funktionen, die der Gasthof aufzeigt,

bildhaft macht. Vorliegendes Kapitel wird die sonderbare Funktion des Gasthofs als

Kirche und Versteck weiter auseinandersetzen. Zuerst bleibt die Kammer, in der das

Muttergottesbild enthüllt wurde, immerhin ein religiöser Ort:

Jetzt hat er [Kristianpoller] sogar aus dieser Kammer eine Kapelle machen lassen.

Man liest hier am Sonntag die heilige Messe. Und es ist auch ein Geschäft dazu.

Denn die Bauern können gar nicht das Ende der Messe abwarten, um schnell in

die Schenke zu kommen. Wir haben viel zu tun. An Sonntagen verdienen wir

mehr als an den Tagen, wo Schweinemarkt ist!»253

Liegt hier eine Kritik am Glaubenserlebnis des Menschen, am Kapitalismus oder an

Beidem vor? Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Aus dem Vorhergehenden

ergibt sich, dass die Forschung sich hinsichtlich Roths Kritik am Kapitalismus nicht

einig ist: Nach Matthias stellt Roth den Kapitalismus als Übel dar254

und Müller-Funk

zufolge steht der Schriftsteller dem Kapitalismus nur „vorsichtig ablehnend“255

gegenüber. Eggers, der zwar nicht explizit über den Kapitalismus redet, schreibt Roth

einen antimodernen Gedankengang zu, den er in Roths Vortrag „Glauben und

Fortschritt“ ausformuliert sieht:

252

Roth: Tarabas, S. 221. 253

Roth: Tarabas, S. 274. 254

Matthias: The hotel as setting, S. 130-132. 255

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 17.

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Der Begriff ‹Fortschritt› allein setzt bereits die Horizontale voraus. Er bedeutet

ein Weiterkommen und kein Höherkommen. Dies allein aber, das Höherkommen,

wäre würdig eines Versuchs, die Menschheit, wenn es überhaupt möglich ist, zu

erziehen.256

Die Frage, die sich in Bezug auf das Zitat aus Tarabas stellt, ist, ob Roth anhand des

„Geschäft[es]“ und der „Kapelle“ die Ablehnung des Weiterkommens und die

Bevorzugung des Höherkommens literarisiert. Meiner Meinung nach lässt sich im

Textabschnitt oberflächlich zwar eine Ablehnung des Kapitalismus erkennen, aber hat

die Ausbreitung der Kapelle mit einem Geschäft grundsätzlich eine andere Funktion.

Bildhaft wird gezeigt, wie der Gasthof ständig in Entwickelung ist und wie die Gäste

selber, die „schnell in die Schenke […] kommen“, auch in Bewegung sind. Man könnte

sogar behaupten, dass der Textabschnitt ein Plädoyer dafür ist, die Religion nicht in der

Messe, sondern in Bewegung zu erleben. Insoweit wird das Höherkommen gerade

durch das Weiterkommen des Geschäftes stimuliert und fallen die vertikale und

horizontale Linie zusammen. Demzufolge ist die Ausbreitung der Kapelle mit einem

Geschäft nicht so sehr als Ablehnung des Kapitalismus zu verstehen, sondern verstärkt

sie einerseits die Idee, die Religion in Bewegung zu erleben, und andererseits auch die

Polyfunktion des Gasthofs.

Auch nach der Schlächterei bewertet der Wirt Kristianpoller den Gasthof noch als

einen Zufluchtsort: „Manche kennen nämlich mein Versteck.“257

Das Versteck soll man

nicht im Sinne eines Bunkers gegen Gefahr verstehen, sondern als einen festen Halt

betrachten, insofern der Gasthof zum allgemein menschlichen Zufluchtsort wird. Diese

Funktion hat der Gasthof immer noch für Tarabas: „Noch eine Biegung – und schon

war die Mauer des Gasthofs ‹Zum weißen Adler› sichtbar. Tarabas gönnte sich eine

Rast. Zum erstenmal nach langer Zeit fühlte er den sommerlichen Frieden der Welt.“258

Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass die Rückkehr zum Gasthof ein Gefühl von

Geborgenheit hervorruft. Es ist jedoch bemerkenswert, dass dieses Gefühl sich nicht

nach innen, sondern nach außen richtet, denn er fühlt „den sommerlichen Frieden der

Welt.“ Der Gasthof wird für Tarabas ein Ort, zu dem er nach einer langen Wanderung

wiederkehrt und Frieden findet, aber kein richtiges Zuhause: „‹Hast noch einen weiten

256

Joseph Roth: „Glauben und Fortschritt“. In: Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-

1939. Hg. und mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 700. 257

Roth: Tarabas, S. 244. 258

Roth: Tarabas, S. 274.

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Weg?› fragte er [Fedja, der Stallknecht] ‹Nein›, sagte Tarabas, ‹Ich bin fast schon zu

Hause!›“259

Auf die Bedeutung von „zu Hause“ in diesem Zitat werde ich noch zu

sprechen kommen. Der Aufenthalt im Gasthof ist nicht das Endziel, aber jedenfalls ein

Schritt in die gute Richtung, denn Tarabas ist „fast zu Hause“ (cf. infra 4.4.3.2.). Die

Sonderposition des Gasthofs wird einerseits dadurch hervorgerufen, dass er sich

während der Schlächterei als unzerstörbar erwiesen hat. Andererseits stellt sich eine

Polyfunktion des Gasthofs heraus, wobei ungewöhnliche Funktionen nicht nur diachron,

sondern auch synchron verbunden sind. Das Sonderbare des Gasthofs weist aber

keinesfalls darauf hin, dass der Gasthof ein idealer Wohnort sei. Die Dynamik von

Öffnungen und Schließungen macht dagegen deutlich, dass der Gasthof ein Ort des

Übergangs bleibt.

4.2.2. Das Fenster und die andere Welt

Hartmann hat in Bezug auf das Hotelfeuilleton die Funktion des Fensters im

Hotelzimmer betont, das dem Hotelgast ermöglicht, mit der Welt verbunden zu bleiben.

Auch in Roths Romanen kommt das Fenster vielfach vor. Aus dem Vorhergehenden

ergibt sich, dass nicht nur Fenster, sondern auch Tore und Türen bildhaft die Spannung

zwischen Offenheit und Geschlossenheit verstärken. Jedoch erweist sich das Fenster bei

Roth als ein besonderes Motiv. Der Blick durchs Fenster bewirkt nicht nur eine

Verbindung mit der Welt, wie Mendels Annäherung an den Kapitalismus und die

Annäherung zwischen Kristianpoller und Tarabas, sondern lässt den Hotelgast sogar

mehr sehen, als tatsächlich da ist: Mendels

müdes Auge schweifte durchs Zimmer zum Fenster. Von seinem tiefgelagerten

Sofa aus konnte er einen vielgezackten wolkenlosen Ausschnitt des Himmels

sehen. […] Während sie sich langsam schlossen, nahmen seine Augen die ganze

blaue Heiterkeit des Himmels in den Schlaf hinüber und die Gesichter der neuen

Kinder. […] Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der

Wunder.260

Obwohl Mendel „von seinem tiefgelagerten Sofa aus“ nur in der Lage ist, einen

„Ausschnitt des Himmels“ zu sehen, gelingt es ihm, sich, nach einem Blick durchs

Fenster, „die ganze blaue Heiterkeit des Himmels“ vorzustellen. Der Kontakt mit dem

259

Roth: Tarabas, S. 275. 260

Roth: Hiob, S. 217.

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55

Himmel nach dem Öffnen des Fensters des Gasthofs „Zum weißen Adler“ ‒ „[d]urch

das offene Fenster strömte das frühe und schon satte Blau des herbstlichen Himmels261

‒ führt auch in Tarabas zu einem Gedankengang über die Welt, der sich anhand eines

Irrealis ausdrückt: „Es war, als sollte in diesem Jahr überhaupt kein Winter

kommen.“262

Die Idee, dass sich durchs Hotelfenster eine andere Welt beobachten lässt,

lässt sich ebenfalls in Hotel Savoy erkennen:

In meinem Zimmer ist die Unrast, seitdem ich die Besucher Bloomfields

empfange. Unrast ist im ganzen Hotel, im Korridor und im Fünf-Uhr-Saal, und

eine kohlenstaubüberwehte Unrast herrscht in der Stadt. Wenn ich zum Fenster

hinausblicke [in den Hof], sehe ich ein Stück glücklich geretteter Ruhe. Die

Hühner schreien. Nur die Hühner.263

Den Hof, der zum Hotel Savoy gehört, betrachtet Gabriel als einen autonomen Teil, der

im Gegenteil zum Hotel und der Stadt, ruhig erscheint. Bemerkenswert ist, dass sowohl

Mendel als auch Gabriel aus dem Hotelfenster schauen, um die Ruhe in sich

aufzunehmen. Die Not beider Figuren, eine andere Welt zu sehen, lässt sich zweifach

interpretieren. Einerseits wird die Idee der Geborgenheit des Hotels in Hotel Savoy

unterminiert, denn „Unrast ist im ganzen Hotel“, einschließlich im privaten Zimmer; so

unterscheidet sich das Hotel vom Heim. Andererseits weisen beide Textaussagen darauf

hin, dass das Gefühl der Geborgenheit sich weder im Hotel, noch in der Welt, wie der

Mensch sie kennt, vorfindet. Über das Hotelfenster zeigt sich das Verlangen des

Menschen nach einer anderen Welt. Diese andere Welt erleben Mendel und Tarabas

nach dem Kontakt mit dem Himmel. Da das Verlangen nach Ruhe vertikalisiert wird,

liegt der Gedanke nahe, die andere Welt im Tod zu erkennen.

4.3. Mythologie vs. Realität

Mehrere Forscher heben in Bezug auf Roths Werke eine Mythisierung hervor, aber

deuten deren Funktion sehr unterschiedlich. Kaszyński hat die Mythisierung mit der

idealisierten Heimat verknüpft, bei der er eine Idealisierung herausgestellt hat, und die

er folglich als rückwärtsgewandte Utopie bestimmt hat (cf. supra 4.1.1.). Kaszyński

erkennt in Roths Romanen neben dem Heimatmythos auch den Mythos der Liebe und

261

Roth: Tarabas, S. 199. 262

Roth: Tarabas, S. 199. 263

Roth: Hotel Savoy, S. 881.

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den Mythos des unabwendbaren Schicksals: Jener deutet auf die nicht realisierbare

Liebe, die Kaszyński in Roths Romanen thematisiert sieht und dieser auf die

unbegreifliche Kraft, die das Schicksal des Menschen vorbestimmt.264

So bestimmt

Kaszyński schließlich die Mythisierung als Wesenszug von Roths literarischen Werken,

durch den „seine Zeitromane zeitlos“265

wirken. Müller-Funk aber versteht die

Mythisierung nicht wie Kaszyński auf der Ebene von Roths Gesamtwerk, sondern im

Bereich des Raums: „Raum [bei Joseph Roth] setzt – entgegen aller

Entzauberungsabsicht – Magie und Mythos nicht außer Kraft. Er setzt messianische

Hoffnungen frei“.266

In diesem Zusammenhang betont Müller-Funk, dass New York

zugleich eine entzauberte und eine wunderbare Welt repräsentiert, denn die Metropole

bringt sowohl Amerika-Euphorie als auch Desillusion hervor.267

Interessant ist, dass

beide Forscher Mythisierung mit Idealisierung gleichsetzen, wobei Kaszyński mit

Heimat sowohl eine rückwärtsgewandte Idealisierung als auch mit dem unabwendbaren

Schicksal eine Idealisierung der Zukunft hervorhebt, während Müller-Funk nur die

Zukunft einbezieht. In den folgenden Kapiteln werde ich Müller-Funks Idee

weiterführen und begründen, wieso Roths Idealisierung sich nur auf die Zukunft

beziehen kann.

4.3.1. Mythische Anspielungen in Roths Romanen

Nicht nur Roths Idealisierung beschwört eine Mythisierung herauf, sondern auch die

expliziten Anspielungen auf die Mythologie. Wir haben festgestellt, dass die

Metamorphosen, die der Gasthof „Zum weißen Adler“ durchgemacht hat, die

Polyfunktion des Gasthofs hervorheben und in dieser Hinsicht auch den Ort als

264

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 140-141. 265

Kaszyński: Die Mythisierung der Wirklichkeit, S. 142; „[Z]eitlos“ ist bei Joseph Roth, was seine

Beziehung zu der Neuen Sachlichkeit betrifft, ein aufgeladener Begriff: Becker hält„am

Realismuskonzept der Neuen Sachlichkeit [wie] an der Forderung einer zeitgebundenen Literatur“ fest.

Diese Entscheidung begründet sie mit dem Argument, dass auch für Joseph Roth – der sich dennoch 1929

in seinem Aufsatz „Schluss mit der Neuen Sachlichkeit“ von dieser Strömung abwendet – die

Wirklichkeit „immer sein Material [bleibe]“ . (vgl. Sabine Becker: Neue Sachlichkeit. Band 1: Die

Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933). Köln: Böhlau Verlag 2000, S. 153; vgl. dazu auch

mein Bachelorpaper, Liesbeth Dermaux: „‘Nicht so – aber so – vielleicht auch doch so“. Eine Analyse

der Widersprüche und des Wirklichkeitsbezugs in Keuns Das kunstseidene Mädchen“. Gent: s. n. 2012, S.

6-7). 266

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 58. 267

Müller-Funk: Joseph Roth, S. 58-59.

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Übergang verstärken (cf. supra 4.2.1.3.). Im Rahmen der Mythologie bekommen die

Metamorphosen aber eine zusätzliche Bedeutung, denn durch die Fähigkeit des Gottes,

eine Sache oder eine Person zu verwandeln, wird einerseits die Macht des Gottes betont,

andererseits dienen die Metamorphosen dazu, die Sachverhalte der Welt zu erklären.

Dadurch, dass Roth die Metamorphosen des Gasthofs mit einer Tendenz zu

Weiterentwicklung verknüpft, unterminiert er keineswegs die Macht des Gottes,

sondern die erklärende Funktion hinsichtlich der Sachverhalte der Welt, denn er zeigt,

was diese Sachverhalte nicht sind: ewig. Die Metamorphose des Gasthofs und ihre

Tendenz zu Weiterentwicklung deuten darauf hin, dass der Wohnort des Menschen nur

zeitlich beschränkt bzw. irdisch ist.

Die Hybris oder der Hochmut, ein weiteres mythologisches Motiv, das Roth

aufgreift, lässt sich bei diesem Gedankengang verbinden. Eggers findet dieses Motiv in

Der Antichrist und Tarabas vor: „Zum mythischen Herrscher stilisiert, wird Tarabas in

der Demontage zu einem Exempel für die Armseligkeit ‹irdischer› Macht.“268

Das

Motiv der Hybris findet sich, wenn auch unterschiedlich, ebenfalls in Hiob und Hotel

Savoy. In Hiob stellt Mendel Singer weniger die Macht Gottes, viel eher seine Güte in

Frage. Seine Glaubenskrise führt schließlich dazu, dass er nicht mehr beten will. Hotel

Savoy hat auf den ersten Blick weniger die Beziehung zwischen Mensch und Gott zum

Thema. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass Anspielungen da sind. So weist Ignatz,

der Liftknabe, götterähnliche Merkmale auf. Der Liftknabe hat die Aufgabe, die Gäste

vom Erdgeschoss in die Höhe zu führen, und fungiert insoweit in übertragenem Sinne

als ein Vermittler zwischen dem Irdischen und dem Himmel. Ignatz führt die Gäste

nicht nur in vertikale Richtung, sondern behält mit seinem „Kontrollblick“269

auch zu

jeder Zeit die Übersicht. Die Heimlichkeit und Macht Ignatz‘ werden am Ende der

Geschichte noch mal unterstrichen, denn es stellt sich heraus, dass Ignatz im ganzen

Roman eine Doppelrolle gespielt hat: Er ist sowohl Liftknabe als auch der bis dahin

unsichtbare Hotelwirt Kaleguropulos. Eine Person mit einer solchen mächtigen

Funktion sollte sich vor Hybris hüten. Ignatz/Kaleguropulos missbraucht aber seine

Macht, denn er verpfändet die Koffer der Gäste im Tausch für Geld. Somit zeigt er sich

als kapitalistischer Herrscher, der die Grenzen überschreitet, und wird wegen Hybris

bestraft:

268

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 117. 269

Roth: Hotel Savoy, S. 828.

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In diesem Augenblick geht oben die Dachluke auf und Ignatz erscheint, der alte

Liftknabe. Hat ihn heute sein Fahrstuhl so hoch hinaufgeführt? ‹Das Hotel

brennt›, schreit Ignatz. ‹Kommen Sie doch herunter›, ruft der Direktor. Da bricht

eine helle Stichflamme aus der Dachluke, Ignatz‘ Kopf verschwindet.270

Am Tag seines Todes ist Ignatz symbolisch zu hoch gefahren. Die Warnung, dass der

Mensch nicht zu nah zu Gott kommen darf, weil er sonst brennen würde, ruft die

mythologische Geschichte von Ikarus wach, dessen wächserne Flügel durch die

Sonnenhitze schmelzen.271

Die Figur Ignatz/Kaleguropulos werde ich später aber

gründlicher analysieren. Es wird sich zeigen, dass sein Tod nicht nur das Hybrismotiv

hervorruft (cf. infra 4.4.3.1.).

In Der Antichrist wird die Hybris nicht einer Figur, sondern der Moderne zugemessen:

Wie aber haben wir also unsere Vernunft mißbrauchen können? Und wie kam

es, daß sie, die doch ein Geschenk Gottes war, wie gesagt: das einzige und letzte

Andenken an das verlorene Paradies, uns zur Torheit und zum lasterhaften

Hochmut und zu frevlerischen und falschen Einsichten geführt hat?272

Der moderne Mensch lässt sich auf Industrie und Technik ein, benützt in diesem

Zusammenhang die Vernunft falsch und verliert hierbei Gott aus dem Blick. Die Hybris

wird so zum Merkmal der Moderne. Anhand der mythologischen Motive

᾽Metamorphose᾽ und ᾽Hybris᾽ macht Roth die Beziehung zwischen Mensch und Gott

zum Thema und stellt die moderne Distanzierung des Menschen Gott gegenüber in

Frage.

Daneben erhebt sich auch die Frage, ob Roth mit dem Motiv der Heimkehr, das

sich sowohl in Tarabas, Hiob und Hotel Savoy findet, auf den berühmtesten

Heimkehrer der Mythologie, Odysseus, verweist. Die Parallelen zwischen Roths

Romane und der Odyssee stellen sich nicht nur hinsichtlich des Heimkehrermotivs,

sondern auch spezifischer, wie Eva Raffel bemerkt, in Bezug auf die

Bewegungsrichtung heraus, denn sowohl Roths Figuren als auch Odysseus ziehen vom

Osten in Richtung Westen heim.273

Einen expliziten Hinweis auf Odysseus sehe ich,

wie Raffel, in folgendem Zitat aus Hotel Savoy: „Seine Frau schläft mit einem andern,

den Totgeglaubten erkennen seine Kinder nicht mehr – er ist ein anderer geworden, und

270

Roth: Tarabas, S. 888. 271

Publius Naso Ovidius: Metamorphosen. Vertaald en toegelicht door M. D’Hane-Scheltema.

Amsterdam: Athenaeum 2011, S. 181. 272

Roth: Der Antichrist, S. 23. 273

Raffel: Vertraute Fremde, S. 130.

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der Hund nur kennt ihn, ein Hund, ein Heimatloser.“274

Denn Odysseus wird, wenn er

zu Hause anlangt, nur von seinem Hund Argos erkannt.275

Eine weitere Parallele

zwischen der Odyssee und Roths Romanen liegt in der Thematisierung des

Spannungsverhältnisses zwischen dem Menschen und Gott, was sich anhand des Motivs

der Hybris veranschaulicht. Der größte Unterschied zwischen der Odyssee von Homer

und Roths Heimkehrern besteht nach Raffel darin, dass Odysseus in Ithaka erwartet

wird, während Roths Figuren nirgendwo erwartet werden.276

Diese Beobachtung ist

zwar korrekt, soll aber weitergeführt werden. Die Hindernisse, denen Odysseus

unterwegs begegnet, sind deutlich negativ geprägt: Er soll sie überwinden, um weiter zu

kommen. Das Hotel Savoy bei Roth hat sich als Hindernis aber viel ambivalenter

erwiesen, denn es ist eine gewollte Barriere, was heißt, dass die Figuren nicht

heimkehren wollen. Das Motiv der Heimkehr und der explizite Hinweis auf Odysseus

zeigt weniger, dass Roths Figuren im Gegensatz zu Odysseus nirgendwo erwartet

werden. Vielmehr macht Roth deutlich, dass die Richtungen der Bewegung

unterschiedlich sind. Oberflächlich laufen die Bewegungen zwar parallel, vom Osten in

Richtung Westen, aber grundsätzlich handelt die Odyssee von einer Rückkehr zur

Heimat Ithaka, während Roths Romane trotz des Heimkehrersmotivs auf eine

vorwärtsstrebende Bewegung zielen.

Das Verlangen der Rothschen Figuren nach einer Heimat wird zwar beschrieben,

aber in Tarabas überwiegt, genau wie in Hotel Savoy, die Angst heimzukehren.277

Die

vorwärtsstrebende Bewegung ist auf den ersten Blick nicht in Hiob vorhanden, denn

Mendel Singer leitet an einer Heimkehrobsession, weil er meint, dass das neue

Vaterland, Amerika, ihm seine Geliebten abgenommen habe. Für seine Qualen gibt er

schließlich Gott die Schuld; Mendel verliert seinen Glauben. Bedeutungsvoll ist, dass

Menuchim, die Personifikation der Heimat, sich als ein Messias wieder kenntlich

macht: „Ich selbst bin Menuchim“.278

Dadurch, dass Mendel selbst nicht wieder in die

Heimat zieht, sondern die Heimat in der Gestalt Menuchims zu ihm kommt, stellt Roth

274

Roth: Hotel Savoy, S. 883. 275

Homer: Odyssee. Übersetzt v. Johann Heinrich Voß. Frankfurt am Main: Insel 1990, 17. Gesang,

Verse 290- 328. 276

Raffel: Vertraute Fremde, S. 130. 277

Vergleich hierzu: „Er war oft auf seinen Wanderungen in die Nähe seines Dorfes gekommen, aber er

hatte es in großen Bogen umgangen. Noch war er nicht gerüstet genug; denn man muß gerüstet sein, um

die Heimat wiederzusehn.“ (Roth: Tarabas, S. 263). 278

Roth: Hiob, S. 206.

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die Macht Gottes über die Macht der Heimat. Das Verlangen nach Heimat und die

fehlenden Versuche der Figuren, heimzukehren, wurden in der Forschung häufig

fehlerhaft als Idealisierung des Heimatbegriffs gedeutet. Die Anspielungen auf die

Mythologie zeigen schon, dass Heimat sich bei Roth nicht unbedingt mit Territorium

verbinden lässt.

4.3.2. Aufklärung

In Der Antichrist problematisiert Roth das falsche Gefühl des Menschen, aufgeklärt zu

sein: „[U]nsere Blindheit ist […] [e]ine höllische Blindheit: denn obwohl wir geblendet

sind, glauben wir zu sehen.“279

Jedoch widersetzt sich Roth der Idee der Aufklärung

nicht. So weicht er dem Sehensmotiv keinesfalls aus, denn seine Figuren schauen häufig

durchs Fenster, um eine Verbindung mit der Welt herzustellen. Nach Immanuel Kant

fordert die Aufklärung eine Bewegungstendenz: „Aufklärung ist der Ausgang des

Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“280

Aus dem Vorhergehenden

ergab sich, dass die Tendenz zur Bewegung in Roths Romanen weitgehend vorhanden

ist, bei der die Gasthäuser eine textorganisierende Rolle erfüllen. Somit zeigt sich, dass

Roth in seinen Romanen auf zwei wichtige Aufklärungsmotive, das Sehen und die

Bewegung, zurückgreift, aber gleichzeitig Kritik an der Aufklärung übt. Meiner

Meinung nach schleicht zu diesem Zweck der Mythos in Roths Werken ein. Dabei

literarisiert Roth einen Gedanken, den Max Horkheimers und Theodor W. Adornos

später wie folgt formulieren: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung

schlägt in Mythologie zurück“.281

Die „höllische Blindheit“, von der Roth in Der Antichrist spricht, lässt sich beim

General Lakubeit in Tarabas erkennen: „Die meisten glaubten an den Teufel. Und sie,

wie ihr Oberst Tarabas, glaubten auch, kleine Höllenfeuerchen in den Äuglein

Lakubeits glimmen zu sehn.“282

Anhand des Vergleichs mit dem Teufel wird der

General radikal Gott gegenübergestellt. Die Macht Lakubeits, „eines schwächlichen

279

Roth: Der Antichrist, S. 12. 280

Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“. In: Immanuel Kant, Werke in zwölf

Bänden. Band XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 53

(Hervorhebung von Kant). 281

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.

Frankfurt a. M.: Fischer, 1977 (Erstausgabe New York 1944), S. 5. 282

Roth: Tarabas, S. 192.

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kleinen Mannes“283

, hat offensichtlich keinen physischen, sondern einen intellektuellen

Ursprung, denn „[i]m Krieg war […] er Auditor, kein Krieger.284

Das Intellektuelle wird

aber negativ konnotiert, denn Tarabas bestimmt Lakubeit als „Oberst der gefährlichen

papierenen Teufel“.285

Anhand der Figur Lakubeit wird nach Eggers „das bekannte

Paradox, wonach Aufklärung sich gegen sich selbst wenden kann“286

, literarisiert. So

meint Eggers, dass die Entscheidung Lakubeit, der Mannschaft Alkohol zu geben, um

diese gefügig zu stimmen, an sich vernünftig ist, aber paradoxerweise eine irrationale

Schlächterei mit sich bringt.287

Daraus scheint hervorzugehen, dass Roth die Vernunft in

Frage stellt. Jedoch soll dieser Gedanke nuanciert werden, so meint auch Eggers, denn

die Vernunft Kristianpollers wird anders als die von Lakubeit bewertet.288

Obwohl

Tarabas nach dem Tod seines treuen Feldwebels Konzew meint, dieser sei „für diesen

unverletzlichen, teuflischen Kristianpoller gestorben“289

, macht Kristianpoller selber

unmittelbar deutlich, dass Tarabas bei dieser Äußerung verwirrt ist: „Tee klärt die

Verworrenen, und Klarheit ist den Vernünftigen nicht gefährlich.“290

Aus dieser

Aussage spricht keine Ablehnung, sondern eine Wertschätzung der Vernunft. Nicht nur

Kristianpoller selber bewertet die Vernunft, sondern sie wird ihm vom Erzähler explizit

im Schlusssatz zugeschrieben: „Er ist ein kluger Mann.“291

Eggers hat vollkommen recht, wenn er meint, dass die unterschiedliche

Bewertung der Vernunft von Lakubeit und Kristianpoller auf eine „Dichotomie

zwischen ‹Gläubigen› und ‹Ungläubigen›“292

stützt. Der Jude Kristianpoller erscheint

als sehr gottesfürchtig293

, während Lakubeit nie mit Gott in Verbindung gebracht wird.

Der Kontrast zwischen Lakubeit und Kristianpoller zeigt sich meines Erachtens am

Deutlichsten bei der Bewertung von Tarabas‘ Leben. Die praktische Vernunft Lakubeits

führt zu folgender Aussage: „Für unsere neue Armee, Ihren alten Vater, für die Welt

283

Roth: Tarabas, S. 224. 284

Roth: Tarabas, S. 193; “Auditor” soll man in diesem Kontext als Vorsitzender eines militärischen

Gerichtes verstehen. 285

Roth: Tarabas, S. 190. 286

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 118. 287

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 119. 288

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 285. 289

Roth: Tarabas, S. 225. 290

Roth: Tarabas, S. 225. 291

Roth: Tarabas, S. 285. 292

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 118. 293

Vergleiche hierzu „Der Jude Kristianpoller lobte die Wunder Gottes. Groß war Er in all Seiner

Unverständlichkeit, sehr groß in Seiner unerforschlichen Güte.“ (Roth: Tarabas, S. 203).

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sind Sie tot und vergessen.“294

Obwohl Lakubeit mit dieser Aussage Tarabas keinesfalls

grob behandeln, sondern ihm im Gegenteil mitteilen möchte, dass er keine Probleme

bzw. indiskrete Fragen bekommen wird, impliziert Lakubeits Aussage jedoch eine

Gleichgültigkeit dem Leben Tarabas‘ gegenüber. Ganz anders handelt Kristianpoller,

denn er hält die Erinnerung an die Lebensgeschichte Tarabas‘ bewusst wach:

Die Menschen vergessen. Sie vergessen die Angst, den Schrecken, sie wollen

leben, sie gewöhnen sich an alles, sie wollen leben! Das ist ganz einfach! Sie

vergessen auch das Wunderbare, sie vergessen das Außerordentliche sogar

schneller als das Gewöhnliche!295

Kristianpoller, der meint, dass man den Menschen nicht vergessen darf, der Mensch

selber auch nicht vergessen sollte, vertritt mit dieser Meinung die religiöse Tradition,

die Christus im bleibenden Andenken behält. Sowohl im zitierten Textabschnitt als auch

in Hiob fällt die Betonung des Wunderbaren am Ende der Geschichte auf. Das Wunder

bei Roth vereint Mythos und Glauben und fungiert als eine Reaktion gegen den Logos,

wie er von Lakubeit vertreten wird.

Es hat sich somit gezeigt, dass Aufklärung für Roth weniger um die traditionelle

Spannung zwischen Mythos und Logos, viel eher um die Spannung zwischen Gläubigen

und Ungläubigen geht. Wo Horkheimer und Adorno den Mythos revalorisieren, um vor

einer in der Wahrheit erstarrenden Aufklärung zu warnen, möchte Roth mit dem

Mythos den Menschen auf eine andere Wahrheit lenken: Gott. Wenn Gott das Licht für

den Menschen bedeutet, lässt sich schließen, dass Roth das Konzept der Aufklärung

radikal umgedeutet hat.

4.3.3. Mythos und Realität im Raum

4.3.3.1. Das Vaterland Amerika

Inwieweit unterstützen Roths inszenierte Räume die Analyse der Figuren bezüglich

Mythos und Realität? Wie bereits gesagt, ist nach Müller-Funk im Bereich des Raums

die Stadt New York das Beispiel schlechthin, das sowohl die Absicht aufweist zu

entzaubern als auch den Mythos hervorhebt. Die Frage aber, wie beide – Entzauberung

294

Roth: Tarabas, S. 262. 295

Roth: Tarabas, S. 285.

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und Mythos – zueinander in Verbindung stehen, kann meiner Meinung nach nicht

unterbleiben.

Anhand der Figur Zwonimir thematisiert Hotel Savoy die Amerikaobsession:

Er liebte Amerika. Wenn eine Menage gut war, sagte er: Amerika! Wenn eine

Stellung schön ausgebaut war, sagte er: Amerika! Von einem ‹feinen›

Oberleutnant sagte er: Amerika. Und weil ich gut schoß, nannte er meine

Treffer: Amerika.296

Amerika ist für Zwonimir keine Realität, sondern eine Idee. Dennoch stellt er Amerika

als eine Utopie dar, wobei er auf die von More unterschiedene Hauptbedeutung der

Utopie als Nicht-Ort verzichtet: Amerika ist ein real existierendes Land, das er

unmittelbar mit dem Guten verbindet. So zeigt sich, dass Zwonimir die Utopie Amerika

nicht im Sinne einer ou-topia, eines Nicht-Ortes, sondern einer eu-topia, eines guten

Ortes versteht (cf. supra 4.1.1.). Der Textabschnitt macht aber deutlich, wie absurd die

Gleichschaltung von Gut und Amerika wirkt. Insoweit ruft die einseitige und absurde

Betonung der eu-topia gerade von Anfang an die ou-topia hervor: Ein solcher Ort kann

nicht existieren. So lässt sich vermuten, dass die Erwähnung Amerikas in Hotel Savoy,

nicht auf Mythenbildung, sondern auf Entzauberung zielt.

Es wird sich jedoch erweisen, dass die Amerikadarstellung in Hiob komplexer

als in Hotel Savoy ist. Das folgende Zitat zeigt deutlich, wie der mythische Charakter

zunächst vielfach heraufbeschworen wird: „Man hatte ihm gesagt, daß Amerika God's

own country hieß, daß es das Land Gottes war, wie einmal Palästina, und New York

eigentlich the wonder city, die Stadt der Wunder, wie einmal Jerusalem.“297

Zuerst

wird, wie aus der deutschen Übersetzung hervorgeht, die Sprache dieses Landes

rätselhaft dargestellt. Zweitens setzen die Konstruktionen „[M]an hatte ihm gesagt“ und

„wie einmal“ weniger ein Erlebnis, sondern eher eine Erzählung voraus. Darüber hinaus

löst der Aufbau des Satzes die Möglichkeit, den Traum Amerikas zu erleben, auf. Die

parallelen Beschreibungen des Landes Amerika und der Stadt New York steuern

zweimal auf einem Vergleich zu, bei dem Palästina und Jerusalem nicht nur Utopie,

sondern schon verloren gegangene Utopien repräsentieren. In diesem Zusammenhang

296

Roth: Hotel Savoy, S. 841. 297

Roth: Hiob, S. 123.

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bemerkt Bronsen treffend: „der Leser spürt, dass in Mendel Singers New York keine

weiteren Wunder zur Aufrechterhaltung der ostjüdischen Tradition erfolgen werden.298

So kann Müller-Funks Behauptung, New York setze messianische Hoffnungen

frei, nicht überzeugen. Es hat sich stattdessen gezeigt, dass die Aussagen über Amerika

in Hiob, wie in Hotel Savoy, als Mythos gekleidet, schon im Voraus darauf angelegt

sind, Amerika zu entzaubern. Zu dieser Feststellung muss man jedoch einschränkend

bemerken, dass, anders als in Hotel Savoy, die Darstellung Amerikas in Hiob von der

Perspektive, aus der sie betrachtet wird, abhängig ist. Nach Sidney Rosenfeld reißt der

unterschiedliche Blick auf Amerika bei Mendel Singer und seinem Sohn Schemerjah

„die für das Bewußtsein des traditionsgebunden Ostjuden untentbehrliche Kette der

Generationen.“299

Mendel Singer erweist sich als die Figur, die Amerika entzaubern

möchte. Er bringt seinen Eindruck des Landes nach dem Tod seiner Frau Deborah und

seines Sohnes Sam, wie folgt zum Ausdruck: „Amerika ist ein Vaterland, aber ein

tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist

hier Tod.“300

Es zeigt sich, dass der Traum Amerikas sich in einen Albtraum, der

Realität geworden ist, umgewandelt hat. Mendel macht Amerika für den Tod seines

Sohnes verantwortlich, dessen vorbehaltslose Amerikabegeisterung ihn in den Krieg

geführt hat. Die Aussage fungiert als Reaktion auf eine frühere Aussage, die zur

Argumentation der Teilnahme Sams am amerikanischen Kriegs gedient hat: „Amerika

ist nicht Rußland. Amerika ist ein Vaterland.“301

Sam/Schemerjah hat in Russland

immer auf der Meinung beharrt hat, er wolle Kaufmann und kein Soldat werden und

stand mit diesem Lebensziel seinem Bruder Jonas gegenüber:

‹Ich [Schemerjah] könnte ein Kaufmann werden und in die Welt gehen!›, ‹Die

Soldaten sind auch Welt, und ich kann kein Kaufmann sein›, meinte Jonas. […]

Ich kann ein Soldat sein und die Welt sehn. Ich möchte ein Bauer sein. Das sag'

ich dir - und ich bin nicht betrunken...›.302

Aus der Formulierung Schemerjahs hinsichtlich der geplanten Kriegsteilnahme geht

hervor, dass sein früherer Widerstand gegen das Soldatenleben in Amerika nicht mehr

gilt. Jonas gibt zu erkennen, dass – trotz seines Wunsches, Bauer zu werden – das 298

Bronsen, David: „Vorwort des Herausgebers: Joseph Roth und die Tradition“. In: Joseph Roth und die

Tradition. Hg. v. David Bronsen. Darmstadt: Agora 1975 , S. XIV. 299

Sidney Rosenfeld: „Glaube und Heimat im Bild des Raumes“ in: The Journal of English and

Germanic Philology 66:4 (Oktober 1967), S. 496. 300

Roth: Hiob, S. 154. 301

Roth: Hiob, S. 146. 302

Roth: Hiob, S. 37-38.

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65

Leben als Soldat ihm die einzige Möglichkeit verschafft, in die Welt zu gehen.

Schemerjah aber war es mit dem Umzug nach Amerika schon gelungen, in die Welt zu

gehen. Was bringt ihn jetzt so weit, noch mal in die Welt zu gehen? Nach Mendel hat

Amerika Schuld. Ich aber glaube, dass die Antwort komplexer ist, und in diesem

Zusammenhang möchte ich das Spiel der Oppositionen in den zitierten Textabschnitten

unterstreichen. Zuerst scheint die Entscheidung der Brüder, Soldat zu werden, mehrere

Oppositionen aufzuheben. Wenn Jonas anfangs sagt, er möchte Bauer werden, bringt

diese Entscheidung die Konnotationen ᾽Sesshaftigkeit᾽, ᾽Verwurzelung᾽ und ᾽Heim᾽ mit

sich. Obwohl das Leben als Soldat der Lebensweise der Bauern gegenübersteht, glaubt

Jonas, er könne beide vereinen. So scheint er Heim und Welt zusammenzubringen.

Auch die Opposition zwischen Kaufmann und Soldat, die den Bruch zwischen den

Brüdern kennzeichnet, löst sich auf, wenn Schemerjah in Amerika beide Berufe

ausführt. Es scheint mir aber fragwürdig zu sein, dass die Absicht des Textes darin

besteht, anhand der Entscheidung der Brüder – und die soeben illustrierte Aufhebung

der Oppositionen – zu begründen, dass das Leben als Soldat der richtige Weg ist, um in

die Welt zu gehen. Das Soldatenleben hebt keinesfalls alle Oppositionen auf. Der Soldat

bevorzugt nicht das eigene Ideal, sondern bekämpft lieber dasjenige, das dem eigenen

Ideal gegenübersteht. Insoweit findet anhand der Entscheidung der Brüder, Soldat zu

werden, nicht eine Annäherung zwischen Heim und Welt statt, sondern wird erneut die

gesteigerte Spannung zwischen Heim und Welt thematisiert. Um diese These zu

belegen, greife ich auf die oben schon erwähnten Zitate, die Amerika als Vaterland

unterschiedlich ausdrücken, zurück: „Amerika ist nicht Rußland. Amerika ist ein

Vaterland.“ Diese Textstelle lässt deutlich erkennen, dass die Argumentation

Schemerjahs, in den Krieg zu gehen, auf einer Opposition basiert, die ihre Kraft nur aus

der Gegenüberstellung holt. Die Aussage sagt nicht viel mehr, als dass Russland für

Schemerjah kein Vaterland ist. Die Beschreibung Amerikas anhand der Opposition

kommt auch im folgenden Zitat zum Ausdruck: „Amerika ist ein Vaterland, aber ein

tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier Nacht. Was bei uns Leben war, ist

hier Tod.“ Es zeigt sich, dass Amerika erst durch die Gegenüberstellung „bei uns“ seine

Bedeutung bekommt. Auffallend ist, dass statt Russland „bei uns“ die Opposition zu

Amerika bildet. Diese Beobachtung gibt Anlass dazu, die Räume Amerika und

Russland in einem allgemeinen Rahmen zu interpretieren: Amerika ist das Andere,

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während „bei uns“ auf das Eigene zielt. Das Andere verstehe ich als die Welt und das

Eigene als das Heim. Wo Bronsen und Rosenfeld die Darstellung Amerikas unmittelbar

– und nur – mit der problematisierten ostjüdischen Tradition verbinden, legt meine

Analyse eine allgemeine Spannung zwischen Heim und Welt frei. Aus dem

Perspektivenwechsel zwischen Mendel und Schemerjah, Jonas und Schemerjah und

dem Spiel mit Oppositionen, wird zwar die Spannung zwischen Heim und Welt

thematisiert, jedoch nicht gelöst. Die Wirkung der Opposition Tag/Nacht und

Leben/Tod soll in dieser Hinsicht Vieles aufklären (cf. infra 4.4.1.).

So lässt sich festhalten, dass Roths Romane hinsichtlich Amerika nicht die

Absicht haben, messianische Hoffnungen freizusetzen, sondern im Gegenteil, diese

Hoffnungen zu entlarven. Zwonimir radikalisiert in Hotel Savoy den Mythos Amerika

so stark, dass von Anfang an deutlich wird, dass dieses Land nicht existieren kann. Hiob

dekonstruiert den Mythos Amerika anhand ihrer Gegenüberstellung mit einem anderen

Mythos, Russland, der durch die unmittelbare Konfrontation ebenfalls entlarvt wird.

Amerika wird erst das Vaterland, wenn Russland das nicht mehr ist, und umgekehrt. Es

hat sich gezeigt, dass diese Räume die Spannung zwischen Heim und Welt, nicht die

Spannung zwischen Wunder und Realität, veranschaulichen. Ich bin aber davon

überzeugt, dass andere Räume bei Roth schon messianische Hoffnungen freisetzen.

Dies wird eine Analyse der Gasthäuser darlegen.

4.3.3.2. Mythos und Realität im Gasthaus

4.3.3.2.1. Die Rolle des Spiegels

Roth hebt die mythischen Anspielungen im Bereich der Gasthäuser bewusst hervor und

hegt sie auch: das werde ich in diesem Kapitel mit Argumenten belegen. Zuerst aber

werde ich zeigen, wie der Spiegel im Gasthaus an sich schon die Spannung zwischen

Mythos und Realität heraufbeschwört. Als Anlass zu dieser Behauptung dient Foucault,

der den Spiegel zwischen Utopie und Heterotopie situiert:

Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den

ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit

dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht,

da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist. 303

303

Foucault: Andere Räume, S. 39.

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Amthor geht davon aus, dass der Spiegel in Roths Werken eine wesentliche Bedeutung

hat, die sie auf zweierlei Weise versteht. Erstens analysiert sie den Spiegel im Werk

Das Wartezimmer und gelangt zur Schlussfolgerung, dass Roth anhand der

Beschreibung des Spiegels Kritik an dem Vorzimmer übt, das er als Machtbestätigung

der Reichen sieht.304

Zweitens hat nach Amthor der Spiegel die Funktion einer

„Vervielfachung von Raum und Körper“.305

Amthor, die in Bezug auf das Hotel Savoy

die Polyphonie der Räume hervorhebt, vernachlässigt aber, die Funktion des Spiegels in

anderen Gasthäusern zu untersuchen. Dies scheint mir aber notwendig zu sein.

So deckt der Spiegel die Dynamik der Beziehungen zwischen Roths Figuren in

den Gasthäusern auf. Das folgende Zitat zeigt, wie Stasia, in die Gabriel Dan sich

verliebt, ihre Beziehung zu Männern über den Spiegel erlebt: „Vor dem Spiegel

entdeckt sie einen Blumenstrauß, Nelken und Sommerblumen. ‹Die Blumen sind von

Alexander Böhlaug›, sagt sie, ‹aber ich schicke niemals Blumen zurück. Was können

sie dafür?›“306

Der Spiegel macht in diesem Textabschnitt die Distanz zwischen

Alexander und Stasia deutlich, denn sie nimmt sein Geschenk nicht real, sondern nur

über einen virtuellen Punkt wahr. Interessant ist, dass sich Stasia im Moment der

Wahrnehmung bei Gabriel Dan befindet, der zu dieser Zeit eine echte – aber

unausgesprochene – Beziehung zu ihr hat. Das Dreiecksverhältnis, das der Spiegel

inszeniert, wird sich am Ende der Geschichte aber anders als erwartet herausstellen. Die

echten Gefühle von Stasia und Gabriel Dan füreinander, die sowohl aus der Handlung

Stasias als auch aus der Träumerei Gabriel Dans hervorgehen, werden nie

ausgesprochen. Stasia fängt schließlich eine lieblose Beziehung mit seinem reichen

Vetter, Alexander Böhlaug, an.307

Folgendes Zitat bestätigt die Idee, dass der Spiegel im

Hotel Savoy distanzierend wirkt:

304

Amthor: An den Toren Europas, S. 124-125. 305

Amthor: An den Toren Europas, S.128; Amthor belegt ihre These mit folgendem Zitat: “Von allen

Wänden strahlten breite Spiegel die verschwenderischen Reihen der Lämpchen an der Saaldecke wider,

machten zwanzig Räume aus einem Raum, verhundertfachten die Tänzerinnen.“ (Joseph Roth: „Der

Stumme Prophet”. In: Joseph Roth Werke 4. Romane und Erzählungen 1916-1929. Hg. und mit einem

Nachwort v. Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 918.) 306

Roth: Hotel Savoy, S. 817. 307

Roth: Hotel Savoy, S. 880.

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Ich muß Santschin ein Glas Wasser geben; er befeuchtet sein Gesicht, zieht

einen Taschenspiegel aus der Hose, hält ihn vor sich in der Linken, verzieht den

Mund, streckt die Zunge hinter die rechte Backe, daß sich die Haut strafft, und

rasiert sich ohne Seife. Er kratzt sich nur einmal – ‹weil Sie mir zusehn›, sagt er,

und ich sehe beschämt in irgendeine Ecke.308

Aus dem Textabschnitt geht hervor, dass Santschin, der durch seinen Beruf als Clown

gewohnt ist, eine Maske aufzusetzen, es auch im sogenannten realen Leben bevorzugt,

sein Ich nicht zu enthüllen. Wenn er sich im Spiegel anschaut und sich damit seiner

Identität versichert, will er nicht, dass Gabriel Dan mitschaut. Dadurch, dass Gabriel

Dan „in irgendeine Ecke“ wegschaut und so auf die Grenzen des Raums stößt, wird das

Räumliche im Textabschnitt hervorgehoben. So lässt sich auch vermuten, dass

Santschin, wenn er in den Spiegel sieht, nicht nur den Blick auf sich selbst, sondern

auch auf den Raum, in dem er sich befindet, richtet. Die Beschreibung des Korridors

neben Santschins Zimmer, früher im Text, bestätigt diesen Gedankengang:

Hier ist der Plafond abschüssig und hängt so tief, daß man fürchtet, gegen ihn zu

stoßen. In Wirklichkeit aber erreicht man ihn noch lange nicht – er scheint nur so

bedrohlich. Überhaupt verringern sich in dieser Ecke alle Dimensionen, das

kommt von dem grauen Dunst der Waschküche, der die Augen betäubt,

Distanzen verkleinert, die Mauer anschwellen läßt […] [a]uch in Santschins

Zimmer ist Dunst [...].309

Die Raumbeschreibung erzeugt eine Spannung zwischen Mythos und Realität. Es zeigt

sich, wie schwierig man sich in Santschins Zimmer und Umgebung orientieren kann.

Wenn Santschin sich im Spiegel anschaut, um sich zu orientieren, sieht er sich aber –

Im Sinne Foucaults Definition der Utopie Spiegel – nicht, wo er wirklich ist. Die

Tatsache, dass Santschin ein Sterbender ist, verstärkt die Spannung zwischen Sein und

Nichtsein. Der Spiegel hebt nicht nur ein Orientierungsproblem, sondern, wie sich bei

Stasia und Santschin herausstellt, auch ein Verbindungsproblem hervor, denn im Hotel

Savoy entstehen keine richtigen Beziehungen. In dieser Hinsicht ergibt sich das Hotel

Savoy als ein unwirklicher Raum.

In Tarabas fungiert der Spiegel ebenfalls als Mittel der Selbstidentifikation. Es

wird sich jedoch zeigen, dass der Spiegel mehr als in Hotel Savoy auf Realität abhebt.

Folgendes Zitat zeigt eine Dekonstruktion des mythischen Herrschers Tarabas anhand

des Spiegels:

308

Roth: Hotel Savoy, S. 826. 309

Roth: Hotel Savoy, S. 811-812.

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Er fühlte sich stark. Er war munter. Er rief nach seinem Burschen, streckte die

Beine aus, ließ sich, während er den Tee trank, die Stiefel putzen, biß in ein

mächtiges Butterbrot, verlangte zu gleicher Zeit nach einem Spiegel, den der

Jude Kristianpoller von der Wand nahm, an den Tisch brachte und vor Tarabas

hinhielt. ‹Rasieren!› befahl Tarabas.310

Die Dekonstruktion vollzieht sich in zwei Schritten. Obwohl Tarabas sich stark fühlt,

braucht er offensichtlich doch eine Selbstidentifikation, denn er verlangt nach einem

Spiegel. Es ist Kristianpoller, der ihm letztlich den Spiegel vorhält. Aus dieser

Handlung geht hervor, dass – trotz der Befehle Tarabas‘ – Kristianpoller der Stärkere

sein wird: Jetzt befindet dieser sich in der Lage, jenem zu zeigen, wer er wirklich ist:

ein Gast in „Zum weißen Adler“; „[e]in Gast auf dieser Erde.“ Somit hat sich das

Verhältnis zwischen Tarabas und Kristianpoller umgedreht.

Dass der Spiegel gleichzeitig Realität und Mythos heraufbeschwört, zeigt sich in

Hiob am Deutlichsten, als Mendel Singer das Astor Hotel betritt: „Er stieg in den Lift

und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die Augen, denn er fühlte sich

schwindlig werden. Er war schon gestorben, er schwebte in den Himmel, es nahm kein

Ende.“311

Wie wunderbar für Mendel Singer die Anwesenheit des Sohnes ist, wird

dadurch unterstrichen, dass er Menuchim nicht direkt anblickt, sondern sich selbst und

seinen Sohn in einem unwirklichen Raum sieht. Die Polyphonie der Räume wird meiner

Meinung nach in dieser Aussage nicht nur anhand des Spiegels hervorgerufen. Zuerst

führt der Lift, den Amthor treffend als „eine vertikale Überwindung des Raums“312

umschreibt, beide Männer von der Hotelhalle in den Korridor. Zweitens weist der

Himmel auf die unendliche Weite des Raums hin. So ergibt sich die Polyphonie der

Räume als gemeinsamer Ausgangspunkt des Spiegels, des Liftes und des Himmels.

Daneben weist der Textabschnitt eine Tendenz zu Mythisierung auf: Mendel schließt

die Augen, fühlt sich schwindlig und schwebt. Obwohl man weiß, dass Mendel auf den

Weg zum Hotelzimmer ist, erscheint die Aussage so, als ob das Ziel noch unbekannt ist.

So wird an dieser Stelle deutlich, dass die Bewegung, die kein Ende nimmt, unmöglich

die Vergangenheit, sondern nur die Zukunft idealisieren kann.

310

Roth: Tarabas, S. 199. 311

Roth: Hiob, S. 210. 312

Amthor: An den Toren Europas, S. 122.

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4.3.3.2.2. Die Tendenz zu Erneuerung bei Ignatz/Kaleguropulos und dem Brand

Wie schon gesagt, stellt sich am Ende in Hotel Savoy heraus, dass Ignatz auch der

Hotelwirt ist und so die ganze Zeit wie ein Tyrann über das Hotel Savoy geherrscht hat.

Seine Funktion als Liftknabe, die eine vertikale Bewegung impliziert, sein Kontrollblick

und seine verheimlichte Macht als Wirt rufen den Vergleich mit Gott hervor. Der

Vergleich des Tyrannen mit einem Gott – obwohl er im Hotel Savoy nur implizit da ist

– beschwört eine alte griechische Tradition herauf. Plato und Euripides redeten in

diesem Zusammenhang von turannis isotheos: von gottähnlicher Gewaltherrschaft.313

Den Tod Ignatz‘ habe ich in dem Vorangehenden als eine Literarisierung des

mythologischen Motivs der Hybris gedeutet. Jedoch könnte sein Tod statt Strafe auch

auf Aufopferung zielen.

In den alten griechischen Städten war es ein Brauch, dass, wenn der normale

Gang des Lebens durch einen Umstand wie Pest oder Mangel an Landwirtschaft zerstört

wurde, zum Zweck der Reinigung der Stadt Pharmakoi – Männer und Frauen, meistens

aus der Unterschicht der Gesellschaft – zu opfern.314

Zudem fand in vielen griechischen

Städten jedes Jahr im Frühling das Ritual statt, der Gottheit Menschen als Opfer

darzubringen, um die Fruchtbarkeit zu erneuern.315

Nach Jean-Pierre Vernant besteht

die Ähnlichkeit zwischen dem Tyrannen und dem Pharmakos darin, dass beide für das

kollektive Wohlbefinden des Volkes verantwortlich sind.316

Vernant sieht die Rolle des

Tyrannen und des Pharmakos in der Figur des Oidipus Tyrannos vereint.317

Ignatz lässt

sich meines Erachtens ähnlich wie Oidipus analysieren, denn er ist sowohl gottähnlicher

Tyrannos als auch Pharmakos, der am Ende der Geschichte zusammen mit dem Hotel

Savoy geopfert werden muss, weil er – in seinem Versuch, die Hotelgäste an das Hotel

zu binden – die Weiterfahrt der Gäste gehindert hat. Der große Unterschied aber

zwischen Sophokles‘ Oidipus und Roths Ignatz liegt in der Tatsache, dass Oidipus

selber geblendet ist, während bei Roth der Zuschauer ahnungslos ist. Im Gegensatz zum

Zuschauer, der mit Abscheu die Vergötterung Oidipus‘ ansieht, erfährt der Held erst am

313

Jean-Pierre Vernant: „Ambiguity and Reversal: On the Enigmatic Structure of Oedipus Rex”.

Übersetzt v. Page duBois. In: New Literary History 9:3 (1978), S. 486. 314

Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 486 – 487. 315

Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 487. 316

Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 489. 317

Vernant: Ambiguity and Reversal, S. 492.

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Ende der Tragödie, was er auf dem Kerbholz hat. In Hotel Savoy dagegen müssen die

anderen Figuren und gerade der Leser bis Ende darauf warten, dass Ignatz sich in seiner

wahren Gestalt zeigt. Obwohl sowohl Oidipus als auch Ignatz unterschiedliche

Verbrechertypen sind – denn Oidipus hat immer geglaubt, gerecht zu handeln, während

Ignatz genau das Gegenteil gemacht hat – glaube ich jedoch, dass beide Figuren

fundamental ambivalent sind: Sie sind sowohl Held als auch Antiheld.

Die späte Offenbarung Ignatz‘ bringt weniger die Feststellung mit sich, dass

Ignatz schlecht sei, sondern vielmehr folgende Frage: Welche ist jetzt die wahre Gestalt

Ignatz‘? Ist er Hotelwirt, Liftknabe, Pharmakos, Tyrannos, gottähnlicher Held, der

Hybris schuldig ist, oder Gott selber? Die Frage wird nie gelöst. Die Figur

Ignatz/Kaleguropulos schwankt immer zwischen dem Kleinen und dem Großen. Im

Rahmen des Hotels ist sie klein als Ignatz und groß als Kaleguropulos. Wenn man die

Figur Kaleguropulos im Sinne Matthias‘ versteht, als Symbol der Anonymität, Distanz

und Macht des Kapitalismus318

, bedeutet ihr Alter Ego als Ignatz immerhin Bekanntheit,

Nähe und – in übertragenem Sinne – Macht des Gottes. Nichtig als Verbrechter, ist

Ignatz/Kaleguropulos, der zudem als Pharmakos geopfert wird, aber groß als Herrscher,

der so mächtig ist, dass er seine Macht bis das Ende der Geschichte verstecken kann.

Wird Ignatz gerade deshalb von Gott gestraft, weil er mit dem Lift symbolisch zu hoch

gefahren ist, und symbolisiert er infolgedessen die Kleinheit des Menschen? Oder

unterstreicht die Offenbarung am Ende der Geschichte gerade die göttliche Kraft

Ignatz‘, die sich vor allem in seiner Ähnlichkeit mit Christus manifestiert? Die

Offenbarung ist nur eine von vielen Parallelen, die sich zwischen Ignatz und Christus

zeigt. Sowohl Ignatz als auch Christus sind zugleich Mensch und Gott. Klein sind sie,

weil sie sich selber nicht retten können, groß, weil sie sich selber nicht retten wollen –

„‹Kommen Sie doch herunter›, ruft der Direktor“319

–, denn Gott hat größere Pläne mit

ihnen. Obwohl Roth Ignatz‘ Beziehung zu Christus nie explizit macht, bin ich davon

überzeugt, dass Ignatz genau wie Christus, messianische Hoffnungen freisetzt. Diese

These werde ich im Folgenden belegen.

Ich habe bereits dargelegt, dass Roth verschiedene Strategien, wie die

Entzündung des Hotels Savoy, benützt, damit das Hotel nicht zum Dauerdomizil wird.

An dieser Stelle greife ich wieder die Frage nach der symbolischen Tat des Ansteckens

318

Matthias: The hotel as setting, S. 130. 319

Roth: Hotel Savoy, S. 888.

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auf. Die Antwort lässt sich im Rahmen alter Traditionen vorfinden. Die Methode in der

Landwirtschaft, Acker zu verbrennen, damit sie fruchtbar werden, ist weit verbreitet.

Die Idee, dass man etwas kaputt machen muss, damit Leben entsteht, hat sich in der

griechischen Tradition gezeigt bei dem Opfer der Pharmakoi und bei den

Frühlingsfesten. Im Rahmen der Frühlingsrituale gilt Fruchtbarkeit als Synonym für

Erneuerung. Ich bin der Ansicht, dass Roth mit dem Brand des Hotels auf den Kult der

Erneuerung anspielt, und zwar, weil christliche Tradition und griechische Mythologie in

diesem Bereich unmittelbar miteinander verbunden sind. Die christliche Tradition hat

das griechische Frühlingsfest und die Idee der Erneuerung übernommen und auf Ostern

projiziert, was sich beim Tod Christi zeigt, der jährlich gewürdigt wird. Wenn Ignatz –

trotz seiner Ähnlichkeit mit Oidipus – Parallelen mit Christus aufzeigt und der

zerstörende Brand des Hotels Savoy als Erneuerungsritual zu verstehen ist, stellt sich

nicht nur heraus, dass die Figur Ignatz und der Brand im Hotel Savoy als Synkretismus

gelten, sondern auch dass die Auswirkung Ignatz‘ und des Brandes insofern dieselbe ist,

als sie beide messianische Hoffnungen freisetzen.

Man muss sich an diesem Punkt die Frage stellen, inwieweit der Brand in

Tarabas ebenfalls als Erneuerungsritual zu verstehen ist. Die Situation nach dem Brand

und der Schlächterei wird wie folgt beschrieben: „Von den wenigen unversehrt

gebliebenen Häusern Koroptas enthielt nur eines noch lebendige Bewohner: der Gasthof

‹Zum Weißen Adler›; der Gasthof des verschwundenen Juden Kristianpoller […]

Bauern und Juden lagen nebeneinander.“320

Zuerst fällt auf, dass der Gasthof

märchenhaft beschrieben wird, weil jede Nuance fehlt. Dass der Gasthof noch aufrecht

steht, grenzt an ein Wunder. Der Gasthof, der sich bereits auf eine alte Tradition stützt,

bekommt in dieser Aussage einen Ewigkeitsgehalt, der zusammen mit dem

Wunderbaren die Bedingung für eine mythische Ordnung des Gasthofs ist. Aber genau

wenn der Leser glaubt, dass der Gasthof das Verhältnis zur Wirklichkeit verliert, fügt

Roth lakonisch hinzu „[e]s war also wirklich wahr.“321

Aus dieser Beobachtung folgt,

dass Roth den Gasthof bewusst zwischen Realität und Mythos schwanken lässt. Die

Frage stellt sich aber, wieso das Hotel Savoy zerstört wird, während der Gasthof „Zum

weißen Adler“ sich als unzerstörbar erweist? Es hat sich bereits gezeigt, dass das Hotel

Savoy stärker seine Funktion als Durchgangsort unterminiert als der Gasthof „Zum

320

Roth: Tarabas, S. 221. 321

Roth: Tarabas, S. 221.

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weißen Adler“. Die mehrfache Metamorphose des Gasthofs dagegen verhindert einen

möglichen Stillstand des Ortes und bringt somit eine fortwährende Erneuerung mit sich.

Demzufolge glaube ich, dass die Funktion des Brandes darin liegt, dem Glaubenskampf

in Koropta ein Ende zu bereiten. Der Gasthof muss aber erspart werden, denn er setzt

folgende messianische Hoffnung frei: „Bauern und Juden lagen nebeneinander.“ Dieses

Zitat belegt meines Erachtens exquisit die These Eggers, dass Roth in Tarabas einen

Vereinigungsgedanken literarisiere: „Damit ist hier eine religiöse Utopie literarisch

integriert, die ein Miteinander von Juden und Christen unter Ausschluß der

theologischen Differenzen anstrebt“.322

Es wird sich aber zeigen, dass Roths

messianische Hoffnung, die er anhand des Gasthofs ausdrückt, tiefer geht als nur der

Wunsch eines friedlichen Miteinanderlebens.

Die Heimkehrer in Hotel Savoy können nach dem Tod Ignatz‘ und dem Brand

endlich ihre Reise weiterführen. Aber wozu? Roths Heimkehrer haben im Gegensatz zu

Odysseus, der immer ein festes Ziel, Ithaka, verfolgt hat, Angst und Zweifel

heimzukehren. Die Frage nach dem Wozu stellt sich auch Tarabas, nachdem er

Ordnung in Koropta geschaffen hat: „Wohin aber, gewaltiger Tarabas?! Gab’s noch

Amerika? Gab es noch das väterliche Heim? Wo war man zu Hause? Gab es noch

irgendwie Krieg?“323

Diese Aussage bringt drei mögliche Bewegungen, deren Erfolg

sich als fragwürdig gezeigt hat, zum Ausdruck. Es geht um den Umzug nach Amerika,

die Heimkehr und das In-die-Welt-gehen als Soldat. Trotz der Ablehnung dieser

Bewegungen hört das Gasthaus nie auf, die Figuren vorwärts zu treiben. Wohin Roth

seine Figuren genau schickt, werde ich später beantworten. Festzuhalten an dieser Stelle

ist, dass die Gasthäuser immer wieder die Frage nach dem Wozu stellen. Sie erweisen

sich als Orte, deren mythischer Gehalt immerfort betont wird. Die Darstellung der

Gasthäuser zielt nicht auf Entzauberung, sondern hat gerade die Absicht, messianische

Hoffnungen zu nähren. Gerade durch die Mythisierung der Gasthäuser und folglich

auch der vorwärtsstrebenden Bewegung wird deutlich, dass Roth eine andere Bewegung

hervorruft, die alles andere ist als eine Bewegung in die Heimat, in den Krieg und nach

Amerika, die nicht als Ziel, sondern als Resultat der Zwecklosigkeit der Rothschen

Figuren entlarvt wird.

322

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 127. 323

Roth: Tarabas, S. 223.

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4.4. Leben vs. Tod

4.4.1. Heimat vs. Leben und Tod in Hiob

Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass Roth mit den Begriffen ᾽heimisch᾽, ᾽Heim᾽

und ᾽Heimat᾽ in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Konnotationen ‒

Territorium, Identität, die Familie, Geborgenheit, Vertrautheit, usw. ‒ hervorruft, wobei

häufig Ironie einschleicht. Es wird sich aber zeigen, dass Roth in seinen Romanen noch

eine Konnotation zum Ausdruck bringt. So steht Heimat häufig mit der Spannung

zwischen Leben und Tod in Verbindung. Diese Beobachtung ist meines Erachtens von

großer Bedeutung, denn mit der Hervorhebung der Spannung zwischen Leben und Tod

weicht Roth von den traditionellen Konnotationen von Heimat ab. Diese Spannung habe

ich in dem Vorangehenden schon kurz anhand des folgenden Zitats aus Hiob dargelegt:

„Amerika ist ein Vaterland, aber ein tödliches Vaterland. Was bei uns Tag war, ist hier

Nacht. Was bei uns Leben war, ist hier Tod.“324

Bei der Analyse dieses Zitats und

anderer Zitate, die eine Gegenüberstellung von Russland und Amerika ausdrücken, hat

sich herausgestellt, dass die Ablehnung des Einen die Idealisierung des Anderen mit

sich bringt und umgekehrt. Der Fokus der Idealisierung der Heimat wurde somit

entlarvt. Auffallend ist, dass die Elemente – Tag, Nacht, Leben, Tod –, die Mendel

beiden einander gegenüberstehenden Vaterländern zuschreibt, aus ein und derselben

Instanz hervorgehen: Gott. Nach der Schöpfungsgeschichte habe Gott am ersten Tag

Licht und Dunkel getrennt, die er Tag bzw. Nacht genannt hat.325

Das Lexikon für

Theologie und Kirche bestimmt als allgemeine Parallele zwischen den verschiedenen

Religionen der Menschheit, „daß der Tod nicht die absolute Grenze, sondern Übergang

in ein Leben danach ist.“326

Obwohl diese Behauptung vielleicht eine

Übergeneralisierung sei, behält sie jedoch in Bezug auf vorliegende Arbeit ihren Wert,

da sie deutlich macht, wie wesentlich es für den Menschen ist, keine radikale Grenzen

zwischen Leben und Tod ziehen zu müssen. Eine Verschmelzung von Leben und Tod

lässt sich am Deutlichsten im Christentum erkennen, insofern die Christusfigur beides

324

Roth: Hiob, S. 154. 325

vgl. Genesis 1,3. 326

Horst Bürkle: „Bestattung“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band II. Hg. v. Walter Kasper u.a.

Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 321.

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verkörpert.327

So ergibt sich, dass die Oppositionen zwischen Tag und Nacht und

zwischen Leben und Tod einerseits eine Radikalisierung der Opposition von Amerika

und Russland zum Zweck haben, andererseits im Bereich der Religion für eine

Aufhebung der Opposition stehen. An dieser Stelle wird deutlich, dass zur Lösung der

Frage nach dem richtigen Vaterland eine religiöse Orientierung förderlich ist.

Ein wenig nach dem obigen Zitat lässt sich folgendes Zitat vorfinden, das

ebenfalls Heimat und Religion verbindet: „Es war, als hätte er soeben erst die Heimat

verloren und in ihr Menuchim, den treuesten aller Toten, den weitesten aller Toten, den

nächsten aller Toten. Wären wir dort geblieben – dachte Mendel, – gar nichts wäre

geschehen!“328

Aus diesem Zitat geht hervor, dass erst der Tod der Familienmitglieder

für Mendel den richtigen Verlust der Heimat bedeutet. So wird deutlich, dass seine

Familie als Ersatz für das verlorene Russland gedient hat. Es zeigt sich aber auch, dass

Mendel Menuchim durch die unmittelbare Verbindung mit der verlorenen Heimat

selber zum Toten macht. Es wurde schon gesagt, dass Menuchim in Hiob als die Figur

fungiert, die am Stärksten die Spannung zwischen Heimat auf der einen Seite und

Leben und Tod auf der anderen Seite hervorhebt, denn er bedeutet für Mendel die

Personifikation Russlands und ergibt sich als Messias, der sich aus dem Reich des

Todes herausoffenbart und Heil bringt. Anhand der Figur Menuchim literarisiert Roth

die zweideutige Interpretation des Messiaskonzeptes im Judentum, wobei der Messias

einerseits als Nachkomme Davids für die politische Hoffnung auf einen idealen

Judenstaat steht und andererseits als göttliche Sendung von Friedensliebe und

Gerechtigkeit fungiert.329

Da Mendel den Totgeglaubten sowohl fern als auch nah

empfindet, wird die Offenbarung Menuchims vorweggenommen. Jedoch scheint

Erlösung für Mendel unmöglich zu sein, denn durch den Tod der Heimat, mit der er

Menuchim unmittelbar verbindet, ist auch die Auferstehung Menuchims

ausgeschlossen. Gott wird für Mendel eine Instanz, die nicht zwischen Leben und Tod

vermittelt, sondern den Tod radikal vom Leben abgrenzt: „Er kann mich nur noch töten,

aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben.“330

Mendels Trennung von

327

Art.: „Tod“. In: Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hg. v. der Lexikonredaktion des

Verlags F.A. Brockhaus. Leipzig: Mannheim 2004, S. 644. 328

Roth: Hiob, S. 158. 329

Louis Jacobs: „Messiah“. In: Encyclopaedia Judaica. Hg. v. Michael Berenbaum and Fred Skolnik. 2.

Ausgabe. Band XIV. Detroit: Macmillan Reference USA 2007, S. 115. 330

Roth: Hiob, S. 168.

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Tod und Leben erweist sich im Roman als grundsätzlich falsch, denn Menuchim

offenbart sich schließlich als Lebender. Somit zeigt Roth, dass Mendel mit der

Orientierung an der Heimat einen Irrweg eingeschlagen hat, und öffnet den Weg für

eine Orientierung an Gott.

4.4.2. Das Grab

Das Grab beschwört die Verbindung von Leben und Tod in zweifacher Weise herauf.

Wenn „der Tod nicht die absolute Grenze, sondern Übergang in ein Leben danach ist“,

fungiert das Grab im religiösen Sinne als Übergangsort. Andererseits fungiert es auch

als Mittel zur Erinnerung des lebenden Menschen an den Toten. Aus den beiden

Funktionen geht hervor, dass das Grab ein dynamischer Ort ist. Jedoch kann man nicht

an der Tatsache vorbei, dass das Grab an einem bestimmten Ort gegründet und in ihm

verwurzelt ist. Nach dem Lexikon für Theologie und Kirche entsprach das Grab in der

Antike als „domus aeterna […] der üblichen volkstümlichen Meinung.“331

Diese

Bedeutung des Grabes hat sich im Judentum durchgesetzt, insofern das Grab als ein

„Haus der Ewigkeit“332

konzeptualisiert wird. In der jüdischen Tradition repräsentiert

das Grab nach dem Tode eines Menschen dessen „physische Präsenz“.333

Obwohl im

Christentum der Körper eines Menschen, wie schlechthin bei Christus, bleibende

Aufmerksamkeit erfährt, ist das Grab weniger als ein ewiger Ort konnotiert, sondern

vielmehr als ein „Aufenthaltsort bis zur allgemeinen Auferstehung.“334

Wenn das Grab

genau wie das Gasthaus gleichzeitig für Dynamik und Verwurzelung steht, kann eine

Analyse des Grabes in den Werken Roths nicht unterbleiben. Die unterschiedlichen

Nuancen des Grabes, die ich soeben in Bezug auf das Judentum und das Christentum

dargelegt habe, scheinen mir als Hintergrund für die Analyse notwendig zu sein. Ich

habe aber nicht die Absicht zu bestimmen, ob Roths Darstellung des Grabes jetzt der

christlichen oder jüdischen Tradition folgt, denn es hat sich gezeigt, dass Roth häufig

331

Wilhelm M. Gessel: „Grab. I. Antike“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band II. Hg. von Walter

Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 967. 332

Raffel: Vertraute Fremde, S. 133. 333

Karl Erich Grözinger in Die Totenruhe im Judentum (1993) zitiert nach Raffel: Vertraute Fremde, S.

133. 334

Wilhelm M. Gessel: Grab. I. Antike, S. 967.

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christliche und jüdische Elemente mischt und sogar nach der Vereinigung beider

Religionen strebt.

Dem Grab wird in Hotel Savoy eine besondere Bedeutung zugemessen, wenn

sich herausstellt, dass Bloomfield, der in Amerika ein Vermögen gemacht hat und

dessen Heimkehr zum Hotel Savoy ein zentrales Ereignis des Romans ist, den Besuch

des Grabes seines Vaters als Grund seiner Heimkehr bestimmt: „Ich bin ein Ostjude,

und wir haben überall dort unsere Heimat, wo wir unsere Toten haben.“335

Auf den

ersten Blick weist Bloomfields Besuch des Grabs auf eine rückwärtsgewandte

Bewegung in die Heimat hin, die sich auf Verwurzelung stützt. Gegen diesen Gedanken

kann man aber einige Argumente einwenden. So ist die Tatsache, dass Bloomfield

explizit erwähnt, dass er ein Ostjude ist, in zweierlei Hinsicht interessant. Einerseits

lässt sich das Grab im jüdischen Sinne als „Haus der Ewigkeit“ verstehen, wobei es

sowohl Verwurzelung durch das Haus als auch Zukunft durch die Ewigkeit impliziert.

Andererseits wird gerade die Verbindung von „Ostjude“ und „unsere Heimat“ als

Mythos entlarvt, denn nicht die ostjüdische Herkunft bestimmt die Heimat Bloomfields,

sondern die Tatsache, dass sein Vater dort begraben ist. So zeigt sich, dass das Grab für

Ewigkeit, aber nicht für Verwurzelung in der jüdischen Heimat steht. Folgendes Zitat

bestätigt diesen Gedanken: „Wenn mein Vater in Amerika gestorben wäre, ich könnte

ganz in Amerika zu Hause sein. Mein Sohn wird ein ganzer Amerikaner sein, denn ich

werde dort begraben werden.“336

Roth selber geht 1930 in einem Essay, in dem er das

Verhältnis des Juden mit dem Grab bespricht, auf die Beerdigung des Vaters durch den

Sohn im Judentum ein: „Wer seinen Vater in fremde Erde versenkt, der besitzt ein

Heimatrecht in der fremden Erde, mit der er durch seinen Vater verwachsen ist für alle

Zeiten.“337

Sowohl aus der Aussage Bloomfields als auch aus Roths Essay geht hervor,

dass das Heimatrecht nicht herkunftbedingt ist, sondern von dem Ort, an dem der Vater

beerdigt ist, abhängt und für ewige Zeiten gilt. Es stellt sich an dieser Stelle heraus, dass

die Beziehung von Leben und Tod sowohl über das Verlangen nach Heimat als auch

über die jüdische Existenz vorherrscht. Die Idee, dass die Verbindung von Leben und

Tod in Roths Romanen betont wird, sehe ich im folgenden Zitat bestätigt, in dem

335

Roth: Hotel Savoy, S. 876. 336

Roth: Hotel Savoy, S. 876. 337

Joseph Roth: „Die Scholle“. In. Joseph Roth Werke 3. Das journalistische Werk 1929-1939. Hg. und

mit einem Nachwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, S. 168.

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Gabriel Dan kurz nach der Aussage Bloomfields philosophisch bemerkt, dass „[d]as

Leben […] so sichtbar mit dem Tod zusammen[hängt] und der Lebendige mit seinen

Toten. Es ist kein Ende da, kein Abbruch – immer Fortsetzung und Anknüpfung.“338

Trotz der Bewertung der Toten erweist sich am Ende der Geschichte, dass Bloomfield

das Grab seines Vaters nicht mehr besuchen wird: „Er hat seinen toten Vater besucht, er

wird nie mehr in seine Heimat kommen. Er wird seine Sehnsucht unterdrücken, Henry

Bloomfield. Nicht alle Hindernisse kann das Geld aus dem Weg räumen.“339

Diese

Wendung ist meines Erachtens nicht als Betonung der vorwärtsstrebenden Bewegung

Bloomfields zu verstehen, sondern als Kritik an Amerika, wo man den Tod nicht

respektiert, sondern im Rahmen des Geldgewinnes eher über Leichen geht.

Wo der Besuch des Grabes in Hotel Savoy als zentrales Ereignis auftritt, erscheint

das Grab in Tarabas als textorganisierendes Mittel, denn das Leben Tarabas‘ ergibt sich

als eine lange Reise in das Grab. So fängt der Roman mit dem Untertitel „Ein Gast auf

dieser Erde“ an, den ich im Vorhergehenden als eine Tendenz zu Weltbürgerschaft

gedeutet habe, und endet der Roman mit demselben Satz, der jetzt als Grabinschrift

dient: „Oberst Tarabas, ein Gast auf dieser Erde.“340

Der zyklische Charakter dieses

Satzes deutet auf die Unvermeidlichkeit des Todes hin. Diesen Gedanken fasst

Kristianpoller am Ende der Geschichte wie folgt zusammen: „Am Ende jedes Lebens

steht der Tod. Wir wissen es alle.“341

Die Unvermeidlichkeit des Todes ist aber nicht

durch Determinismus und Pessimismus, sondern durch eine Relativierung des Todes

geprägt. So weist der Roman darauf hin, dass der Tod Tarabas‘ nicht das Ende ist. Die

Existenz Tarabas‘ ist dadurch gewährleistet, dass fremde Händler nach dem Tod sein

Grab besuchen und dass Kristianpoller den Händlern die wunderbare Geschichte

Tarabas‘ weitererzählt. Das Grab, das die „physische Präsenz“ Tarabas‘ hervorhebt,

dient somit als Katalysator für ein Gespräch zwischen dem Juden Kristianpoller und

seinen fremden Gästen über den katholischen Tarabas. Insoweit liegt der Vergleich mit

dem Christentum nahe, in dem der Körper des Christus immer noch in Erinnerung

gerufen wird, um seine weitere Existenz zu unterstreichen. Interessant ist, dass

Kristianpoller als frommer Jude einem Apostel ähnelt. Der implizite Vergleich geht

338

Roth: Hotel Savoy, S. 876. 339

Roth: Hotel Savoy, S. 886. 340

Roth: Tarabas, S. 284. 341

Roth: Tarabas, S. 285.

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nicht nur aus der Tatsache hervor, dass Kristianpoller Tarabas‘ Geschichte wachhält,

sondern auch aus dem Inhalt einer Frage, die ihm ein Gast stellt: „‹Und ihr Juden habt

keine Angst mehr?› fragt gelegentlich der Fremde.“342

Einerseits weist die Textstelle

auf die vergangene Schlächterei in Koropta hin, andererseits ruft sie auch die Angst der

Apostel vor der wunderbaren Geschichte Christus‘ in Erinnerung. Die Absicht der

Hervorrufung der christlichen Tradition liegt nicht darin, das Christentum über das

Judentum zu stellen, sondern dem Wunderbaren im Allgemeinen Aufmerksamkeit zu

schenken. Diese These lässt sich durch die Entdeckung Eggers‘ unterstützen, der

darlegt, dass der Untertitel des Romans oder die Grabinschrift eine Anspielung auf

einen Psalmvers ist: „Ein Gast bin ich auf Erden, verhehle mir nicht deine Gebote“.343

Der explizite Hinweis auf die Psalmliteratur bestätigt nicht nur die Idee, dass das

Christentum in Tarabas nicht bevorzugt wird, sondern vermittelt auch eine Botschaft

am Ende des Romans, die nach Eggers darin liegt, dass der Mensch während seines

Lebens die Gebote Gottes kennen lernen muss, sich aber immer dessen bewusst sein

soll, dass das Leben nur ein Aufenthalt ist: „ei[n] unendliche[r] Weg zu Gott.“344

4.4.3. Das Gasthaus als Übergangsort zwischen Leben und Tod

4.4.3.1. Der Liftknabe und der Fahrstuhl

Die Faszination für den Fahrstuhl und den Liftknaben ist ein allgemeines Motiv in der

Hotelliteratur des 20. Jahrhunderts.345

So hat sich erwiesen, dass Roth den Liftknaben

Ignatz nicht nur eine mächtige Position im Hotel Savoy zugemessen hat, sondern sogar

eine gottesähnliche Kraft. Die Idee, dass der Liftknabe eine außergewöhnliche Funktion

hat, veranschaulicht auch folgendes Zitat aus dem Hotelfeuilleton, wo Roth den

342

Roth: Tarabas, S. 284. 343

Psalm 119,19 zitiert nach Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 129. Ich habe

nicht herausfinden können, welche Version der Bibel Eggers konsultiert hat. Da Roth sicherlich mit der

Lutherbibel aus dem Jahre 1912 bekannt war und darin das Zitat wie folgt ausformuliert ist: „Ich bin ein

Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir.“ (Psalm 119,19. Übersetzt von Martin Luther. 1912.),

werde ich in der weiteren Arbeit die Übersetzung, wie sie sich in der Lutherbibel aus dem Jahre 1912

vorfindet, anwenden. 344

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 129. 345

Exemplarisch dazu sei diese Stelle aus Kafkas Der Verschollene: “Hätten sie z. B. Lust Liftjunge zu

werden? […] Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht besonders

leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. […]

Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen.“ (Franz Kafka: Der Verschollene.

Hg. v. Jost Schillemeit. Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1983, S. 172.)

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Liftknaben mit einem Engel vergleicht: „Der Liftboy nimmt meine Koffer unter seine

Arme. So dürfte ein Engel seine Flügel ausbreiten.“346

Die Beobachtung, dass der

Liftknabe bei Roth mit dem Übermenschlichen in Verbindung steht, werde ich im

folgenden Kapitel weiterführen, in dem ich beweisen werde, dass der Liftknabe und der

Fahrstuhl als Vermittler zwischen Leben und Tod fungieren.

Genau wie Mendel Singer fällt auch Gabriel Dan der Umgang mit dem Tod

schwer: „Nun fühlte ich, wie Haß in mir aufstieg gegen das Hotel Savoy, in dem die

einen lebten und die anderen starben“.347

Bereits vor dem Tod Santschins verdächtigt

Gabriel Ignatz, den Tod in das Hotel Savoy hineinzubringen: „‹Santschin wird wohl

sterben?› fragt Ignatz. In diesem Augenblick ist mir, als hätte der Tod die Gestalt des

alten Liftknaben angenommen und stünde nun hier und warte auf eine Seele.“348

Bemerkenswert ist, dass das Motiv der Offenbarung in dieser Textstelle umgedreht

wird. Nicht der Tote steht als Lebender auf, sondern der Lebende erscheint als Toter.

Die Umkehrung wirft die Frage auf, ob Ignatz, der Parallelen mit der Christusfigur

aufgezeigt hat, als Gegenbild zu Christus und insofern als ein Antichrist auftritt. Das

Lexikon für Theologie und Kirche definiert den Begriff ᾽Antichrist᾽ wie folgt:

Mit der Wortbildung ἀντίχριστός stellen die Johannesbriefe das Schlagwort

bereit, unter dem es fortan möglich sein wird, mythisches Material und

endzeitbezogene Stoffe aus (früh)jüdischen und (ur)christlichen Überlieferungen

aufzubieten, um im ‹apokalyptischen› Erwartungshorizont eine äußerste

Zuspitzung der Bosheit vor dem ‹Ende› – und damit die Beziehungslosigkeit

zwischen Geschichte und Erlösung – zur Sprache zu bringen.349

Wenn Ignatz die Rolle des Antichrist in Hotel Savoy zugewiesen wird, ist die

Verbrennung des Hotels apokalyptisch zu deuten. So könnte auch die Figur Ignatz, der

als Hotelwirt dem Kapitalismus dient, als eine Vorwegnahme des Antichrist aus dem

polemischen Traktat Der Antichrist fungieren, in dem die Moderne, Müller-Funk

zufolge, dämonisiert wird und somit „als eine äußerste Zuspitzung der Bosheit vor dem

‹Ende›“ dargestellt wird. Trotz der Tatsache, dass der Antichrist als Titel eines späteren

Werkes dienen wird und Ignatz‘ Charakter der Bosheit des Antichrist entspricht, muss

ich einschränkend bemerken, dass im Hotel Savoy zwar Ignatz und viele Heimkehrer

346

Roth: Panoptikum, S. 41. 347

Roth: Hotel Savoy, S. 832. 348

Roth: Hotel Savoy, S. 829. 349

Karlheinz Müller: „Antichrist I. Im AT, Frühjudentum und NT“. In: Lexikon für Theologie und Kirche.

Bd. I. Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 744.

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umkommen und das Hotel selbst zerstört wird, jedoch nicht die ganze Welt untergeht.

Darüber hinaus wird Ignatz keinesfalls eindeutig als Antichrist dargestellt, denn der

Roman deckt mit der späten Offenbarung des Liftknaben als Kaleguropulos bewusst die

doppelte Rolle der Figur auf. Demzufolge scheint mir die einzige Sicherheit hinsichtlich

der Figur Ignatz zu sein, dass er Leben und Tod verbindet: „Ignatz war wie ein

lebendiges Gesetz dieses Hauses, Tod und Liftknabe.“350

Da Ignatz die Rolle des

Vermittlers zwischen Leben und Tod schon langfristig ausfüllt, und er hinter Geld her

ist, zeichnet sich eine Parallele mit Charon ab, dem Fährmann aus der griechischen

Mythologie, der seit einer Ewigkeit die Toten gegen Bezahlung einer Kleinmünze über

das Meer der Vergessenheit in die Unterwelt führt. Daneben ist Charon, der, nach Der

Neue Pauly, als Todesgott bei Vergilius und Cicero gilt, bei den Etruskern allerdings als

Todesdämon dargestellt wird351

, genau wie Ignatz durch eine Ambivalenz in Bezug auf

das Göttliche geprägt. Darüber hinaus haben beide Figuren auffallende Augen. So ist

Charon ein „[p]oetisches Hypokoristikon zu χαροπός (charopós) ‹finsterblickend›“352

und waren die Augen ein prominentes Merkmal für Charons Vorstellung sowohl im

Kaiserreich als auch bei den Etruskern.353

Folgendes Zitat aus Hotel Savoy ist

exemplarisch für die Aufmerksamkeit, die Gabriel Dan den Augen Ignatz‘ schenkt: „Ich

trank einen Wodka und sah Ignatz an – war er der Tod, oder war er nur ein alter

Liftknabe? Was glotzte er mit seinen gelben Bieraugen?“354

Aus dem oxymoron „alter

Liftknabe“ geht hervor, dass Ignatz Jugend und Alter verkörpert und folglich in

übertragenem Sinne zwischen Leben und Tod schwankt.

Neben dem Liftknaben hebt der Fahrstuhl den Weg vom Leben zum Tod hervor. Dieser

Gedanke geht nicht nur aus der vertikalen Bewegung hervor, mit der der Fahrstuhl von

dem Erdgeschoss in die Höhe geht und umgekehrt, sondern auch aus der Erfahrung von

Gabriel Dan im Fahrstuhl, wobei der Gast den Bezug zur Realität verliert:

350

Hotel Sav Roth: Hotel Savoy, S. 832. 351

Paul Dräger: „Charon“. In: Der Neue Pauly. Hg. v. Hubert Cancik, Helmuth Schneider und Manfred

Landfester. Brill Online 2013 . http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/charon-

e231980 (abgerufen am 5. August 2013). 352

Paul Dräger: Charon (abgerufen am 5. August 2013) 353

Hans von Geisau: „Charon 1.” In: Der kleine Pauly : Lexikon der Antike. Bd. I. Hg. v. Konrat Ziegler

und Walther Sontheimer. Stuttgart: Alfred Druckenmüller 1964, S. 1138. 354

Roth: Hotel Savoy, S. 832.

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Ein Lift nimmt mich auf, Spiegel zieren seine Wände, der Liftboy, ein älterer

Mann, läßt das Drahtseil durch seine Fäuste gleiten, der Kasten hebt sich, ich

schwebe – und es kommt mir vor, als würde ich so noch eine geraume Weile in

die Höhe fliegen. Ich genieße das Schweben, berechne, wieviel Stufen ich

mühsam erklimmen müßte, wenn ich nicht in diesem Prachtlift säße, und werfe

Bitterkeit, Armut, Wanderung, Heimatlosigkeit, Hunger, Vergangenheit des

Bettlers hinunter –, tief, woher es mich, den Emporschwebenden, nimmermehr

erreichen kann.355

Zunächst ruft der Lift anhand des Spiegels an den Wänden und der Unendlichkeit der

Fahrt die Polyphonie der Räume hervor. Obwohl der Gast mit seinen Füßen auf dem

Liftboden steht, hat er das Gefühl, dass er fliegt und schwebt und nennt sich einen

„Emporschwebenden“. Der Gast entfernt sich im Fahrstuhl von der Realität und glaubt

diese Entfernung sogar festzuhalten, was der Wortgebrauch „nimmermehr“ impliziert.

In Hiob macht Roth die Verbindung zwischen Lift und Tod sogar explizit:

Er stieg in den Lift und sah sich im Spiegel neben seinem Sohn, er schloß die

Augen, denn er fühlte sich schwindlig werden. Er war schon gestorben, er

schwebte in den Himmel, es nahm kein Ende. Der Sohn faßte ihn bei der Hand,

der Lift hielt, Mendel ging auf einem lautlosen Teppich durch einen langen

Korridor. Er öffnete erst die Augen, als er im Zimmer stand.356

Bezug nehmend auf dieses Zitat, habe ich in dem Vorhergehenden dargestellt, dass

sowohl der Lift als auch der Spiegel und der Himmel die Polyphonie der Räume

hervorheben. Wenn erwähnt wird, dass Mendel „schon gestorben“ war, bekommt das

Zitat eine transzendentale Bedeutung, die die Polyphonie der Räume noch verstärkt. Die

Frage, die sich aber stellt, ist, ob Mendel im Fahrstuhl eine Todesfantasie erlebt, ob er

bereits gestorben ist oder ob „gestorben“ im übertragenen Sinne als Erlösung zu

verstehen ist. Diese Frage kann hier nicht beantwortet werden, weil Mythos und Realität

in der Hotelszene nicht mehr zu unterscheiden sind. Wenn Menuchim in der Rolle des

Sohnes Mendel an der Hand führt, in das Hotel begleitet und ihn auf einen Ausflug ans

Meer mitnimmt, könnten diese Handlungen auf der historisch-geschichtlichen Ebene

darauf hinweisen, dass Menuchim seinem alten Vater vor seinem Tod noch einige

ruhige Tage schenken möchte. Wenn Menuchim aber als Messias auftritt, sind seine

Handlungen im transzendentalen Sinne zu verstehen, wobei ᾽Messias᾽ im allgemeinen

Sinne nach dem Lexikon für Theologie und Kirche als „Aussicht auf ein endgültiges

355

Roth: Hotel Savoy, S. 800. 356

Roth: Hiob, S. 210-211.

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83

Heil“357

zu verstehen ist. Welche Interpretation an dieser Stelle auch vorliegt, es zeigt

sich, dass Mendel, der vor der Offenbarung Menuchims Tod und Leben radikal trennte,

sich im Hotel dem Tod angenähert hat, insoweit er sich jetzt entweder in Ruhe mit dem

Tod abfindet oder im Tod ruht. Jener Gedanke zeigt sich im folgenden Zitat: „Er selbst,

Mendel Singer, wird nach späten Jahren in den guten Tod eingehen, umringt von vielen

Enkeln und ‹satt am Leben›, wie es im ‹Hiob› geschrieben stand.“358

Das Zitat zeigt

nicht nur, dass Mendel den Tod, sondern auch das Leben akzeptiert, wobei auffällt, dass

Mendel sich wieder die Zukunft und nicht die Vergangenheit vor Augen hält. Der

Schlusssatz des Romans lässt offen, ob Mendel schon gestorben ist, nach einigen Jahren

sterben wird oder gerade in diesem Moment stirbt: „Und er ruhte aus von der Schwere

des Glücks und der Größe der Wunder.“359

Egal welche Interpretation an dieser Stelle

vorherrscht, deutlich wird, dass Mendel letztendlich erlöst ist.

Dass Roth gerne mit dem Stadium zwischen Leben und Tod spielt, zeigt sich im

folgenden Zitat aus Der Antichrist: „Und jedermann im Volke und jeder Gast des

Landes kann den Toten anschauen, der so aussieht wie ein schlafender Lebendiger.

Manche kindlichen Menschen glauben, er schlafe wirklich und ruhe sich nur vorläufig

aus.“360

Das Zitat ist im Kontext der Einbalsamierung von Lenins Leiche zu verstehen,

wobei das Volk versucht, seinen Helden so unversehrt wie möglich zu bewahren.361

Der

spielerische Unterton biegt aber in eine harte Kritik an dem Umgang mit dem Tod um,

wobei das Traktat dem Tod selber das Wort gibt: „Ihr aber lasst den Toten nicht

auferstehen: Ihr lasst seine Leiche dauern. […] Was tut Ihr so stolz gegen mich, den

Tod?“362

So zeigt sich auch in Der Antichrist ein Aufruf, den Übergang vom Leben in

den Tod zu schätzen.

Die Frage wirft sich aber auf, wie diese Beobachtung mit den Gasthäusern in

Beziehung steht. Obwohl der Ich-Erzähler in Der Antichrist während seiner Reise durch

die zerstörte moderne Welt manchmal in Gasthäusern übernachtet, wird das Gasthaus

nie wie in Panoptikum, Tarabas, Hotel Savoy und Hiob als zentraler Raum thematisiert.

357

Johan Bouman: „Messias I. Religionsgeschichtlich“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. VII.

Hg. v. Walter Kasper u.a. Freiburg im Breisgau: Herder 2006, S. 167. In diesem Kontext ist der

Unterschied zwischen dem Messiaskonzept im Christentum und im Judentum von nebensächlicher

Bedeutung. Daher habe ich an dieser Stelle nur den Grundgedanken zitiert. 358

Roth: Hiob, S. 215. 359

Roth: Hiob, S. 217. 360

Roth: Der Antichrist, S. 110. 361

Roth: Der Antichrist, S. 110. 362

Roth: Der Antichrist, S. 112.

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Der polemische Gehalt des Werkes schaltet die logische und genaue Raumerfahrung der

Figur aus. Nichtsdestoweniger weist der „Gast des Landes“ darauf hin, dass in Der

Antichrist das Gasthaus durch die Prinzipien von Gast und Wirt über das rein

Räumliche hinausgeht. Diese Idee werde ich im Folgenden weiter entwickeln.

4.4.3.2. Gast-Wirt-Metaphorik

Das Hotel hat sich bisher als ein Übergangsort erwiesen, wobei der Übergang anhand

des Fahrstuhls und des Liftknaben eine transzendentale Bedeutung bekommt. Diese

transzendentale Bedeutung lässt sich aber auch auf die Gasthäuser in Roths anderen

Werken übertragen, und zwar weil sich bei Roth eine Beziehung zwischen Gast und

Wirt beobachten lässt, die den Text organisiert und die ich die Gast-Wirt-Metaphorik

nennen werde.

Das vorhergehende Kapitel gibt den Anlass, diese Metaphorik zunächst in Der

Antichrist zu untersuchen, weil in diesem Werk das Gasthaus als Raum, in dem sich die

Handlung entwickelt und vorwärts treibt, nicht vorkommt. Jedoch wird der Ich-Erzähler

häufig als Gast bestimmt.363

Das folgende Zitat bringt die Begriffe ᾽Gast᾽ und ᾽Wirt᾽ in

Der Antichrist zu Sprache, wobei ein Jude – zu dieser Zeit in einer schwachen

gesellschaftlichen Position – in einem Gespräch mit dem Ich-Erzähler das Gastrecht in

Frage stellt: „Schon das Gastrecht war ein Hohn auf die Menschlichkeit. Denn welch

eine Welt, in der man erst durch ein besonderes Recht feststellen mußte, dies sei der

Wirt und jener der Gast? Hat Gott nicht die Häuser gegeben?“364

Nach dem Juden

basiert die Unterscheidung zwischen denjenigen mit einem Haus – den Wirten – und

denjenigen ohne Haus, zu denen er die Juden rechnet – den ewigen Gästen – auf einem

Unrecht.

Und haben wir etwa mehr gesündigt als die Besitzer der Länder? – Gesetzt den

Fall, es gäbe wirklich Wirte und Gäste – und nicht Gott wäre der einzige Wirt

und alle Menschen wären nicht Seine Gäste –, haben wir mehr Fehler begangen

als die Wirte?365

363

Exemplarisch dazu:„Aber noch etwas ist da, was Sie nicht sehen können«, fuhr der Gerechte fort,

»weil Sie ein neuer Gast in unserem Lande sind.“ (Roth: Der Antichrist, S. 115). 364

Roth: Der Antichrist, S. 233. 365

Roth: Der Antichrist, S. 234.

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Aus diesem Textabschnitt geht die doppelte Funktion des Gastes und des Wirtes hervor.

Einerseits ist der Gast derjenige, der kurz- oder langfristig kein Zuhause hat und beim

Wirt Unterkunft bekommt. Ob der Wirt Geld für diese Dienstleistung bekommt oder

den Gast umsonst aufnimmt, davon wird an dieser Stelle abstrahiert. Andererseits ist

Gott als Wirt derjenige, der allen Menschen in seiner Welt Unterkunft bietet. Im

religiösen Sinne sind alle Menschen folglich Gäste und entfällt also die Trennung

zwischen Gästen und Wirten. Gerade diese Beobachtung führt den Ich-Erzähler dazu,

die Teilung der Welt in Gäste und Wirte, die der Jude in Frage stellt, zu verteidigen:

„Gott hat die Häuser verteilt – sagte ich – und auch die Heimatlosigkeit.“366

Wenn man

wie Eggers davon ausgeht, dass Roth mit der Rolle des Propheten sympathisierte und

der Ich-Erzähler in Der Antichrist unmittelbar mit Roth selber zu identifizieren ist367

,

dann ist Roth der Meinung, dass der Mensch alle Ungerechtigkeit in der Welt

akzeptieren muss und seine Nichtigkeit dem Gott gegenüber immerhin einsehen muss.

So ist „die Heimatlosigkeit“, von der er spricht, im Kontext dieses Zitats kein

unüberwindliches Problem für den Menschen, weil es um den Besitz eines Zuhauses

geht. Ein größeres Problem ist die Heimatlosigkeit im transzendentalen Sinne. Die

transzendentale Heimatlosigkeit ist bei Roth nicht im Sinne Lukács als eine Entfernung

des Menschen von seiner Natur368

, sondern als eine Entfernung von Gott zu verstehen,

oder anders gesagt, als ein Entfernung des Menschen von seiner Position als Gast in der

Welt.

Die doppelte Funktion des Gastes und des Wirtes, die Der Antichrist aufzeigt,

stellt auch die zentrale Beziehung zwischen Gast und Wirt in Tarabas und Hotel Savoy

in ein anderes Licht. Folgendes Zitat veranschaulicht die zwei Bedeutungsebenen des

Gastes in Tarabas:

‹Er war Ihr Gast!› bemerkte der Notar. ‹Er war lange Zeit mein Gast!›

antwortete der Jude Kristianpoller. ‹Er war immerhin ein merkwürdiger Gast im

Wirtshof Kristianpollers!› ‹Er war›, sagte der Notar, ‹immerhin ein

merkwürdiger Gast auf Erden.› Hier horchte der Bruder Eustachius auf. Er

beschloß, auf den Grabstein Tarabas‘ die Inschrift zu setzen: Oberst Nikolaus

Tarabas, ein Gast auf dieser Erde.369

366

Roth: Der Antichrist, S. 234. 367

Eggers: Modernitätskritik und Religion bei Joseph Roth, S. 81. 368

Lukács: Die Theorie des Romans, S. 62. 369

Roth: Tarabas, S. 283.

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Es wurde bereits erwähnt, dass „ein Gast auf dieser Erde“ eine Anspielung auf den

Psalmvers „Ich bin ein Gast auf Erden; verbirg deine Gebote nicht vor mir“ ist und

somit eine religiöse Bedeutung des Gastes hervorbringt. Die Bezeichnung ᾽Gast᾽ im

Sinne eines Menschen, der unterwegs ist, kommt vielfach im Alten Testament/Tanach

vor, während Gott als Wirt nur explizit bei Roth in Der Antichrist auftritt.370

Wenn man

Roths Romane aus einer religiösen Perspektive betrachtet, sind die Parallelen mit Gott

bei den Hotelwirten Kristianpoller und Kaleguropulos jedoch deutlich bemerkbar. Wo

der Hotelwirt Kaleguropulos sich befindet und wer der Hotelwirt ist, bildet ein

Mysterium, das immer wieder heraufbeschworen wird. Es wurde bereits gesagt, dass

Kaleguropulos‘ Distanz und Anonymität bis jetzt in der Forschung als Symbol des

zeitgenössischen Kapitalismus gedeutet wurden.371

Die Fragen, die sich die

desorientierten Figuren Gabriel Dan, Zwonimir, Stasia usw. nach der Existenz einer

Figur mit einer mächtigen Funktion in einer Welt, die sie nicht begreifen, stellen, laufen

aber weitgehend parallel mit den Fragen, die sich der desorientierte Mensch in der Welt

stellt, wenn er an einer Glaubenskrise leidet. Dass Kaleguropulos immerhin anwesend

war, lässt sich retrospektiv aus der Offenbarung als Ignatz, der zwischen Leben und Tod

schwankt, schließen. Auch hier zeichnet sich eine deutliche Parallele mit der

Christusfigur als Sendung Gottes zum Beweis seiner Existenz, Kraft und Nähe ab.

Somit thematisiert Roth in Hotel Savoy das Verlangen eines Menschen nach einer

Offenbarung Gottes, die sich anhand des Wirtes Kaleguropulos vollzieht. Der Tod des

Gesandten Gottes und die damit zusammenhängende Zerstörung des Hotels weisen

darauf hin, dass der Tod Teil des Lebens ist und dass das Leben fortgesetzt werden soll.

Wo Roth anhand des Hotelwirtes Kaleguropulos die Distanz Gottes literarisiert,

der plötzlich dem Menschen als sehr nah erscheint, macht er dagegen anhand des Wirtes

Kristianpoller deutlich, dass Gott von dem Gast unterwegs nie weit entfernt ist. Wie

Tarabas sich allmählich für den Wirt öffnet, zeigt sich bildhaft in folgendem Zitat,

wobei die erste Annäherung Tarabas‘ an den Wirt Kristianpoller über den Blick geht:

„Und je häufiger ihre Augen sich trafen, desto vertrauter schienen die Männer

miteinander zu werden. Ja, ja, du Jude! sagten die Augen des Obersten Tarabas. Und:

370

Exemplarisch dazu: „Draußen mußte der Gast nicht bleiben, sondern meine Tür tat ich dem Wanderer

auf.“ (Hiob 31,32.). 371

Exemplarisch dazu: Matthias: The hotel as setting, S. 130-132.

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Ja, ja, du armer Held! sagte das eine, das gesunde Auge des Juden Kristianpoller.“372

Obwohl Kristianpoller unmöglich selber Gott repräsentieren kann – häufig wird

erwähnt wie gottesfürchtig der Wirt ist –, stellt er sich jedoch deutlich als Gesandter

Gottes heraus, weil er Tarabas darauf hinweist, dass dieser nur „[e]in Gast auf dieser

Erde“ ist. Dies zeigt Kristianpoller hier dem Leser durch die Prophezeiung „ja, ja, du

armer Held“ und ein wenig danach auch Tarabas selber, wenn er ihm symbolisch einen

Spiegel vorhält (cf. supra 4.3.3.2.1.). Aufgrund der prozessualen Annäherung zwischen

Tarabas und Kristianpoller, traut sich der Wirt seinem Gast, einem selbstbehauptenden

Katholiken, schließlich den Glauben zu verkündigen:

‹Euer Hochwohlgeboren sind selbst in der Hand Gottes. Er lenkt uns, und wir

wissen nichts. Wir verstehen nicht seine Grausamkeit und nicht seine Güte ... ›

[…] ‹Du versteckst dich immer wieder hinter Gott!› sagte Tarabas. ‹Gott ist

nicht dein Paravent! [...]›373

In diesem Zitat zeigt sich die Gast-Wirt-Metaphorik: Der Wirt Kristianpoller weist als

Stellvertreter von Gott seinen Gast Tarabas darauf hin, dass dieser nur Gast in der Welt

und Gott sein Wirt ist. In diesem Zusammenhang greifen wir auf das Zitat zurück, das

die Frage aufgeworfen hat, auf was oder wem die unbestimmte Kraft beruht, die

Tarabas am Anfang der Geschichte die Tür und das Fenster öffnet:

Er schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten

Geräusches, sah, daß seine Tür offen war, ging hin, um sie zu schließen. Ein

Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war offen. Er konnte

nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind

gewesen sein mußte.374

Die vorhergehende Analyse belegt, dass Gott in diesem Zitat Tarabas

symbolischerweise die Tür und das Fenster öffnet, ihn auf den Weg hilft und ihn

folglich zu„ [e]in[em] Gast auf dieser Erde“ macht. Obwohl Tarabas auch nach

372

Roth: Tarabas, S.198. 373

Roth: Tarabas, S. 227-228. 374

Roth: Tarabas, S. 160; Das ganze Zitat, wie schon erwähnt in 4.2.1.1., lautet in seiner Gesamtheit wie

folgt: „Er ging in sein Zimmer. Er legte sich, so wie er war, Schlamm an den Stiefeln, aufs Bett. Er

schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten Geräusches, sah, daß seine Tür offen

war, ging hin, um sie zu schließen. Ein Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war

offen. Er konnte nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind gewesen sein

mußte. Hatte Maria versucht, ihn wiederzutreffen? - Warum schlief sie nicht mit ihm, in der letzten

Nacht, die er in diesem Hause verbrachte? […] Er öffnete die Tür. […] Jetzt öffnete er Marias Tür. […]

Und er verließ das Zimmer […] Tarabas griff nach Säbel und Mantel und wandte sich zur Tür. Er öffnete

sie, zögerte einen Augenblick, kehrte noch einmal um und spuckte aus. Dann schlug er die Tür zu und

hastete hinaus.“ (Roth: Tarabas, S. 160-161).

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Kristianpollers Verkündigung des Glaubens wenig Wert auf seine Worte legt, soll sich

zeigen, dass er tatsächlich von Gott gelenkt wird.

In großen Linien geht Tarabas wie folgt weiter: Tarabas reißt den Bart des Juden

Schemerjah ab, bereut diese Tat, will büßen und wandert als Bettler herum.375

Genau

bevor Tarabas am Ende der Geschichte wieder in Koropta auftaucht, zeigt sich, dass

Tarabas zwar den Willen hat, weiter zu gehen – „und er befahl seinen Füßen, zu

wandern“376

–, aber nicht weiß wohin zu gehen. Da die Füße – und nicht der Geist – ihn

lenken, lässt sich vermuten, dass Gott ihn am Ende nach Koropta geführt hat und so

erfüllt sich die Prophezeiung Kristianpollers. Genau wie früher hält Tarabas sich wieder

im Gasthaus „Zum weißen Adler“ auf. Jedoch stellt sich heraus, dass das Gasthaus nicht

das Endziel ist: „‹Hast noch einen weiten Weg?› fragte er [Fedja, der Stallknecht]

‹Nein›, sagte Tarabas, ‹Ich bin fast schon zu Hause!›“377

Tarabas, der zu dieser Zeit

durch die Wanderung erkrankt ist, erlangt vor seinem Tod die erwünschte Absolution

des Juden Schemerjah.378

Daraus folgt einerseits, dass Tarabas am Ende des Lebens

gottesfürchtig geworden ist und Kristianpoller ihn auf den Weg zu Gott geführt hat.

Andererseits stellt sich heraus, dass das Zuhause für Tarabas letztendlich der Tod sein

wird. Dass das Zuhause sich im Tod befindet, wiederholt Roth buchstäblich in Der

Antichrist, dem Werk, das auf Tarabas folgt und das er in „der persönlichen Not

geschrieben“379

hat: „Unsere wahre Heimat ist nämlich der Himmel – und Gäste nur

sind wir auf dieser Erde.“380

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Gast und der Wirt in Tarabas nicht nur

ihre Funktion innerhalb des Raumes, des Gasthofs „Zum weißen Adler“ haben, sondern

sich eine transzendentale Bedeutung der Begriffe einschleicht, die über den Gasthof

hinausgeht. Obwohl sich die Handlung, die den Gast und den Wirt betrifft, in Hotel

Savoy schon innerhalb des Hotelraumes abspielt, zeigt sich, wie anhand der Beziehung

zwischen Gast und Wirt eine transzendentale Heimatlosigkeit thematisiert wird. Daraus

lässt sich nicht nur folgern, dass in Roths Romanen eine Gast-Wirt-Metaphorik

vorhanden ist, sondern auch dass sie die Geschichte mit organisiert.

375

Roth: Tarabas, S. 241-273. 376

Roth: Tarabas, S. 273. 377

Roth: Tarabas, S. 275. 378

vgl. “‹Nicht so viel habe ich gegen ihn! Er soll ruhig sterben! Sag ihm das!›“ (Roth: Tarabas, S. 280) 379

Roth an Stefan Zweig, 14. Juni 1934 (Joseph Roth, Briefe 1911-1939, S. 339). 380

Roth: Der Antichrist, S. 150.

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5. Schlussfolgerung

Der Ausgangspunkt dieser Arbeit lag in der Feststellung, dass Roths Werke Hotel

Savoy, Panoptikum, Hiob, Tarabas und Der Antichrist einerseits den Heimatbegriff

vielfach heraufbeschwören und andererseits dass die in ihnen auftretenden Figuren

unterwegs sind und sich in Gasthäusern aufhalten. Die Konfrontation beider Phänomene

hat zu der zentralen Frage geführt: Wie verhält sich das Motiv des Gasthauses zu Roths

Heimatdiskurs? Dabei wurde die Hypothese aufgeworfen, dass der Heimatbegriff – im

konventionellen Sinne einer Suche nach einem idealen Wohnort – in Roths Werken

dekonstruiert wird, insofern das Gasthaus als Ort des Übergangs die Romanfiguren in

eine vorwärtsgehende Bewegung treibt und die Struktur des Romans beeinflusst.

Diese Arbeit hat sich an erster Stelle mit der zwiespältigen Interpretation des

Heimatbegriffs in der Rothforschung auseinandergesetzt, die sich zwischen der

Heimatssuche in der Vergangenheit und einer Rhetorik der Deplatzierung bewegt.

Anhand einer Analyse des Anfangskapitels von Tarabas habe ich aber nachgewiesen,

dass die Heimat für die Figuren vor allen Dingen eine sich nicht bloß in der

Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart abspielende Projektion umfasst und

Roth seine fluide Art von Heimatinszenierung von Anfang an ironisiert. Im dritten

Kapitel bin ich näher auf das Motiv des Hotels im Hotelfeuilleton eingegangen und

habe geschlussfolgert, dass es, anders als das Gasthaus in Roths Romanen, nicht die

Komplexität des Raumes heraufbeschwört, sondern eine Faszination für das Hotelleben

thematisiert. Der Unterschied zwischen Roths Hotelfeuilleton und seinen Romanen hat

sich deutlicher in meiner Analyse des Gasthauses als Zwischenraums im vierten und

letzten Kapitel der Arbeit ausgeprägt. Da wurde Heimat als Utopie zuerst mit dem

Gasthaus als Heterotopie verglichen, wobei jene auf Uniformität besteht und dieser sich

aus Widerspruch gestaltet.

Die Ambivalenz des Gasthauses habe ich zuerst auf der territorialen Ebene

untersucht. Es hat sich dabei herausgestellt, dass die territoriale Eigenschaft weniger

einer Fixierung, sondern vielmehr der Polyphonie der Räume unterworfen ist. Zweitens

habe ich dargelegt, wie das Gasthaus eine Spannung zwischen Heim und Welt

hervorruft, die die Funktion des Gasthauses als Übergangsort verstärkt. Das Fenster war

in diesem Zusammenhang nicht nur das Beispiel schlechthin für die Dynamik zwischen

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Offenheit und Geschlossenheit, sondern symbolisierte auch das Verlangen der

Rothschen Figuren nach einer anderen Welt. Besonders im vorletzten Teilkapitel, in

dem Heimat und Gasthaus in Bezug auf Mythisierung analysiert wurden, hat sich

gezeigt, dass sich diese andere Welt nicht in der Vergangenheit, sondern gerade in der

Zukunft befindet. Wo die Darstellung der Gasthäuser bewusst den Mythos hervorhebt

und hegt, hat sich gezeigt, dass der Heimatmythos – egal, ob er sich auf Russland, den

Krieg oder Amerika bezog – im Voraus auf Entzauberung zielt. So wurde das Gasthaus

und nicht die Heimat ein Raum, der messianische Hoffnungen erzeugt. Schließlich hat

sich herausgestellt, dass das Gasthaus nicht nur ein Raum, sondern ein Konzept in Roths

Werken ist. Die in Der Antichrist ausformulierte und überall vorhandene Gast-Wirt-

Metaphorik hat die dynamische Beziehung zwischen Gast und Wirt in Tarabas und

Hotel Savoy, die schon in vorangehenden Kapiteln betont wurde, in ein anderes Licht

gerückt, indem sie sich auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott übertragen ließ

und sich folglich eine transzendentale Bedeutung ergab.

So lässt sich schlussfolgern, dass Roth mit dem Motiv des Gasthauses die

falschen Projektionen der Heimat entlarvt und zugleich die einzig mögliche Heimat

hervorhebt: Gott. Indem das Gasthaus nicht nur die Projizierung der Heimat auf die

Vergangenheit, sondern auch die anderen weltlichen Heimatorte als festes Endziel

dekonstruiert, steht es als textorganisierendes Mittel in unmittelbarer Verbindung mit

Roths Heimatbegriff. Aus dieser Dekonstruktion produziert Roth ein neues Konzept von

Heimat, das zwar eindeutig ein Endziel ist, sich aber nicht auf Erde, sondern jenseitig

befindet.

Dennoch soll diese Schlussfolgerung keineswegs einen Endpunkt in der

Forschung bilden. Um die Bedeutung des Gasthauses und der Heimat bei Roth besser

einschätzen zu können, läge es auch vor der Hand, den Auftritt dieser Motive in allen

Gattungen zu untersuchen. So wurde schon erwähnt, dass das Hotel im Hotelfeuilleton

nur thematisiert wird, aber nicht textorganisierend auftritt, und ließe sich die Frage

aufwerfen, inwieweit Roths Verbindung des Heimatbegriffs mit Gott in seinen

journalistischen Texten zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus könnte man die Analyse

des Hotels, das wie bei Matthias bisher als kapitalistischer Raum und folglich als

Abbild der modernen Gesellschaft berücksichtigt wurde, aus synchroner Perspektive

mit einer Analyse als heterotopisches Gasthaus ergänzen. So könnte man neben der

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thematischen auch die strukturelle Funktion des Gasthauses in der Weimarer Zeit einer

näheren Betrachtung unterwerfen und untersuchen, wie sich andere Autoren der

Moderne wie Franz Kafka, Thomas Mann und Stefan Zweig mit dem Motiv

auseinandergesetzt haben. Hat die Arbeit diese Fragen nicht in ihre Analyse aufnehmen

können, so bezeugen diese Ausblicke und Ansätze dennoch all die neuen Wege, die die

Untersuchung in ihrer erstmaligen Betrachtung des Gasthauses als textkonstitutives

Motiv in Roths Werken betreten hat. Denn diese Studie hat dargelegt, dass der

Heimatbegriff bei Roth keineswegs nur auf einer diskursiven Ebene zu situieren ist,

sondern hat vor allen Dingen die Heimatsuche in Roths Werken als eine gezielte

Transzendentalisierung des Daseins erkannt.

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