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Universiteit Gent Faculteit Letteren en Wijsbegeerte Masterscriptie Promotor: Prof. Benjamin Biebuyck Duitse letterkunde Postdramatik in Strauß’ Schlußchor Eine Untersuchung über den postdramatischen Kennzeichen in Botho Strauß„ Theaterstück Schlußchor anhand einer Analyse von Zeit und Optik. Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte Voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits- Zweeds door Jozefien Vanbecelaere 00700596

Postdramatik in Strauß’ Schlußchor - lib.ugent.belib.ugent.be/fulltxt/RUG01/001/786/560/RUG01-001786560_2012_0001... · Februar 1993 erschien sein komplexes Essay mit dem Titel

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Universiteit Gent

Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

Masterscriptie

Promotor: Prof. Benjamin Biebuyck

Duitse letterkunde

Postdramatik in Strauß’ Schlußchor

Eine Untersuchung über den postdramatischen Kennzeichen in Botho

Strauß„ Theaterstück Schlußchor anhand einer Analyse von Zeit und Optik.

Verhandeling voorgelegd aan de

Faculteit Letteren en Wijsbegeerte

Voor het behalen van de graad van

Master in de Taal- en Letterkunde:

Duits- Zweeds

door

Jozefien Vanbecelaere

00700596

Vorwort

Diese Magisterarbeit wurde im Fachgebiet der deutschen Literaturwissenschaft

geschrieben und ist der letzte Schritt mein Magisterdiplom der Sprach - und

Literaturwissenschaft Deutsch - Schwedisch zu erwerben. Ich möchte mich gerne noch

bei einigen Leute bedanken ohne deren Hilfe und Unterstützung diese umfangreiche

Arbeit nicht möglich gewesen wäre.

Mein besonderer Dank gilt Professor Benjamin Biebuyck für die weitgehende

Betreuung der Arbeit. Professor Wolfgang Behschnitt danke ich dafür, mein Interesse

für Theater geweckt und mir mit seinem Seminar, Kenntnisse im Gebiet des

postdramatischen Theaters beigebracht zu haben.

Mein Vater und Freund bekommen meinen Dank für ihre Hilfe beim Erstellen der

Grafiken und beim Lösen der Computerprobleme.

Weiterhin möchte ich meine Familie, meinen Freund und meinen Freunden und

Kommiliton(inn)en danken die mich in den letzten Monaten mit viel Geduld begleitet

haben und mir die notwendige positive Energie gegeben haben.

Jozefien Vanbecelaere

Inhalt

0. Einleitung S. 6

1. Botho Strauß„ Schlußchor S. 7

1.1.Botho Strauß: Figur der Widersprüchlichkeit S. 7

1.2.Schlußchor S. 9

1.3.Bisherige Forschung S. 12

1.4. Hauptmotiv des Stückes: Augenblick S. 14

2. Methodologie S. 15

3. Postdramatisches Theater S. 18

3.1.Verlust der Synthesis S. 20

3.2.Präsentation im postdramatischen Theater S. 22

3.3.Botho Strauß„ Ästhetik der Präsenz S. 25

4. Zeit im Theater S. 28

4.1.Dramatische Zeitästhetik S. 29

4.2.Postdramatische Zeitästhetik S. 31

4.3.Postdramatische Zeitästhetik in Schlußchor S. 32

4.4.Analyse der Zeit in Schlußchor S. 35

4.4.1. Zeit im ersten Akt S. 36

4.4.1.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 36

4.4.1.2.Implizite Verweise auf Zeit S. 39

4.4.1.3.Die Text-Zeit S. 41

4.4.2. Zeit im zweiten Akt S. 43

4.4.2.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 43

4.4.2.2.Implizite Verweise auf Zeit S. 53

4.4.2.3.Mythosverarbeitung S. 55

4.4.3. Zeit im dritten Akt S. 56

4.4.3.1.Explizite Verweise auf Zeit S. 56

4.4.3.2.Persönliche Geschichten S. 60

4.4.3.3.Mythosversuch S. 63

4.4.4. Schlussfolgerungen Zeit S. 64

5. Optik im Theater S. 65

5.1.Optik im dramatischen Theater S. 66

5.2.Raum im postdramatischen Theater S. 67

5.3.Optik im postdramatischen Theater S. 69

5.4.Postdramatische Optik in Schlußchor S. 71

5.5.Analyse der Optik in Schlußchor S. 72

5.5.1. Optik im ersten Akt S. 73

5.5.1.1.Explizite Verweise auf Optik S. 73

5.5.1.2.Implizite Verweise auf Optik: Optik des Publikums S. 80

5.5.1.3.Optik und Medien S. 81

5.5.2. Optik im zweiten Akt S. 82

5.5.2.1.Explizite Verweise auf Optik S. 82

5.5.2.2.Implizite Verweise auf Optik S. 89

5.5.3. Optik im dritten Akt S. 91

5.5.3.1.Explizite Verweise auf Optik S. 91

5.5.3.2.Implizite Verweise auf Optik: Deutschlandthema S. 93

5.5.4. Schlussfolgerungen Optik S. 95

6. Schlussfolgerungen S. 96

6.1.Entwicklungen S. 96

6.2.Präsentation oder Repräsentation S. 98

6.3.Ausblick S. 99

7. Bibliografie S. 101

8. Anlage 1: Zeit und Optik S. 103

9. Anlage 2: Zeit S. 107

10. Anlage 3: Optik S. 110

11. Tabellen

6

0. Einleitung

DER VERSPROCHENE Ich wollte dir‟s nun endlich zeigen, mein Liebes. Etwas, über

das wir hin und her gesprochen haben. Etwas nicht ganz Überraschendes vielleicht,

und doch-1

Gleich wie der Versprochene in diesem Zitat, aus dem zweiten Akt des Stückes Schlußchor

von Botho Strauß, etwas zeigen will, anstatt sich nur anhand des Sprechens zu äußern, wird

im postdramatischen Theater die Sprache nicht länger als das bedeutendste

Ausdrucksmittel betrachtet. Das postdramatische Theater kennzeichnet sich durch neue

Typen des Zeichengebrauchs, die an die Stelle der Sprache, der Stimme und des Textes

treten. Der postdramatische Zeichengebrauch soll dazu führen, dass ein Stück präsentiert

statt repräsentiert wird.

In dieser Arbeit will ich untersuchen, inwieweit die postdramatischen Merkmale auch

im Theaterstück Schlußchor von Botho Strauß vorzufinden sind. Ich gehe vor allem der

Frage nach wie wichtig in diesem Schauspiel der Text im Vergleich zu den anderen

Theaterzeichen ist. Um die Wichtigkeit des Theatertextes untersuchen zu können,

analysiere ich die Darstellung des Hauptmotivs 'Augenblick'. Der Augenblick wird in

Schlußchor zeitlich, in der Bedeutung eines Moments, und visuell, in der Bedeutung eines

Blickes der Augen, aufgefasst. Im ersten Akt des Stückes ist diese zweigliedrige Bedeutung

des Augenblickes klar, aber auch in den anderen Akten kann die Doppelbedeutung

weitergeführt werden. Ich untersuche, wie wichtig der Text als Ausdrucksmittel für die

Darstellung der Zeit und der Optik im Theaterstück ist anhand einer gezielten, quantitativen

Korpusanalyse. Das Korpus enthält die expliziten Äußerungen in Bezug auf Zeit und Optik.

Aus diesem Korpus ist auch die implizite Thematisierung der Zeit und der Optik

abzuleiten. Am Ende dieser Arbeit hoffe ich folgern zu können, wie Zeit und Optik in

Schlußchor präsentiert oder repräsentiert werden. Daraus kann ich hoffentlich schließen, in

welchem Maße das Theaterstück postdramatisch zu deuten ist.

In den nächsten Kapiteln gebe ich mehr Erläuterung zum Autor des Stückes, Botho

Strauß, zum Theaterstück selbst, zu der Forschungsliteratur, die ich

1 Strauß, Botho: Theaterstücke II. München, Wien: Carl Hanser, 1991, S. 433.

7

in dieser Arbeit benutze und zum Hauptmotiv 'Augenblick'. Darauf beschreibe ich

gemäß welcher Methodologie ich in dieser Arbeit vorgehe.

1. Botho Strauß‘ Schlußchor

1.1. Botho Strauß: Figur der Widersprüchlichkeit

Botho Strauß, 1944 geboren, ist einer der wichtigsten Schriftsteller der deutschen

Literaturgeschichte. Das ergibt sich unter anderem aus den zahlreichen Auszeichnungen,

die er bekommen hat, unter denen der Georg-Büchner-Preis im Jahre 1989 und der

Theaterpreis Berlin im Jahre 1993. Er hat Germanistik und Theaterwissenschaften studiert,

und das spiegelt sich in seinem umfassenden Oeuvre wider, das sowohl Theaterstücke als

auch Romans und Essays enthält. Seine Stücke werden sehr viel aufgeführt, und über seine

Prosastücke wird sehr viel debattiert. Botho Strauß hat als Dramaturg bei dem

Theaterregisseur Peter Stein angefangen und hat in dieser Zeit auch Beiträge für die

Zeitschrift Theater heute geschrieben.

[Er] debütierte Anfang der 70er Jahre mit eigenen Theaterstücken (Die Hypochonder,

1972; Bekannte Gesichter, gemischte Gefühle, 1974; Trilogie des Wiedersehens,

1976; Groß und klein, 1977; Der Park, 1983). Neben seinen Arbeiten für das

Theater, unter denen die Kalldewey Farce (1981) einen überaus großen Erfolg hatte,

veröffentlichte Strauß seit Mitte der 70er Jahre Erzählungen und Romane (Die

Widmung, 1978; Rumor, 1980; Paare, Passanten, 1981; Der junge Mann, 1984),

eine Elegie (Diese Erinnerung an einen, der nur eine Nacht zu Gast war, 1985) sowie

Fragmente und Reflexionen.2

In Stücke wie Kalldewey, Farce (1981); Der Park (1983); Die Fremdenführerin (1986)

und Die Zeit und das Zimmer (1989) wurde, so Christoph Parry, das Mythische direkt in die

Gegenwart hineingetragen. Seiner Meinung nach gehört die kaum noch bewusste Ahnung

des Mythischen in einer mythosfernen Zeit zu den Grundmotiven von Strauß„ Werk.3

2 Wolfgang Beutin et al: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Siebte

erweiterte Auflage mit 545 Abbildungen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 659f. 3 Christoph Parry: „Der Aufstand gegen die Totalherrschaft der Gegenwart. Botho Strauß„ Verhältnis zu

Mythos und Geschichte.“ In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81, 1998), S. 54.

8

Am 8. Februar 1993 erschien sein komplexes Essay mit dem Titel anschwellender

Bocksgesang im Spiegel, das heftige Reaktionen auslöste, weil es das Etikett

rechtskonservativ bekam. In diesem Text übte Strauß Kritik an den Medien, die seiner

Meinung nach die Trennung zwischen Masse und Elite herbeigeführt hatten und in dieser

Elite gibt es, so Strauß, eine Spaltung zwischen diejenigen die an diesen Medien glauben

und diejenigen die ihre eigene Meinung befolgen. Indem es wie eine Revolution der

Konservativen gesehen wurde, bedeutete dieses Essay eine Bruchlinie in Strauß„ Arbeit.

Von diesem Text an, ist er zu einer kontroversen Figur geworden, der nicht zögert Kritik an

der heutigen Gesellschaft zu äußern. Manche meinten sogar, dass wegen dieses Essays auch

seine frühere Arbeit neu interpretiert werden musste.

Zu dieser Zeit schrieb er noch einige Prosatexten „in denen auf eine geschlossene

Handlung verzichtet wird.“4 Beginnlosigkeit (1992), Die Fehler des Kopiisten (1997) und

Das Partikular (2000). Nach Watzlaff Capsugel sind diese Texte „Sammelsurien

kulturkritischer Erwägungen, die Strauß eindeutig im rechtsintellektuellen Raum der

Gegenwart situieren.“5 In den 90er Jahren hat er auch wieder Theaterstücke geschrieben

(Schlußchor, 1991; Das Gleichgewicht, 1993; Die Ähnlichen, 1998; Der Kuß des

Vergessens, 1998)

In den meisten Biografien oder Übersichten von Strauß„ Werken wird gesprochen

von einer frühen und einer späten Phase im Oeuvre von Strauß. Der frühe Strauß ist vor

allem bekannt wegen seiner Dramas und Erzählungen wie Die Widmung, mit denen er

hohes Ansehen bekam. Er wird in Bezug auf dieses Schaffen ein „Menschenbeobachter“6

genannt. Der späte Strauß ist der Strauß des Essays Anschwellender Bocksgesang, das

„jener medien-und zivilisationskritischen Streitschrift, die ‚1993 der am heftigsten

debattierte kulturpolitische Beitrag eines deutschen Schriftstellers ›war und ein ‚in der

Nachkriegsgeschichte deutscher Literatur beispielloses Medienecho aus(löste), das bis

heute nicht verstummen will‹.“7 Es gibt aber noch andere Meinungen, die sagen, dass man

4 Beutin et al: Deutsche Literaturgeschichte, S. 696.

5 Watzlaff Capsugel,: Der rückwärtsgewandte Prophet. Botho Strauß in Studien und Stücken.

http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=1689 (abgerufen am 23. Februar 2011) 6 Thomas Roberg: „Wie im Buch, so auf der Bühne? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß

in den neunziger Jahren.“ In : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Sonderband, 2004) S. 107. 7 Roberg: auf der Bühne, S. 107.

9

Strauß gar nicht in Phasen aufteilen kann und dass seine Arbeit schon immer kontrovers

gewesen war.

Obwohl die Nachwehen des Essays Anschwellender Bocksgesang den Anschein

hätten, nicht aufzuhören, hat Strauß„ Schaffen schon wieder eine neue Wendung

genommen. Im Jahre 2004 wird er wegen seines 60. Geburtstags geehrt. Seitdem hat er

noch einige Essays (Der Konflikt im Spiegel, Februar 2006; Der Maler löst den Bann in

Der Spiegel, 2008), Stücke (Die Schändung, 2006; Leichtes Spiel. Neun Personen einer

Frau, 2009), Geschichten (41 Kalendergeschichten 2006) und eine Novelle (Die

Unbeholfenen 2007) geschrieben.

Wichtig beizubehalten beim Lesen von Strauß ist, dass Botho Strauß ein „poetischer

Figur der Widersprüchlichkeit“8 ist. Er kann nicht einfach einer Strömung zugeordnet

werden, denn seine Werke werden manchmal konservativ, manchmal postmodern genannt.

In Herwig Gottwalds Studie der Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur wird

erwähnt dass die Frage der Zugehörigkeit zur Postmoderne im Zentrum vieler Bemühungen

der Strauß-Forschung steht. Gottwald kommt zu der Schlussfolgerung dass Strauß„

vielschichtige und komplexe Arbeit vielmehr als Prozess betrachtet werden muss, in dem

unterschiedlichste Haltungen, Themen und Wertungen ihre spezifischen Ausprägungen

erfuhren. 9

Zwar ist sein Oeuvre nicht einfach, denn es ist manchmal schwierig einen

übergreifenden Handlungsstrang zu finden, doch wird Strauß„ Werk in der

deutschsprachigen Welt sehr viel gelesen und gespielt.

1.2. Schlußchor

Das 1991 erschienene Theaterstück Schlußchor, ist einer der späteren Texte von Botho

Strauß. Es gehört zu Strauß„ zweiter Reihe von Theatertexten. Schlußchor enthält drei auf

den ersten Blick unabhängige Akten. Erst im dritten Akt des Stückes wird deutlich, dass

8 Stefan Willer: Botho Strauß zur Einführung. Hamburg: Junius, 2000, S. 141.

9 Herwig Gottwald: Mythos und Mythisches in der Gegenwartsliteratur. Studien zu Christoph Ransmayr,

Peter Handke, Botho Strauß, George Steiner, Patrick Roth und Robert Schneider. Stuttgart: Heinz, 1996, S.

97f.

10

dieses Stück auf die Geschichte Deutschlands verweist. Es ist eine Reaktion auf den Fall

der Mauer und die Folgen der Wende. Aber auch in diesem Schauspiel, das von so einem

aktuellen Thema handelt, hat Strauß (im zweiten Akt) einen Mythos eingearbeitet. Und

auch der Titel hat eine Art mythische Bedeutung.

Die Bezeichnung des Textes deutet auf den abschließenden Satz der „Neunten

Symphonie“ von Ludwig van Beethoven. Diese wird, als Zeichen der Dekomposition

und Neuordnung zugleich, 1989 zum Zeitpunkt der Demontage der Mauergrenze,

dirigiert von Leonard Bernstein, zur Aufführrung gebracht und dann noch einmal

1990 am Tag vor der Wiedervereinigung, musikalisch geleitet von Kurt Masur.10

Schlußchor wurde am 1. Februar 1991 in den Münchner Kammerspielen

uraufgeführt. Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer gab es für dieses Schauspiel, das von

dem aktuellen Mauerfall handelt, ein großes Interesse, aber die herrschende Reaktion war

eher negativ.

Die Leute hatten ein Stück über die Freude der Menschen beim Fall der Mauer

erwartet und waren von der skeptischen Sicht des Stücks und der Regie Dieter Dorns

tief enttäuscht. Zudem: ›Botho Strauß hat die Ossis so klischeehaft gezeichnet, wie

der Durchschnitts-Wessi sich DDR-Bürger vorstellt. Und Regisseur Dieter Dorn gibt

durch Übertreibung in Kostümierung und Typisierung noch eins drauf-und kann nicht

verhindern, daß die Zuschauer die Darstellung für bare Münze nehmen.‹11

Eine vernichtende Kritik kam von Gräfin von Dönhoff, Herausgeberin der Zeit, sie schrieb:

„›Es ist nämlich kein Stück; es sind vielmehr drei Sketches, die miteinander nichts zu tun

haben […].‹ Insgesamt handele es sich um ein ›ärmliches Stück‹, eine ›Mischung aus

Mythologie, Banalität und Pseudophilosophie‹, bei dem ›einem gar nicht wohl‹ sei.“12

Auf

diese scharfe Kritik hat Strauß mit einem Brief an die Zeit reagiert, in dem er den Inhalt

seines Stückes zusammenfasst: „Es handelt in allen drei Teilen vom Auge und vom

Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht ‚sehen„ kann.“13

Trotz dieser Erklärung gibt

es nach Frank Thomas Grub doch in nahezu allen Besprechungen, aber auch in tiefer

gehenden Analysen, eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Beurteilung des

10

Andreas Englhart: Im Labyrinth des unendlichen Textes: Botho Strauß‘ Theaterstücke 1972-1996.

Tübingen: Niemeyer, 2000, S. 241. 11

Gunter Schandera: „Ausstehende Begegnung. Zur Botho-Strauß-Rezeption in der DDR und den neuen

Bundesländern.“ In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81, 1998) S. 146. 12

Frank Thomas Grub: >Wende< und >Einheit< im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Berlin: Walter

de Gruyter, 2003, S. 505. 13

Herbert Grieshop: Rhetorik des Augenblicks. Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke

und Botho Strauß. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1998, S. 196.

11

Straußschen Stückes spürbar.14

Spätere Aufführungen, die von anderen Regisseuren

inszeniert wurden, bekamen weniger Kritik. Ob der Grund dafür wirklich die andere

Inszenierung war oder ob das eher zu tun hatte mit dem größeren Abstand zu dem

historisch passierten, ist nicht deutlich.

Weil das Deutschlandthema erst im dritten Akt deutlich wird und dadurch die

Bedeutung der ersten zwei Akten, im Zusammenhang mit diesem Deutschlandthema nicht

so leicht erschließbar ist, war die Kritik auf die Verarbeitung des Mauerfalls weniger

scharf. „Angesichts dieser Verrätselungsstrategien blieb dem Schlußchor in der Kritik der

Vorwurf weitgehend erspart, er plädiere mit seiner Symbolik für ein bestimmtes

Nationalgefühl.“15

Die meisten Interpretationen und Kritiken des Stückes gehen von dem

Fall der Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands aus, obwohl das, so Thomas

Oberender, „nicht das eigentliche Thema des Stücks“16

ist.

Bevor ich mit meiner Suche nach einem geeigneten Thema für meine Magisterarbeit

angefangen hätte, wusste ich schon dass ich über ein postdramatisches Theaterstück

schreiben wollte. Theater und vor allem die neuen Entwicklungen die die Darstellungskunst

erlebt interessieren mich. Ich bin zu Schlußchor gekommen, nachdem ich eine ganze Reihe

von postdramatischen Stücken, von Botho Strauß und anderen Autoren wie Heiner Müller

und Elfride Jelinek, gelesen hatte. Das Rätselhafte dieses Stückes hat mich angesprochen.

Vor allem die Wahl der Akten hat mich intrigiert: Weshalb wählt Strauß gerade diese drei

Akten? Was sind die Elemente, die aus diesen drei Akten, wenn sie auch mit ganz

verschiedenen Gestalten von drei ganz unterschiedlichen Situationen ausgehen, eine

Ganzheit bilden? Und auf welche Weise steht nicht nur den dritten Akt, aber alle Akten in

Beziehung zum Fall der Mauer? Die größte Frage die ich mich stellte war auf welche Art

und Weise Schlußchor postdramatisch ist. Als ich dann angefangen hatte Sekundärliteratur

über Schlußchor zu lesen, ist mir deutlich geworden dass nicht nur das Deutschlandthema,

sondern auch das Motiv 'Augenblick' den Zusammenhang in den drei Akten bestimmt.

Über die postdramatischen Merkmale des Schauspiels war aber nicht so viel zu finden.

14

Grub: Wende und Einheit, S. 505. 15

Willer: Strauß zur Einführung, S. 127. 16

Thomas Oberender: „Die Wiederrichtung des Himmels. Die ››Wende‹‹ in den Texten von Botho Strauß.“

In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. (Heft 81,1998) S. 80.

12

1.3. Bisherige Forschung

Die Literatur zu Schlußchor ist nicht umfangreich und besteht vor allem aus kürzeren

Kapiteln oder Artikeln die ein einziges Aspekt der Text untersuchen. Der größte Teil der

Forschung zu Schlußchor beschäftigt sich mit der Frage, wie Strauß in dieses Stück die

deutsche Geschichte und den Fall der Mauer eingearbeitet hat. Thomas Oberender

beschreibt in Die Wiedererrichtung des Himmels. Die ›Wende‹ in den Texten von Botho

Strauß wie das Jahr 1989 auch für Strauß als Denker eine Wende bedeutete. In Schlußchor

wird das Unvorhersehbare der Wende anhand von Worten wie 'Versehen' wiedergegeben. 17

Die Frage nach der Verarbeitung der deutschen Geschichte ist im Gegensatz zum

Thema der meisten Artikeln, nicht der Ausgangspunkt meiner Untersuchung. Um die

postdramatischen Kennzeichen des Stückes Schlußchor zu untersuchen habe ich mich vor

allem auf die Resultaten Robergs, Grieshops und Damms Arbeiten basiert. In seinem

Artikel „Wie im Buch, so auf der Bühne. Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho

Strauß in den neunziger Jahren“18

hat Thomas Roberg Strauß„ Programmatik, die

sogenannte 'Ästhetik der Präsenz' untersucht, und er vergleicht diese mit Hans-Thies

Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters. Er konkludiert Folgendes:

Mag Botho Strauß auch der Postdramatik fern stehen, so verbindet ihn doch mit ihr

das zeitgenössische Anliegen, ›eine Antwort des Theaters auf die veränderte

gesellschaftliche Kommunikation unter den Bedingungen der verallgemeinerten

Informationstechnologie zu geben‹ - wobei die Antwort seines Theaters freilich

anders ausfällt als die der postdramatischen Autoren.19

Robergs Meinung nach übt Strauß„ Theater wie die meisten postdramatischen Autoren (die

von Hans-Thies Lehmann in seiner Theorie des postdramatischen Theaters beschrieben

werden) Kritik an der Mediengesellschaft. Während andere postdramatische Autoren die

Oberflächlichkeit der Medien an sich kritisieren, stellt Strauß die Position des Dichters in

der Mediengesellschaft, also seine eigene Position, in Frage. Nach Strauß ist ein Dichter ein

17

Oberender: Wiederrichtung des Himmels, S 77. 18

Thomas Roberg: „Wie im Buch, so auf der Bühne? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho

Strauß in den neunziger Jahren.“ In : Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. Hg. v. Heinz

Ludwig Arnold. München : Boorberg Verlag, 2004. 19

Roberg: auf der Bühne, S. 113.

13

Gedächtnisbildner der in Opposition zur Gegenwart steht. Ein Versuch die Vergangenheit

mit der Gegenwart zu versöhnen ist Strauß„ Konzept der Ästhetik der Präsenz, das ich im

Kapitel 3.3. Botho Strauß‘ Ästhetik der Präsenz näher erläutern werde.

Ich gehe davon aus, dass Strauß„ Ästhetik der Präsenz und Lehmanns Theorie des

postdramatischen Theaters grundsätzlich verschieden sind und untersuche inwieweit

Schlußchor an die Kriterien des von Lehmann postulierten postdramatischen Theaters

beantwortet. Ich stelle mich also die Frage wie fern Botho Strauß, was den Stück

Schlußchor anbelangt, der Postdramatik eigentlich steht und das mache ich anhand einer

Analyse des Hauptmotivs des Stückes: der Augenblick. Dieses Hauptmotiv wurde schon

von Herbert Grieshop in der Rhetorik des Augenblicks20

weitgehend untersucht. Er hat 'den

Augenblick' aber nur zeitlich aufgefasst, davon zeugt das Wortfeld, das Grieshop mit dem

Begriff 'Augenblick' verbindet: „Moment, Sekunde, plötzlich, aufeinmal, augenblicklich,

jetzt, etc.“21

Die Tatsache, dass man den Augenblick in eine zeitliche und eine optische

Komponente aufteilen kann, hat Grieshop nur ganz kurz erwähnt. Er spricht einmal von

dem Augenblick „in seiner visuell-temporalen Doppelbedeutung“.22

Es erscheint mir

nützlich diese Doppelbedeutung des Wortes 'Augenblick' weiter zu untersuchen. Im

nächsten Kapitel Hauptmotiv des Stückes: Augenblick werde ich die Gründe für diese

Aufteilung genauer erklären. Für die Analyse der Optik habe ich unter anderem Steffen

Damms Untersuchung in Anspruch genommen. Er hat detailliert die Rolle der Optik und

des Blickes in Schlußchor untersucht, allerdings ohne die Optik aus dem Hauptmotiv

'Augenblick' abzuleiten und die mit Lehmanns postdramatischen Theater zu verbinden.

Grieshop berührt im Kapitel „Jenseits von Sprache und Text“ kurz die Frage, ob das

Augenblicksmotiv in Schlußchor auch jenseits von Sprache und Text gestaltet wird. Auch

er verbindet diese Frage nicht mit der Theorie des postdramatischen Theaters. Meiner

Meinung nach können diese zwei Elemente jedoch nicht unabhängig aufgefasst werden,

denn das postdramatische Theater ist ein Theater, das jenseits des linguistischen Textes

Musik, Video, Tanz oder andere Techniken benutzt.

20

Herbert Grieshop: Rhetorik des Augenblicks. Studien zu Thomas Bernhard, Heiner Müller, Peter Handke

und Botho Strauß. Würzburg: Königshausen und Neumann, 1998. 21

Grieshop: Augenblick, S. 11. 22

Grieshop: Augenblick, S. 198.

14

Ich werde nicht nur die Aufteilung des Hauptmotives 'Augenblick' in 'Zeit' und 'Optik'

weiter ausarbeiten, sondern auch untersuchen, wie in Schlußchor jenseits von Sprache und

Text Zeit und Optik postdramatisch präsentiert werden. Wie gesagt, verwende ich Hans-

Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters als theoretischen Rahmen für

meine Arbeit.

1.4. Hauptmotiv des Stückes: Augenblick

Das zentrale Motiv in Schlußchor ist 'der Augenblick'. Weshalb der Augenblick so wichtig

ist wurde schon in der Forschungsliteratur untersucht. Der Fall der Mauer ist, nach Thomas

Oberender, „nur eine Dimension jener weit allgemeiner aufgefaßten Plötzlichkeit, die im

Motiv und Vorgang des ›Versehens‹ das Stück bestimmt.“23

Strauß selbst beschreibt dieses

Versehen wie ein „Augenblick, den man nicht gewärtigen, nicht sehen kann.“24

Nach

Grieshop wird der Augenblick in Schlußchor in den drei Akten von einer anderen Figur auf

eine andere Weise verpasst. Grieshop nennt seiner programmatischer Vorsatz „der Auch als

das geheime Motto von Schlußchor dienen könnte, den ›genetischen Code des Augenblicks

zu entschlüsseln‹“25

Und das ist gerade was ich hier auch versuchen werde. Ich

entschlüssele den Augenblick dadurch, dass ich es in Zeit und Optik aufteile.

Ein erster Grund für diese Aufteilung ist semasiologisch.26

Im Duden wird der

Augenblick definiert als „Augenblick [auch:--‚-], der [mhd. ougenblick, eigtl.: (schneller)

Blick der Augen]: Zeitraum von sehr kurzer Dauer; Moment“ Es stellt sich heraus, dass ein

Augenblick sowohl eine zeitlich (Zeitraum von sehr kurzer Dauer) wie auch eine optisch

(Blick der Augen) bestimmte Erfahrung ist. Ein zweiter Grund für diese Aufteilung ist

onomasiologisch27

und wird daher in dem Stück selbst vorgefunden. In Schlußchor sind

23

Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 24

Grieshop: Augenblick, S. 196. 25

Grieshop: Augenblick, S. 189. 26

„Die semasiologische Perspektive beschäftigt sich mit der Wortbedeutung. Sie nimmt das Wort als

Ausgangspunkt für die Untersuchung der mit diesem Wort in Verbindung stehenden Bedeutungen oder

Objekte.“ Agnes Tafreschi: Zur Benennung und Kategorisierung alltäglicher Gegenstände: Onomasiologie,

Semasiologie und kognitive Semantik. Kassel: university press, 2005, S. 14. 27

„Die onomasiologische Perspektive geht umgekehrt vor. Ausgangspunkt ist die Bedeutung oder das Objekt,

und untersucht werden die Worte, die für dieses Kategorienkonzept oder dieses Objekt verwendet werden

15

Optik und Zeit sehr wichtig. Das stellt sich erstens schon in den Titeln der drei Akten

heraus. Der Titel des ersten Aktes „Sehen und Gesehenwerden“28

handelt deutlich von

Optik. Der Titel des dritten Aktes „Von nun an“29

thematisiert eine zeitliche Erfahrung, und

der Titel des zweiten Aktes „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)“30

behandelt explizit, mit den Worten 'Spiegel' und 'Versehen', das Visuelle, und implizit, mit

dem Wort 'Versehen', auch die Zeit. Zweitens werden in den verschiedenen Akten sowohl

Zeit als auch Optik thematisiert, darauf gehe ich im Mittelteil meiner Untersuchung näher

ein.

Ich will nachgehen, ob Botho Strauß Zeit und Optik vor allem anhand des Textes

oder anhand von anderen Zeichen in den drei verschiedenen Akten thematisiert um auf

diese Weise feststellen zu können inwieweit Schlußchor postdramatisch aufzufassen ist.

2. Methodologie

Weil ich mich in meiner Arbeit auf die Analyse des Theatertextes beschränke, ist es

schwieriger, den postdramatischen Zeichengebrauch außerhalb des Textes zu untersuchen.

Ich werde mich daher fokussieren auf die Frage, inwieweit Zeit und Optik in Schlußchor

explizit und also dramatisch thematisiert werden. Daraus ist auch die implizite geprägte

Thematisierung von Zeit und Optik abzuleiten.

Die Analyse der expliziten sprachlichen Thematisierung von Zeit und Optik mache

ich anhand eines quantitativen Korpus. Um dieses Korpus zu erstellen habe ich zuerst alle

Worte aus Schlußchor aufgelistet, die zum Wortfeld 'Zeit' gehören: Ewigkeit, Sekunde,

immer, vorbei, warten, früher… (cf. Tabelle Zeit in der Anlage) Ingrid Kühn definiert ein

Wortfeld folgendermaßen:

Unter einem Wortfeld wird ein lexikalisch-semantisches Paradigma verstanden, das

durch das Auftreten eines gemeinsamen semantischen Merkmals zusammengehalten

wird, und in dem die Lexeme durch bestimmte semantische Merkmale in Opposition

können sowie deren Verbindungen miteinander.“ Agnes Tafreschi: Zur Benennung und Kategorisierung

alltäglicher Gegenstände: Onomasiologie, Semasiologie und kognitive Semantik. Kassel:university press,

2005, S. 14. 28

Strauß: Theaterstücke, S. 413. 29

Strauß: Theaterstücke, S. 426. 30

Strauß: Theaterstücke, S. 447.

16

zueinander stehen und damit ein Netz von semantischen Beziehungen konstituieren.

So gehören z.B. die Verben, die die Fortbewegung bezeichnen, zu einem Wortfeld,

weil sie das gemeinsame Sem ‚Fortbewegung„ enthalten. 31

In Analogie mit dem Wortfeld der Verben, die Fortbewegung bezeichnen, habe ich erstens

die Worte in Schlußchor untersucht, die Zeit bezeichnen. Ich habe mich nicht nur auf

Nomina oder Verben beschränkt, sondern einfach alle Worte und Wortgruppen, die das

gemeinsame Sem 'Zeit' enthalten, aufgelistet. Worte und Wortgruppen wie zum Beispiel

'Jahr', 'vorbei', 'warten', 'Geschichte', 'heute', 'Mitte Vierundvierzig' enthalten alle das Sem

'Zeit'. Wortfelder an sich sind onomasiologisch, denn man sucht Worte mit einem

gemeinsamen 'Sem', und ein Sem ist das „kleinste Bedeutungselement;

Bedeutungsmerkmal; semantisches Merkmal.“32

Ich gehe von den Bedeutungen 'Zeit' oder

'Optik' aus und ich suche onomasiologisch die Worte, die in Schlußchor verwendet werden,

um die Konzepte 'Zeit' und 'Optik' zu benennen.

Auch bei der Selektion der Worte und Wortgruppen die zum Wortfeld der Optik

gehören habe ich diese Methode benutzt. Die Worte 'sehen', 'Spiegel', 'Klarheit', 'Auge',

'undurchsichtig', 'versehen'… enthalten das gemeinsame Sem 'Optik' oder 'visuell'. Ich habe

den Text sehr eingehend untersucht und alle Worte oder Wortgruppen in Bezug auf Zeit

horizontal in einer Exceldatei aufgelistet (cf. Tabelle Zeit in der Anlage). Vertikal habe ich

die Seitennummer des Stückes aufgezählt. Auf diese Art und Weise konnte ich angeben

welche Worte in Bezug auf Zeit bzw. auf Optik vorkommen. Um die Menge an Daten zu

beschränken, bin ich wieder onomasiologisch vorgegangen. Dabei habe ich gesucht nach

einem gemeinsamen Sem, das bestimmte Worte und Wortgruppen teilen. Auf diese Art und

Weise konnte ich dreizehn Wortfelder in Bezug auf Zeit und sieben Wortfelder in Bezug

auf Optik unterscheiden. Die Wortfelder in Bezug auf Zeit sind: Aufteilungen der Zeit,

lange Zeit, Zeitpunkt (vergangen oder zukünftig), Zeitpunkt in der Vergangenheit, gerade

passiert, Zeitpunkt heute, Zeitpunkt in der Zukunft, Rekurrenz, bis/vor einem Zeitpunkt,

nach einem Zeitpunkt, negative Zeit, durative Zeit und übrige. Die Wortfelder in Bezug auf

Optik sind: optische Urteile, optische Wiedergabe, sehen/wahrnehmen, Wahrnehmer,

Hilfsmittel/ Instrumente, falsche Optik und übrige.

31

Ingrid Kühn: Lexikologie. Eine Einführung. Tübingen: Niemeyer, 1994, S. 56. 32

Kühn: Lexikologie, S. 118.

17

Der nächste Schritt, aus dieser Datenmenge nützliche Resultate ableiten zu können

war das Visualisieren der Daten. Erstens habe ich einige allgemeine grafische

Darstellungen produziert. Ich habe die Anzahl Worte in Bezug auf Zeit in jedem Akt und

im ganzen Stück verglichen mit der Anzahl Worte in Bezug auf Optik (cf. Anlage 1, Grafik

1, 2 ,3 und 4). Darauf habe ich Grafiken aufgestellt, die die Frequenz der Äußerungen über

die Wortfelder der Zeit wiedergeben, die habe ich beschränkt auf 3 Wortfelder: ferne

Vergangenheit, die nahe Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Wortfelder

der Optik waren zu verschieden und habe ich beim Visualisieren nicht weiter

zusammenfügen können.

Beim Vergleich der Akten ist es wichtig, aufzumerken, dass nicht jeder Akt die

gleiche Seitenanzahl zählt. Der erste Akt umfasst dreizehn Seiten, der zweite Akt

einundzwanzig und der dritte Akt achtzehn Seiten. Es ist also logisch, dass es im zweiten

Akt insgesamt mehr Worte gibt. Ich betrachte deswegen auch nicht die Anzahl Worte,

sondern die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Akten. Dadurch, dass ich nicht nur

im ganzen Stück, sondern auch innerhalb jedes Akts die Entwicklung von Zeit und Optik

festlegen wollte, habe ich in den Tabellen und Grafiken die Worte pro Seite geordnet (cf.

Anlage). Nicht jede Seite enthält die gleiche Worteanzahl. Auf den letzten Seiten jedes

Aktes stehen höchstens elf Zeilen. Ein zweiter Aspekt, der beim Interpretieren der Grafiken

beachtet werden muss, ist also die Tatsache, dass die Tiefpunkte am Ende der Akten keinen

inhaltlichen Grund haben.

Auf der Grundlage des Theatertextes und dieser Grafiken untersuche ich inwieweit

Zeit und Optik in Schlußchor postdramatisch gestaltet werden. Für die Kennzeichen des

postdramatischen Theaters nehme ich Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters in

Anspruch.

18

3. Postdramatisches Theater

In dieser Arbeit benutze ich Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen

Theaters33

als Grundlage für meine Analyse des Stückes Schlußchor, weil er der

Hauptvertreter in der Debatte über den neuen Theatertendenzen und dem postdramatischen

Theater ist. Doch werde ich noch einige Male auf Manfred Pfisters Das Drama34

, das das

klassische, dramatische Theater beschreibt, und auf Peter Szondis Theorie des modernen

Dramas35

, das den Übergang vom dramatischen zum postdramatischen Theater anhand

einer Krise ins Theater beschreibt, zurückgreifen, um die Unterschiede zwischen dem

dramatischen und dem postdramatischen Theater genau betrachten zu können.

Weil ich Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters als

theoretischen Rahmen für meine Untersuchung verwende, übernehme ich auch seine

Terminologie. An erster Stelle steht der Begriff 'postdramatisches Theater'. Lehmann selbst

sagt in seinem Kapitel Wortwahl36

dass es eine Reihe von Gründen gibt den Begriff

'postdramatisch' statt 'postmodern' vorzuziehen. Der wichtigste Grund ist der folgende:

Wenn der Ablauf einer Geschichte mit ihrer internen Logik nicht mehr das Zentrum

bildet, wenn Komposition nicht mehr als eine organisierende Qualität, sondern als

künstlich aufgepfropfte ›Manufaktur‹ empfunden wird, als bloß scheinhafte

Handlungslogik, die, wie es Adorno an den Produkten der Kulturindustrie

verabscheute, nur Klischees bedient, so steht das Theater konkret vor der Frage nach

Möglichkeiten jenseits des Dramas, nicht unbedingt jenseits der Moderne.37

Daneben muss auch den wichtigen Unterschied zwischen Theater und Drama

beachtet werden. Thomas Mann hat in seinem 1908 erschienenen Versuch über das Theater

geschrieben, das Drama sei eine Dichtungsform, während das Theater die Literatur nicht

braucht.38

Wenn Lehmann von dem Postdramatischen Theater spricht, meint er, dass die

dramatische Dichtungsform durchbrochen wird.

33

Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999. 34

Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Wilhelm Fink Verlag, 2001. 35

Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1956. 36

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 29. 37

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 29. 38

Roberg: auf der Bühne, S. 110.

19

Der größte Unterschied mit dem dramatischen Theater ist, dass das postdramatische

Theater definiert wird als ein Theater, in dem nicht länger der linguistische Text und der

Inszenierungstext primär sind, sondern der Performance Text. Der linguistische Text ist nur

ein aus Worten und Sätzen zusammengesetzten Text. Der Inszenierungstext ist der Text

„mit Spielern, ihren ›paralinguistischen‹ Ergänzungen, Reduktionen oder Deformationen

des linguistischen Materials; mit Kostümen, Licht, Raum, eigener Zeitlichkeit usw.“39

Der

Performance Text setzt sich zusammen aus der „Art der Beziehung des Spiels zu den

Zuschauern, [der] zeitliche[n] und räumliche[n] Situierung, Ort und Funktion des

Theatervorgangs im sozialen Feld.“40

Die gesamte postdramatische Theatererfahrung wird

von viel mehr sinnlichen Wahrnehmungen als nur der Wiedergabe eines Textes bestimmt.

Nach Hans-Thies Lehmann sind Musik, Körper, Bild, zeitliche oder räumliche

Bedingungen im postdramatischen Theater genauso wichtig wie der Text:

Das sprachliche ‚Material„ und die Textur der Inszenierung stehen in

Wechselwirkung mit der im Konzept ‚Performance Text„ umfassend verstandenen

Theatersituation. Auch wenn dem Begriff Text dabei eine gewisse Unschärfe eignet:

er bringt zum Ausdruck, daß jeweils eine Verknüpfung und Verwebung von

(mindestens potentiell) bedeutungtragenden Elementen stattfindet. Durch die

Entwicklung der Performance Studies ist in den Vordergrund getreten, daß die

gesamte Situation der Aufführung für das Theater, für die Bedeutung und den Status

jedes einzelnen Elements darin konstitutiv ist.41

Lehmann sagt hier aber nicht, dass es im dramatischen Theater keinen Inszenierungstext

und keinen Performance Text gibt, sondern diese sind von viel weniger Bedeutung als im

postdramatischen Theater. Und im dramatischen Theater ist der linguistische Text am

wichtigsten, während der Inszenierungstext und der Performance Text nur Hilfsmittel sind,

um den linguistischen Text so gut wie möglich zu unterstützen.

Postdramatisches Theater ist nicht allein eine neue Art von Inszenierungstext (erst

recht nicht nur ein neuer Typ von Theatertext), sondern ein Typ des

Zeichengebrauchs im Theater, der diese beiden Schichten des Theaters von Grund auf

umwühlt durch die strukturell veränderte Qualität des Performance Text: er wird

mehr Präsenz als Repräsentation, mehr geteilte als mitgeteilte Erfahrung, mehr

Prozeß als Resultat, mehr Manifestation als Signifikation, mehr Energetik als

Information.

39

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145. 40

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145. 41

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 145.

20

Ich untersuche in dieser Arbeit nur den linguistischen Text, und wenn ich vom

Inszenierungstext oder vom Performance Text rede, ist das eine Vermutung oder eine

Annahme, von wie diese aussehen, denn ich hatte bisher nicht die Möglichkeit eine

Aufführung von Schlußchor zu sehen. Im linguistischen Text mache ich jedoch einen

Unterschied zwischen demjenigen, was explizit sprachlich im Text steht und also gesagt

wird, und demjenigen was thematisiert wird, ohne dass explizit darüber gesprochen wird.

3.1.Verlust der Synthesis

In Lehmanns Theorie unterscheidet sich das postdramatische Theater auch durch das

Ausfallen der Synthesis. „Im postdramatischen Theater liegt offenkundig die Forderung

beschlossen, es müsse an die Stelle der vereinigenden und schließenden Perzeption eine

offene und zersplitterte treten.“42

Anstatt der Synthesis des dramatischen Theaters wird im

postdramatischen Theater die Freiheit betont: „Freiheit von Unterordnung unter

Hierarchien, Freiheit vom Zwang zur Vollendung, Freiheit von Kohärenzforderung."43

Schlußchor ist aus drei unabhängigen Akten aufgebaut. Der Raum des ersten Aktes

ist unbestimmt, und die Gestalten sind Mitglieder eines Chors. Im zweiten Akt sind Lorenz

und Delia die Hauptgestalten, deren Handlungen im Haus Delias stattfinden. Der dritte Akt

spielt in einem Restaurant und enthält mehr Individuen als die ersten zwei Akten: Ursula,

Solveig, Anita, Patrick und Anitas Mutter. Jeder Akt vollzieht sich also in einem anderen

Raum und mit anderen Gestalten. Neben der Zersplitterung taucht in jedem Akt den

Deutschlandruf auf.

In den drei der Handlung nach nicht zusammenhängenden Akten wird das Wort

[Deutschland] von der Figur des ‹Rufers› hervorgebracht, der zumeist unvermittelt

die Bühne betritt und sie sogleich wieder verlässt. Als Gestalt am Rande des

Geschehens verbindet er den Raum der Bühne mit seinem Außen und verkörpert

somit die für das klassisch-geschlossene Drama unerlässliche Figur des Boten.44

Der Rufer ist in der Gestalt des Boten laut Stefan Willer ein Kennzeichen des klassischen

dramatischen Dramas. Der Rufer taucht in jedem Akt wenigstens zwei Mal auf und zieht

42

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 140. 43

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 141. 44

Willer: Strauß zur Einführung, S. 125.

21

sich als roter Faden durch das Schauspiel. Im ersten Akt ist er noch ein anonymes

Chormitglied: „M8 brüllt Deutschland!“45

. Im zweiten Akt bekommt er die Benennung

'Rufer' und erzählt schon mehr über den Inhalt seines Ausrufes:

DER RUFER Deutschland!

LORENZ Warum tun Sie das?

DER RUFER Ich muß mir Luft machen. Drinnen heißt es an sich halten. […] Ab nun

verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch hübschen

Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten

entblößen? Ihr Knie vielleicht? Von Wegen.46

Im dritten Akt ist er wie im zweiten Akt die Gestalt, die über den Fall der Mauer und über

die Wichtigkeit dieses Geschehens in der Geschichte erzählt.

Der Rufer kommt durch die Tür gestürzt. Er zieht ein Paar aus der DDR mit sich,

bescheidene, etwas unförmig wirkende Leute in ihren graublauen Blousons.

DER RUFER Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich,

Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind wir dabei gewesen. Die Grenzen sind

geöffnet! Die Mauer bricht! Der Osten… der Osten ist frei! Er läuft wieder zurück

auf die Straße.47

Anhand des Rufers ist es möglich, das allgemeine Thema der drei Akten, den Mauerfall, zu

entdecken. Abgesehen von der Zersplitterung der Akten und dem Ausfallen der Synthesis,

ist der Rufer das Element, das doch für Einheit sorgt. Lehmann meint das „Wenn sich [im

postdramatischen Theater] aus den Teilstrukturen dennoch etwas wie eine Ganzheit

entwickelt, so ist diese nicht mehr nach vorgegebenen Ordnungsmustern dramatischer

Kohärenz oder umfassender symbolischer Verweise organisiert, realisiert keine

Synthesis.“48

In Strauß„ Theaterstück hat die Rolle des Rufers eine Symbolische

Bedeutung, denn der Rufer ist derjenige der in den drei Akten über den Mauerfall spricht.

Die übrigen Elemente: Figuren, Raum und dramatischen Handlung sind in jedem Akt so

verschieden, dass aber kaum ein Muster zu erkennen ist. Schlußchor ist also ein Beispiel

von dem postdramatischen Kennzeichen der Verlust der Synthesis.

Das Ausfallen der Synthesis hängt mit einem weiteren Merkmal des

postdramatischen Theaters zusammen. Ein dramatisches Theaterstück ist teleologisch

45

Strauß: Theaterstücke, S. 416. 46

Strauß: Theaterstücke, S. 435. 47

Strauß: Theaterstücke, S. 456. 48

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 141.

22

aufgebaut und das ganze Stück lebt auf einen Höhepunkt hin. In einem postdramatischen

Schauspiel fehlt dadurch, dass es an Synthesis mangelt, das teleologische Prinzip. Auch in

Schlußchor wird das Ende nicht durch einen Höhepunkt, in dem das ganze Stück gipfelt,

gekennzeichnet. Jeder Akt an sich endet unabhängig von den anderen Akten. Der erste Akt

endet mit der erfolgreichen Handlung des Fotografierens nachdem in diesem Akt auf das

Fotografieren hingelebt wurde. Das Ende des zweiten Akts ist unerwartet, Lorenz erschießt

sich. Der Schlussakt geht noch erstaunlicher aus, insofern Anita eine unbestimmte

Gräueltat mit einem Steinadler ausführt. Die Schlüsse der letzten zwei Akten sind

Höhepunkte, ohne dass auf diese Handlungen hingelebt wurde. Ein teleologisches Prinzip,

das sich während des ganzen Stückes aufbaut, gibt es also nicht.

3.2. Präsentation im postdramatischen Theater

Hans-Thies Lehmann bespricht in seiner Theorie die Präsentation und Repräsentation im

postdramatischen Theater. Im dramatischen Theater wird eine Geschichte repräsentiert,

indem sie von Gestalten auf der Bühne vertreten wird. Im postdramatischen Theater kommt

dazu, dass das Theater, wie alle Künste der Postmoderne, sich selbst thematisiert. Das führt

zu einer Problematisierung der Realität auf der Bühne, diese bekommt durch die

Selbstreflexion den Status einer scheinhaften Realität. Der Augenblick, das Hauptmotiv in

Schlußchor, ist das angemessene Beispiel dieser Selbstreflexivität. Theater ist immer eine

Folge von Augenblicken. In Schlußchor werden die Augenblicke problematisiert, indem sie

verpasst oder versehen werden.

Das dramatische Theater verursacht keine Probleme auf dieser Ebene, weil es gar

nicht präsentieren will. Die Grundlage des dramatischen Theaters ist nur Text und damit

auch Repräsentation des Texts. Die ganze Geschichte des dramatischen Theaters hindurch

hatte der Text einen totalitären Charakter, der die ganze Theatererfahrung bestimmte. Das

Ziel des dramatischen Theaters ist, eine Illusion für das Publikum zu kreieren.49

Ganzheit, Illusion, Repräsentation von Welt sind dem Modell ›Drama‹ unterlegt,

umgekehrt behauptet dramatisches Theater durch seine Form Ganzheit als Modell des

49

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 21.

23

Realen. Dramatisches Theater endet, wenn diese Elemente nicht mehr das

regulierende Prinzip, sondern nurmehr eine mögliche Variante der Theaterkunst

darstellen.50

In Hans-Thies Lehmans Theorie wird ein Kapitel dem Einbruch des Realen in das

postdramatischen Theater gewidmet. In diesem Kapitel erklärt er, wie im postdramatischen

Theater die Illusion des dramatischen Theaters dadurch, dass andere Mittel statt nur Text

benutzt werden, in Frage gestellt oder kritisiert wird. Die Repräsentation im Theater wird

also durchbrochen, indem man versucht, sie durch Präsentation, durch die Erfahrung des

Realen, zu ersetzen. Die Zuschauer können die Präsentation des Theaters erfahren wenn sie

zum Beispiel direkt adressiert werden oder wenn die Saallichte plötzlich angehen weil die

Schauspieler eine Rauchpause machen, während sie das Publikum anblicken. In diesen

Fällen wird die Illusionsbildung auf der Bühne deutlich durchbrochen. Eine Schwierigkeit

beim Unterschied zwischen der Realität und der Illusion des Theaters ist, dass alle

Theaterzeichen zugleich physisch reale Dinge sind. Für die Optik ist es wichtig zu behalten,

dass zum Beispiel der Stuhl, der auf der Bühne visuell wahrgenommen wird, nicht nur ein

reeller Stuhl, sondern auch ein Zeichen für einen Stuhl in der Illusion des Theaters ist. Da

es so eine illusionäre Welt gibt, wird es auch leichter, in die dramatische Welt der

Repräsentation die reelle Welt der Präsentation einbrechen zu lassen. Präsentation und

Repräsentation gehören immer zusammen. In Schlußchor wird an erster Stelle repräsentiert,

ich werde untersuchen, ob auch Einbrüche des Reellen festgestellt werden können.

Die Präsentation im Theater kann auch auf eine eingehendere Weise als nur visuell

passieren. Die Form des postdramatischen Theaters, wobei die Zuschauer die Realität

erfahren und nicht nur wahrnehmen, wird von Lehmann als Ereignistheater beschrieben. Im

Ereignistheater geht es um „das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten, die

in dem Moment, da sie geschehen, ihren Lohn dahin haben und keine bleibenden Spuren

des Sinns, des kulturellen Monuments usw. hinterlassen müssen.“51

Man geht also nicht

von der traditionellen Theatersituation mit einer Bühne und einem Publikum aus, sondern

die Partizipation und Interaktion des Publikums bestimmen die dramatische Handlung. Als

Beispiele werden Happening, Event und soziale Situation genannt. Ein Happening ist eine

50

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22. 51

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 178.

24

Unterbrechung des Alltagslebens die zum Beispiel in einem Laden oder auf der Straße

aufgeführt wird. In einer sozialen Situation ist es wichtig, dass alle Personen (und nicht nur

die Akteure) bestimmen, wie die Szene abläuft. Alle beteiligten Personen erfahren die

Situation auf eine individuelle Weise, da sie alle Teil davon ausmachen. Die Happening

und die soziale Situation haben das Merkmal, dass der Prozeß wichtiger ist als das fertige

Resultat. So wird Theater nach Lehmann bestimmt „als Tätigkeit des Hervorbringens und

Handelns statt als Produkt, als wirkende Kraft (energeia), nicht als Werk (ergon).“52

Schlußchor erscheint als ein Suchprozess nach der richtigen Darstellung eines Augenblicks,

indem es drei voneinander fast unabhängige Akten gibt, die den Augenblick thematisieren.

Es ist, als ob drei fertige Resultate, denn jeder Akt auf sich bildet eine geschlossene Einheit,

zusammen einen Prozess der Suche darstellen. Wie in jedem Akt den Augenblick genau

dargestellt wird, analysiere ich im Mittelteil dieser Arbeit.

Nach der Beschreibung des Einbruchs des Realen ist es deutlich, dass dieser Einbruch

bei Strauß nicht so eingehend ist wie die Events oder Happenings, die hier beschrieben

werden. Schlußchor geht immer noch von der traditionellen Theateraufstellung mit einer

Bühne und einem Publikum aus. Der Einbruch des Realen passiert hier viel subtiler und ist

damit auch schwieriger von dem Rest des Stückes zu unterschieden. Weil das Hauptmotiv

dieses Theaterstückes 'der Augenblick' ist, wird also nicht die Situation oder das Event

betont, sondern vielmehr ein plötzlicher, augenblicklicher Einbruch des Realen.

In dieser Magisterarbeit will ich untersuchen wie Strauß in Schlußchor die Illusion

des dramatischen Theaters auf zeitlicher und visueller Ebene durchbricht. Ich will

nachgehen, wie er die Zuschauer auf der visuellen Ebene etwas sehen lassen kann, das

nichts repräsentiert, sondern selbst Realität ist, und wie Strauß das Publikum auf der

zeitlichen Ebene etwas erleben lassen kann, so dass sie das Gefühl haben, dass es in dem

Moment geschieht und keine Repräsentation eines Ereignisses aus der Vergangenheit ist.

52

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 179.

25

3.3. Botho Strauß' Ästhetik der Präsenz

Auch Strauß selbst hat eine Theorie entwickelt, die auf den Unterschied zwischen

Präsentieren und Repräsentieren Bezug nimmt. Botho Strauß ist ein Vertreter der

Realpräsenz in der Kunst. Obwohl Präsentation und Präsenz auf den ersten Blick eng

miteinander verbunden sind, ist es doch wichtig, das postdramatische Theater nicht sofort

mit Strauß„ Ästhetik der Präsenz gleichzusetzen. Daher werde ich jetzt, nachdem ich im

vorigen Kapitel die Kennzeichen der Präsentation im postdramatischen Theater nach

Lehmann beschrieben habe, auch Botho Strauß„ Ästhetik der Präsenz erklären.

Botho Strauß hat den Begriff 'Ästhetik der Präsenz' zum ersten Mal benutzt in seinem

Essay Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der

Anwesenheit, dem Nachwort zu George Steiners 1990 erschienenem Buch Von realen

Gegenwart, Hat unser Sprechen Inhalt? Steiners Darlegung mündet in die These, „daß

jeder echten Kunst und Dichtung ein Moment des Transzendenten innewohnt.“53

George

Steiner benutzt in seiner Arbeit den Begriff 'real presences', den Strauß übersetzt hat mit

'Realpräsenz'54

, einem Begriff aus der Theologie. Bernhard Greiner hat daraus den Begriff

'Theater der Präsenz' abgeleitet, mit dem er die Stücke Schlußchor und Das Gleichgewicht

analysiert. Diese Stücke lassen „›das absolut Unerwartete des Kunstwerks, Präsenz statt

Re-Präsentation‹ mythopoetisch zum Ereignis werden.“55

Strauß„ Nachwort zu Steiners Arbeit nimmt seinen Ausgang in dem einmaligen

geschichtlichen Ereignis, das im Jahre 1989 stattfand.

Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte,

Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt,

widerrufen. Das Unvorhersehbare hatte sich sein Recht verschafft und zerschnitt das

scheinbar undurchdringliche Geflecht von Programmen und Prognosen,

Gewöhnungen und Folgerichtigkeiten.56

53

Parry: Aufstand, S. 60. 54

Wirkliche Gegenwart Christi in Brot und Wein beim Abendmahl. Dudenredaktion: Duden. Deutsches

Universalwörterbuch. 6. Überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim: Dudenverlag, 2006, S. 1362. 55

Roberg: auf der Bühne, S. 123. 56

Botho Strauß. „Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit.“

Nachwort in: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Hg. von George Steiner. München: Carl

Hanser, 1990, S. 317.

26

Gerade dieses „von einem Tag auf den anderen“ hat Botho Strauß auf die Künste

übertragen. „Strauß geht es nun darum, die Erfahrung der Plötzlichkeit als ästhetische

Kategorie zu verfolgen.“57

Damit will er aber nicht auf den Ersatz der Repräsentation durch

reine Präsentation in den Künsten hindeuten; die Künste sollen die Vergangenheit so

repräsentieren, dass sie hier und jetzt erscheinen und auf das Publikum einwirken. Botho

Strauß hat in seiner Georg-Büchner-Preisrede, ein Jahr vor dem Essay Der Aufstand gegen

die sekundäre Welt, seine Ansicht des Theaters schon erklärt:

Das Theater ist der Ort, wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit

einschlägt und gefunden – und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der

Vergegenwärtigung getilgt oder überzogen wird. Es ist altmodisch und lächerlich,

sich sogenannter Modernisierungen zu bedienen, den Jeep in Wallensteins Lager

vorfahren zu lassen. Viel anwesender ist das Theater dort, wo es zum Schauplatz

seines eigenen Gedächtnisses, seiner originalen Mehrzeitigkeit wird.[…] Wo es aber

gelingt und das Fernste durch die Schauspieler in unfaßliche Nähe rückt, gewinnt

Theater eine verwirrende Schönheit und die Gegenwart Augenblicke einer

ungeahnten Ergänzung.58

Hier sagt Strauß deutlich, dass er die Techniken des postdramatischen Theaters als

„billigen Tricks der Vergegenwärtigung“ abweist. Stattdessen will er ein Theater gestalten,

das Fremdzeit einschlagen lässt und das Fernste durch die Schauspieler ins Jetzt rücken

lässt. Er will mit anderen Worten die Vergangenheit präsentieren, als ob sie jetzt stattfindet.

Das postdramatische Theater von Lehmann würde die Präsentation der Vergangenheit

eigentlich Repräsentation nennen. Denn die Vergangenheit gibt es schon, und diese wird im

Schauspiel in einer neuen Version wiederholt. In seinem Essay Der Aufstand gegen die

sekundäre Welt erklärt Strauß, dass vor allem die Sprache für diese neue Erfahrung des

Unmittelbaren sorgt.

Die Unangemessenheit der sprachlichen Explikation, die Armut der ›Antwort‹, die

wir auf die Fülle des Empfangs geben, wenn wir zum Beispiel aufmerksam Musik

hören, ist eine erste Erfahrung des Unmittelbaren und der Andersheit, die im

Kunstwerk Asyl genießen. Das unerklärlich Schöne verbleibt in der complicatio, in

der Eingefaßtheit aller Bedeutungen, es wird unverletzt unenthüllt erlebt. Es bringt

uns in Berührung ›mit dem Stoff, der unerträumt ist in unserer Stofflichkeit‹. Weder

ist es ein utopisches Humanum noch ein höherer ästhetischer Gemütsreflex noch

überhaupt etwas vom Menschen Vermochtes, das sich in der Schönheit verbirgt.

Vielmehr klingt in ihm an oder schimmert durch: Realpräsenz, Anwesenheit; und 57

Willer: Strauß zur Einführung, S. 115. 58

Strauß„ Büchner-Preis-Rede S. 34-35, zitiert nach: Roberg: auf der Bühne, S. 114.

27

zwar unabhängig davon, welchen historischen oder biografischen Interessen sich die

Entstehung eines Romans oder eines Gemäldes verdankt.59

Die Künste sollen also beim Publikum eine plötzliche Wirkung haben, die sich dem

Präsentieren so gut wie möglich nähert. „So ergibt sich eine Verbindung zwischen der

Zeitlichkeit ästhetischer Erfahrung – gekennzeichnet durch Unmittelbarkeit, Plötzlichkeit,

Emergenz – und der Zeitlichkeit der Kunstwerke: ihrer Tradition, Dauer, Beständigkeit.“60

Greiner übertragt das auf das Theater und nennt dieses Theater eine „Grenzüberschreitung

von einem darstellenden zu einem ereignishaften Theater“.61

In der Forschungsliteratur gibt es aber verschiedene Meinungen über die Frage, was

die 'Präsenz' konkret bedeutet. Grieshop erklärt, dass Strauß„ Präsenz eine Präsenz des ganz

Anderen ist.

Das emergente Ereignis stellt qua definitione einen Augenblick da, in dem ein

Unerwartetes und Unvorhersehbares erscheint, etwas, das absolut neu und aus bisher

Bekanntem nicht ableitbar ist, kurz: ein ›ganz anderes‹. Diese Analogie von

Emergenz und ›Ganz Anderem‹ ist zentral für die Überlegungen von Strauß.62

Strauß„ Realpräsenz kommt, so Parry, zum Ausdruck in seinen Dramen wie Kalldewey,

Farce (1981), Der Park (1983), Die Fremdenführerin (1986) und Die Zeit und das Zimmer

(1989). „In diesen Dramen wurde das Mythische direkt in die Gegenwart

hineingetragen.“63

In Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters wird die

Verwendung der Mythologie und der Vergangenheit nicht als postdramatischer

Zeichengebrauch gedeutet. Einerseits ist die Absicht in Strauß„ Ästhetik der Präsenz und im

postdramatischen Theater dieselbe, das Ziel ist Präsentation statt Repräsentation. Die

Mittel, die benutzt werden, sind allerdings verschieden. In der Ästhetik der Präsenz wird

Mythologie benutzt während das Anwenden der Vergangenheit und der Mythologie für

Lehmann mit dem postdramatischen Theater unversöhnbar sind. Wir können also folgern,

dass Strauß„ Ästhetik der Präsenz und die Präsentation im postdramatischen Theater weit

auseinanderliegen. Die Frage die ich untersuche ist denn auch nicht, inwieweit Schlußchor

59

Strauß: Aufstand, S. 317. 60

Willer: Strauß zur Einführung, S. 116. 61

Zitiert nach: Roberg: auf der Bühne, S. 123. 62

Grieshop: Augenblick, S. 187. 63

Parry: Aufstand, S. 54.

28

ein Beispiel von Strauß„ Ästhetik der Präsenz ist, sondern inwieweit das Theaterstück

postdramatische Kennzeichen des Präsentierens enthält.

Im nächsten Kapitel fange ich mit meiner Analyse der Zeit und Optik in Schlußchor

an. Ich bespreche zuerst die Zeit in den drei Akten, denn die erste Assoziation, die man mit

dem Wort 'Augenblick' verbindet, ist die zeitliche Bedeutung eines Moments. Die

Definition im Duden64

betont die zeitliche Bedeutung, da die optische Bedeutung

heutzutage nebensächlich ist. Innerhalb des Theaterstückes Schlußchor sind die Worte, die

zum Wortfeld der Zeit gehören zahlreicher als die Worte, die Optik thematisieren. Aus

diesen Gründen ist es logischer, zuerst die Zeit im Stück zu analysieren und davon

ausgehend die kleinere Dimension der Optik zu untersuchen. Aus der größeren Zahl der

Worte, die Zeit explizieren, kann aber nicht abgeleitet werden, dass Zeit in Schlußchor

wichtiger sei als Optik, denn Zeit und Optik können auch implizit dargestellt werden.

Daher betrachte ich für jeden Akt zuerst die expliziten und darauf die impliziten Verweise

auf Zeit. Derselben Vorgehensweise folge ich für die Analyse der Optik in Schlußchor.

4. Zeit im Theater

In diesem Kapitel werde ich vom Allgemeinen bis ins Detail vorgehen. Zuerst gebe ich eine

kurze Übersicht der Zeitauffassungen im dramatischen Theater. Hierauf folgt eine

Zusammenfassung der Zeitkonzeption, die Hans-Thies Lehmann im Rahmen seiner Theorie

über das postdramatische Theater erwähnt. Drittens bespreche ich die Zeit spezifisch im

Stück Schlußchor. Zum Schluss analysiere ich den Zeitgebrauch in jedem Akt des Stückes.

Dabei achte ich neben den expliziten Ausdrücken des Wortfeldes 'Zeit' auch auf die

Darstellung einer Zeiterfahrung außerhalb des linguistischen Textes, die zu einer

Präsentation der Zeit führt.

64

„Augenblick [auch:--‚-], der [mhd. ougenblick, eigtl.: (schneller) Blick der Augen]: Zeitraum von sehr

kurzer Dauer; Moment“ Dudenredaktion: Duden, S. 205.

29

4.1. Dramatische Zeitästhetik

Der Faktor 'Zeit' ist nicht nur sehr wichtig im Zusammenhang mit dem Motiv des

Augenblicks, sondern auch in Bezug auf das Theater im Allgemeinen. „Raum und Zeit

stellen zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten

die konkreten Grundkategorien des dramatischen Textes dar.“65

Ein wichtiger Unterschied

beim Beobachten der Kategorie Zeit im dramatischen Theater ist der Unterschied zwischen

der realen Zeit auf der Bühne, welche die Schauspieler und die Beobachter erleben, und der

fiktiven Zeit der Geschichte, die dargestellt wird. Auch die Absolutheit des Dramas ist eine

der wichtigsten Grundvoraussetzungen einer korrekten dramatischen Zeitinterpretation,

denn ein traditionelles Drama repräsentiert eine fiktive Zeit und Welt, die nicht mit der

realen Zeitwahrnehmung des Publikums oder der Schauspieler zusammenhängt. „Die

Forderung, daß der Zuschauer sich aus seiner Alltagszeit in einen ausgegrenzten Bereich

der ›Traumzeit‹ begibt, seine Zeitsphäre verläßt, um in eine andere einzutreten, war die

Basis des dramatischen Theaters.“66

Im klassischen, dramatischen Theater werden die zeitliche Relationen „durch zwei

Achsen bestimmt: die 'horizontale' Achse des sukzessiven Nacheinander und die 'vertikale'

Achse des Gleichzeitigen.“67

Die Sukzession impliziert den Verlauf der Geschichte (das

Dargestellte) und den Verlauf auf der Bühne (die Darstellung). Gemäß Pfister enthält die

vertikale Achse der Simultaneität das Räumliche, denn während einer Vorstellung können

sich verschiedene Handlungen gleichzeitig auf der Bühne vollziehen. Auf dieser Achse

wird zum Beispiel bestimmt, wo die Gestalten sich während einer Szene auf der Bühne

befinden.

Wenn wir uns aber das postdramatische Theater ansehen, wird dieses Theater

gerade 'postdramatisch' genannt, weil es das Absolute des dramatischen Theaters hinter sich

lässt. Der Weg vom dramatischen bis zum postdramatischen Theater wird in Peter Szondis

Theorie des modernen Dramas68

, das im Jahre 1956 erschien, erläutert. Er beschreibt der

Übergang vom dramatischen, absoluten Theater zum postdramatischen Theater anhand

65

Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München: Wilhelm Fink Verlag, 2001, S. 327. 66

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 328. 67

Pfister: Das Drama, S. 361. 68

Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. Frankfurt: Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M., 1956.

30

einer Krise im Theater. Diese Krise wird, so Szondi, exemplarisch von Theaterstücken von

Ibsen, Tsjechov, Strindberg, Maeterlinck und Hauptmann vertreten. Insofern zum Beispiel

Ibsens Stücke die Vergangenheit oder Strindbergs Schauspiele das Innerleben der

Menschen thematisieren, durchbrechen sie die Grundkategorien des dramatischen,

absoluten Theaters. Diese Grundkategorien sind eine geschlossene Handlung, die in der

Gegenwart stattfindet und in den zwischenmenschlichen Dialogen geführt werden. Szondi

sieht in den verschiedenen Strömungen wie der Naturalismus, das Konversationsstück, der

Einakter und der Existentialismus Versuche, das dramatische Theater aus dieser Krise zu

retten. Hans-Thies Lehmann dagegen sieht diese Strömungen als Ankündigungen für das

postdramatische Theater.

Die Absolutheit der Zeit wird auch in Schlußchor, wie in die meisten

postdramatischen Theaterstücken, durchbrochen. „Die postdramatische Ästhetik der

Realzeit sucht zwar ebenfalls nicht die Illusion, das heißt aber nun: der szenische Vorgang

ist von der Zeit des Publikums nicht abzulösen.“69

Das Durchbrechen der absoluten Zeit ist

zugleich ein Durchbrechen der Zeitachsen. Sukzession und Simultaneität werden, je nach

dem Theaterstück, mehr oder weniger vernachlässigt und das hat eine größere Direktheit

und eine kleinere Mittelbarkeit zur Folge. Im dramatischen Theater hat die Distanzierung

der Zeit nach Pfister jedoch keine Folgen für die Mittelbarkeit:

Es ist jedoch keineswegs generell so, daß eine große zeitliche Distanzierung immer

eine verstärkte Mittelbarkeit und Indirektheit des Realitätsbezugs, und eine geringere

zeitliche Distanzierung oder die zeitliche Deckung eine größere Direktheit bedeuten

würde; weder brauchen zeitliche Distanzierung und Aktualität einander

auszuschließen, noch muß Deckung der Zeitstufen immer einen verstärkten

Realitätsbezug implizieren.70

Im postdramatischen Theater strebt man, wie immer im Theater, nach der größtmöglichsten

Direktheit. Um die Unmittelbarkeit zu erreichen wird im postdramatischen Theater die

Technik des Präsentierens benutzt.

In Pfisters Beschreibung des dramatischen Theaters wird auch über die fiktive

Chronologie gesprochen, die durch allerhand von Techniken konkretisiert wird. Im

postdramatischen Theater aber wird diese Chronologie fast immer durchbrochen. Die

69

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 329. 70

Pfister: Das Drama, S. 360.

31

Einheit von Zeit ist nicht wichtig mehr. Auch in Strauß„ Schlußchor ist das der Fall, in den

nächsten zwei Kapiteln erläutere ich die postdramatische Zeitästhetik und die Zeitästhetik

in Schlußchor.

4.2. Postdramatische Zeitästhetik

Innerhalb seines allgemeinen Überblicks teilt Hans-Thies Lehmann das postdramatische

Theater in sechs Bausteine auf, die er Schritt für Schritt analysiert: Performance, Text,

Raum, Zeit, Körper und Medien. Jetzt werde ich mich mit dem Baustein 'Zeit' beschäftigen.

„Für das Theater geht es immer um die erlebte Zeit, um das Zeiterleben, das Akteure und

Zuschauer teilen, und das offensichtlich nicht genau meßbar, sondern nur erfahrbar ist.“71

Lehmann verteilt die Zeit in Bezug auf das Drama in fünf Zeitschichten: die Text-Zeit, die

Zeit des Dramas, die Zeit der fiktiven Handlung, die Zeitdimension der Inszenierung und

die Zeit des Performance-Textes. In dieser Untersuchung werden vor allem die Text-Zeit,

die Zeit des Dramas und die Zeit der fiktiven Handlung analysiert. Die Text-Zeit ist die Zeit

des literarischen Textes, in welcher zum Beispiel der Rhythmus der Sätze oder die Pausen

durch Punkte wichtig sind. Die Zeit des Dramas ist dasjenige, was Aristoteles den Mythos

nennt und was analog in der Erzählforschung 'Erzählzeit' genannt wird.

Die Zeitorganisation des dramatischen Textes besteht aus der darin gewählten

Sequenz der Vorgänge und Szenen, kompliziert aber die Zeitstruktur sehr oft durch

Vorgriffe, Rückblenden, Parallelsequenzen und Zeitsprünge, die in aller Regel der

Komprimierung der Zeit dienen.72

Die Zeit des Dramas in Schlußchor enthält einundfünfzig Seiten die in drei Akten aufgeteilt

sind: einen Akt von zwölf, einen Akt von einundzwanzig und einen Akt von achtzehn

Seiten. Der Akt von einundzwanzig Seiten ist in zwei Teile aufgeteilt, einen Teil von vier

und eine halbe Seite und einen Teil von sechzehn und einer halben Seite.

Die Zeit der fiktiven Handlung dagegen wird ausschließend innerhalb der Handlung

und nicht im Text des Dramas oder in der Aufführung der Handlung gestaltet. In der

Erzählforschung wird dies analog 'erzählte Zeit' genannt. Die Zeit der fiktiven Handlung ist

schwieriger in Schlußchor festzustellen, weil in den Regieanweisungen keine

71

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 309. 72

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 310f.

32

Informationen über die Länge der verschiedenen Akten gegeben werden. Es gibt jedenfalls

keine großen Zeitsprünge oder Rückblenden. Alles geht in der Gegenwart vor, und in dieser

Gegenwart werden manchmal Erinnerungen aus der Vergangenheit erzählt. Die Zeit des

Dramas stimmt im Großen und Ganzen mit der Zeit der fiktiven Handlung überein.

Die Zeitdimension der Inszenierung kann hier nicht untersucht werden, weil sie bei

jeder Aufführung anders ist. Und auch die Zeit des Performance-Textes wird hier nicht

behandelt. „Dem Performance Text eignet eine jeweils eigentümliche Zeitstruktur für

Theater und Publikum: Pausen, Unterbrechungen, Zwischenspiele, gemeinsame Essen

klinken das Theater in einen sozialen Prozeß ein.“73

Ich arbeite mit dem Theatertext und

nicht mit einer Inszenierung oder Aufführung dieses Stückes, daher können nur die

Zeitschichten benutzt werden die ausschließend auf den Theatertext verweisen. Die Zeit die

dem Text inhärent ist, ist in dieser Untersuchung wichtig, nicht diejenige die sich bei jeder

Aufführung unterscheidet. Neben drei Zeitschichten (Text Zeit, Zeit des Dramas und Zeit

der fiktiven Handlung), die den ganzen Theatertext umfassen, ist in dieser Untersuchung

vor allem die Thematisierung der Zeit wichtig. Wenn zum Beispiel Gestalten explizit über

einen Zeitpunkt oder eine Geschichte reden, oder wenn eher implizit auf Zeit verwiesen

wird, werde ich das in meine Analyse einbeziehen.

4.3. Postdramatische Zeitästhetik in Schlußchor

Schlußchor ist, wie im Kapitel über das postdramatische Theater (cf. Kapitel 3) dargelegt,

ohne Zweifel postdramatisch, denn es ist keine klassische Intrige, in der anhand einer

Exposition und steigernder Spannungsmomente auf einen Höhepunkt hingelebt wird,

sondern es thematisiert in drei ganz verschiedenen Akten hauptsächlich das Verpassen

eines Augenblicks. In einer klassischen Intrige verläuft die Zeit ganz logisch und mit einer

bestimmten Regelmäßigkeit auf einen Höhepunkt zu. Da Schlußchor aus drei Akten

aufgebaut ist, die schwierig miteinander zu verbinden sind, und in denen es verschiedene

Höhepunkte gibt, zeigt das Zeitmuster dieses Stückes keine klare Struktur auf.

Ein zweiter Grund für die postdramatische Zeitästhetik ist das unregelmäßige

Zeitmuster. In Schlußchor wird die Zeit in den drei Akten auf eine unterschiedliche Weise

73

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 316f.

33

behandelt. Der erste Akt thematisiert den Augenblick des Fotografierens. Im zweiten Akt

gibt ein kurzer Augenblick Anlass zu der Möglichkeit einer Geschichte, während im

Schlussakt die große Geschichte wichtiger wird als der Augenblick. In jedem Akt werden

die entgegengesetzten Zeitzustände aber auch ständig einander gegenübergestellt. Der

Augenblick wird mit der Geschichte konfrontiert, das Jetzt mit der Vergangenheit oder ein

neues Geschehen mit dem Mythos. In jedem Akt geschieht das aber auf eine andere Weise,

wodurch das Publikum die Konfrontation zweier Zeiterfahrungen jedes Mal aus einem

anderen Blickwinkel betrachten kann. Es gibt nicht nur im ganzen Stück eine

Wechselbeziehung zwischen dem Augenblick und der Geschichte, sondern auch in jedem

einzelnen Akt ist diese Wechselbeziehung spürbar. Die Tatsache, dass in Schlußchor die

Zeit durch die Entwicklung der Zeitauffassung in den drei Akten auf eine ganz andere

Weise behandelt wird, verursacht also ein unregelmäßiges Zeitmuster in Schlußchor. Die

genaue Thematisierung und Darstellung der Zeit in jedem Akt werden in den nächsten

Kapiteln erläutert.

Drittens ist die Zeit des Dramas, die Chronologie und die Reihenfolge der Akten

ungewohnt. In Schlußchor ist es im Gegensatz zum dramatischen Theater erstens schwierig

einen Zusammenhang (und zugleich auch eine Art von Chronologie) zu finden, denn wie

schon gesagt wird in den drei Akten nicht auf einen zentralen Höhepunkt hingelebt und

sind die drei Akten ganz verschieden und dadurch schwierig miteinander zu verbinden. In

jedem Akt gibt es andere Gestalten, und jeder Akt spielt in einem ganz verschiedenen

Raum. Die Gestalten im ersten Akt befinden sich in einem unbestimmten Zimmer. Der

zweite Akt geht in verschiedenen Räumen in Delias Haus vor. Und das Bühnenbild im

dritten Akt ist ein Restaurant. Wie schon im Kapitel über die Synthesis angezeigt, wird erst

im dritten Akt deutlich, dass in jedem Akt ein Rufer das Deutschlandthema vertritt.

Wenngleich im gemeinsamen Deutschlandthema ein Zusammenhang gefunden wird, ist es

doch schwierig festzustellen, ob sich die Akten gleichzeitig, chronologisch oder in einer

unbestimmten Reihenfolge vollziehen. Der Titel des dritten Aktes, 'Von nun an', verweist

auf den Ausruf des Rufers im zweiten Akt. Er sagt: „Ab nun verfällt die Republik.“74

Im

ersten Akt wird zwei Mal Deutschland gerufen, konkretere Bezüge auf die anderen Akten

74

Strauß: Theaterstücke, S. 435.

34

gibt es aber nicht. Die drei Akten sind nicht nur thematisch, anhand des

Deutschlandthemas, verbunden, sondern auch zeitlich. Die Art der zeitlichen Verbindung

ist jedoch unklar, ob die Akten gleichzeitig spielen oder chronologisch aufeinanderfolgen,

ist nicht deutlich.

Ein letzter Grund für das Fehlen einer logischen Zeitstruktur wird gefunden in den

Techniken der Zeiterfahrung im postdramatischen Theater, die von Lehmann beschrieben

werden. Im postdramatischen Theater wird die messbare Zeit des Theatervorgangs selbst

manchmal thematisiert. In der postdramatischen Zeitästhetik wird die Zeit

dergestalt zum Gegenstand einer ›direkten‹ Erfahrung, so treten logischerweise

insbesondere Techniken der Zeit-Verzerrung in den Vordergrund. Erst eine vom

Gewohnten abweichende Zeiterfahrung provoziert nämlich ihre ausdrückliche

Wahrnehmung, läßt sie von der beiherspielenden unausdrücklichen Gegebenheit in

den Rang eines Themas aufsteigen“75

Einige der Techniken der Zeit-Verzerrung sind Duration, Zeit und Photographie,

Repetition, Bild-Zeit und Ästhetiken der Geschwindigkeit wie Beschleunigung,

Simultaneität und Collage. In Schlußchor wird einfach Zeit und nicht die Zeit der

Theateraufführung selbst thematisiert. Die Techniken der Zeitverzerrung sind nicht

überherrschend, aber doch vorhanden im Theaterstück, das hier untersucht wird. Die

Techniken der Simultaneität und Collage zeigen sich zum Beispiel normalerweise auf der

Bühne darin, dass mehrere Leute zugleich reden oder dass Videobilder gezeigt werden,

während Gestalten eine Szene auf der Bühne spielen. In Schlußchor treten diese Techniken,

wenn auch weniger deutlich, doch auf. In diesem Theaterstück werden drei Akten wie im

dramatischen Theater nacheinander gespielt, aber es ist -wie gesagt- nicht deutlich ob sie

chronologisch aufeinanderfolgen oder simultan vorgehen. Die Technik der Simultaneität

oder der Collage wird hier in der Zeit des Dramas statt in der Zeit des Inszenierungstexts

vorgefunden. Auch die Technik der Repetition kann in Bezug auf den Deutschlandruf im

Stück erkennt werden. „Kaum ein anderes Verfahren ist so ›typisch‹ für das

postdramatische Theater wie die Wiederholung.“76

Weil der Zeitgebrauch in den

verschiedenen Akten nicht gleichzustellen ist, werden die Techniken der Zeit-Verzerrung in

75

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 330. 76

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 334.

35

jedem Akt auf eine andere Weise, die ich beim separaten Behandlung jedes Aktes genauer

erklären werde, verarbeitet.

4.4. Analyse der Zeit in Schlußchor

Nicht nur die Titel der Akten und das Hauptmotiv 'Augenblick', sondern auch die hohe

Anzahl der Worte, welche Zeit thematisieren (cf. Tabelle Zeit in der Anlage), deuten auf

die Wichtigkeit der Zeit im Theaterstück hin. Innerhalb der Untersuchung der Zeit

analysiere ich zuerst die Worte, die Zeit in der fiktiven Handlung explizit thematisieren wie

zum Beispiel 'warten', 'Augenblick', 'später', 'Moment'… Die explizite Behandlung der Zeit

in Schlußchor habe ich anhand einer Auflistung der Worte und Wortgruppen des

Wortfeldes 'Zeit' und einer grafischen Wiedergabe dieses Wortfeldes, zu analysieren

versucht. (cf. Anlage) Zunächst untersuche ich die impliziten Verweise auf Zeit, zum

Beispiel Situationen oder Symbole, die auf Zeit verweisen. Auch die Text-Zeit, Zeit des

Dramas und die Zeit der fiktiven Handlung werden zu den impliziten Verweisen auf Zeit

gerechnet. Auf diese Art und Weise werden alle Aspekte der Zeit im Stück untersucht und

kann gefolgert werden, ob die Zeit in Schlußchor vor allem dramatisch oder postdramatisch

gestaltet wird.

Darauf folgt anhand derselben Arbeitsweise eine Analyse der Optik. Erstens werden

also die Worte und Wortgruppen, die explizit auf Optik verweisen, aufgelistet, damit die

Inhalt des Wortfeldes 'Optik' übersehen werden kann. Zweitens werden die impliziten

Verweise auf Optik erläutert. Dazu gehört auch die Optik des Publikums.

Die Art und Weise, wie ich vorgegangen bin, um die Daten zu selektieren, habe ich

im Kapitel 3: Methodologie erklärt. Die Resultate meiner Untersuchung habe ich in

Grafiken, die in als Anlage vorzufinden sind, visualisiert. Die Grafik, welche die expliziten

Äußerungen in Bezug auf Zeit und Optik im ganzen Stück visualisiert (cf. Anlage 1, Grafik

4) macht deutlich, dass im ganzen Stück Zeit ausführlich explizit behandelt wird. Es fällt

auf, dass vor allem im dritten Akt die Zeit noch viel mehr explizit thematisiert wird als in

den ersten zwei Akten.

36

Um schließen zu können, dass die Zeit im dritten Akt tatsächlich wichtiger ist als in den

ersten zwei Akten, muss untersucht werden, ob die Zeit in den ersten zwei Akten nicht viel

mehr implizit an die Reihe kommt. Die Behandlung der Zeit wird dazu in den nächsten

Kapiteln in den drei verschiedenen Akten separat analysiert. Auf diese Art und Weise hoffe

ich folgern zu können, inwieweit die Zeit anhand des linguistischen Texts dramatisch

repräsentiert oder anhand eines neuen Zeichengebrauchs postdramatisch präsentiert wird.

4.4.1. Zeit im ersten Akt

4.4.1.1. Explizite Verweise auf Zeit

Der erste Akt handelt von einer Gruppe, die fotografiert werden muss. Das Bild dieser

Gruppe wird durch den Akt des Fotografierens für die Ewigkeit festgehalten: „Aber wir

stehen jetzt gemeinsam hier und lassen uns für die Ewigkeit festhalten. Genügt das

nicht?“77

Die Gruppenmitglieder warten die ganze Zeit auf den spezifischen Augenblick, in

dem das Bild genommen wird. Die Höhepunkte der Grafik des Zeitverlaufs im ersten Akt

77

Strauß: Theaterstücke, S. 417.

37

zeigen, dass auf den entsprechenden Seiten, vor allem der Akt des Fotografierens diskutiert

wird. Schon auf der ersten Seite des Stückes (S. 413) wird zwölf Mal explizit auf Zeit

verwiesen. Die ersten Sätze des Stückes zeigen das sehr deutlich:

F4 Warum nicht jetzt?

M11 Jetzt noch nicht.[…]

M11 warten wir noch einen Augenblick […]

F1 Sie haben sich den passenden Augenblick ausgesucht, um mich anzupöbeln.

M8 Ich bin gespannt, wie Sie aussehen. Später. Auf dem Foto. In dem Moment.

M3 Nach dem nächsten Klick ist alles wieder vorbei. F6 ist schon passiert.

F12 Das Ganze noch einmal.

M11 Es passierte also? F4 ja, es passierte eben.78

Am Anfang des Aktes findet eine Diskussion über den richtigen Augenblick um einen Foto

zu machen statt (S. 415, 416, 417), und das erweist sich in der Grafik. Auf diese Seiten

wird neun, dreizehn und zwölf Mal explizit auf Zeit verwiesen. Wenn der geeignete

Augenblick dann letztendlich da ist (auf Seite 416), hat der Fotograf den Augenblick

verpasst: „F12 Vorbei. Verpaßt. Umsonst.“79

Der Tiefpunkt, was die explizite Thematisierung der Zeit im ersten Akt betrifft,

befindet sich auf den Seiten, wo statt über Zeit, über die Optik des Fotografierens und über

78

Strauß: Theaterstücke, S. 413. 79

Strauß: Theaterstücke, S. 416.

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

Akt

I 4

13

41

4

41

5

41

6

41

7

41

8

41

9

42

0

42

1

42

2

Frau

42

3

42

4

42

5

zeit

Optik

Akt1

38

eine Einladung gesprochen wird (Seite 419 und 420). Die geringe Anzahl ganz am Ende

des Aktes ist dem geringen Textumfang zuzuschreiben.

Die vier Worte des Wortfeldes 'Zeit' die im ersten Akt am meisten vorkommen, sind

'Jetzt' (6 Mal), 'Augenblick' (8 Mal), 'Ewigkeit' (5 Mal) und 'später' (7 Mal) (cf. Tabelle Zeit

in der Anlage). Diese Worte spiegeln sehr deutlich den Inhalt des Aktes wider. Der ganzen

Akt handelt von dem Festhalten eines Augenblicks und dem Verpassen dieses Augenblicks:

„M9 Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!“80

Zwar ist das

wichtigste Wort in Bezug auf Zeit im ersten Akt 'Augenblick'81

, aber auch über die Zukunft

und die Vergangenheit wird gesprochen. Die Vergangenheit von der die Rede ist, ist vor

allem die nahe Vergangenheit, weil Worte wie 'schon', 'soeben' oder 'vorbei' benutzt werden

(cf. Anlage 2, Grafik 1). In diesem Akt wird fast nirgends von ferner Vergangenheit

gesprochen. Nur einmal ganz am Ende des Aktes scheint es, als ob die Frau, indem sie ein

Chormitglied anspricht, ein Gespräch über die Vergangenheit auslösen kann:

DIE FRAU Die elende Zeit ist über dich gekommen. Du hast alle

Freunde verloren, dein Beruf ist aus, deine Frau hat sich bitter

an dir gerächt. Die Kinder sind aus dem Haus und haben dich

längst vergessen. Du willst nicht leiden?

M8 Woher weißt du das alles?

DIE FRAU Das sehe ich. Solche wie dich spür ich überall heraus.

Solche, die sich gern was vormachen…

M8 Warum sagst du das? So schlimm steht es doch auch wieder

nicht um mich.

DIE FRAU Du siehst, wie die Erde verdirbt und die Güter der

Erde ungerecht verteilt werden – und du willst nicht leiden?

M8 Ich kann doch nicht immerzu daran denken!

DIE FRAU Das mußt du aber.82

Das Gespräch endet sehr abrupt, ohne dass eine konkrete persönliche Geschichte mitgeteilt

wird. Geschichte bekommt im ersten Akt also keinen Platz. Die Chormitglieder haben auch

keine Namen und keine spezifischen Persönlichkeit und Charakteristiken. Es ist, als ob es

gar keine Vergangenheit oder Geschichte gibt. Auch an anderen Stellen wird das deutlich,

zum Beispiel wenn M3 von ihrer Vergangenheit erzählen will: „Schöne Jahre, als wir

80

Strauß: Theaterstücke, S. 416. 81

Augenblick wird im ersten Akt, von allen Worten die auf Zeit verweisen, am meisten (acht Mal) genannt.

(cf. Tabelle Zeit in der Anlage) 82

Strauß: Theaterstücke, S. 424.

39

Freunde waren. Stille Sommer, wenn alle in die Ferien reisten, und wir beide wanderten in

der halbleeren Stadt.“83

M3 vermittelt nur vage Informationen, keine Namen, keine

präzisen Daten oder persönlichen Gefühle werden erwähnt. Und obwohl über Ewigkeit

gesprochen wird, werden Ewigkeit und Später nicht konkretisiert. Die größere Geschichte

besteht nur aus der leeren Ewigkeit. Wenn man die Erwähnung der Vergangenheit und der

Zukunft genauer betrachtet, stellt man fest, dass in diesem Akt nur das Augenblickliche,

dasjenige, was jetzt geschieht, konkretisiert wird.

4.4.1.2. Implizite Verweise auf Zeit

Die Grenze des Wortfeldes, das implizit auf Zeit verweist, ist schwieriger zu bestimmen.

Eigentlich verweisen die Worte 'Fotographie' oder 'Foto' auch implizit auf Zeit, aber die

werde ich hier nicht erwähnen, weil diese Worte zur Analyse der Optik, die ich im zweiten

Teil dieser Arbeit bespreche, gehören. Worte wie der „Klick“84

des Fotografierens spiegeln

das Erleben eines kurzen Augenblicks wider und gehören zum Wortfeld der Zeit ohne auch

im Wortfeld 'Optik' vorzukommen.

Im ersten Akt wird auf den Zustand der deutschen Gesellschaft vor und während der

Zeit der Wende verwiesen. Erstens weist der Deutschlandruf auf die Thematisierung

Deutschlands in diesem Stück hin. Auch die vielen Anekdoten, die Gestalten einander

während des Fotografierens erzählen, erinnern an die Situation Deutschlands:

F13 Weißt du noch: dein erstes Foto hier im Westen, die Kaffeekanne in der

Sekunde, wo sie kippte?

F6 Im Westen? War das nicht viel früher?

F13 Kurz nach dem Krieg war‟s. Und der Krieg ist fünfzig Jahre her.

F6 Aber Mutter, wir sind erst sehr viel später in den Westen.85

Hier wird explizit von der deutschen Geschichte gesprochen, aber später im ersten Akt wird

impliziter auf die deutsche Geschichte hingewiesen:

Sein ist Gesehen werden. Selbst Gott der Allmächtige konnte nicht darauf verzichten,

sich zu offenbaren. Das ganze große Universum konnte nicht darauf verzichten, ein

Wesen hervorzubringen, das es beobachtet. Und selbst Sie, werte Damen, Herren,

83

Strauß: Theaterstücke, S. 418. 84

Strauß: Theaterstücke, S. 413. 85

Strauß: Theaterstücke, S. 416.

40

verzehren sich nach dem einen Augen, das Sie überblickt, das Ihre wahre Gestalt ans

Licht befördert! Erkannte wollen Sie sein!86

In diesem Abschnitt, das mit einem Zitat von dem Philosophen George Berkeley anfangt,

deutet der Fotograf explizit auf die Optik und die Wichtigkeit seiner Tätigkeit hin. Implizit

kann diese Äußerung als ein Verweis auf den gesellschaftlichen Verhältnissen

Deutschlands in der DDR, wo das Volk immer betrachtet wurde, interpretiert werden. Hier

werden durch das Thematisieren des Sehens, denn man benutzt die Worte 'Gesehen',

'offenbaren', 'beobachtet', 'Augen' und 'überblickt', Erinnerungen aufgerufen. Man kann

dieses Zitat auch wie eine Reflexion in Bezug auf die Theatersituation mit Akteure die von

dem Publikum beobachtet werden wollen, auffassen.

Die Szene, in der die Gruppe dem Fotografen eine Reihe von Befehlen zuruft,

spiegelt anhand von Worten die das Sehen thematisieren87

, implizit die Geschichte

Deutschlands wider:

Alle donnernd Schluß!

Kurz darauf eine Kanonade kurzer lauter Befehle, einzeln oder zu mehreren

abgegeben, die der Fotograf willenlos befolgt:

›Kamera zwei! Suchen! Scharfziehen! Belichtung! Auslösen!

Atem stop! Atem go! Hand aus der Hosentasche! Haare aus der

Stirn! Kamerawechsel! Gehen, nicht schleichen! Geradehalten!

Motiv! Linkes Auge, rechtes Auge! Nachdenken! Ideen! Blick-

winkel! Kontrolle! Tiefenschärfe! Gesamteindruck! Stirnrun-

zeln! Lächeln! Charme! Ernst! Sorge! Umsicht! Deutschland!

Knien! Abwärts! Erde! Abwärts! Schneller! Flach! Abwärts!

Liegenbleiben! Mund auf! Augen starr! Kein Mucks mehr!

Atem aus! Kein Mucks! Atem stop! Atem Ende! Licht aus!‹88

Erstens erinnern diese gerufene Anordnungen an die Befehle des Zweiten Weltkriegs.

Daneben beschwört die Szene Erinnerungen an die DDR herauf, wo der Staat entschied,

wie das Volk sich benehmen sollte. Hier werden die Verhältnisse aber umgedreht und

entscheidet das Volk (das von dem Chor vertreten wird) wie der Staat (der vom Fotograf

dargestellt wird) sich verhalten soll. Der erste Akt kann wie eine symbolische Darstellung

der Wende gesehen werden.

86

Strauß: Theaterstücke, S. 422f. 87

Kamera, Scharfziehen, Belichtung, Kamerawechsel, linkes Auge, rechtes Auge, Blickwinkel,

Gesamteindruck, Augen starr, Licht aus 88

Strauß: Theaterstücke, S. 423.

41

4.4.1.3. Die Text-Zeit

Lehmann beschreibt den Einfluss der Medien im postdramatischen Theater

folgendermaßen:

Andere Theaterformen zeichnen sich nicht in erster Linie durch den Einsatz von

Medientechnologie aus, sondern durch die in der Ästhetik der Inszenierung

erkennbare Inspiration durch Medienästhetik. Dazu gehören der rasante Wechsel von

Bildern, das Tempo der Konversation in Kürzeln, das Gagbewußtsein der TV-

Comedies, Anspielungen auf die Trivialunterhaltung des Fernsehens, auf Film- und

Fernsehstars, auf den Alltag der Unterhaltungsbranchen und ihre Macher, Zitate aus

der Popkultur, Unterhaltungsfilmen und Reizthemen der Medien-Öffentlichkeit.89

In der Text-Zeit des ersten Aktes scheint der Einfluss der Medien deutlich bemerkbar. Die

Text-Zeit ist, wie schon im Kapitel über die Zeit gemäß Lehmann gesagt, die pragmatische

Länge des Textes. Vor allem im ersten Akt werden die Sätze mit einem schnellen

Rhythmus und sehr kurz, mit syntaktischer Einfalt und wenig Pausen zusammengestellt.

„Wer an wen das Wort richtet, wer wem antwortet, bleibt meist unscharf und wechselt

rasch.“90

Das ist sehr deutlich im nächsten Zitat:

M2 Er hat Ihnen eine Schote erzählt.

F12 Mir?

F1 Mickey Schneider wird immer merkwürdiger.

M11 Versuchst es immer wieder?

F4 Ich geh kaum noch irgendwohin.

M11 Ach? Ich glaube, nur Delphine treiben es beliebiger. Die lassen sich mit jedem

Surfbrett ein.91

Zugleich ist dieser Sprachstil ein Beispiel von Stichomythie92

. Ob Strauß dieser Stil

gewählt hat wegen der Einfluss der Medien oder weil er auf die alte Form der Stichomythie

zurückgreifen wollte, ist also nicht deutlich. Auf jeden Fall ist dieses Gespräch ein

typisches Beispiel für die Straußische Sprache, wie sie von Thomas Roberg beschrieben

wird:

betrachten Sie doch bitte einmal die konventionelle, die Umgangssprache, wie völlig

entleert von Substanz und anthropologischem Bestand sie geworden ist. Hat sie

89

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 419. 90

Roberg: auf der Bühne, S. 116. 91

Strauß: Theaterstücke, S. 414. 92

Schnelle, versweise wechselnde Rede u. Gegenrede in einem Versdrama als Ausdrucksmittel für ein

Lebhaftes Gespräch, einen heftigen Wortwechsel. Dudenredaktion: Duden, S. 1615.

42

überhaupt noch irgendeinen Rang? Hat die Sprache überhaupt noch einen

dialogischen Charakter im metaphysischen Sinne? Mir scheint, sie ist reiner Ausfall,

abgewetztes Palaver. Alles redet aneinander vorbei.93

Im Allgemeinen vermitteln die Unterhaltungen im Anfangsakt einen eher mechanischen als

menschlichen Eindruck denn die Sätze sind kurz und meistens sehr einfach. Die Dialoge

sind keine richtigen Gespräche zwischen zwei Menschen, sondern erscheinen als eine Folge

von Äußerungen von beliebigen Leuten. Der Rhythmus ist schnell, die Geschwindigkeit der

Dialoge kreiert ein Gefühl von Verwirrung und Chaos beim Leser. Dadurch, dass die

Gruppenmitglieder mit den Nummern nicht gut zu unterscheiden sind, fällt es die Leser des

Dramentextes schwerer darauf zu achten welches Gruppenmitglied was sagt.

Demgegenüber können die Zuschauer des Bühnenstückes genau erkennen, welche

Äußerung von wem ausgesprochen wird. Die Dialoge hinterlassen beim Publikum einen

orchestrierten und organisierten Eindruck. Leser und Zuschauer erfahren den ersten Akt

also ganz unterschiedlich. Während die Leser die Äußerungen eher als chaotische

Gesamtausdrücke einer Gruppe erfahren, erscheinen die Dialoge für das Publikum als ein

orchestrierter Mechanismus.

Der Rhythmus der Text-Zeit ist schnell und angeregt. Die Leser erfahren diesen

Rhythmus nur anhand des Textes. Die Zuschauer dagegen bekommen auch durch das

Fotografieren den Eindruck des schnellen Rhythmus. Die Regieanweisung „Stille. Der

Fotograf unterbricht seine Arbeit.“94

zeugt davon, dass das Fotografieren während des

ganzen Aktes weitergeht und nur einmal kurz unterbrochen wird. Das Fotografieren

verstärkt die Geschwindigkeit des Aktes für die Zuschauer. Sie empfinden den Akt als eine

Reihenfolge von sehr kurzen Augenblicken des Sprechens und des Fotografierens. Die

Zuschauer erfahren die Zeit und den Chor als eine Aneinanderreihung von Augenblicken

bzw. Individuen.

M2 Haben Sie überhaupt den Versuch unternommen, an uns das Wesentliche zu

entdecken: die – Durch die Reihen auf – und abwärts läuft in Silben getrennt das

Wort >In-di-vi-du-al-i-tät<. Der Fotograf hat sich auf einen Hocker gesetzt, etwas

abseits vom Chor.95

93

Roberg: auf der Bühne, S. 115f. 94

Strauß: Theaterstücke, S. 416. 95

Strauß: Theaterstücke, S. 421.

43

Die Leser des Stückes haben es nicht nur schwerer, die Geschwindigkeit des Aktes zu

entdecken, weil sie den Rhythmus des Fotografierens nicht erleben, sondern die

Schwierigkeit liegt auch darin, die Individuen im Chor zu unterscheiden, denn sie sehen die

Gestalten nicht. Obzwar der Rhythmus und die Chormitglieder für die Leser des Textes

schwieriger zu entdecken sind, haben sie es im Bereich des Textverstehens leichter als die

Zuschauer des Theaters. Beide, Leser und Zuschauer, verpassen also ein Teil der

Theatererfahrung. Im Idealfall würde man, um ein Theaterstück völlig erleben zu können,

lesen und zuschauen kombinieren müssen.

4.4.2. Zeit im zweiten Akt

4.4.2.1. Explizite Verweise auf Zeit

Die Grafik der expliziten Verweise auf Zeit im zweiten Akt weist zwei Höhepunkte auf.

(cf. nachfolgende Grafik und Anlage 1, Grafik 2) Der ersten Höhepunkt zeichnet sich ab an

der Stelle, wo Lorenz eine Erinnerung aus seiner Jugend erzählt und danach überlegt, was

er jetzt und heute zu Delia sagen wird (cf. Seite 431, 432 auf nachfolgender Grafik). Wenn

die Beleibte ihre Lebens- und Liebesgeschichte erzählt und diese konfrontiert mit der Art

und Weise wie sie sich jetzt fühlt, ist einen zweiten Höhepunkt auf der Grafik

wahrnehmbar (cf. Seite 441 und 442 auf nachfolgender Grafik). In den Beispielen steht

zwei Mal eine Erinnerung oder Geschichte mit der Gegenwart in Zusammenhang. Diese

zwei Höhepunkte stellen die Behandlung der Zeit im ganzen Akt zusammengefasst dar. Im

zweiten Akt wird - wie der Titel zeigt - aus der Welt des Versehens eine Konfrontation von

dem Jetzt und der Vergangenheit dargestellt.

44

Im mittleren Akt haben die Worte 'jetzt' (10 Mal), 'Augenblick' (8 Mal), 'schon' (7 Mal),

'heute' (6 Mal), 'wieder' (6 Mal), 'Versehen' (6 Mal) und 'diesmal/einmal' (6 Mal) in Bezug

auf Zeit eine hohe Frequenz (Cf. Tabelle Zeit in der Anlage). Obwohl 'Augenblick' sehr viel

vorkommt, ist das zentrale Element nicht länger der Augenblick, sondern das Versehen

eines Augenblickes. Das stellt sich heraus in dem Titel des Aktes und in Sätzen wie „Wenn

man auch alles beisammen hat, fehlt einem zuletzt der geeignete Augenblick“96

oder

„Welch ein Augenblick das hätte werden können?“97

. Das wichtigste 'Versehen eines

Augenblickes' ist der Moment, in dem Lorenz die nackte Delia sieht; er wird von den zwei

Gestalten auf eine ganz andere Weise erlebt und interpretiert. Nach Greiner vertritt Delia

die Präsenz, während Lorenz das Versehen als den Anfang einer Geschichte sieht:

Für ihn ist der Anblick der nackten Frau lediglich ›zu früh‹ (SCH 39) gekommen, das

heißt, er will aus ihm den Beginn einer ›Liebes-Geschichte‹ (vgl. B 104) machen; sie

jedoch verweigert solches Entgegenwärtigen dessen, was im Augenblick absolut,

ungeteilt, jenseits jeder Geschichte war.98

Grieshop teilt den Gebrauch des Wortes 'versehen' in einen positiven und einen negativen

Gebrauch auf:

Grundsätzlich weist das Wort „versehen“ zwei Bedeutungsrichtungen auf, von denen

die negative diejenige ist, die im heutigen Sprachgebrauch vorherrscht. Das Wort

wird in diesem Sinne verwendet für ein falsches Sehen, ein Verachten, ein Übersehen

96

Strauß: Theaterstücke, S. 434. 97

Strauß: Theaterstücke, S. 443. 98

Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.

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Optik

Akt2

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und ganz allgemein für ein Irren. In älterer Sprache wird dieses Wort dagegen auch

positiv benutzt, es wird damit eine Form des Wahrnehmens, des Erwartens, des

Voraussehens, des Gefaßtseins auf etwas oder des Bestimmens bezeichnet.99

Der positive und negative Gebrauch des Wortes 'versehen' kann mit den unterschiedlichen

Einstellungen von Lorenz und Delia, die Hauptgestalten des zweiten Aktes, verbunden

werden. Lorenz interpretiert das Versehen positiv als den Anfang einer Geschichte: er

erwartet also etwas, ist auf etwas gefasst. Delia dagegen fasst das Versehen negativ auf als

ein Irren oder ein Verachten, das in der Zukunft nicht verlängert werden muss.

Die Interpretation des Wortes 'versehen' kann auch auf eine andere Weise, in eine

zeitliche und optische Interpretation aufgeteilt werden, gleich wie ich mit dem Wort

'Augenblick' gemacht habe. Man kann das Wort 'Versehen' optisch auffassen als ein

falsches Sehen, ein Übersehen, eine Form des Wahrnehmens, oder man kann es zeitlich als

ein Verachten, Irren, eine Form des Erwartens oder eine Form des „Gefaßtseins auf etwas“

interpretieren. Greiner deutet das 'Versehen' im zeitlichen Sinn: „Das Mittelstück von

Schlußchor entwirft die Doppelorientierung an einem, wie Strauß später selbst kommentiert

[…], ››banalen‹‹ Beispiel für ››aufklärerisch‹‹ verdrängenden Umgang mit der Erfahrung

von Präsenz.“100

Greiner nennt das Versehen am Anfang des Aktes 'eine Erfahrung von

Präsenz' die verdrängt wird. Der zweite Teil des Aktes ist, so Greiner, die

Doppelorientierung an der verdrängten Erfahrung von Präsenz. Meiner Meinung nach kann

diese Doppelorientierung nicht nur in zwei zeitliche Deutungen des Versehens aufgeteilt

werden, sondern auch in eine zeitliche und eine optische Auslegung des Versehens. Delia

interpretiert das Versehen optisch als einen zufälligen Blick der Augen, während Lorenz

diesen Augenblick zeitlich interpretiert als einen Moment, den Anfang einer möglichen

Liebesgeschichte. Im ersten Teil erleben sie beide den Augenblick. Im zweiten Teil (von

Seite 431 an) dagegen ist es nur Lorenz, der darüber weiter nachdenkt. Delia ist im zweiten

Teil nur eine Nebenfigur, denn sie will dem Augenblick keine Folge leisten. Sie hat, in der

Gestalt eines anderen Architekten, auch schon einen Stellvertreter für Lorenz gefunden.

Trotz die Verknüpfung der zeitlichen und optischen Interpretation des Wortes 'versehen',

99

Grieshop: Augenblick, S. 204. 100

Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.

46

steht in diesem Kapitel die zeitliche Interpretation für mich zentral, während später in der

Untersuchung der optischen Interpretation Aufmerksamkeit gewidmet werden soll.

Der zweite Akt besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil stellt den Moment des

Versehens dar, während der zweite Teil die Konsequenzen jenes Moments abbildet. Im

ersten Teil „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens) 1“101

wird ein optisches

Geschehen, eine Diskussion über die Architektur des neuen Gebäudes, gemischt mit einem

zeitlichen Verfahren, nämlich dem Augenblick, in dem Lorenz Delia nackt gesehen hat,

und der Diskussion über Lorenz„ und Delias unterschiedliche Interpretationen dieses

Moments:

LORENZ Eben, das wollte ich sagen. Man wird schon mit einem sehr teuren

Spezialglas arbeiten müssen, deshalb-

DELIA Wie konnten Sie das tun?

LORENZ Es tut mir Leid. Es war ein Versehen. So etwas kann passieren.

DELIA Dort könnte – ich betone: könnte – die Bauaufsicht einen freien Zugang

fordern, weil der Schornstein in der Nähe ist.102

Am Anfang wird vor allem über Architektur und eher implizit über das Versehen geredet.

Am Ende des ersten Teils wird die Diskussion über die Interpretation des optischen

Moments des Versehens wichtiger als die Diskussion über die optische Architektur. Die

unten stehende Grafik der expliziten zeitlichen und optischen Äußerungen zeigt, dass im

ersten Teil des zweiten Aktes (bis zu Seite 430) nicht mehr über Zeit als über Optik

gesprochen wird. Die Anzahl der expliziten Äußerungen über Zeit und Optik scheint

ungefähr gleich zu sein. Der Grund dafür ist, dass Lorenz die Wichtigkeit des Augenblickes

anfänglich anhand von optischen Beschreibungen betont. Auf diese optischen

Beschreibungen gehe ich in Kapitel 5.5.2. Optik im zweiten Akt noch ausführlich ein.

101

Strauß: Theaterstücke, S. 426. 102

Strauß: Theaterstücke, S. 427.

47

In der zweiten Hälfte dieses Aktes „Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des

Versehens) 2“103

wird die Diskussion über die Auffassung des Versehen weitergeführt, sie

wird aber auf eine ganz andere, indirektere Weise dargestellt. Erstens gibt es außer Delia

und Lorenz noch vierzehn Gestalten in diesem Akt: die Frau in Schilfgrün, die Unbedachte,

den bitteren Mann, den Mann mit Zigarre, die Frau mit Hut, den Versprochenen, die

Versprochene, den Rufer, die Beleibte, die Unbedachte, der Hässliche, Henriette, den

Hageren und den gewandten Mann. Zweitens sorgen die Nebenfiguren dafür, dass es auch

viel mehr nebensächliches Gerede gibt. Dieses Gerede hat manchmal auch mit einem

Augenblick zu tun, der nicht passieren wird, also mit dem Versehen eines Augenblickes.

Die oben stehende Grafik (cf. Anlage 1, Grafik 2) weist auf, dass im zweiten Teil des

zweiten Aktes Zeit viel mehr thematisiert wird als Optik. Jetzt untersuche ich, auf welche

Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich im mittleren Akt zueinander verhalten.

103

Strauß: Theaterstücke, S. 430.

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Akt2

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Der wichtigste Handlungsstrang dieses Akts ist die der Hauptgestalt Lorenz.

Nachstehende Grafik weist auf, dass am Anfang des zweiten Teils (Seite 431, 432, 433,

434) hauptsachlich über die Gegenwart gesprochen wird.

Lorenz äußert sich auf diesen Seiten in der Tat über die Art und Weise wie er sich jetzt

fühlt. Erst macht er das anhand einer Erinnerung an seine Kindheit (Seite 431): „Wie früher

in der Schule, wenn man zu spät kam […]“.104

Darauf folgen allerdings nur Ausdrücke in

Bezug auf die Gegenwart: „Wenn ich ihre Nähe suche, hier und jetzt und heute bereits

wieder ein letztes Mal…Ah!“105

Er spricht zwischen dem Gerede der anderen Gestalten

durch, in einem Spiegel zu sich selbst. Auf diese Weise überlegt er, wie er das Versehen

des ersten Teils rückgängig machen kann. Er versucht die ganze Zeit Delia für sich zu

gewinnen, oder zeitlich ausgedrückt, will er das Rad der Geschichte zurückzudrehen,

wodurch er Delia Schritt für Schritt für sich gewinnen hätte können, aber es gelingt ihm

nicht. Er kann seine Gefühle nicht angemessen zum Ausdruck bringen: „Irgend etwas in

mir, irgend etwas zwischen Hirn und Zunge dreht, was ich sagen will, im letzten

Augenblick noch einmal um! Sie müssen, liebste Delia, ungeheure Scheußlichkeiten

104

Strauß: Theaterstücke, S. 431. 105

Strauß: Theaterstücke, S. 432

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ferne Vergangenheit

nahe Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Akt2

49

vernehmen, wenn ich zart und geständig sein will.“106

Wenn er dann doch die Initiative

ergreift, nimmt das ein schlechtes Ende:

Lorenz läuft mit dem Satz auf den Lippen in den Saal. […]Kurz darauf im Saal ein

allgemeiner Aufschrei. […]Alle Gäste im Halbkreis. Lorenz erhebt sich vom Boden

und geht hinaus in die Diele. Als er den Spiegel passiert, wendet er sich kurz mit

erhobenem Zeigefinger an sich selbst…

LORENZ Das hätte nicht passieren dürfen, mein Lieber.107

Am Ende des Aktes erkennt er, dass es unmöglich ist, Delia die Folgen des Geschehens auf

eine positive Weise interpretieren zu lassen. Delia will kein Verhältnis mit Lorenz. Wenn

Lorenz bewusst wird, dass er Delia nicht davon überzeugen kann, das Versehen als den

Anfang einer Liebesgeschichte zu interpretieren, verübt er Selbstmord. Der Selbstmord

wird wieder durch ein Versehen ermöglicht:

DER VERSPROCHENE Mein Herr! Einen Augenblick, bitte! Warten Sie, mein Herr.

Sie haben den Mantel verwechselt. Meinen Mantel haben Sie genommen.

Lorenz fährt unwillkürlich in die Taschen des Mantels, um zu prüfen, ob es seiner

ist. Er spürt den Revolver, zieht ihn unauffällig hervor und steckt ihn in seine

Hosentasche.

LORENZ Sie haben recht. Es ist nicht mein Mantel. Ein Versehen. Keine böse

Absicht.108

Hier wird dadurch, dass das 'Versehen' zusammen mit dem Wort 'Absicht' erscheint, die

optische Dimension des Wortes betont. Lorenz macht aus dem Versehen diesmal keinen

Anfang einer Geschichte, wie er beim ersten Versehen des Aktes gemacht hat. Die

Möglichkeit des zeitlichen Interpretierens wird buchstäblich und figürlich abgebrochen,

indem er sich erschießt. Das wird deutlich im folgenden Zitat:

Im Spiegel erscheint Delia nackt wie zu Beginn, in derselben Pose. Sie wendet ihren

Kopf über die rechte Schulter und blickt Lorenz an.

DELIA Siehst du…

Lorenz stülpt seinen Hut vors Gesicht, zieht den Revolver und erschießt sich bei

verdecktem Gesicht. Plötzliche Stille im Saal. Die Tür öffnet sich einen Spalt. Der

Häßliche steckt seinen Kopf als erster hervor. Dann zwei, drei andere darüber.

Dunkel.109

106

Strauß: Theaterstücke, S. 438. 107

Strauß: Theaterstücke, S. 445. 108

Strauß: Theaterstücke, S. 445. 109

Strauß: Theaterstücke, S. 446.

50

Die optische Interpretation des Versehens wird durch die Erscheinung von Delia –wie am

Anfang des Aktes- und die Worte „siehst du“ betont. Lorenz erkennt, dass er das erste

Versehen optisch hätte auffassen müssen. Er will die Möglichkeit einer zeitlichen

Interpretation beseitigen und erschießt sich. Mit dem Selbstmord findet die Geschichte

nicht nur für Lorenz, sondern auch für die Leser und Zuschauer ein Ende, denn es wird

dunkel, und der nächste Akt fängt an.

Abgesehen von Lorenz, tritt im zweiten Stück des Mittelteils eine ganze Menge von

Nebenpersonen auf, welche explizit zeitliche Ausdrücke verwenden. Während Lorenz über

Delia und das Versehen erzählt, frischen die Nebenfiguren hauptsächlich Erinnerungen auf.

Von dem Auftritt des Rufers (S. 435) an werden, wie die unten stehende Grafik zeigt, die

Gegenwart und die Vergangenheit beide repräsentiert. Wie schon vermittelt, spricht Lorenz

meistens über die Gegenwart, die Äußerungen in Bezug auf Vergangenheit stammen von

den Nebenfiguren. Die Beleibte, die über ihr Leben erzählt (S. 441 und 442 auf

nachstehende Grafik), vertritt die Thematisierung der Vergangenheit. Sie vergleicht sich als

junge Frau und Liebhaberin in einem Dreiecksverhältnis mit demjenigen, der sie jetzt, nach

dem Tod ihres Geliebten, ist: „Ein Leben lang gab‟s mich nur: als seine Geliebte. So hieß

ich, als ich jung war und hieß noch so als meine Haare grau geworden sind.“110

Die

Beleibte spricht über Scham in Bezug auf ihre Liebesgeschichte: „Scham? Kennen Sie

Scham? Nicht die Scham der ermatteten Lusthenne, nein. Scham über die lange, leere,

emsige Zeit – über so viel sinnlosen Eifer…“111

Diese Geschichte ist ein Bespiel eines

Versehens einer Nebenfigur. Auf einer anderen Stelle reden die zwei Versprochenen über

eine Handlung mit einer Pistole, die sie aber doch nicht durchführen werden:

DER VERSPROCHENE aber jetzt liegt es hier in meiner Hand. Jetzt ist es nur noch ein

kleiner Schritt. Nicht einmal ein Schritt. Nur noch zwei feste ruhige Armbewegungen

DIE VERSPROCHENE Glaubst du? Wer weiß. Wenn man auch alles beisammen hat,

fehlt einem zuletzt der geeignete Augenblick.112

Dieses Versehen ist eine Ankündigung von Lorenz„ Versehen am Ende des zweiten Aktes.

Im Gegensatz zu den Versprochenen findet er den geeigneten Augenblick, sich zu

erschießen.

110

Strauß: Theaterstücke, S. 441. 111

Strauß: Theaterstücke, S. 442. 112

Strauß: Theaterstücke, S. 434.

51

Die Grafik weist auf, dass am Ende des Aktes wie am Anfang des zweiten Teils

hauptsächlich die Gegenwart thematisiert wird. Vor allem Lorenz führt hier das Wort, aber

auch ein Gespräch zwischen der Frau mit Hut und dem Rufer findet statt (Seite 443). Der

Rufer sagt ihr Folgendes: „Wissen Sie übrigens, wie viele Millionen dieser Bluthund, der

kürzlich gestürzte Diktator, in die Schweiz verfrachten ließ?“113

Die Frau mit Hut reagiert

ganz ungewöhnlich auf diese Äußerung. Sie wirft dem Rufer vor, dass er etwas erzählt,

dass schon allgemein bekannt ist. In dem darauf folgenden Redefluss betont sie die

Wichtigkeit des Augenblickes: „Es ist erstickend, wie stillos, wie unsäglich banal und

abgeschmackt, wie unempfindlich, verkehrt, wie hundsgemein das alles ist, was sich in

diesem Augenblick zwischen Ihnen und mir abspielt.“114

Indem die Frau die Banalität des

Augenblickes zwischen den Beiden betont, wird die Abwesenheit eines anderen sich im

Moment ereignenden Augenblicks des Mauerfalls, impliziert. Die Frau hebt hervor, dass

der Rufer sich durch das Ausweichen des Mauerfalls versieht. Dadurch, dass nicht nur

113

Strauß: Theaterstücke, S. 443. 114

Strauß: Theaterstücke, S. 443.

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52

Lorenz, sondern auch die Nebenfiguren das Versehen thematisieren, wird nachgewiesen,

dass das Versehen das zentrale Element des Aktes ist.

Der Deutschlandruf, das einzige in den drei Akten rekurrierende Element, wird im

mittleren Akt von einem Rufer anstatt der anonymen M8-Gestalt des ersten Aktes gerufen.

Wie schon im Kapitel über den Verlust der Synthesis beschrieben, nehmen seine Beiträge

immer konkreter Bezug auf die Geschichte Deutschlands. Nicht nur das Deutschlandthema

wird mit Hilfe des Rufers konkreter gemacht, sondern auch die zeitlichen Umstände, unter

denen dieses Stück spielt, werden im Gegensatz zum ersten Akt explizit geäußert: „Ab nun

verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch hübschen Körperteil, was

meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten entblößen?“115

Von dem

Moment an werden auch Lorenz„ kleine Probleme in Bezug auf Delia mit der großen

Geschichte Deutschlands verwoben. Hier wird nicht nur das augenblickliche Geschehen

mit der großen Geschichte konfrontiert, sie werden sogar gleichgesetzt:

DER RUFER Ab nun verfällt die Republik. Es ist später denn je, sage ich Ihnen. Welch

hübschen Körperteil, was meinen Sie, wird uns die freizügige Germania als nächsten

entblößen? Ihr Knie vielleicht von wegen.

LORENZ Die Schönheit einer Frau bleibt doch, Geschichte hin, Geschichte her, der

einzige Kriegsgrund, der bis heute überzeugt. Oder sagen wir: ein Ort des Unfriedens.

Oder sagen wir: echter Friede läßt sich niemals mit ihr schließen, ich meine: ein

Rätsel bleibt sie doch?116

Dadurch, dass Lorenz die Wichtigkeit des Mauerfalls nicht einsieht und stattdessen die

Geschichte so interpretiert, dass sie auf seine eigenen Probleme mit Delia anwendbar wird,

wird in diesem Akt die Geschichte Deutschlands ignoriert. Auch hier wird also, wenn über

Vergangenheit gesprochen wird, vor allem die nahe Vergangenheit betont. Diese nahe

Vergangenheit nimmt Bezug auf das Versehen am Anfang des Mittelteils. Wenn die ferne

Vergangenheit, die Geschichte Deutschlands, thematisiert wird, wird diese nur kurz

erwähnt und nicht weiter ausgearbeitet.

115

Strauß: Theaterstücke, S. 435. 116

Strauß: Theaterstücke, S. 435.

53

4.4.2.2. Implizite Verweise auf Zeit

Im ersten Teil des zweiten Aktes besprechen Lorenz und Delia neben der Haupthandlung

auch die Architektur des Gebäudes, das Lorenz für Delia entwirft. In diesem Gespräch

handelt es sich um einen ersten Entwurf: „Sie greifen wohl auf erprobtes zurück?“117

, wie

dieser Entwurf angepasst wurde: „Ich laborierte an Ihrer Idee herum“118

und wie das Haus

in der Zukunft aussehen kann. Die Zukunft hat zwei Möglichkeiten, welche krasse

Gegenteile sind. Die zweite Möglichkeit wird von Delia angefeindet:

LORENZ Bitte, erschrecken Sie nicht. Das krasse Gegenteil der ersten Lösung.

DELIA Nein…nein! Ein Kuppelgrab! Ein Pavillon! Ein Iglu auf dem Dach!

LORENZ Ich bitte Sie herzlich: lassen Sie es erst einmal auf sich wirken!

DELIA Niemals etwas Rundes! Keine Kugel, kein Oval! Tun Sie‟s weg! […] Sie

können die Zeichnung ruhig wieder einrollen. Ich werde mich nie damit

befreunden.119

Die Diskussion über Architektur kann als eine Metapher gesehen werden für dasjenige, was

auch mit Lorenz selbst im zweiten Teil geschieht. Delia tauscht nicht nur den Entwurf des

Hauses für einen anderen Entwurf um, sie tauscht auch den Architekt dieses Entwurfes

(Lorenz) um für einen anderen Architekten, sie tauscht sogar ihren Geliebten für einen

neuen Geliebten um. Indem sie nicht nur ihre Pläne, sondern auch ihre persönlichen

Beziehungen verändert, versucht sie der Geschichte zu entgehen. Hier wird, wie im ersten

Akt, anhand einer Diskussion der Optik, über die Zukunft gesprochen.

Danach vergleicht Lorenz den Moment des Versehens mit dem Schaffen eines

Kunstwerks. Dies ist vor allem ein optisches Verfahren, das ich im Kapitel über Optik

erläutern werde. Für die Analyse der impliziten Verweise auf Zeit ist es jedoch wichtig,

dass Lorenz sich selbst mit dem alten Künstler Degas vergleicht. Er sieht sich selbst als ein

Schöpfer der schönen Nacktheit, die später von anderen Leuten bewundert wird, und auch

als den möglichen Anfang einer schönen Geschichte, denn er sagt „Ich frage mich was aus

Ihrer Schönheit würde, wenn ich bliebe.“120

117

Strauß: Theaterstücke, S. 426. 118

Strauß: Theaterstücke, S. 426. 119

Strauß: Theaterstücke, S. 428. 120

Strauß: Theaterstücke, S. 429.

54

Am Ende des ersten Teils wird eine ähnliche Geschichte erzählt, der gegenüber

Lorenz und Delia jedoch einen entgegengesetzten Standpunkt einnehmen. Lorenz erzählt

über David, der eine schöne Frau sich waschen sah, er ließ sie holen und schlief bei ihr.121

Delia erwidert, dass diese Frau sich danach von ihrer Unreinheit reinigt und wieder zu

ihrem Haus zurückkehrt. Lorenz tut aber, als ob er das nicht hört, und erzählt die

Geschichte weiter wie eine schöne Fantasie, auf die Delia letztendlich folgendermaßen

reagiert: „DELIA Oh gewiß, es ist besser, Sie erheitern mich mit Ihren ausgemalten

Fantasien, als daß Ihnen, in meiner Gegenwart, gar nichts Verbotenes mehr einfiele. Ich

hüllenlos. Bathseba hüllenlos. Wie oft bringen Sie das noch über die Lippen.“122

Mit dieser

letzten Anekdote ist es ganz deutlich, dass Lorenz die schöne Nacktheit als den

fantastischen Beginn einer Liebesgeschichte sieht. Er holt dafür Inspiration bei

mythologischen Geschichten und Malereien. Delia ist viel realistischer und sieht den

Moment, in dem Lorenz sie beim Baden ertappt hat, nur als einen kurzen Augenblick, als

ein Versehen, das passiert ist, ohne dass es eine Fortsetzung geben muss.

Im zweiten Teil des mittleren Aktes wird Zeit ausführlich explizit behandelt.

Implizite Verweise auf Zeit trifft man in diesem Teil wenig an. Wie ich am Beispiel des

Beleibten und der Versprochenen vermittelt habe, deutet das Gerede anderer Leuten in

Bezug auf Zeit meistens auf das Verpassen oder Versehen eines Augenblicks hin. Diese

Gestalten benutzen in ihrer Gerede Worte wie „fünfundzwanzig Jahre“123

oder

„Augenblick“124

. Sie thematisieren also explizit die Zeit. Ganz am Anfang des zweiten

Teils wird implizit auf ein Versehen verwiesen. „DIE FRAU IN SCHILFGRÜN Ich bin eine

lichte Perle auf schwarzem Samt… […] Nein. Ich bring es nicht. Ich bring es einfach nicht

heraus. Es war zu schön, ihm sowas mal zu sagen, ganz spontan. ›Ich bin eine lichte Perle

auf schwarzem Samt.‹ Na ja. Geht doch.“125

Die Frau in Schilfgrün thematisiert subtil das

Versehen, ohne explizit Worte des Wortfeldes 'Zeit' zu verwenden. Und auch das deutet auf

die wichtige Position des Versehens in diesem Akt.

121

Strauß: Theaterstücke, S. 430. 122

Strauß: Theaterstücke, S. 430. 123

Strauß: Theaterstücke, S. 441. 124

Strauß: Theaterstücke, S. 434. 125

Strauß: Theaterstücke, S. 430f.

55

4.4.2.3. Mythosverarbeitung

Wie ich im einleitenden Kapitel beschrieben habe, ist das verarbeiten von Mythen eines der

Grundmotive in den Prosawerken und Theaterstücken Botho Strauß„. Auch im

Theaterstück Schlußchor ist dies der Fall. Die Mythen hängen mit dem Hauptmotiv

Augenblick zusammen. Indem ein Mythos benutzt wird, um einen bestimmten Augenblick

zu mythologisieren, bekommt dieser Augenblick einen erhabenen Status. Zugmann,

Englhart und Grieshop besprechen in ihren Analysen des Stückes alle den Mythos von

Diana und Aktaion, auf den die Anfangsszene des zweiten Aktes verweist. In Schlußchor

bekommt der Augenblick von Lorenz„ Versehen im zweiten Akt auf diese Weise einen

erhabenen Status. Der Mythos von Aktaion und Diana wird von Lorenz und Delia

wiederholt. In diesem Mythos überrascht Aktaion während der Jagd die Göttin Diana beim

Baden. Daraufhin verwandelt sie ihn in einen Hirsch, und er wird von seinen eigenen

Hunden zerfleischt. Nach Grieshop sind Delias Handlungen durch den Mythos

vorbestimmt. „Sie muß sich rächen, weil das die mythische Vorlage, die durch

Namensgebung, Handlung, Figurenkonstellation und Aussagen der Figuren explizit und

implizit beschworen wird, das so vorschreibt.“126

Der moderne Theatertext und der alte

Mythos sind intertextuell verbunden. Greiner erklärt die Mythosverarbeitung

folgendermaßen: „In dieser Welt stellt Lorenz mit seinem Blick des Versehens nicht einen

neuen Aktaion vor, sondern ist er Aktaion in dem Körper und Habitus einer Gestalt der

Jetztzeit.“127

Greiner verweist für diese Aussage auf Strauß„ Nachwort zu George Steiners

Von realer Gegenwart. Strauß hat in diesem Essay mit dem Titel Der Aufstand gegen die

sekundäre Welt Folgendes geschrieben (cf. Kapitel 2.3. Strauß‘ Ästhetik der Präsenz)

Die Kunstlehre von der realen Gegenwart oder: die um die Kunst erweiterte

Sakramentenlehre ist davon überzeugt, daß das Bildnis des Mädchens nicht ein

Mädchen zeigt, sondern daß es das Mädchen ist unter der Gestalt von Farbe und

Leinwand. […] Die Ikone mit der Gottesmutter ist nicht einmal ein Bild, sondern

126

Grieshop: Augenblick, S. 206. 127

Bernhard Greiner: Der Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation. [zweite,

aktualisierte und ergänzte Auflage] Tübingen und Basel: A. Francke, 2006, S. 471.

56

vielmehr ein Fenster, durch das wir sie selbst erblicken. Der Maler wendet seine

ganze Kunst an, um einen Vorhang zu öffnen, die Vision zu ermöglichen.128

Das Verwenden eines Mythos sei also ein Mittel, um Strauß„ Ästhetik der Präsenz dadurch

zu gestalten, dass der Mythos Realität wird. Strauß meint (cf. Kapitel 3.3. Botho Strauß‘

Ästhetik der Präsenz) dass die Einarbeitung der alten Mythos in ein neues Theaterstück ein

Mittel der Präsentation ist. Nach Hans-Thies Lehmanns Auffassung des postdramatischen

Theaters ist die Einarbeitung eines Mythos jedoch reine Repräsentation.

4.4.3. Zeit im dritten Akt

4.4.3.1. Explizite Verweise auf Zeit

Im Gegensatz zu den Titeln der ersten zwei Akten129

, die beide auf einen visuellen Aspekt

hindeuten, ist der Titel des dritten Akts „Von nun an“130

ausschließlich zeitlich bestimmt.

Mit dem Wort 'nun' in diesem Titel deutet Strauß, so Grieshop, auf den historischen

Zeitpunkt des Mauerfalls am 9. November 1989 hin. Grieshop erklärt den Titel

folgendermaßen:

Strauß spricht also mit der Formel „von nun an“, so der Titel des dritten Akts, gerade

nicht die kausale Bedeutung an, die dieses „nun“ im Deutschen auch hat, sondern

betont allein das Unvorhergesehene des Ereignisses und die zu diesem Zeitpunkt von

niemandem absehbaren Auswirkungen. „Von nun an“ wird es ein anderes

Deutschland geben, und zwar gilt das für West- wie für Ostdeutsche. Doch das

Modell dafür ist noch nicht gefunden. Die einzige Wahrheit, die sich in diesem

Augenblick offenbart, ist – typisch für den historischen Augenblicks des

Systemwandels – die Tatsache, dass von diesem Zeitpunkt an alle

Wahrheitsbedingungen verändert sind.131

Der Titel enthält, so Grieshop, weder eine kausale Bedeutung, eine Vorgeschichte, noch die

Auswirkungen, die Konsequenzen für die Zukunft, des 'Nuns' und betont auf diese Weise

den Augenblick. Anhand des Titels des Schlussaktes wird das Hauptmotiv des Stückes

noch mal nachdrücklich hervorgehoben. Die bedeutende Position der Zeit im Schlussakt

128

Strauß: Der Aufstand, S. 309. 129

“Sehen und Gesehenwerden” und “Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)” 130

Strauß: Theaterstücke, S. 447. 131

Grieshop: Augenblick, S. 209.

57

geht nicht nur aus dem Titel hervor, sondern auch aus der Anzahl Worte, welche

Geschichte, sowohl die ferne als die nahe Vergangenheit, zur Sprache bringen.

Die nachfolgende Grafik, die das explizite Erwähnen von Zeit im ganzen Stück

zeigt, weist deutlich auf, dass im dritten Akt viel mehr über Zeit gesprochen wird als in den

ersten zwei Akten.

Aus der Tabelle (cf. Tabelle Zeit in der Anlage) kann das auch gefolgert werden: im

ersten Akt wird 81 Mal, im zweiten Akt 139 Mal und im dritten Akt 156 Mal explizit über

Zeit gesprochen. Die Grafik, die die expliziten Ausdrücke in Bezug auf die ferne

Vergangenheit im ganzen Stück visualisiert, zeigt, dass im dritten Akt viel mehr über die

ferne Vergangenheit gesprochen wird als in dem ersten und zweiten Akt (cf. Anlage 2,

Grafik 4). Und die Grafik, die die expliziten Ausdrücke in Bezug auf die nahe

Vergangenheit im ganzen Stück visualisiert, zeigt, dass auch die nahe Vergangenheit im

dritten Akt am meisten thematisiert wird (cf. Anlage 2, Grafik 5). Der Titel und die hohe

Anzahl Worte aus dem Wortfeld 'Zeit' weisen also auf die wichtige Position der Zeit in

diesem Akt hin.

0

2

4

6

8

10

12

14

16

18

Akt

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5

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Akt

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59

Zoo

46

1

Zoo

46

3

zeit

Optik

Schlußchor: 3

Akten

58

Ein anderer Grund für die Wichtigkeit der Zeit im Schlussakt ist, dass letztlich

deutlich gemacht wird, dass dieses Stück von der deutschen Wende handelt: „DER WIRT

[…] Aber heute scheint wirklich etwas loszugehen. In den Nachrichten hieß es, sie wollen

die Grenze öffnen.“132

Zwar glaubt der Wirt zuerst, man hätte die Grenze aus Versehen

geöffnet, aber es stellt sich heraus, dass den Mauerfall echte Realität ist. Später sagt der

Rufer, der Vertreter der Geschichte, noch mal buchstäblich:

DER RUFER Deutschland! Das ist Geschichte, sag ich, hier und heute, sage ich,

Valmy, sage ich, Goethe! Und diesmal sind wir dabei gewesen. Die Grenzen sind

geöffnet! Die Mauer bricht! Der Osten… der Osten ist frei!133

Danach folgt eine Szene mit einem Ostdeutschen Paar, das im Westen ankommt:

DIE BLOUSON-FRAU Die Republik ist ja das einzige, was wir uns wirklich

geschaffen haben.

PATRICK Was geht in Ihnen vor? Was geht hier und jetzt, in diesen Minuten, in

Ihnen wirklich vor? Erzählen Sie es uns bitte!134

Die klischeehaften Erfahrungen der Ostdeutschen im Westen sorgen dafür, dass fürs erste

Mal in diesem Bühnenstück ein Appell an das Publikum gemacht wird. Die Zuschauer

erinnern sich durch diese Szene daran, wo sie in diesem wichtigen Augenblick des

Mauerfalls gewesen sind und wie sie sich damals gefühlt haben. Das Theaterstück wird also

konkreter. Die Zeit wird näher bestimmt anhand der deutschen Geschichte und des

Augenblicks des Mauerfalls. Die Nazis135

werden genannt gleich wie konkrete Daten und

Worte wie 'Kriegszeit'. Auch die Gestalten werden näher bestimmt. Im ersten Akt werden

die Figuren nur angedeutet mit Buchstaben und Zahlen, im zweiten Akt vor allem mit

Umschreibungen, und erst im dritten Akt werden fast alle Gestalten mit Namen genannt:

Anita von Schastorf, Ursula, Rudolf, Solveig…

Von den meisten Forschern wird der dritte Akt als eine hauptsächlich zeitliche

Begebenheit gedeutet. Bernhard Greiner zum Beispiel beschreibt den Inhalt des dritten

Aktes folgendermaßen: „Der dritte Teil des Stücks konfrontiert das emergente Ereignis, den

Fall der Berliner Mauer, mit dem Versuch einer Historiker, die am Beispiel ihrer eigenen

Familie die Geschichte der Nazis umfälscht, eine würdigere ››Ankunft‹‹ des politischen

132

Strauß: Theaterstücke, S. 448. 133

Strauß: Theaterstücke, S. 456. 134

Strauß: Theaterstücke, S. 457. 135

Strauß: Theaterstücke, S. 454.

59

Neuen zu inszenieren.“136

In Greiners Zusammenfassung des Aktes wird wieder der

Augenblick des Mauerfalls betont, aber er spricht auch über Anlässe und Folgen des

Augenblicks. Vorgeschichte und Nachwirkung sind allerdings subjektiv. Der zweite Grund

für die ausführliche explizite Thematisierung der Zeit hat auch nach Grieshop mit diesen

subjektiven, persönlichen Anlässen zu tun:

Was Strauß bei seiner Interpretation bewußt vernachlässigt, sind die langfristigen

Ursachen dieses Moments, der eben nicht ‚aus heiterem Himmel„ kam, sondern als

Folge krisenhafter Entwicklungen in der DDR und den anderen sozialistischen

Staaten vorbereitet worden war. In seiner dramatischen Verarbeitung dieses Stoffes

interessiert Strauß – wie in den beiden ersten Akten – allein dafür, wie die Figuren

mit diesem unerwarteten „Versehen“ – so nennt der Wirt die Maueröffnung –

umgehen und wie eine angemessene Reaktion auf einen solchen historischen

Augenblick aussehen müßte.137

Grieshop meint, dass das persönliche Umgehen mit der Wende das Thema des dritten Aktes

ist. Über den wichtigen Zeitpunkt der Wende wird nicht dadurch reflektiert, dass Strauß die

Gestalten auf die Anlässe zurückblicken lässt, die es für die Wende gegeben hat, oder dass

er die Gestalten vorausdenken lässt, was die Bedeutung des Augenblickes für die Zukunft

sein wird. Er lässt alle Gestalten auf ihre persönliche Weise mit der Wende in der deutschen

Geschichte umgehen oder vielmehr nicht umgehen und bewirkt auf diese Weise das

Reflektieren beim Publikum. Jeder Gestalt hat eine eigene, persönliche Geschichte.

Oberender deutet darauf hin, dass diese persönliche Geschichte wichtiger erscheint als der

Mauerfall und der großen Geschichte Deutschlands.

Botho Strauß zeigt in Schlußchor, daß das historische Ereignis keineswegs Resultat

einer planvollen Entwicklung war. Daß die Mauer fällt, erscheint innerhalb des

Dramas als das Ergebnis einer genauso willkürlich gefaßten Entscheidung wie der

plötzliche Auftritt von Freunden, die bekennen, ‹daß wir heute abend jeden Entschluß

spontan geändert haben.›138

Daher erscheint dieser in der Geschichte wichtigen Zeitpunkt unwichtig für die Gestalten

des Bühnenstückes. Die Weise, wie die Figuren die Wende auffassen, ist der Weise, wie die

Zuschauer diesen wichtigen Zeitpunkt deuten, diametral entgegengesetzt. Nicht nur durch

136

Greiner: Bleib in dem Bild, S. 218. 137

Grieshop: Augenblick, S. 209. 138

Oberender: Wiederrichtung, S. 85.

60

die klischeehaften Erfahrungen der Ostdeutschen, sondern auch durch die uninteressierte

Haltung der Gestalten dem Mauerfall gegenüber wird ein Appell ans Publikum gemacht.

4.4.3.2. Persönliche Geschichten

Wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, ist die Reaktion der Gestalten auf den historischen

Augenblick eher uninteressiert. Statt über die sich in dem Moment vollziehende Geschichte

Deutschlands zu reden, erzählen die Gestalten vor allem ihre eigenen, persönlichen

Geschichten. Die unpersönliche Interpretation der Gegenwart ist der persönlichen

Vergangenheit in diesem Akt gegenübergestellt. Die hohe Anzahl von Worten, sichtbar auf

nachstehenden Grafik, die sowohl von der nahen als auch von der fernen Vergangenheit

handeln, thematisieren hauptsächlich die persönlichen Geschichten der Gestalten. Obwohl

der Schlussakt konkretere Daten über die Wende vermittelt, werden, so Grieshop, die

langfristigen Anlässe nicht dargelegt.139

Die Grafik zeigt, dass am Anfang des Aktes hauptsächlich über Vergangenheit und in

geringerem Maße über die Gegenwart erzählt wird. Das hängt mit den Geschichten von

Ursula und der Mutter zusammen. Die erste persönliche Geschichte, die innerhalb des

139

Grieshop: Augenblick, S. 209.

0

1

2

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4

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Akt

III U

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60

Zoo

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1

Zoo

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Zoo

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3

Zoo

46

4

ferne Vergangenheit

nahe Vergangenheit

Heute

Zukunft

Akt3

61

dritten Aktes auf Zeit verweist, wird von Ursula ganz am Anfang des Teils erzählt. Die

Geschichte über die Enttäuschung über ihren Reisegefährten nach einer jahrelangen und

schwierigen Reise, war von entscheidender Bedeutung für ihr Leben: „Jedenfalls, eines

weiß ich jetzt für immer: ein Hochseesegler, und wenn du jahrelang mit ihm alleine

draußen warst, mutterwindallein in jeder Lage, der träumt trotz allem neben dir von einer

letzten, noch größeren Einsamkeit, der träumt vom Abenteuer ohne dich.“140

Sie erzählt

über die Vergangenheit und über die Frage welchen Effekt diese Erlebnisse auf ihren

heutigen Zustand haben.

Darauf (auf Seite 448) tritt die Mutter auf und erzählt eine sehr persönliche

Geschichte, die ihr Leben ganz bestimmt hat, die Geschichte der anspruchsvollen Tochter.

Es ist sehr schwer für mich, glauben Sie mir. Ich habe Sie den ganzen Tag um mich.

Den ganzen Tag bin ich mit ihr allein. Meine drei Söhne leben schon lange im

Ausland. Wir sind eine große Familie, wenn wir einmal im Jahr zusammenkommen.

Ich habe jetzt sieben Enkelkinder. Anita ist – ein anspruchsvoller Mensch. Sie macht

es einer Mutter nicht leicht.141

Die nächste Gestalt, die etwas über ihre eigene Vergangenheit erzählt, ist Solveig (auf

Seite 451). Sie berichtet erstens, dass sie seit anderthalb Jahren verheiratet ist, daneben

auch über die Tatsache, dass sie an diesem Abend spontan ihre Pläne geändert hat, und

drittens dass die Begegnung mit Rudolf also zufällig ist. Diese Erzählung hat aber mehr mit

dem zeitlichen Verfahren 'Jetzt' als mit der Geschichte zu tun, das zeigt die hohe Anzahl

Worte in Bezug auf die Gegenwart (cf. S. 451 auf oben stehender Grafik).

Danach, ab Seite 451, fängt eine Diskussion an zwischen Solveig, Rudolf, Patrick

und dem Leser. Diese Diskussion handelt von der Zeit einer Verabredung. Wenn Anita (auf

Seite 452) und letztlich der Wirt (auf Seite 453) sich in die Diskussion mischen, verlieren

sie sich immer mehr in Argumenten aus der (nahen) Vergangenheit: „DER WIRT Die hat

schon letzte Woche hier herumgeredet…“142

(cf. oben stehende Grafik). Weil die

Diskussion sich steigert, mischt die Mutter sich ein und erzählt über den Vater, Hans Ulrich

von Schastorf, der Mitte 1944 von den Nazis erschossen wurde. Er würde bei den

Historikern bekannt sein wegen seines herausgegebenen Tagebuchs. Die Ausgabe des

140

Strauß: Theaterstücke, S. 447. 141

Strauß: Theaterstücke, S. 448. 142

Strauß: Theaterstücke, S. 453.

62

Tagebuchs sorgt dafür, dass die persönliche Geschichte öffentlich bekannt wird. Und dann

entsteht sogar eine Diskussion zwischen Mutter und Tochter, wobei die Mutter Vertreterin

ihrer persönlichen Geschichte und die Tochter sich als Vertreterin der größeren Geschichte

bewährt. „DIE MUTTER Du klammerst dich an eine einzige Zeile im Tagebuch, wo jeder

kleinste Zwist später wie ein Höllenschlund erscheint! Es ist alles so lange vorbei, und sie

erzählt es daher, als sei es gestern gewesen. Du hast die Zeit doch gar nicht mitgemacht!“143

Die Grafik (cf. oben stehende Grafik und Anlage 2, Grafik 3) weist deutlich auf, dass die

Seiten, die die Diskussion und die Erzählung des Mutters vertreten (s.453, 454, 455), ein

Höhepunkt in der expliziten Thematisierung der Zeit im dritten Akt darstellen.

Die Grafik zeigt, dass beim Auftreten des Blouson-Paares (S. 456 auf oben stehender

Grafik und Anlage 2, Grafik 3) die Äußerungen über die Gegenwart eine hohe Frequenz

haben. Das Blouson-Paar vermittelt den anderen Gestalten gegenüber jedoch keine sehr

persönliche Erzählung. Das ostdeutsche Paar hat eine so klischeehafte persönliche

Vergangenheit, dass es eigentlich die Geschichte jedes durchschnittlichen ostdeutschen

Paares ist:

SOLVEIG Aber Sie können jetzt frei in den Westen und wieder nach Haus. Da muß

ihnen doch ein Grabstein von der Brust fallen! […]

DIE BLOUSON-FRAU Wir waren zuerst in einer Disco, um uns etwas aufzuwärmen.

Fünfundzwanzig Ostmark wollten die für eine Cola.[…]

DER BLOUSON-MANN Wir haben zwar nichts geglaubt, aber waren doch überzeugt,

daß uns der Betrug vor Schlimmerem bewahrt.144

Das Blouson-Paar berichtet über die Gegenwart, über den Fall der Mauer. Obschon sie die

Möglichkeit haben, zu erzählen, wie sie diesen wichtigen Augenblick erlebt haben,

vermitteln sie nur die weit verbreitete, klischeehafte Ansicht, die jeder Ostdeutsche hätte

erzählen können. Durch das Blouson-Paar kommen die anderen Gestalten und das

Publikum in Schlußchor einer Konfrontation mit der deutschen Geschichte sehr nahe, aber

die Möglichkeit einer persönlichen Interpretation des Mauerfalls wird hier nicht benutzt.

Auf der Grafik der Zeit im dritten Akt (cf. Anlage 2, Grafik 3) ist deutlich, dass von

dem Moment an, dass der Jubel auf der Straße hörbar wird (S. 458) die Äußerungen in

Bezug auf die Vergangenheit wieder zahlreicher werden. Darauf fangen Anita und Patrick

143

Strauß: Theaterstücke, S. 455. 144

Strauß: Theaterstücke, S. 456f.

63

mit einer Diskussion über den Inhalt des Tagebuches von Anitas Vater an (S. 458, 459,

460). Diesmal geht es nicht um eine persönliche Geschichte einerseits und eine

herausgegebene Geschichte anderseits, sondern um zwei Versionen der im

herausgegebenen Tagebuch beschriebenen Geschichte.

PATRICK […] Weshalb haben Sie in der Neuausgabe seines Tagebuchs zahlreiche

Stellen unterdrückt, die ihn ins Zwielicht setzen könnten?

ANITA Es gibt nur Kleinigkeiten, die ich weggelassen habe. Und manches ist tabu.

PATRICK Ah, tabu, so. Er war, wie man sagt, ein großartiger und unbestechlicher

Chronist der Terrorzeit. Aber, nicht wahr, an keiner einzigen Stelle lassen Sie zu, daß

seine Frauengeschichten bekannt werden. Dabei wissen wir aus zahllosen Briefen

längst, daß sich seine subversive Tätigkeit im Wesentlichen darauf beschränkte, einen

oberen NS-Chargen Hörner aufzusetzen. Wollte er vielleicht durch Liebeskummer

die Führung demoralisieren?

ANITA steht auf und schlägt Patrick ins Gesicht. Du schiefes kaltes dreckiges

Schmähmaul…145

Grieshop charakterisiert Patrick als den „Prototyp des - westdeutschen - Intellektuellen,

dessen Interesse darin besteht, Tabus kritisch aufzuklären und Geschichte zu

entmystifizieren.“146

Gegenüber Patricks Haltung steht, so Grieshop, Anitas Benehmen:

Dieser Haltung auf- und abgeklärter Objektivität wird von Strauß der

leidenschaftliche Enthusiasmus der Außenseiterin Anita von Schastorf

entgegengesetzt, die mit ihren reaktionären und mythischen Vorstellungen nicht nur

intellektuell einen Gegenpol zu demokratisch-aufgeklärten Vorstellungen eines

idealen Staates beschwört, sondern auch in ihrem Verhalten extreme Züge aufweist:

Sie reagiert auf das radikal Neue des weltgeschichtlichen Moments mit ebenso

radikalen Mitteln, nämlich einem orgiastischen, im Wahnsinn endenden

Tötungsakt.147

Die Grafik (cf. S. 461 auf Anlage 2, Grafik 3) verdeutlicht, dass von dem Ende der

Diskussion an die Thematisierung der Zeit weniger wichtig ist. Die Schlussszene des

ganzen Stückes nimmt dann auch keinen Bezug auf Zeit.

4.4.3.3. Mythosversuch

Der dritte Akt handelt explizit von Zeit und vor allem von Geschichte. Der Augenblick des

Mauerfalls ist dasjenige, was in diesem Akt „hier und heute“, wie der Rufer sagt, vorgeht.

145

Strauß: Theaterstücke, S. 460. 146

Grieshop: Augenblick, S. 210. 147

Grieshop: Augenblick, S. 210.

64

Man würde denn auch eine Reaktion auf diesen wichtigen Geschehen erwarten, aber

stattdessen werden hier persönlichen Geschichten erzählt. Die Präsenz ist einfach da und

hat fast keine Konsequenzen für den Verlauf des Stückes, er wird insofern ignoriert, dass

alle nur ihre eigenen Geschichten erzählen. Nur auf Anita von Schastorf macht der

Mauerfall Eindruck. Letztendlich sorgt sie dafür, dass sich am Ende des Theaterstückes

eine Wende vollzieht. Nachdem das ganze Stück glaubwürdig erschien, stellt der Schluss

von Schlußchor eine mysteriöse und phantastische Szene mit Anita im Zoo bei der Voliere

eines Steinadlers dar.

Anita steht vor der Voliere eines Steinadlers, dem sie sich in ihrem langen,

werbenden Schlussmonolog anbietet. Unklar bleibt, ob sie ihm Balzpartnerin,

Spielgefährtin oder Beute sein will – in jedem Fall endet die Szene nicht mit ihrer

Unterwerfung unter den Adler, sondern mit dessen Tötung.148

Indem sie den Adler, das Symbol für Deutschland und für die deutsche Geschichte,

vernichtet, versucht sie aus der Präsenz ein verrücktes Schauspiel zu machen, um auf diese

Weise die vorangehende Geschichte zu beenden und „von nun an“ eine neue Geschichte für

die Zukunft zu schaffen. Gemäß Andreas Englhart ist der dritte Akt „ein letzter Versuch,

das ‚Jetzt„ im sich bewegenden Text zu begreifen.“149

Anita versucht dem Augenblick

einen mythischen Status zu geben. Der Versuch misslingt jedoch, weil die Schlussszene

nicht auf einen bestehenden Mythos verweist. In der Forschungsliteratur gibt es zwar keine

Eindeutigkeit über die Bedeutung des Endes des Stückes. Durch die Unbestimmtheit

hinterlässt die Schlussszene eher einen Eindruck der Präsentation statt der Repräsentation.

4.4.4. Schlussfolgerungen Zeit

In den drei Akten werden verschiedene Aspekte der Zeit thematisiert. Im ersten Akt wird

die Zeit im Augenblick des Fotografierens dargestellt. Der zweite Akt handelt von zwei

Interpretationen eines Versehens. Das Versehen kann erstens als ein kurzer Moment und

zweitens als der Anfang einer Geschichte interpretiert werden. Im Schlussakt wird die

Geschichte Deutschlands mit den persönlichen Geschichten der Gestalten konfrontiert. In

148

Willer: Strauß zur Einführung, S. 126. 149

Englhart: Labyrinth, S. 264.

65

den drei Akten ist der Rufer derjenige, der das Deutschlandthema introduziert, aber das ruft

jedes Mal eine andere Reaktion der Gestalten hervor. Im Anfangsakt wird der Ausruf

„Deutschland“ ignoriert und hat man nur Auge für das Fotografieren. Im zweiten Akt wird

der Umgang mit der Geschichte Deutschlands vermieden, denn obschon die Wende hier

von dem Rufer explizit sprachlich repräsentiert wird, gibt es keine Darstellung einer

Auffassung dieses Augenblickes. Stattdessen werden persönliche Geschichten der

Nebenpersonen erzählt. Hier wird präsentiert, wie man mit dem Fall der Mauer und mit der

Geschichte Deutschlands umgehen kann, und in diesem Fall ist die Reaktion eine, die

Bewältigung vermeidet. Denn das Thema hängt im Anfangs- und im mittleren Akt in der

Luft, ohne dass darüber explizit gesprochen wird. Der dritte Akt ist in Bezug auf Zeit

gerade das Umgekehrte des ersten Akts. Im ersten Akt wird Alles gemeinsam erlebt von

einer Gruppe, die aus anonymen Individuen zusammengesetzt ist. Im dritten Akt dagegen

hat jedes Individuum eine persönliche Geschichte, und in diesem Akt ist gerade das

Zusammenfügen der individuellen Geschichten zu einem gemeinsamen Gruppenerlebnis

des Mauerfalls problematisch. Die Schlussszene mit dem Adler ist postdramatisch, weil es

mit dem Vorangehenden bricht und nicht gedeutet wird.

Greiner geht davon aus, dass Schlußchor „die Verweigerung von Geschichten wie

Geschichte“150

thematisiert. Ich meine, dass in den drei Akten drei verschiedene

Zeiterfahrungen an die Stelle der wichtigen Zeiterfahrung der deutschen Geschichte treten

und dass die Geschichte dadurch verweigert wird. Das Ziel ist das Publikum darüber

nachdenken zu lassen, wie man mit der Geschichte umgehen muss und wie jeder, der sich

das Stück angesehen hat, mit dem Mauerfall umgegangen ist oder jetzt noch umgeht.

5. Optik im Theater

Nachdem die explizite und implizite Thematisierung der Zeit in Schlußchor analysiert

wurde, untersuche ich die Optik. Meine Vorgehensweise ist fast dieselbe wie bei der

Analyse der Zeit. Zuerst bespreche ich die unterschiedliche Bedeutung der Optik im

dramatischen und im postdramatischen Theater. Darauf folgt eine Analyse der Optik im

150

Greiner: Bleib in dem Bild, S. 215.

66

ganzen Stück und der Art und Weise, wie die Optik in jedem Akt von Schlußchor explizit

und implizit dargestellt wird. Um die expliziten bzw. impliziten Äußerungen der Optik

untersuchen zu können, benutze ich wieder eine Tabelle mit den Worten des Wortfeldes

'Optik' und grafische Wiedergaben dieser Daten (cf. Anlage).

5.1. Optik im dramatischen Theater

Wenn im Hinblick auf das Hauptmotiv 'Augenblick' die Optik in Schlußchor analysiert

wird, ist das nicht so selbstverständlich wie die Kategorie Zeit. Denn Zeit und Raum sind,

zusammen mit der Figur und ihren sprachlichen und außersprachlichen Aktivitäten, die

konkreten Grundkategorien des Dramas.151

Optik wird in diesem Zusammenhang nicht

erwähnt. Doch liegen die Begriffspaare 'Zeit und Raum' und 'Optik und Raum' nicht so weit

auseinander. Wenngleich nicht immer explizit darauf geachtet wird, ist alles, was man

optisch wahrnimmt, eigentlich räumlich bestimmt. Raum ist aber nur eine Kategorie der

Optik, die von viel mehr Kategorien wie Farbe, Größe, Abstand oder Helligkeit bestimmt

wird. Man kann also schließen, dass das Begriffspaar 'Zeit und Optik', das hier untersucht

wird, viel mehr umfasst als das traditionelle Begriffspaar 'Zeit und Raum', das in Manfred

Pfisters Theorie Das Drama152

dargestellt wird. Pfister meint, dass die Funktion des

Raumes sich nicht nur erschöpft „in der Notwendigkeit eines Schauplatzes für eine

Geschichte […] [oder eines] Aktionsraums für die agierenden Figuren. Dies gilt für das

Drama in besonderer Weise, in dem der Raum ja nicht nur verbal vermittelt, sondern

konkret präsentiert wird.“153

Pfister analysiert Raum im Theater, indem er unter anderem

erklärt, wie Raum semantisiert wird. Räumliche Relationen werden zum Modell für

semantische Oppositionen. Und die modellbildende Rolle des Raums unterscheidet den

fiktiven von dem realen Raum. Darauf bespricht er den Unterschied zwischen Raum on-

stage und off-stage, er erläutert die Unterschiede zwischen dem fiktiven Schauplatz und

dem realen räumlichen Kontext. Weiterhin analysiert Pfister die Raumkonzeption, die sich

von abstrakten neutralen bis zu realistischen konkreten Räumen erstreckt, und er widmet

151

Pfister: Drama, S. 327. 152

Pfister: Drama. 153

Pfister: Drama, S. 338f.

67

einige Kapitel den Lokalisierungstechniken. Das sind die Techniken, um Raum in einem

dramatischen Text sprachlich und auch außersprachlich zu realisieren. Wenn aber auf diese

räumlichen Bedingungen zu viel eingegangen wird, wird die Ganzheit der Optik zu viel

vernachlässigt, daher erwähne ich hier die Kategorie Raum im dramatischen Theater nur

beschränkt. Pfister schließt seine Einleitung über den Raum im Theater ab mit der Aussage,

dass „das Drama auch Raumkunst ist.“154

Daraus kann hier weiter geschlossen werden,

dass das Drama nicht nur Raumkunst, sondern auch optische Kunst ist.

Auch in anderen Theorien des Dramas wird nicht explizit auf das Optische, sondern

nur auf Teilkategorien der Optik wie Kostüme, Dekor oder Lichteffekte und vor allem auf

Raum hingewiesen. In den meisten Theaterstücken werden diese Kategorien in den

Regieanweisungen oder erst vom Regisseur in dem Inszenierungstext konkretisiert. In

Schlußchor wird die Optik jedoch viel expliziter betont, denn die Optik ist nicht nur in den

Regieanweisungen und außersprachlich wahrnehmbar, sondern auch in dem linguistischen

Text spricht man über das Sehen, die Augen und die Fotografie.

5.2. Raum im postdramatischen Theater

Lehmann beschreibt die postdramatische Raumästhetik, die um 1980 eine Wende erlebt.

Text und Bedeutungsvermittlung „hatte[n] das Visuelle im tradierten dramatischen Theater

schon immer zu dienen.“155

Anfang der 80er Jahre wird die Bühnengestalt akzentuiert, es

gab „ein Interesse am formal durchstilisierten Theaterraum, […] [an der] Versenkung des

Zuschauers in einen Anblick, in Details, Formkonstruktionen und Signifikanz“.156

So

entwickelte sich ein für das postdramatische Theater typisches Raumerlebnis. „Der

postdramatische Raum ›dient‹ nicht mehr dem Drama, auch nicht in einer politisierenden

Aktualisierung. Vielmehr wird umgekehrt der Theatervorgang zur wesentlich

bildräumlichen Erfahrung.“157

Im postdramatischen Theater werden die Verhältnisse auf

der Bühne und zwischen der Bühne und dem Publikum auf verschiedene Weisen

154

Pfister: Drama, S. 339. 155

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 291. 156

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 291. 157

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 292.

68

dargestellt. Erstens hat man Bühnen mit deutlicher Trennung gegenüber dem

Zuschauerraum. Davon ist die Tableau-Wirkung oder das Theater der Rahmen, in dem die

Geschlossenheit der inneren Organisation betont wird, ein deutliches Beispiel. Auch

Theaterräume, die ein „Spiel mit Raum und Fläche“158

oder eine „Szenische Montage“159

auf der Bühne gestalten, sind typische postdramatische Räume, die einen großen Abstand

zum Zuschauer kreieren. Daneben verbindet der ungewöhnliche Spielort in integrierten

oder interaktiven Räumen sich mit der Darstellung eines szenischen Spiels.160

Ein Beispiel

von integrierten Theaterräumen sind „Zeit-Räume“161

, bei denen ein mit einer spezifischen

Zeit verbundener Raum die Bühne eines Theaterstückes bildet. Auch „Site Specific

Theatre“162

ist Theater mit integrierten Räumen, denn es wird gespielt in einem Raum, der

nicht den Raum der Regieanweisungen darstellt, sondern selbst den Raum der dramatischen

Handlung ist. Wenn in den Regieanweisungen eines Theaterstücks beschrieben wird, dass

die dramatische Handlung sich zum Beispiel in einer Fabrik vollzieht, wird die Fabrik nicht

auf der Bühne nachgeahmt, sondern das Stück wird in einer realen Fabrik aufgeführt. Bei

einem interaktiven Raum ist die Bühne nicht von dem Publikum getrennt, sie ist zum

Beispiel zusammengesetzt aus Stegen, die durch die Zuschauer laufen. Bei

Theaterprojekten, die eine „Aktivierung öffentlicher Räume“163

zum Ziel haben, benutzt

man heterogene Räume. Mit diesen Theaterprojekten, will man einen architektonischen

Prozess oder den Ablauf einer Reise durch eine bestimmte Landschaft betonen. Die

integrierten und interaktiven Räume bilden zusammen eine „Wende zum Visuellen“164

, die

Hans-Thies Lehmann folgendermaßen zusammenfasst:

Stets ging es im dramatischen Theater darum, einen adäquaten Rahmen für die

Erfahrung des Dramatischen zu schaffen, einen zugleich realen und geistigen Raum,

ein Hintergrundsbild, ein allegorisches Denkbild, schließlich die szenische

Konstellation selbst als Bild. Mit der Autonomisierung der Bilderfahrung in der

Moderne war die Voraussetzung dafür gegeben, daß die Szene sich konzeptionell der

158

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294. 159

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 295. 160

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 306. 161

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 299. 162

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 304. 163

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 307. 164

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294.

69

Bildlogik annäherte und sich folglich die dem Bild eigentümliche Rezeptionsweise in

gewissen Grenzen zueignete.165

Bei Strauß können wir nicht von integrierten oder interaktiven Räumen sprechen und

sicherlich nicht von heterogenen Räumen, denn es gibt eine deutliche Distanz zwischen

dem Bühnenraum und dem Publikum. Schlußchor wird in traditionellen Theaterhäusern

gespielt. Zwar ist dieses Stück postdramatisch und ist das Visuelle sehr wichtig, doch hat es

nicht den Schritt zu einer autonomen Bilderfahrung gemacht. Das Visuelle wird vor allem

in dem linguistischen Text und auf der klassischen Bühne zum Ausdruck gebracht. Der

Raum, wo es aufgeführt wird, ist von weniger Bedeutung.

5.3. Optik im postdramatischen Theater

In Hans-Thies Lehmanns Theorie des postdramatischen Theaters werden Performance,

Raum, Körper und Medien als wichtige Kategorien des postdramatischen Theaters

besprochen. Der Körper und die Medien können neben dem Raum als Teilkategorien der

Optik betrachtet werden, weil sie im Gegensatz zu Text und Zeit auf der Bühne visuell

wahrnehmbar sind. In seinem Panorama der postdramatischen Theaterzeichen hat Lehmann

der Optik ein Kapitel gewidmet: „Szenographie, visuelle Dramaturgie.“166

In diesem

Kapitel nennt er die visuelle Dimension sehr wichtig für das postdramatische Theater:

„'Visuelle Dramaturgie' heißt dabei nicht eine exklusiv visuell organisierte Dramaturgie,

sondern eine, die sich nicht dem Text unterordnet und ihre eigene Logik frei entfalten

kann.“167

Besonders im Theater der 1970er und 1980er Jahre erreichte die visuelle

Dramaturgie einen Höhepunkt, und in 1990er Jahren gab es nach Lehmann eine

„Wiederkehr des Textes.“168

Die visuelle Dramaturgie entstand unter dem Einfluss der

anderen Künste, vor allem der bildenden Kunst, Film und Fotographie. In Strauß„ Stück

geht es jedoch nicht nur um die unmittelbare Einwirkung dieser Künste auf außersprachlich

wahrnehmbare Elemente, sondern die Künste nehmen auch Einfluss auf die sprachliche

165

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 294. 166

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 158. 167

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 159. 168

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 159.

70

Ebene. In Schlußchor wird zum Beispiel neben einem optisch wahrnehmbaren Fotografen

oder dem Grundriss eines Gebäudes auch über Fotographie und Architektur gesprochen.

Ein anderes Kapitel in Lehmanns Theorie, das von der Optik im Theater handelt, hat

den Titel konkretes Theater. Mit dem Begriff 'abstraktes Theater' wird handlungsloses

Theater bezeichnet, in dem „das Überwiegen der formalen Strukturen soweit [geht], daß

Referenz kaum mehr als solche auszumachen ist.“169

Beim konkreten Theater dagegen geht

es „darum, Theater als eine Kunst im Raum, in der Zeit, mit menschlichen Körpern und

überhaupt allen Mitteln, die es als Gesamtkunstwerk einschließt, für sich selbst zu

exponieren“.170

Das für sich selbst exponieren hängt nahe zusammen mit der Absicht, zu

Präsentieren statt Repräsentieren, so wie mit dem Blick, mit dem Sehen.

Schauspieler, Beleuchtungskörper, Tänzer usw. werden einer rein formalen

Betrachtung dargeboten, der Blick findet keinen Anlaß, über das Gegebene hinaus

eine Tiefe symbolischer Signifikanz zu erschließen, sondern wird in der je nachdem

genußvoll oder gelangweilt vollzogenen Aktivität des Sehens der ›Oberfläche‹ selbst

festgehalten.171

Das konkrete Theater wird hier also beschrieben als ein Theater, in dem das Sehen schon

Alles preisgibt. Das Publikum muss nicht über eine tiefere Bedeutung nachdenken, denn

die wird auf der Bühne gezeigt. Lehmann nennt dieses konkrete Theater auch eine extreme

Zuspitzung des Prinzips der visuellen Dramaturgie. So konkret kann Schlußchor jedoch

nicht interpretiert werden, weil aus diesem Theaterstück sehr wohl eine tiefe symbolische

Signifikanz, die nicht auf der Stelle sichtbar ist, ableitbar ist. Das kann man schon

begründen, indem es in Schlußchor unter anderem eine Verarbeitung von der Geschichte

und den Mythen gibt, deren Bedeutung nicht im Theaterstück selbst erläutert wird, sondern

erst deutlich wird, wenn man Sekundärliteratur und Strauß„ Ästhetik der Präsenz gelesen

hat.

Im Kapitel „konkretes Theater“172

spricht Lehmann auch über ein Theater der

Wahrnehmbarkeit. Das ist nach Lehmann eine Form des postdramatischen Theaters, die das

Unabgeschlossene und Unabschließbare [so sehr betont], daß es seine eigene

›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ realisiert, die sich durch eine Überwindung der

169

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167. 170

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167. 171

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 168f. 172

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 167.

71

Prinzipien der Mimesis und der Fiktion auszeichnet. Das Spiel als im Moment

erzeugtes konkretes Ereignis verändert grundlegend die Logik der Wahrnehmung und

den Status des Subjekts dieser Wahrnehmung, das sich nicht mehr auf eine

repräsentative Ordnung stützen kann.173

Ein Hauptvertreter dieses Theaters ist Jan Fabre, der sehr experimentelles und manchmal

textloses Theater macht, er wird von Lehmann denn auch ein radikaler Künstler genannt.

Strauß„ Stück ist schon postdramatisch aber in geringerem Maße. Die Wahrnehmbarkeit ist

in Schlußchor sehr wichtig, aber befindet sich auf einer anderen Ebene. Im Theater der

Wahrnehmbarkeit wird die Wahrnehmbarkeit ausschließlich von außersprachlichen

Elementen wie Körpern, Tanz, Bildern usw. kreiert, während die Betonung der Optik in

Schlußchor auch von sprachlichen Elementen in dem linguistischen Text kreiert wird.

Optik bildet eine Lücke innerhalb der dramatischen Theatertheorie, weil man

meistens Teilaspekte der Optik, wie den Raum, betrachtet hat. Erst in der postdramatischen

Theatertheorie wird die Optik dadurch als eine wichtige Theaterkategorie separat

behandelt, dass Lehmann der visuellen Dramaturgie und dem konkreten Theater ein Kapitel

widmet. Jetzt analysiere ich, mit der Theorie im Gedanken, die Optik in Schlußchor. Ich

werde mich für jeden Akt zuerst auf die explizite Optik konzentrieren, auf die Frage, wie

Optik sprachlich thematisiert wird, und untersuche, wie das Visuelle explizit gezeigt wird

anhand der Regieanweisungen. Danach analysiere ich die implizite Optik, die vom

Publikum wahrgenommen wird, ohne dass darauf explizit im linguistischen Text

hingedeutet wird.

5.4. Postdramatische Optik in Schlußchor

In Bezug auf Optik ist es, gleich wie das in Bezug auf Zeit der Fall ist, schwierig, einen

Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Akten in Schlußchor zu finden. Der Rufer

ist das Element in den drei Akten, an dem das gemeinsame Thema der deutschen

Geschichte deutlich wird. Und auch optisch ist er die einzige Gestalt, die in den drei Akten

sichtbar ist. Die anderen Gestalten wechseln gleich wie Dekor und Raum in jedem Akt,

daher gibt es kein allgemein überherrschendes Bild des Stückes, das hängen bleibt, sondern

173

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 169f. Hinzufügung von mir, JV.

72

eher drei verschiedene Bilder. Obwohl man bei den meisten Theaterstücken nicht ein

großes Bild in Erinnerung hat, erinnert man sich mindestens einen allgemeinen

Erzählstrang. Nachdem man Schlußchor gesehen oder gelesen hat, werden eher drei

Handlungsstränge die mit drei Bildern der Szene zusammenhängen, hängen bleiben.

In Kapitel 4.2 Postdramatische Zeitästhetik habe ich festgestellt, dass die Zeit des

Dramas ungefähr identisch ist mit der Zeit der fiktiven Handlung. Die Zeit, die die

Gestalten des Stückes erleben, unterscheidet sich nicht wirklich von der Zeit, die die

Zuschauer erleben. Im Vergleich mit der Zeit kann gesagt werden, dass die Optik des

Dramas und die Optik der fiktiven Handlung ganz unterschiedlich sind. Die Zuschauer

haben einen Überblick über alles, was sich auf der Bühne vollzieht, während die Gestalten

dadurch, dass sie sich auf der Bühne befinden, nur eine begrenzte Perspektive haben. Dabei

muss aufgemerkt werden, dass die Optik des Publikums im dramatischen Theater immer

einen großen Unterschied mit der Optik der Gestalten bildet, um die Absolutheit des

dramatischen Theaters zu verstärken. Im postdramatischen Theater versucht man, durch

den Gebrauch integrierter oder interaktiver Räume diese Absolutheit zu durchbrechen (cf.

Kapitel 5.2. Raum im postdramatischen Theater). Auf den ersten Blick ist die Optik in

Schlußchor dramatisch gebildet, denn die Absolutheit wird erhalten. In der Fortsetzung

meiner Analyse werde ich untersuchen, ob Strauß„ an einigen Stellen die Absolutheit

durchbricht, um die Zuschauer im Theaterstück mit hinein zu beziehen indem ihnen eine

Optik präsentiert statt repräsentiert wird.

5.5. Analyse der Optik in Schlußchor

Die nachstehende Grafik weist auf, dass die expliziten Äußerungen in Bezug auf Optik in

Schlußchor eine umgekehrte Entwicklung durchlaufen als die Ausdrücke des Wortfeldes

'Zeit'. Wie ich ausführlich im vorigen Kapitel (Kapitel 4 Zeit im Theater) erläutert habe,

wird Zeit im ersten Akt mit der niedrigsten und im dritten Akt mit der höchsten Frequenz

thematisiert. Bei der Optik sind die Verhältnisse gerade umgekehrt. Wie diese Entwicklung

genau verläuft, untersuche ich, indem ich die Optik in jedem Akt genauer betrachte.

73

5.5.1. Optik im ersten Akt

5.5.1.1. Explizite Verweise auf Optik

Aus der oben stehenden Grafik und den Titel des Aktes „Sehen und Gesehenwerden“

erweist sich, dass die Optik im ersten Akt im Vergleich zu den anderen Akten am

deutlichsten in den Vordergrund tritt. Der Anfangsakt dreht nicht nur um den richtigen

zeitlichen Augenblick um ein Foto zu machen, sondern zugleich um den perfekten

optischen Augenblick, zum Fotografieren. Der Augenblick, den die Gruppe, wie Grieshop

sagt, gewärtigt174

, ist eine Kombination von zeitlichen und optischen Bedingungen: „M9

Und gerade in der Sekunde hätte man sich später gern gesehen!“175

In diesem Satz werden

die drei Zeitachsen: Vergangenheit (hätte gesehen), Präsens (Sekunde) und Zukunft (später)

mit Optik (sehen) kombiniert um den Augenblick des Fotografierens wiederzugeben. In

174

Grieshop: Augenblick, S. 189. 175

Strauß: Theaterstücke, S. 416.

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2

4

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Akt

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nz

Erin

ner

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31

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3

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5

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9

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te 4

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Frau

mit

Hu

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5

Akt

III U

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1

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3

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n P

aar

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7

Pat

rick

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nit

a 4

59

Zoo

46

1

Zoo

46

3

zeit

Optik

Akt1 2 3

74

diesem Kapitel versuche ich, wenn Zeit und Optik auch miteinander verwoben sind, nur das

Optische im ersten Akt zu analysieren.

Der Anfangsakt bildet erstens einen Dialog zwischen zwei verschiedenen

Blickwinkeln: dem Chor, der fotografiert werden muss, und dem Fotografen, der den Chor

als Gruppe überblickt und fotografiert. Zweitens kommunizieren auch innerhalb des Chors

verschiedene Mitglieder aus verschiedenen Blickwinkeln miteinander, ohne dass sie einen

Überblick über die Gruppe haben. Im ersten Akt wird Optik vor allem im Zusammenhang

mit Fotografie besprochen, das erweist sich aus unten stehenden Grafik der optischen

Wiedergabe (cf. Anlage 3, Grafik 4).

Die unten stehende grafische Darstellung der Frequenz der Wortfelder 'Zeit' und 'Optik' im

ersten Akt zeigt einen Höhepunkt in der expliziten Thematisierung der Optik am Anfang

des Aktes (auf Seite 415). Die Mitglieder der Gruppe reden an dieser Stelle nicht nur über

den Moment, an dem das Foto gemacht werden soll, sondern auch über die Art und Weise,

wie sie in jenem Blick des Auges aussehen, und wie sie später auf dem Bild aussehen

werden.

0

1

2

3

4

5

6

7

8

Akt

I 4

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6

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Lore

nz

Erin

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Frau

mit

Hu

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2

An

ita&

Mu

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Pat

rick

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nit

a 4

58

Zoo

46

1

Zoo

46

4

optische Wiedergabe

optische Wiedergabe

Schlußchor 3 Akten

75

F6 Woher wollen Sie wissen, wie es aussieht, wenn Sie, hoffe ich, wie wir alle

geradeaus in die Kamera starren? Sie verderben nichts mit Seitwärts-Schielen?

F1 Ich starre nicht, ich halte nur mein Aussehen fest. Ich spür doch, wie er neben mir

Grimassen schneidet.176

Grieshop umschreibt das Gerede folgendermaßen: „Im fröhlich-bissigen Party-Plauderton,

der konsequent jede inhaltliche Vertiefung eines Themas vermeidet, wird der Augenblick in

seiner visuell-temporalen Doppelbedeutung sprachlich durchdekliniert.“177

Allerdings wird

nicht nur der Augenblick besprochen.

Die oben stehende Grafik macht deutlich, dass etwa in der Mitte des ersten Aktes (S. 417

und S. 420) fast nicht über Optik gesprochen wird. Hier werden Themen besprochen, die

als aus der Luft gegriffen erscheinen:

M9 Wenn sie einschläft, ist es am ärgsten. Wenn irgend jemand von uns einschläft,

geht es ja noch.

M3 Es gibt Menschen, die schlafen isoliert für sich ein. Es gibt andere, die schlafen

ausgesprochen ansteckend ein.178

Dieses Gerede dauert während des Kameraschusses an, bis der Fotograf die Gruppe

unterbricht, weil er einen Fehler bemerkt hat: ein Mitglied der Gruppe wird von einem

176

Strauß: Theaterstücke, S. 414f. 177

Grieshop: Augenblick, S. 198. 178

Strauß: Theaterstücke, S. 417.

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Akt

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1

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2

Frau

42

3

42

4

42

5

zeit

Optik

Akt1

76

anderen abgedeckt. Dieser Fehler löst eine Diskussion aus über die Art und Weise, wie die

Gruppe von dem Fotografen gesehen werden muss. Die Diskussion ist sichtbar auf der oben

stehenden Grafik (cf. Anlage 1, Grafik 1), nachdem der Fotograf sein Fehler entdeckt hat

zeichnet sich in den expliziten Äußerungen in Bezug auf Optik einen Höhepunkt ab (S.

421).

F12 Wann hätten Sie uns je ins Auge geblickt?

M3 Sie schießen ein Pauschalfoto nach dem anderen!

M2 Haben Sie überhaupt den Versuch unternommen, an uns das Wesentliche zu

entdecken: die- Durch die Reihen auf-und abwärts läuft in Silben getrennt das Wort

›In-di-vi-du-al-i-tät‹. Der Fotograf hat sich auf einen Hocker gesetzt, etwas abseits

vom Chor. Fotograf: Kein Mensch weiß, was das für Leute sind.

ALLE Was?!

M14 Selbst wenn wir nun ein zufälliger Allerweltsausschnitt wären, hätten Sie nicht

das Recht, auch nur einen von uns für eine einzige Sekunde zu übersehen – aus dem

Auge zu verlieren.179

Hier wird Kritik geübt an der Betrachtungsweise des Fotografen, der die Gruppe als eine

Einheit auffasst. Nach Grieshop ist die Wesensbestimmung, die Individualität, „höchst

ironisch unterlaufen dadurch, dass der Begriff von einem namenlosen Kollektiv chorisch

durchbuchstabiert wird.“180

Auch wenn einige Namen der Gruppenmitglieder bekannt

sind181

, spricht der Fotograf niemals ein Gruppenmitglied beim Namen an. Er macht nur

Gebrauch von mit einer Platzbestimmung kombinierten Benennungen wie 'Frau' oder

'Mann' zum Beispiel „Frau zweite rechts eins“182

oder „Mann dritte rechts zwei“183

. Der

Fotograf erwähnt jedoch nicht ob er 'rechts' aus seinem Standpunkt oder aus der

Perspektive der Gruppe meint, das wird also von der Inszenierung abhängig sein. Der

Fotograf ist nicht im Stande, die Gruppe als eine Gemeinschaft von Individuen zu

betrachten, und obwohl er dazu von der Gruppe gemahnt wird, bietet sie ihm durch ihre

chorischen Aussagen gar keine Möglichkeit, seine Betrachtungsweise zu individualisieren.

179

Strauß: Theaterstücke, S. 421. 180

Grieshop: Augenblick, S. 198. 181

M8 heißt Johannes (Strauß: Theaterstücke, S. 424), M14 heißt Mickey Schneider (Strauß: Theaterstücke,

S. 414 und S. 418), F10 heißt Charlotte Klein (Strauß: Theaterstücke, S. 418) und F1 heißt Annemarie Köhler

(Strauß: Theaterstücke, S. 417) 182

Strauß: Theaterstücke, S. 423. 183

Strauß: Theaterstücke, S. 423.

77

Das Gespräch zwischen Fotograf und Gruppe über die Tatsache, dass der Fotograf

die Gruppe wie ein Gesicht, ein Antlitz sieht, geht weiter auf Seite 422 (cf. nachstehende

Grafik oder Anlage 1, Grafik 1). Der Chor wirft dem Fotografen vor, dass er die Gruppe

nicht unter Kontrolle hat.

Auf Seite 423 erreicht diese Diskussion einen Höhepunkt, und das äußert sich auch in der

Grafik der Frequenz des Wortfeldes 'Optik', die auf dieser Seite ein Maximum erreicht (cf.

oben stehende Grafik und Anlage 1, Grafik 1). Im Höhepunkt der Diskussion werden die

Rollen vertauscht und gelingt es der Gruppe, die Kontrolle über den Fotografen zu

gewinnen: „Kurz darauf eine Kanonade kurzer lauter Befehle, einzeln oder zu mehreren

abgegeben, die der Fotograf willenlos befolgt.“184

Diese Befehle enthalten auch

Anordnungen wie „Liegenbleiben! Mund auf! Augen starr! Kein Mucks mehr! Atem aus!

Kein Mucks! Atem stop! Atem Ende! Licht aus!“185

an denen der Fotograf letztendlich

untergeht. In diesem Moment entsteht das Problem des Fotos, das noch immer gemacht

werden muss. Und dafür bietet sich eine zufällige Lösung in der Gestalt einer jungen Frau

an, welcher sich die Gruppe folgendermaßen vorstellt:

M9 Wir sind ein kleines Betriebsjubiläum.

F10 Wir sind ein kleiner Ausflug des Historischen Seminars.

M3 Wir sind ein kleines Klassentreffen.

184

Strauß: Theaterstücke, S. 423. 185

Strauß: Theaterstücke, S. 423.

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Frau

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Optik

Akt1

78

ALLE sanft Wir sind der Chor…186

Sie betonen hier wieder ihrer Einheit statt ihre Individualität, es ist nicht wichtig, welche

Art von Gruppe sie sind, das Einzige, das feststeht, ist, dass sie eine Einheit sind. Doch

wird durch die Frau zum ersten Mal im Akt ein Individuum aus der Gruppe herausgehoben,

indem sie einem Mitglied der Gruppe einen spezifischen Namen, Johannes, und eine

persönliche Geschichte gibt. Es gelingt ihr auch, die Kontrolle über die Gruppe zu

gewinnen, indem sie der Gruppe Stillschweigen auferlegt: „DIE FRAU Wenn Sie so

freundlich sein wollen, Ihre Unterhaltung einzustellen, solange ich Sie fotografiere.“187

Dadurch, dass sie die Gruppe während des Fotografierens schweigen lässt, wird den

expliziten Äußerungen über Optik Einhalt geboten, um der außersprachlichen Optik, dem

Fotografieren, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit dem Sprechverbot endet der Akt,

denn das Hauptziel des Anfangsakts war ein Gespräch zwischen Gruppenmitgliedern

während des Fotografierens.

Beim Fotografen gab es viel mehr Gerede über Optik, also viel mehr sprachliche als

visuelle Optik. Der Versuch, ein gutes Foto zu machen, misslingt bei ihm. Andreas

Englhart bezeichnet das Auftreten der Frau, die den Chor unter Kontrolle hat, nicht als den

unmittelbaren Anlass zum gelungenen Akt des Fotografierens. Er betont, dass der Chor am

Ende wieder triumphiert und es weder der Frau noch dem Mann, Johannes, gelingt, „aus

dem Chor herauszutreten, um als Subjekt einen Dialog zu beginnen und zu stabilisieren.“188

Das Triumphieren des Chors zeigt sich im Summen ganz am Ende des Aktes: „Der Chor

fängt leise an zu summen. Es wird dunkel.“189

Wenn man Schlußchor wie Englhart vor

allem kulturhistorisch betrachtet, in Hinblick auf die deutsche Geschichte und den

Medieneinfluss, dann ist das Ende in der Tat eher negativ. Denn die Gruppe ist während

des ganzen Aktes nicht individualisiert. Am Anfang konnte die Gruppe noch frei reden,

aber am Ende wird ihr von einem kontrollierenden Individuum das Stillschweigen auferlegt

und ist der Zustand der Gruppe schlimmer als am Anfang. Wenn man Schlußchor aus

186

Strauß: Theaterstücke, S. 423f. 187

Strauß: Theaterstücke, S. 425. 188

Englhart: Labyrinth, S. 247. 189

Strauß: Theaterstücke, S. 425.

79

visueller Perspektive betrachtet – wie ich in diesem Teil meiner Untersuchung gemacht

habe -, endet es positiv, denn das Ende ist ein Anlass zum Gelingen des Fotografierens.

Eine explizite visuelle Handlung wird angetroffen, wenn Mitglied F7 sich entblößt.

„F7 reißt ihren Pullover über dem nackten Oberkörper hoch. Wird dieser Film seinen

sicheren Weg gehen? Wird er im Dunkeln entwickelt, gebadet und getrocknet? Wird er die

ganze Wahrheit festhalten? Werden wir uns je auf Bildern wiedersehen?“190

Grieshop nennt

diesen Akt das Evozieren der Metapher der nackten Wahrheit.191

Diese Evokation vollzieht

sich anhand einer Kombination eines sprachlichen Aktes mit einem visuellen Akt. Im

linguistischen Text wird über Wahrheit gesprochen, während man zugleich visuell die

Nacktheit wahrnehmen kann. Patrizia Zugmann192

nennt diese Handlung eine Wende. Ihrer

Meinung nach kehrt sich das Innere nach außen und zeigt sich der Mensch in seiner

existenziellen Nacktheit. Die Fragen von F7 werden von Zugmann einem Menschen

zugeschrieben, der sich selbst in der Mediengesellschaft verloren hat. Sie verbindet also

eine visuelle Handlung mit der Mediengesellschaft. Sie nennt das Infragestellen des

Fotografierens eben einen Einbruch des Mythischen, des Schicksalhaften, und geht so weit,

dass sie in den Fragen nach dem Effekt eines Fotos Fragen nach der menschlichen Existenz

sieht.193

Ich wurde die Bedeutung der Entblößung aber nicht so weit treiben und schließe

mich eher Grieshops Analyse an denn die steht in Zusammenhang mit der Problematik der

Individualität. Für ihn ist die Enthüllung des nackten Oberkörpers eher ein misslungener

Versuch, figürlich die Wahrheit zu enthüllen. „Die Nacktheit offenbart nicht, was sie zu

offenbaren vorgibt: Zur Erkenntnis der Individualität von F7 trägt ihr nackter Busen nicht

bei.“194

Nach dem Versuch, sprachlich die Individualität zu betonen, erfolgt jetzt ein

Versuch visuell die Individualität zu betonen.

Neben der expliziten Thematisierung der Optik, wird in Schlußchor auch auf

implizite Weise auf Optik hingewiesen. Die Optik des Publikums, die nicht thematisiert

wird aber doch in jedem Theaterstück wichtig ist, wird im folgenden Kapitel analysiert.

190

Strauß: Theaterstücke, S. 419. 191

Grieshop: Augenblick, S. 199. 192

Patrizia Zugmann: In der Schwebe. Subjektivität und Ästhetik in Botho Strauß‘ Dramen Besucher,

Schlußchor und Das Gleichgewicht. München: unveröffentlichte Dissertation, 2003, S. 112. 193

Zugmann: Schwebe, S. 112. 194

Grieshop: Augenblick, S. 199.

80

5.5.1.2. Implizite Verweise auf Optik: Optik des Publikums

Die Aussicht der Bühne wird am Anfang in den Regieanweisungen skizziert. „Eine Schar

von fünfzehn Frauen und Männern in vier Stufenreihen zum Gruppenfoto aufgestellt. Im

Vordergrund der Fotograf der drei Kameras an verschiedenen Positionen bedient.“195

Für

die Leser ist, weil sie die Gruppe nicht sehen können, auch ein Diagramm der

Gruppenaufstellung gegeben. Es ist wichtig aufzumerken, dass die Gruppenmitglieder im

Theatertext nicht mit einem Namen, sondern mit einer Kombination von einem Buchstaben

und einer Zahl angedeutet werden, dadurch ist es schwierig, die Individuen zu

unterscheiden. Strauß macht im Theatertext deutlich, dass er die Anonymität der

Gruppenmitglieder behalten will. Die Zuschauer des Stückes dagegen können die

Chormitglieder auf der Bühne sehen. Für sie ist es leichter, die Individuen zu

unterscheiden. Um die Anonymität der Individuen auch für die Zuschauer des Stückes zu

gewährleisten, soll der Regisseur die Mitglieder nicht als Individuen erscheinen lassen; die

Gestalten können zum Beispiel die gleichen Kleider tragen oder eine Maske aufsetzen. Für

die Zuschauer und Leser wie für den Fotografen erscheint die Gruppe also als eine Einheit,

in der die Einzelpersonen aufgehen. Andreas Englhart sagt dazu, dass die Äußerungen der

Mitglieder nicht als individuell bestimmte Äußerungen erscheinen:

Der Dialog unter der Gruppe geht kreuz und quer durch die Reihen, sein Schema

ähnelt chaotischen Abläufen. Zwischen die Ordnungsinseln, in denen der Dialog

einen Sinn erkennen läßt, schieben sich unvorhergesehene Brüche und Schnitte. Zu

diesen äußert sich Strauß: ›Es herrscht der Drill des Vorübergehenden, gegen den

keine Instanz der Rede sich noch auflehnen kann. Dieser wird im wesentlichen mit

Schnitten ermöglicht; aber die Schnitte haben entgegen dem Wortsinn nichts

Trennendes, sie bringen es vielmehr zustande, daß eine unendliche Kette der

Berührungen entsteht, daß letztlich allem mit allem in Berührung gerät.‹196

Strauß hat diese chaotische Art von Sprechen gewählt, nicht nur um die Geschwindigkeit

des Fotografierens zu betonen (cf. Kapitel 4.4.1.3. Die Text-Zeit), sondern auch um dem

visuellen Gruppenbild Nachdruck zu verleihen.

Beide, Zuschauer und Fotograf, betrachten die Gruppe auf der Bühne. Der Fotograf

sieht den Chor aus einer seiner drei Kameras, während das Publikum einen Überblick über 195

Strauß: Theaterstücke, S. 413. 196

Englhart: Labyrinth, S. 243.

81

die ganze Bühne hat. Ihre Perspektive sind also verschieden. Wenn die Individuen der

Gruppe die Optik des Fotografen kritisieren (wie ich im vorigen Kapitel erläutert habe),

üben sie auch Kritik an der Optik des Publikums. Die Kritik impliziert einen Appell an das

Publikum. Die Zuschauer fühlen sich angesprochen und werden gemahnt, über die eigene

Optik nachzudenken. Zusammen mit der Kritik, dass er die Individualität der Mitglieder

nicht sieht, bekommt der Fotograf auch den Vorwurf, er habe die Gruppe nicht unter

Kontrolle halten können und habe keinen guten Überblick, da die ganze Zeit ein Mitglied

abgedeckt wurde. Das Publikum hat aber schon diesen Überblick. Sie betrachten die ganze

Bühne erstens von einem größeren Abstand, und zweitens gibt es in vielen Theatern

Balkons, von denen aus die Bühne überblickt werden kann.

5.5.1.3. Optik und Medien

Wie im Kapitel über Zeit im ersten Akt schon besprochen, ist der postdramatische Einfluss

der Medien spürbar in diesem Akt. Nicht nur das auf zeitlicher Ebene rasche Tempo der

Dialoge, sondern auch die Optik, die durch die Geschwindigkeit der Dialoge entsteht,

spiegelt den Einfluss der Medien. In ihrer Dissertation meint Patrizia Zugmann, dass das

Wechselspiel von Fotograf und Gruppe zeigt, wie die Medien der Gesellschaft ein Bild von

sich selbst geben, dass sie die Masse mit rasch aufeinander folgenden Momentaufnahmen

füttern, ohne ihr das Wesentliche, das im Verborgenen liegt, mitteilen zu können. Ihrer

Meinung nach erinnert das „an die Bilder von Menschenmengen vor dem Brandenburger

Tor, die Zeitungen und Fernsehen zum Thema Wiedervereinigung veröffentlichten und

darin doch nicht zeigen konnten, was die Einheit bedeutet.“197

Nach Zugmann übt die Optik

im ersten Akt Kritik an den Medien. Nach der Meinung anderer Literaturwissenschaftler

wie Thomas Oberender kritisiert das Wechselspiel von Fotograf und Gruppe nicht nur das

Verhältnis zwischen Medien und Masse, sondern auch das Verhältnis von Staat und Masse.

Der Staat berücksichtigt die individuellen Bürger nicht genügend, nimmt sie wie der

Fotograf nur als eine Einheit wahr. In seiner kurzen Präsentation des Stückes erläutert

Oberender das folgendermaßen: er bezeichnet die Gruppe am Anfang als „die

197

Zugmann: Schwebe, S. 109.

82

individualisierte Masse der alten Bundesrepublik [, die] noch einmal zum Gruppenbild

angetreten [ist].“198

Er meint also, dass es eine direkte Widerspiegelung der Masse der

ehemaligen Bundesrepublik ist und nicht, wie Zugmann meint, eine Widerspiegelung der

Art und Weise, wie die Medien mit dieser Masse umgegangen sind.

5.5.2. Optik im zweiten Akt

5.5.2.1. Explizite Verweise auf Optik

Aus dem Titel „Lorenz vor dem Spiegel“ und dem Untertitel „Aus der Welt des Versehens“

geht hervor, dass auch im mittleren Akt die Optik sehr wichtig ist. Die Entwicklung des

ganzen Aktes wird von einer visuellen Handlung bestimmt: von der Eingangsszene, in dem

Lorenz versehentlich die nackte Delia sieht. Im zweiten Teil des Aktes reflektiert Lorenz

das Ereignis wortwörtlich und figürlich. Während er und die anderen Gestalten in dem

Spiegel sich selbst buchstäblich reflektiert sehen, reflektiert Lorenz auch figürlich über sich

selbst, über die Konsequenzen des Ereignisses im ersten Teil und über seine Beziehung zu

Delia. Drittens sind die Haltungen Lorenz„ und Delias dem Geschehenen gegenüber

spiegelbildlich. Das Wort 'Spiegel' erscheint in Bezug auf Optik außerhalb von 'Sehen' (19

Mal) in diesem Akt am meisten (10 Mal) (cf. Tabelle Optik in der Anlage). Das Motiv des

Spiegels und damit auch des Reflektierens ist neben dem Motiv des Versehens sehr wichtig

im zweiten Akt. Nach Patrizia Zugmann ist „der Blick das durchgängige Leitmotiv [ist], an

dem Möglichkeit und Unmöglichkeit subjektiver Vervollkommnung entwickelt werden.“199

Im ersten Teil des Aktes werden Bilder wie zum Beispiel die Gemälde von Degas explizit

beschrieben, die Präsentation des Blickes, von dem Zugmann spricht. Trotz der zentralen

Aufstellung des Spiegels im zweiten Teil, wird in diesem Teil viel mehr über Sachen, die

nicht visuell wahrgenommen werden, gesagt als über dasjenige was im Spiegel reflektiert

wird. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit subjektiver Vervollkommnung von Lorenz und

von den anderen Gestalten wird in der zweiten Hälfte des Aktes entwickelt.

198

Hinzufügung von mir. Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 199

Zugmann: Schwebe, S. 117.

83

Im Untertitel „Aus der Welt des Versehens“ springt das Wort 'Versehen' ins Auge.

Im Kapitel über die Zeit im zweiten Akt wurde erklärt, dass 'Versehen' nicht nur positiv

und negativ, sondern auch zeitlich und visuell interpretiert werden kann. Jetzt gilt die

visuelle Bedeutung des Wortes 'Versehen'. Die visuelle Bedeutung fällt in zwei Teile

auseinander: in die Bedeutung des falschen Sehens und in die Bedeutung des

Voraussehens. Diese zwei Bedeutungen des Wortes können mit den unterschiedlichen

Ansichten der zwei Hauptgestalten des zweiten Aktes, Lorenz und Delia, verbunden

werden. Nachdem Lorenz Delia beim Baden ertappt hat, sieht er diesen Augenblick als den

Anfang einer Liebesgeschichte. Er interpretiert den Augenblick im Sinne der alten

Bedeutung des Versehens, des Voraussehens: „LORENZ […] Ich frage mich, was aus Ihrer

Schönheit würde, wenn ich bliebe.“200

Er will dem Anblick noch eine positive Folge in der

Zukunft geben, indem er das Bild von Delia als „reine, aufgeschreckte Kreatur“201

in ein

dauerhaftes Bild umsetzen will. Delia dagegen sieht den Augenblick, in dem Lorenz sie

beim Baden entdeckt hat, eher in Bezug auf die andere visuelle Bedeutung dieses Wortes:

ein falsches Sehen, ein Übersehen, das nicht der Anfang einer Liebesgeschichte sein kann:

„DELIA Sie wollten gar nicht, was Sie bekommen haben: so viel. Mehr als jede Geschichte,

die Mann und Frau gemeinsam haben. Anfang und Ende auf einmal. Das konnten Sie gar

nicht wollen. Aber ich will.“202

Die zwei verschiedenen Interpretationen der Anfangsszene

setzen sich also in Bezug auf Zeit (wie im Kapitel 4.4.2. Zeit im zweiten Akt vermittelt) und

in Bezug auf Optik während des ganzen Aktes weiter. Jetzt erläutere ich, wie der Akt sich

visuell entwickelt. Dafür betrachte ich erstens die explizite Thematisierung der Optik und

zweitens die Optik außerhalb der sprachlichen Äußerungen.

Der erste Teil des zweiten Aktes

Der erste Teil ist eine Aufeinanderfolge von Beschreibungen von Bildern aus dem

Standpunkt von Lorenz. Das wichtigste Bild, die Eingangsszene des Versehens, wird zuerst

wahrgenommen und später sprachlich vermittelt. Die ersten Worte und das Erste, was vom

Publikum auf der Bühne wahrgenommen wird, sind rein visuell bestimmt.

200

Strauß: Theaterstücke, S. 429. 201

Strauß: Theaterstücke, S. 429. 202

Strauß: Theaterstücke, S. 428.

84

LORENZ Kein Licht… Gibt‟s nirgends Licht?... Wo ist der Schalter? Er reißt eine

Tür auf. In der Mitte der Bühne fällt das Licht auf die nackte Delia, die sich nach

dem Bad abtrocknet, den Fuß auf einen Schemel gesetzt. Sie erblickt über ihre

Schulter rückwärts den Eindringling.203

Hier wird dasjenige, was wahrgenommen wird, nicht sprachlich vermittelt. Die visuelle

Darstellung eines Geschehens ist typisch für das Theater, weil es sich durch das

Zusammengehen von Text und Darstellung von Prosa und Lyrik unterscheidet. Dadurch,

dass in Schlußchor eine Handlung meistens von einer Beschreibung begleitet wird, fällt die

Stille am Anfang des mittleren Aktes auf. Die Wichtigkeit der Handlung wird durch die

ungewöhnliche Stille betont. Der Vorfall, in dem ein Mann eine Frau zufällig beim Baden

erblickt, ist eine moderne Version des Mythos von Aktaion und Diana. In dem Mythos ist

der Blick das Hauptmotiv. Wenn Aktaion Diana nackt am Kithairon baden sieht, hält er und

starrt sie an.204

Steffen Damm beschreibt den auf dem Mythos basierten Blick im zweiten

Akt folgendermaßen:

Sehen ist für Strauß jedesmal ein Wiedersehen, denn was sich dem indiskreten

Architekten als badende Kundin im Frotteekleid präsentiert, ist die Wiederholung

eines vielfach modifizierten, archetypischen Musters; ein Bild aus längst vergangener

Zeit, das im modernen Ambiente machtvoll Geltung beansprucht.205

Dadurch, dass die Handlung nicht sprachlich beschrieben wird, könnte man wie Damm

meinen, es ginge hier um Präsentation, aber der Verweis auf den Mythos und das

'Wiedersehen', wovon Damm spricht, zeigen dass diese Handlung ein deutliches Beispiel

von Repräsentation ist.

Die ersten Bilder, die in dem linguistischen Text des zweiten Aktes sprachlich

vermittelt werden, sind die Entwürfe des Hauses. Delia und Lorenz besprechen

abwechselnd die Entwürfe des Hauses und die Konsequenzen des soeben passierten

Versehens:

LORENZ Dort könnte – ich betone: könnte – die Bauaufsicht einen freien Zugang

fordern, weil der Schornstein in der Nähe ist.

203

Strauß: Theaterstücke, S. 426. 204

Michael Grant et al: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. München: Taschenbuch, 2008, S. 33. 205

Steffen Damm: Die Archäologie der Zeit: Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten

von Botho Strauß. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 85.

85

DELIA Man wird die Ecke aber wenigstens begrünen dürfen? Das schlimmste ist: mag

kommen, was will. Sie haben im Versehen schon alles gesehen.206

Die Diskussion über die Auswirkungen des Versehens wird weitergeführt (auf Seite 427,

428, 429). Lorenz will Delia von der Wichtigkeit und der Schönheit des Augenblickes

überzeugen.

Die oben stehende Grafik zeigt auf Seite 429 einen Höhepunkt in den expliziten

Äußerungen in Bezug auf Optik, denn Lorenz erhärtet seinen Standpunkt, indem er Delia

mit einer Kreatur „wie der Künstler sie erschafft“207

vergleicht. Um seiner Äußerung

Nachdruck zu verleihen, beschreibt er die Gemälde von Degas, die im Gegensatz zu den

Entwürfen nicht auf der Bühne sichtbar sind. Das dritte Bild, das er beschreibt, ist das Bild

von David, der „vom Dach ein Weib sich waschen“208

sah. Auch hier ist das Bild nicht

visuell wahrnehmbar, und obschon er es nicht selbst wahrgenommen hat, beschreibt er die

Szene sehr detailliert, als ob er selbst dabei war:

In einer Mauerscharte erscheinen Teile ihres Liebesspiels, die Sicht ist eng

beschnitten: ein nacktes Knie, geküßt von einem bärtigen Mund. Eine Wange

schmiegt sich an eine hohle Hand. Dann ein breiter Nacken mit flachen Locken, dann

die zarte hüllenlose Schulter, und das Schulterblatt rollt langsam auf und ab […]209

206

Strauß: Theaterstücke, S. 427. 207

Strauß: Theaterstücke, S. 429. 208

Strauß: Theaterstücke, S. 430. 209

Strauß: Theaterstücke, S. 430.

02468

1012141618

Akt

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6

zeit

Optik

Akt2

86

Zugmann nennt diese Bibelgeschichte einen Versuch von Lorenz, sich vor Delia zu

rechtfertigen. Delia akzeptiert seinen Versuch nicht und beharrt auf ihren Vorwürfen

insofern sie seine Beschreibungen sehr treffend „ausgemalte Fantasien“ nennt. Mit diesen

Beschreibungen versucht er sich also nicht nur zu rechtfertigen, sondern er idealisiert Delia

auch. Doch zeigt er sich dessen bewusst, dass sein Bild der Frau irreal ist: „man selbst ist

blind vor Überraschung bei solch einem Irrtum in der Tür… Vor meinem plötzlichen

Gesicht standen Sie ganz unverletzbar, in Bann und Rüstung da.“210

Nach Patrizia

Zugmann hat Lorenz Delias körperliche Nacktheit ausgeblendet, „um im Augenblick die

Idealität wahren zu können.“211

Meiner Meinung nach soll der Begriff 'blind' nicht

buchstäblich aufgefasst werden, Lorenz sagt ja auch, dass sie „in Bann und Rüstung da“

stand, also in einer idealisierten Nacktheit. Man soll 'blind', meiner Meinung nach auffassen

als 'blind für die Realität'. Anstatt des reellen Körpers von Delia tritt jetzt ein idealisierter

Körper hervor. Delias Beharren auf dem fehlerhaften Benehmen Lorenz„ und ihre

Verweigerung, ein Kompliment von ihm anzunehmen, sind der Anlass für den zweiten Teil

dieses Akts, in dem Lorenz doch versucht, sie zur Besinnung zu bringen.

Der zweite Teil des zweiten Aktes: Bild wird durch Sprache ersetzt

Die grafische Wiedergabe der Regieanweisungen in Bezug auf Optik zeigt eine hohe

Frequenz im zweiten Teil des zweiten Aktes, denn die dramatische Handlung konzentriert

sich um den im Mittelpunkt stehenden Spiegel (cf. Anlage 3, Grafik 2). Eine Folge davon

ist, dass das Sehen explizit thematisiert wird und sehr viel Worte in Bezug auf das direkte

Sehen vorkommen (cf. Anlage 3, Grafik 5). Die Grafik der optischen Wiedergabe (cf.

Anlage 3, Grafik 4) zeigt dagegen, dass im zweiten Teil des zweiten Aktes fast nicht über

Bilder gesprochen wird. Lorenz versucht sein Versehen, sein falsches Sehen, im zweiten

Teil in einen positiven Blick, in ein positives Sehen zu verwandeln. Das gelingt ihm aber

nicht, und er fällt in Gerede und Sprachprobleme zurück. Auch wenn dieser Teil des Akts

sich vor einem Spiegel ereignet, tritt das Sprachliche als ein Ersatz für die Bilder ein: „Ah!

Das langsame Gift der Scham zerstört mir meine Muttersprache! Bei jedem Wort, das ich

210

Strauß: Theaterstücke, S. 427. 211

Zugmann: Schwebe, S. 131.

87

an Delia richte, blinkt im Geist ein Rotlicht auf: Vorsicht, Ausdrucksschwäche! Verfehlter

Ton…“212

Lorenz verdichtet, so Englhart, „seine Gefühle in Wörter, sperrt sich damit aber

in deren Immanenz.“213

Ein erstes Beispiel des Ersatzes von Bildern durch Sprache ist Lorenz„ Erzählung

einer Erinnerung „wie früher in der Schule“214

; diese geht in eine innerliche Rede über , die

mit Hilfe des Spiegels auch für das Publikum ausgesprochen wird. In der Rede wird

deutlich, dass Lorenz das Bild des ersten Teils Folge leisten will. Und weil es ihm nicht

visuell gelingt, versucht er es sprachlich:

Er tritt vor den Spiegel, stützt sich mit beiden Armen auf die Kommode, senkt den

Kopf, um ihn dann zu seinem Spiegelbild emporzuheben. Wenn du sie ansprichst -

wenn du sie erwischt und sprichst sie an, tu mir den Gefallen und berichte nicht sofort

von deinen leiblichen Beschwerden. Bitte: erwähne deine scheußliche

Sehnenentzündung nicht.215

Jedes Mal, wenn er vor den Spiegel tritt, versucht er das Visuelle in Worte zu fassen und

muss folgern, dass Bilder nicht in Sprache auszudrücken sind:

Ich habe sie… ich habe sie vor mir!... Erwischt! Schnell! Wie sagt man denn, wie

heißt es treffend: ›was mir vollkommen undurchsichtig… was mir völlig schleierhaft

– gänzlich nebulös‹? Ein Meer von Varianten! Ich stehe wie gelähmt vor dem

Reichtum meines Deutsch! Muttersprache!216

Meiner Meinung nach nimmt Lorenz hier gleich wie Aktaion in dem Mythos eine

andere Gestalt an. Zuerst war er ein Architekt, der vor allem mit Bildern arbeitete und auch

das Visuelle sehr schätzte. Im zweiten Teil wird er, wie Aktaion in dem Mythos dadurch

gestraft,217

dass er jetzt nicht buchstäblich eine andere Gestalt annimmt, sondern seine

Denkweise verändert. Es gelingt ihm nicht länger, seine Gefühle in Bildern zu zeigen, und

stattdessen wird die Sprache sein wichtigstes Ausdrucksmittel. Aber auch mit diesem neuen

Mittel gelingt es ihm nicht, sein Ziel zu erreichen. Die Ausdrücke „das zerstört mir meine

Muttersprache“, „Ausdrucksschwäche! Verfehlter Ton“, „Ich stehe wie gelähmt vor dem

Reichtum meines Deutschs! Muttersprache!“ zeigen, dass er auch mittels seiner

212

Strauß: Theaterstücke, S. 432. 213

Englhart: Labyrinth, S. 252. 214

Strauß: Theaterstücke, S. 431. 215

Strauß: Theaterstücke, S. 431. 216

Strauß: Theaterstücke, S. 433. 217

Diana verwandelte ihn in einen Hirsch, wonach er von seinen eigenen Hunden zerrissen wurde. (Grant:

Lexikon der antiken Mythen, S. 33.)

88

Muttersprache seine Gefühle nicht äußern kann. Gerade das fehlerhafte Sprechen ist ein

Kennzeichen des postdramatischen Theaters. Lehmann spricht über den Sprechakt als

Ereignis. Im postdramatischen Theater wird oft der motorische Akt des Sprechens als

unselbstverständlicher Vorgang bewusst gemacht. „Aus den Lücken der Sprache tritt ihr

Angstgegner und Doppelgänger hervor: Stottern, Versagen, Akzent, fehlerhafte Aussprache

skandieren den Konflikt zwischen Körper und Wort.“218

Das passiert aus Widerstand gegen

eine perfekte Sprache mit Hilfe von Dialekten, von unprofessionellen Sprechweisen oder

von den unterschiedlichen Sprachkompetenzen verschiedener Akteure. Meistens wird das

mangelhafte Sprechen erst im Inszenierungstext geschaffen. Durch die Art und Weise, wie

sie sprechen, lassen die Akteure die im linguistischen Text perfekte Sprache als

unvollkommen erscheinen. In Schlußchor liegt die mangelhafte Sprache schon im

linguistischen Text fest. Sprach- und Kommunikationsprobleme sind typisch für Strauß„

Arbeit, wie in Thomas Robergs Artikel über die Dramenpoetik und die Theaterästhetik von

Botho Strauß dargelegt wird. „In den Konversationskrisen straußscher Figuren tritt immer

wieder deren Unvermögen hervor, im sprachlichen Austausch mit anderen gehaltvoll die

eigene Individualität zur Geltung zu bringen, womit häufig ein Identitätsverlust

einhergeht.“219

In Schlußchor ist der Identitätsverlust Lorenz„ großes Problem. Es ist ihm

unmöglich, sich auf eine visuelle Weise zu äußern und seine Identität, die so stark mit

Optik zusammenhing, zu behalten. Nach Patrizia Zugmann220

ist Delia nicht länger das

Objekt von Lorenz„ Blick, sondern der Blick selbst. Das Begehren ist ihrer Meinung nach

also nicht länger auf Delia, sondern auf den Blick gerichtet. Mit ihrer Interpretation schließt

sich Zugmann der von Roberg vertretenen These des Identitätsverlusts an. Eher als er Delia

begehrt, sehnt Lorenz sich nach seiner früheren Gestalt, in der er eine Person war, die

mittels seines Blickes schöne Bilder sah. Jetzt hat er nur noch die Sprache, und auch diese

ist fehlerhaft. Lorenz„ Ausdrucksproblem endet fatal. Am Ende wird er aufs Neue mit

einem Akt des Versehens konfrontiert, indem er den falschen Mantel nimmt:

DER VERSPROCHENE Mein Herr! Einen Augenblick, bitte! Warten Sie, mein Herr. Sie

haben den Mantel verwechselt. Meinen Mantel haben Sie genommen. […]

218

Lehmann: postdramatisches Theater, S. 269. 219

Roberg: auf der Bühne, S. 115. 220

Zugmann: Schwebe, S. 122.

89

LORENZ Sie haben recht. Es ist nicht mein Mantel. Ein Versehen. Keine böse

Absicht.221

Insofern er die böse Absicht zurückweist, weicht Lorenz den Missverständnisse aus, so wie

es sie zuvor beim Ertappen der nackten Delia gegeben hat. Wenn gleich darauf „Delia

nackt wie zu Beginn, in derselben Pose [erscheint]“, ihren Kopf über die rechte Schulter

wendet und Lorenz anblickt,222

erkennt er, dass das Versehen der Anfang seiner Probleme

war, und stirbt dann wie Aktaion aufgrund seines Identitätsverlusts. Aktaion wurde von

seinen eigenen Hunden zerrissen denn die hatten ihn in seiner neuen Gestalt (ein Hirsch)

buchstäblich nicht erkannt, während Lorenz sich erschießt weil er sich selbst in

übertragener Bedeutung nicht mehr erkennt.

5.5.2.2. Implizite Verweise auf Optik

Im zweiten Akt ist die Bühne nicht länger ein leerer und unbestimmter Raum wie im ersten

Akt. Die erste Szene des zweiten Akts findet im umzubauenden Haus von Delia statt. Der

zweite Teil spielt im Vestibül dieses Hauses. Vor allem das Dekor der zweiten Szene ist

konkret in den Regieanweisungen beschrieben:

Geräumiges Vestibül einer älteren Villa. Zur rechten Bühnenseite die Haustür, zur

linken die Flügeltür zu den Gesellschaftsräumen, zum ›Saal‹. In der Mitte der Szene

ein sehr großer, gekippter Spiegel über einer Kommode, flankiert von zwei Stühlen.

In der Rückwand, unweit des Eingangs zum Saal, eine Tür, die zum Waschraum und

zur Toilette führt. Rechts (neben der Haustür) ein offener Garderobenraum.223

Die Deskription erinnert zusammen mit den Beschreibungen der Kleidung an die

ausführlichen Regieanweisungen eines realistischen Dramas von Strindberg oder Ibsen. In

Ibsens Theaterstück Hedda Gabler zum Beispiel, kann man sich durch die

Regieanweisungen schon sehr exakt vorstellen, wie die Bühne und die Gestalten aussehen.

Auch im zweiten Akt von Schlußchor braucht man wenig Einbildungsvermögen. Anhand

der ausführlichen Beschreibung wird die Illusion auf der Bühne verstärkt. Die Absolutheit

221

Strauß: Theaterstücke, S. 445. 222

Strauß: Theaterstücke, S. 446. 223

Strauß: Theaterstücke, S. 430.

90

der Welt auf der Bühne steht dem Einbruch des realen und auch dem postdramatischen

Theater fern.

Der Gegensatz zwischen den runden weiblichen Formen der nackten Delia und den

eckigen Formen auf den Architekturentwürfen kann auch von den Zuschauern aufgemerkt

werden. Wenn man die eckigen Formen eines Hauses mit Männlichkeit identifiziert, ist

Delias Reaktion auf die runden Formen des zweiten Entwurfs ganz logisch: „Niemals etwas

Rundes! Keine Kugel, kein Oval! Tun Sie‟s weg! Die Chance ist gleich Null. Hüllenlos?

Bringen Sie das anstandslos über die Lippen? Sie können die Zeichnung ruhig wieder

einrollen. Ich werde mich nie damit befreunden.“224

Schon hier gibt sie in bildsprachlicher

Form ihre Gedanken über eine mögliche Liebesbeziehung wieder. Sie will keine

Vereinigung weiblicher und männlicher Formen im Haus und keine Vereinigung von sich

selbst mit Lorenz. Am Ende des ersten Teils ist es deutlich, dass es zwischen Lorenz und

Delia keine Beziehung geben wird. Wenn Delia im zweiten Teil einen Ersatzarchitekt

gefunden hat, ist das Ende ihrer noch nicht angefangenen Beziehung deutlich. „Sie bauen

ihr Haus, das eine Metapher für das Dasein ist, nicht mehr gemeinsam auf.“225

Das Haus ist

meiner Meinung nach eine visuelle Metapher für ihre Beziehung.

Das Visuelle wird während des ganzen Aktes thematisiert, indem sich ein Spiegel

auf der Bühne befindet. Wenn nicht über Optik oder Bilder gesprochen wird, werden die

Leser und die Zuschauer durch den Spiegel doch auf das Visuelle aufmerksam gemacht.

Die Leser werden in den Regieanweisungen an den Spiegel erinnert, und die Zuschauer

beachten den Spiegel auf der Bühne. Sie können nicht nur die Gestalten des Stückes,

sondern auch sich selbst im Spiegel reflektiert sehen. Das hängt natürlich davon ab, wie

man den Spiegel auf der Bühne aufstellt, aber wenn man die Regieanweisungen liest, ist es

logisch, dass das Publikum die reflektierende Seite des Spiegels sehen kann. Der Effekt

dieses Reflektierens ist subjektiv bedingt, aber doch richtet der Spiegel einen Appell an das

Publikum. Auch die Tatsache, dass die Zuschauer neben einem direkten Bild der Gestalten

auch manchmal ein reflektiertes Bild ihrer eigenen Gesichter sehen, macht die

Theatererfahrung ungewöhnlich. Auf diese Weise integriert das Publikum im zweiten Teil

224

Strauß: Theaterstücke, S. 428. 225

Zugmann: Schwebe, S. 127.

91

des mittleren Aktes mit der Theaterhandlung, wird sogar in das Geschehen integriert. Die

Absolutheit der Welt auf der Bühne wird subtil durchbrochen und das ist typisch für ein

postdramatisches Theaterstück.

5.5.3. Optik im dritten Akt

5.5.3.1. Explizite Verweise auf Optik

Gleich wie im zweiten Akt vermitteln die Regieanweisungen am Anfang des dritten Aktes

ein sehr konkretes Bild der Gestalten und der Bühne:

Am letzten, hinteren Tisch sitzen Anita von Schastorf, eine schöne, doch auf Anhieb

sonderbar wirkende Frau in ihren späten Vierzigern, und ihre alte Mutter. […]

Durch die Eingangstür treten Patrick, ein gutaussehender, etwas jugendlich

auftretender Mann, und Ursula, eine kleine, wendige Person, beide um die Mitte

dreißig.226

Die konkreten Regieanweisungen prägen die Illusion auf der Bühne. Im ersten Akt können

sowohl die Zuschauer als auch die Leser ihre eigene Fantasie benutzen, um die Welt auf der

Bühne zu konkretisieren. Im dritten Akt hat Strauß die Illusion schon völlig selbst kreiert.

Die Illusionsbildung ist typisch für das dramatische Theater, in dem es buchstäblich und

figürlich eine deutliche Trennung zwischen Bühne und Publikum gibt.

Der Titel des dritten Aktes „Von nun an“ weist im Gegensatz zu den Titeln der

anderen Akten nicht auf Optik hin. Auch der Anteil der Worte in Bezug auf Optik ist in

diesem Akt viel kleiner als in den ersten zwei Akten.

226

Strauß: Theaterstücke, S. 447.

92

Die wenigen auf Optik verweisenden Worten bedeuten aber nicht, dass Optik unwichtig ist

in diesem Akt, denn die Bilder, die auf der Bühne erscheinen, zum Beispiel das

Schlussbild, sind kräftig und beeindruckend. Wenn wir uns nur die Optik im dritten Akt

angucken (cf. unten stehende Grafik), wird deutlich dass die meisten expliziten

Äußerungen in Bezug auf Optik, auch wenn es nur wenige sind, bei der Schlussszene im

Zoo auftreten.

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Akt

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1

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Zoo

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zeit

Optik

Akt3

93

5.5.3.2. Implizite Verweise auf Optik

Im dritten Akt werden vor allem mittels detaillierte Beschreibungen implizit Bilder

heraufbeschworen. Die Bilder sind nicht wie Gemälde, unverändert, sondern es sind

Szenen, bewegende Bilder oder Geschichten, wie die Geschichte Ursulas über die Reise

nach Feuerland. Den Eindruck den man von dieser Frau bekommt, ist kein statisches Bild

ihres Aussehens, sondern eine Reihenfolge von mehreren Bildern ihrer Vergangenheit die

einen Überblick ihres Lebens darstellen. Die Optik wird, wie die Zeit in diesem Akt sich

auf Geschichte statt auf Momente konzentriert, von bewegenden Überblicken statt von

kurzen, momentanen Blicken bestimmt. Das Deutschlandthema wird im Schlussakt anhand

der Äußerungen des Rufers und einiger kräftiger Bilder auf der Bühne konkretisiert.

Ein erstes Bild, das das Deutschlandthema hervorruft, ist das der Ostdeutschen. In der

Hälfte des dritten Aktes tritt ein Paar aus Ostdeutschland auf: „Er zieht ein Paar aus der

DDR mit sich, bescheidene, etwas unförmig wirkende Leute in ihren graublauen

Blousons.“227

Nach Thomas Oberender steht im dritten Akt das andere Deutschland „in

Gestalt der freigelassenen Ostdeutschen“228

plötzlich im Raum. Durch das optische Bild

wird das Publikum an die Zeit vor der Wende erinnert. Auch für die Leser des Schauspiels

wird das Paar visuell beschrieben, indem die Ostdeutschen anhand ihrer Kleidung benannt

werden: der Blouson-Mann und die Blouson-Frau. Das Bild des Paares wird durch ihre

“unförmige“, “bescheidene“ Haltung noch verstärkt. Gunter Schandera zitiert einige

Rezensenten in Bezug auf die klischeehafte Darstellung der Ossis. Ein Rezensent schrieb:

„Man ist hier mitten in gegenwärtiger deutscher Wirklichkeit.“229

Ein anderer meinte: „Der

Auftritt der beiden Ostdeutschen geriet zum ›'authentischen' Ereignis, das in beiderseitiger

Verlegenheit und im Auseinanderlaufen endet.‹“230

Das Benehmen des ostdeutschen Paares

führt also zur Erkennung beim zeitgenössischen Publikum. Durch die Repräsentation der

nahen Vergangenheit wird das Publikum mit seiner eigenen Reaktion konfrontiert und wird

227

Strauß: Theaterstücke, S. 456. 228

Oberender: Wiederrichtung, S. 80. 229

Schandera: Ausstehende Begegnung, S. 146. 230

Schandera: Ausstehende Begegnung, S. 146.

94

die Art und Weise, wie man mit der Maueröffnung umgeht, an der Stelle hervorgerufen und

präsentiert.

Auch am Ende des Theaterstückes erscheint ein Bild, das unlöslich mit Deutschland

verbunden ist. Aus den Regieanweisungen geht hervor, dass ein Adler, das Symbol

Deutschlands, in der Schlussszene auf der Bühne sichtbar ist: „Zoo. Voliere mit Steinadler.

Eine niedrige Einfriedung, eine Bank. Im Hintergrund Gitterstäbe und ein weißer

Rundhorizont, auf dem Schatten von Feuerwerk und Adlerflug erscheinen.“231

Nach

Patrizia Zugmann verkörpert der Adler die stammesgeschichtliche, politisch unteilbare

Einheit des Volkes. Anita reagiert, wenn sie den Adler sieht, voller Bewunderung: „Daß du

so schön bist, wie du aussiehst. Stolz in einem Stück.“232

Daneben gibt es in dieser

Schlussszene noch ein anders Symbol Deutschlands, das in den abschließenden Worten des

Stückes evoziert wird: „ANITA Wald… Wald… Wald… Wald…“233

Jaak de Vos meint

Folgendes: “Met de adelaar en het oer-››Duitse‹‹ romantische woud worden twee centrale

››mythen‹‹ van de Duitse geschiedenis geactiveerd, maar tegelijk ook als vormen van leeg

pathos ontkracht: de vogel als heraldiek symbool met ››nichts dahinter‹‹, het landschap als

slechts talig geëvoceerde ››realiteit‹‹, als inhoudsloze frase.”234

Auch nach Zugmann ist der

Wald nicht länger ein Motiv romantischer Verzauberung, „sondern ein Symbol für die

Zentrumlosigkeit und Undurchdringlichkeit der Lebenswelt.“235

Hierbei kann die Frage

gestellt werden, ob es einen Unterschied machen würde, wenn dieser Wald auf der Bühne

sichtbar wäre. De Vos„ Meinung nach macht es offensichtlich nichts aus, denn der Vogel

hat keinen größeren Inhalt als der Wald, trotz seiner visuellen Anwesenheit auf der Bühne.

Stefan Willer dagegen meint, dass die überdeterminierte Präsenz des Adlers mit der

Abwesenheit des Waldes kontrastiert:

Als Name ohne Referenz im Spiel auf der Bühne rückt der Wald in eine

unverkennbare Analogie zum immer wieder gerufenen Wort ›Deutschland‹. Wenn

aber weder Wald noch Deutschland in irgendeiner Weise szenisch gedeckt sind,

erscheint auch der symbolische Bezug des einen zum anderen semantisch entleert.

231

Strauß: Theaterstücke, S. 461. 232

Strauß: Theaterstücke, S. 461. 233

Strauß: Theaterstücke, S. 464. 234

Jaak De Vos: „Botho Strauß.” In: Duitstalige literatuur na 1945. Deel 1: Duitsland 1945-1989. Leuven:

Peeters, 2006, S. 168. 235

Zugmann: Schwebe, S. 139.

95

[…] ›Deutschland‹ und ›Wald‹ sind, gerade weil sie nichts mehr repräsentieren, die

Pathosformeln im Schlußchor.236

Das Schlussbild von Schlußchor ist im Gegensatz zum Rest des Stückes sehr

grausam: „Lichtwechsel. Niederstürzen des Adlerschattens auf der Leinwand. Wenn es

wieder hell wird, steht Anita bis zu den Waden in Federn, mit blutendem Gesicht, den

abgeschnittenen Fang des Vogels in der herabhängenden Hand.“237

Dieser Akt wird von

Greiner folgendermaßen interpretiert: „einen Akt sodomitischer Vermählung mit einem

Adler als dem deutschen Wappenvogel, poetologisch eine Groteske, Vereinigung von

Mensch und Tier.“238

Meiner Meinung nach ist dieser Akt in der Tat grotesk, aber Anita

tötet den Adler, von „sodomitische Vermählung“ oder „Vereinigung von Mensch und Tier“

ist in der Schlussszene gar keine Rede. Das Besondere an dieser Handlung ist die Tatsache,

dass der Vogel real auf der Bühne anwesend ist. Die Schlusshandlung würde, so Greiner,

eine Allegorie auf den Mythos von Zeus sein die Europa als Stier entführt und sich dann

mit ihr in der Gestalt eines Adlers begattet.239

Die Schlussszene wäre aber nur eine

Allegorie wenn der Adler als Verweis auf den Wappenvogel, der seinerseits ein Verweis

auf die Nation ist, vernichtet werde. Jetzt wird allerdings ein realer Vogel vernichtet.

Greiner meint dann auch das diesen Akt ein „Gefangen-Bleiben in der Welt bloßer Zeichen

einerseits und Geworfen-Werden auf das Reale andererseits“240

ist. Er betrachtet das

grausame Ende als eine misslungene Repräsentation des Mythos, da die Handlung anhand

des realen Adlers den Eindruck erweckt etwas mythologisches darzustellen aber nicht auf

eine bestehende Situation zurückgreift.

5.5.4. Schlussfolgerungen Optik

Die Grafiken und ihre Analyse zeigen, dass die Optik in Schlußchor eine Entwicklung von

einer sprachlichen zu einer außersprachlichen und von einer konkreten zu einer

236

Willer: Strauß zur Einführung, S. 127. 237

Strauß: Theaterstücke, S. 463f. 238

Bernhard Greiner: Der Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretation. [zweite,

aktualisierte und ergänzte Auflage] Tübingen und Basel: A. Francke Verlag, 2006, 472. 239

Greiner: Der Komödie, S. 472. 240

Greiner: Der Komödie, S. 472.

96

allgemeinen Thematisierung erlebt. Im ersten Akt wird das Visuelle vor allem anhand von

Gesprächen über Fotografie und über den Augenblick des Fotografierens

heraufbeschworen. Daneben ist auch außersprachlich ein Fotograf sichtbar auf der Bühne.

Im zweiten Akt wird hauptsachlich über das Misslingen der Optik gesprochen, im ersten

Teil anhand des Wortes 'Versehen', im zweiten Teil mithilfe der mangelhaften Sprache.

Außersprachlich befindet sich ein Spiegel auf der Bühne, der die Absolutheit des Theaters

subtil durchbricht. Die Titel der ersten zwei Akten enthalten auch Verweise auf Optik. Im

dritten Akt dagegen wird kaum noch sprachlich auf Optik verwiesen. Die

Deutschlandbilder, die auf der Bühne erscheinen, sind aber für das Publikum viel

beeindruckender als diejenigen in den ersten zwei Akten. Erst im dritten Akt werden die

Bilder eher präsentiert als repräsentiert, insofern sie durch die ausgelöste Reaktion beim

Publikum ein Einbruch in die Realität implizieren.

Die Aussicht der Bühne und die Gestalten werden auch immer konkreter. Der Raum

des ersten Aktes ist gar nicht konkret, die Handlung kann irgendwo, irgendwann und mit

irgendwelchen Gestalten erfolgen. Im zweiten Akt haben einige Gestalten schon einen

Namen, und der Raum ist konkreter. Im dritten Akt, schließlich, sind Raum und Gestalten

ganz präzise definiert.

6. Schlussfolgerungen

6.1. Entwicklungen

Die zeitliche und optische Dimension des Hauptmotives 'Augenblick' sind nicht immer

leicht zu trennen, denn das Wort Augenblick enthält fast immer die zwei Komponenten

gleichzeitig. Zeit und Optik sind im Augenblick miteinander verwoben. Doch war es sehr

nützlich, diese Trennung durchzuführen, weil auf diese Weise neue Aspekte des

Augenblicks und des Stückes ans Licht kommen. Eine solche Hinsicht ist die

entgegengesetzte Art und Weise, wie sich die Zeit und die Optik in Schlußchor entwickeln.

Wie schon im Kapitel Zeit vermittelt, gibt es innerhalb der zeitlichen Dimension

eine Entwicklung von der kurzen Zeit, von dem Jetzt im ersten Akt bis zur allgemeineren

Zeit, bis zur Geschichte im dritten Akt. Innerhalb der optischen Dimension gibt es eine

97

ähnliche Entwicklung. Im ersten Akt wird eine sehr spezifische, fokussierte Optik, die

Optik des Fotografierens, thematisiert. Im zweiten Akt wird anhand einer ganz spezifischen

optischen Wahrnehmung eine längere Geschichte erzählt. Und im dritten Akt ist die Optik

nicht mehr so wichtig, weil sie in eine größere Geschichte aufgeht. Die Optik bekommt hier

eher die Bedeutung eines Überblickes.

Ein Teil der Optik ist der Raum, und auch auf räumlicher Ebene gibt es eine

Entwicklung vom konkreten, kleinen Raum bis zum größeren, allgemeinen Raum. Der erste

Akt spielt in einem Zimmer. Der zweite Akt ist offener. Er findet auch in einem Zimmer

statt, aber es gibt eine Tür zu einem Saal, die manchmal geöffnet wird. Dadurch wird ein

Gefühl der Offenheit kreiert, das es im ersten Akt nicht gab. Der dritte Akt vollzieht sich in

einem Restaurant, aber dieses Restaurant ist kein abgeschlossener Raum, denn man hat

Sicht auf die Straßenseite und auf den Eingang des Restaurants Leute kommen rein und

gehen raus. Im dritten Akt ist der Raum also viel offener als im ersten und zweiten Akt.

Neben den Entwicklungen innerhalb der zeitlichen und der optischen Dimension

des Stückes gibt es auch einige allgemeinere Entwicklungen in Bezug auf den Augenblick.

Der Augenblick wird im ersten Akt vor allem optisch interpretiert, während er im dritten

Akt vor allem verweist auf einen Augenblick in der Geschichte. Im dritten Akt wird der

Augenblick also zeitlich interpretiert. Der zweite Akt sorgt dann für einen Übergang von

der optischen Interpretation zu der zeitlichen Interpretation des Augenblicks. Dieser

Übergang geschieht anhand des Begriffs 'Versehen', das sowohl optisch als zeitlich

aufgefasst werden kann.

Eine allgemeine Entwicklung, in der die vorhergehenden Entwicklungen

einbegriffen sind, ist die vom Abstrakten ins Konkrete. Im ersten Akt sind die Gestalten,

der Raum, die Zeit und die Umstände unbestimmt. Im dritten Akt dagegen haben die

Gestalten einen Eigennamen, ist der Raum ein Restaurant in West-Deutschland, die

Handlung vollzieht sich im Moment des Mauerfalls, und die Gestalten haben eine

persönliche Geschichte. Der zweite Akt bildet einen Übergang zwischen dem ersten und

dem dritten Akt. In diesem Akt haben einige Gestalten einen Eigennamen, andere

bekommen nur eine Umschreibung. Der Raum ist das Haus von Delia, und die zwei

98

Hauptgestalten bekommen eine persönliche Geschichte, während die anderen Gestalten

eher oberflächlich beschrieben werden.

6.2. Präsentation oder Repräsentation

Wenn Lehmanns Definition des postdramatischen Theaters gefolgt wird, wie ich hier

gemacht habe, ist es deutlich, dass, wie schon in den Konklusionen der jeweiligen Kapitel

dargelegt, Zeit und Optik sowohl dramatisch (anhand des linguistischen Textes) als auch

postdramatisch (jenseits von Sprache und Text) gestaltet werden. Auf der zeitlichen Ebene

wird im ersten Akt der Augenblick, im zweiten Akt das Versehen und im dritten Akt die

Geschichte repräsentiert. Der Augenblick, das Versehen und die Geschichte werden explizit

thematisiert. In jedem Akt wird auch die deutsche Geschichte von dem Rufer repräsentiert,

denn er spricht über den Mauerfall und die Öffnung der Grenze, aber das Thema der

deutschen Geschichte wird nicht von den anderen Gestalten weitergeführt. Im ersten Akt

sind die Gestalten nur mit dem Augenblick beschäftigt, im zweiten Akt wird die Geschichte

angewendet, um das Versehen zu interpretieren, und im dritten Akt treten persönliche

Geschichten an die Stelle des Augenblicks der deutschen Wende. Wie man mit dem

Mauerfall umgehen soll, wird also nicht repräsentiert in Schlußchor, denn in jedem Akt

wird repräsentiert, wie man der deutschen Geschichte verweigert hat. Und gerade dadurch

präsentiert dieses Schauspiel, wie man auf die deutsche Wende reagieren soll, oder wie

man persönlich mit diesem Augenblick in der Geschichte umgehen kann. Es gibt natürlich

nicht eine angemessene Reaktion auf diesen wichtigen Moment in der deutschen

Geschichte. Botho Strauß präsentiert dadurch, die Reaktion auf den Mauerfall dass er die

Leser und Zuschauer selbst bestimmen lässt. In Schlußchor wird das Umgehen mit der

deutschen Geschichte präsentiert, nicht indem es auf der Bühne wiedergegeben wird,

sondern indem sich das Nachdenken über dieses Umgehen mit dem Augenblick, in dem die

Geschichte gemacht wird, sich im Publikum oder im Leser ereignet.

Auch die Optik wird hauptsachlich dramatisch wiedergegeben, indem es sprachlich

thematisiert wird. Gleich wie die Zeit wird auch das Visuelle in jedem Akt auf eine andere

Weise problematisiert. Der erste Akt handelt von dem Gruppenbild und von dem

99

Fotografieren der Gruppe, im zweiten Akt ist der Blick die Ursache für einen Ersatz von

Bild durch Sprache, und im letzten Akt wird das Deutschlandbild problematisiert. Diese

Themen werden explizit sprachlich repräsentiert, aber in jedem Akt wird die Absolutheit

der Bühne auch subtil durchbrochen. Im ersten Akt wird der Blick des Publikums kritisiert,

im mittleren Akt wird die Absolutheit auf der Bühne durch einen Spiegel durchbrochen und

im Schlussakt präsentieren die beeindruckenden Bilder das Deutschlandthema.

Wie im von Lehmann beschriebenen postdramatischen Happening oder in der

soziale Situation erfahren die Leser oder Zuschauer des Stückes Schlußchor eine

persönliche Reflexion. Sie denken darüber nach, wie sie mit dem Mauerfall umgegangen

sind und wie sie diesen wichtigen Augenblick der deutschen Geschichte bewältigen

können. Auf diese Weise gibt es, wenn auch weniger deutlich als in einem Happening oder

in einer sozialen Situation, eine Teilnahme des Publikums. Die Zuschauer erfahren das was

auf der Bühne geschieht, anstatt dass sie es nur wahrnehmen.

Das ganze Stück ist also nicht nur wegen seiner fehlenden Synthesis, sondern auch

wegen seines Appells an das Publikum postdramatisch. Es sind nicht die einzelnen Akten

die das postdramatische Ereignistheater verursachen, sondern es ist die Gesamtheit der drei

Akten, die Einwirkung der drei unterschiedlichen Augenblickserlebnisse die beim

Publikum ein bestimmtes Ereignisgefühl kreieren.

6.3. Ausblick

In dieser Arbeit bin ich, weil ich Schlußchor als eine Literaturwissenschaftlerin untersuchen

wollte, nur von dem Theatertext ausgegangen, um die postdramatischen von den

dramatischen Kennzeichen zu unterscheiden. Die Kunstform des Theaters wird aber an

erster Stelle von der Aufführung bestimmt. Die Aufführung ist dasjenige, was Theater von

anderen Kunstformen unterscheidet. Um eine vollständige Analyse der postdramatischen

Kennzeichen durchzuführen, würde man neben dem Text auch eine Aufführung des

Stückes analysieren müssen. Und wie aus dem Theatertext eine Aufführung zustande

kommt, wird von dem Regisseur bestimmt. Ein möglicher Ansatz für eine weitere

Untersuchung wäre daher die Beschäftigung mit der Frage, inwieweit die postdramatischen

100

Elemente eines Theaterstückes nicht nur vom Text, sondern auch vom Regisseur abhängig

sind.

101

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103

Anlage 1: Zeit und Optik

Grafik 1: Zeit und Optik im ersten Akt

Grafik 2: Zeit und Optik im zweiten Akt

0

2

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zeit

Optik

Akt1

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18

Akt

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Teil

II 4

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zeit

Optik

Akt2

104

Grafik 3: Zeit und Optik im dritten Akt

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1

Zoo

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Zoo

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zeit

Optik

Akt3

105

Grafik 4: Zeit und Optik im ganzen Stück

107

Anlage 2: Zeit

Grafik 1: Zeit im ersten Akt

Grafik 2: Zeit im zweiten Akt

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Akt

I 4

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4

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ferne Vergangenheit

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Gegenwart

Zukunft

Akt1

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Akt

II 4

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Teil

II 4

30

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ferne Vergangenheit

nahe Vergangenheit

Gegenwart

Zukunft

Akt2

108

Grafik 3: Zeit im dritten Akt

Grafik 4: ferne Vergangenheit im ganzen Stück

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Akt

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Akt3

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Akt

I 4

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Frau

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ferne Vergangenheit

ferne Vergangenheit

Schlußchor 3 Akten

109

Grafik 5: nahe Vergangenheit im ganzen Stück

Grafik 6: Gegenwart im ganzen Stück

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Akt

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nahe Vergangenheit

nahe Vergangenheit

Schlußchor 3

Akten

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Akt

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3Gegenwart

Gegenwart

Schlußchor 3 Akten

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Anlage 3: Optik

Grafik 1: Optik im ganzen Stück

Grafik 2: Regieanweisungen Optik im ganzen Stück

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Akt

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Optik

Optik

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Optik Regieanweisungen

Optik Regieanweisungen

Schlußchor 3 Akten

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Grafik 3: Beurteilung der Optik im ganzen Stück

Grafik 4: Optische Wiedergabe im ganzen Stück

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Akt

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Optische Urteile

Beurteilung der Optik

Schlußchor 3 Akten

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optische Wiedergabe

optische Wiedergabe

Schlußchor 3 Akten

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Grafik 5: Sehen der Optik im ganzen Stück

Grafik 6: optische Hilfsmittel/ Instrumente

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sehen der Optik

sehen der Optik

Schlußchor 3 Akten

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Hilfsmittel/Instrumente

Hilfsmittel/Instrumente

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