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Bachelorarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades eines Bachelor of Arts (B.A.)
Die Möglichkeiten zur Heranziehung der Behavioral Finance Theorie für die Erklärung von Anomalien am Aktien- und
Finanzmarkt
Vorgelegt von: Benjamin Nuß
Matrikel-Nr.: 362476
Erstprüfer: Prof. Dr. Martin Užík
Zweitprüfer: Prof. Dr. Markus Löcher
Name der Hochschule: Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Studiengang: B.A. Business Administration
Abgabetermin: 25.08.2016
Inhaltsverzeichnis
I
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis .............................................................................................................. I
Abbildungsverzeichnis .................................................................................................... III
1. Einleitung .................................................................................................................... 1
1.1. Problemstellung ................................................................................................... 2
1.2. Zielsetzung und Gang der Untersuchung ......................................................... 3
2. Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie .............................................. 4
2.1. Die neoklassische Kapitalmarkttheorie ............................................................. 4
2.2. Portfoliotheorie nach Markowitz ........................................................................ 5
2.3. Die Tobin-Separation ........................................................................................... 7
2.4. Das Capital Asset Pricing Model (CAPM) .......................................................... 8
2.5. Die Markteffizienzhypothese ............................................................................ 10
2.6. Random Walk Theorie ....................................................................................... 11
2.7. Kritische Würdigung der klassischen Kapitalmarkttheorie ........................... 12
3. Behavioral Finance Theorie .................................................................................... 13
3.1. Grundlagen der Behavioral Finance ................................................................ 13
3.2. Theoretische Grundlagen zur Erfassung von Heuristiken ............................ 14
3.2.1. Verfügbarkeitsheuristik .................................................................................. 15
3.2.2. Repräsentativitätsheuristik ............................................................................ 16
3.2.3. Verankerungsheuristik .................................................................................. 17
3.3. Heuristiken der kognitive Erkenntnisgewinnung ........................................... 18
3.3.1. Kontrollillusion ............................................................................................... 19
3.3.2. Selbstüberschätzung (Overconfidence) ........................................................ 20
3.4. Heuristiken der Informationswahrnehmung und -bewertung ....................... 21
3.4.1. Vereinfachung ............................................................................................... 21
3.4.2. Mental Accounting ......................................................................................... 22
4. Modelle der Behavioral Finance Theorie ............................................................... 23
4.1. Prospect Theory ................................................................................................ 23
4.2. Behavioral Portfolio Theory .............................................................................. 25
5. Kapitalmarktanomalien ............................................................................................ 26
5.1. Anomalien auf Marktebene ............................................................................... 26
5.1.1. Home Bias ..................................................................................................... 26
5.1.2. Closed-End-Fund-Puzzle .............................................................................. 27
5.1.3. Winner’s Curse .............................................................................................. 28
5.1.4. Mean Reversion ............................................................................................ 28
Inhaltsverzeichnis
II
5.1.5. Index- und Ankündigungseffekt ..................................................................... 29
5.1.6. Overreaction and Underreaction ................................................................... 30
5.2. Kennzahlenanomalien ....................................................................................... 32
5.2.1. Size-Effect ..................................................................................................... 33
5.2.2. Weitere ausgewählte Kennzahlenanomalien ................................................ 33
5.3. Kalenderanomalien ............................................................................................ 34
5.3.1. Day-of-the-Week-Effekt ................................................................................. 34
5.3.2. Holiday-Effekt ................................................................................................ 35
5.3.3. Turn-of-the-Month-Effekt ............................................................................... 35
5.3.4. Januar-Effekt ................................................................................................. 36
6. Kritische Würdigung der Behavioral Finance Theorie ......................................... 37
7. Schlussbetrachtung ................................................................................................. 38
Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 40
Abbildungsverzeichnis
III
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Die Effizienzkurve nach Markowitz ......................................................................... 6 Abb. 2: Kapitalmarktlinie (Tobin) ......................................................................................... 7 Abb. 3: Das CAPM als Wertpapiermarktlinie (Security Market Line SML). ......................... 9 Abb. 4: Beispiel zur Vereinfachung ................................................................................... 21 Abb. 5: Wertfunktion der Prospect Theory ........................................................................ 24 Abb. 6: Untersuchungen zu Winner-Loser-Effekten .......................................................... 31
1 Einleitung
1
1. Einleitung
„I can calculate the motions of the heavenliy bodies, but not the madness of people“
Isaac Newton1
Bereits im 17. Jahrhundert trifft der Physiker diese Aussage, welche er zu jener Zeit
sicherlich nicht auf die Finanzmärkte bezog, jedoch lassen sich jene Worte dennoch
erstaunlich gut auf die Geschehnisse unserer modernen Märkte ummünzen. Während
die zugrunde liegenden Theorien meist recht trivial und schlüssig erscheinen, weißen
die in der Praxis anzutreffenden Ereignisse des Öfteren einen augenscheinlich
verschleierten Charakter im Hinblicke auf plausible Erklärungen und die Erwartung
widerspiegelnde Ergebnisse auf. Die auf den Märkten anzutreffende Komponente des
Faktors Mensch, zerschlägt und untergräbt allzu gerne die zur Anwendungen
kommenden theoretischen Modelle.
Die klassische Kapitalmarkttheorie hat unbestreitbar weiterhin eine zurecht hohe
Bedeutung und einen hohen Stellenwert, wenngleich allerdings auch nicht außer Acht
gelassen werden sollte, dass viele auf den Märkten anzutreffende Phänomene
offenkundig nur unzureichend oder in Teilen durch jene Theorien erklärt werden
können. Der deutsche Ökonom Daniel Stelter spricht aktuell gar von einem an den
Finanzmärkten anzutreffenden „Paralleluniversum“. Trotz einer Vielzahl von derzeit
auftretenden Störungen und Krisen, welche zweifelslos einen direkten Einfluss auf
wirtschaftliche Entwicklungen aufweisen, reagieren die Märkte auf lange Sicht gesehen
recht unbeeindruckt. Genannt seien hier etwa die politische Lage in der Türkei, der
„Brexit“ oder auch die schwache Entwicklung von Weltwirtschaft und –handel. Nach
kurzen und meist auch heftigen Reaktionen der Kurse, folgt alsbald eine rasche
Erholung. Stelter spricht hierbei von einer zu erkennenden Anomalie, da neben den
Aktienmärkten auch gleichsam die als „sicher“ geltenden Kurse von Anleihen und
Währungen steigen. 2 Dieses Beispiel soll darauf aufmerksam machen und
verdeutlichen, dass die Miteinbeziehung weiterer Theorien für die Erklärung des
Marktes sowie dessen Teilnehmer unabdingbar scheint.
Ob, und in welchem Maße die vergleichsweise recht junge Theorie der Behavioral
Finance hier einen möglichen Beitrag leistet, soll den Kernpunkt dieser Arbeit bilden.
Gerade in durch von Unsicherheiten geprägten Zeiten an den Börsen, könnte diese
zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es scheint, als würden die Akteure des Marktes
durch bewusst, wie auch unbewusst auftretende psychologische Phänomene von dem
1 Newton v. 1720, zit. n. Kindleberger/Aliber (2005), S. 47. 2 Vgl. Stelter (2016).
1 Einleitung
2
in den klassischen Theorien anzutreffenden stets rational handelnden Individuum
weggelenkt. Dieser Brückenschlag hin zu den Geisteswissenschaften soll dem Leser
aufgezeigt werden.
Weiterhin soll festgehalten werden, dass die Behavioral Finance keinesfalls in direkter
Konkurrenz zu bestehenden Theorien auftritt. Vielmehr soll sie als eine Erweiterung
angesehen werden, welche die Möglichkeit bietet etwaige Defizite moderner
Kapitalmarkttheorien zu schließen, und somit eine Symbiose einzugehen.
1.1. Problemstellung Die klassischen Kapitalmarktmodelle finden sowohl in der Lehre, wie auch in der
Praxis vielfache Anwendung. Es gelingt jenen sehr komplexe Begebenheiten innerhalb
der Finanzwirtschaft mit überschaubarem Aufwand darzustellen sowie deren
Nachvollziehbarkeit zu erhöhen. Jedoch fallen dem Anwender unter genauerer
Beobachtung auch deren Schwächen auf. Vor allem die sehr restriktiven zu Grunde
liegenden Annahmen, welche in der Realität nicht erfüllt sind zeigen deren Grenzen
auf. Dennoch können hierdurch hilfreiche Informationen erzeugt und gewonnen
werden, welche im Vergleich zu einer rein intuitiv erstellten Bewertung auf Basis
objektiver Fakten, wie etwa Marktdaten beruhen. Eine Bewertung verschiedener
Anlagen auf Basis derselben Größen, erzeugt trotz etwaiger Ungenauigkeit jener
dennoch wertvolle Informationen, selbst wenn die finalen absoluten Werte ungenau
sein mögen.
In der Praxis zu erkennende Abweichungen von der perfekten Modellwelt werfen
jedoch einen Schein der Unvollkommenheit auf jene. Ein Daherkommen des
Menschen im vollkommen rational handelnden Gewand erscheint als unrealistische
Erwartungshaltung. Grundsätzlich scheint es, als würden viele der weitverbreitenden
„kalten Modelle“ soziologische und psychologische Aspekte und Verhaltensmuster des
Individuums komplett ignorieren. An dieser Stelle taucht nun die Behavioral Finance
Theorie auf, welche den Versuch unternimmt jene Lücke zu schließen. Ob und
inwiefern ihr dies gelingt, soll im Verlaufe der Arbeit untersucht werden.
1 Einleitung
3
1.2. Zielsetzung und Gang der Untersuchung Zielsetzung der hier vorliegenden Arbeit ist herauszufinden, ob eine Möglichkeit zur
Heranziehung der Behavioral Finance Theorie für die Erklärung von Anomalien am
Aktien- und Finanzmarkt gegeben ist.
Zur Umsetzung jenes Ziels gliedert sich die Arbeit in sieben Kapitel. Zunächst bildet ein
Abriss der historischen Entwicklung der Finanzmarkttheorie die Grundlage. Hier
werden ausgewählte Theorien und Modelle näher definiert und gleichsam einer
kritischen Würdigung unterzogen. Darauf aufbauend wird im folgenden Kapitel die
Behavioral Finance Theorie näher beleuchtet. Das vierte Kapitel wird sich schließlich
mit ausgewählten Theorien der Behavioral Finance befassen. Im Anschluss daran
werden in Kapitel fünf die wichtigsten Kapitalmarktanomalien genauer untersucht und
ein Bezug zur Behavioral Finance erzeugt, welche daran anschließend, im sechsten
Kapitel, ebenfalls einer kritischen Würdigung unterzogen wird. Zuletzt soll Kapitel
sieben die gewonnenen Erkenntnisse in einer Schlussbetrachtung zusammenfassen.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
4
2. Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
In diesem Kapitel sollen zunächst die Grundannahmen der neoklassischen
Kapitalmarkttheorie erläutert werden. Weiterhin soll die historische Entwicklung der
Finanzmarkttheorie skizziert werden, womit ein Verständnis geschaffen werden sollen,
weshalb Befürworter und Vorreiter der Behavioral Finance Theorie im späteren Verlauf
die Unabdingbarkeit einer Erweiterung der vorherrschenden Theorien sahen, um die
Abläufe auf den Märkte spezifischer und lückenloser erklären wie auch prognostizieren
zu können.
2.1. Die neoklassische Kapitalmarkttheorie
Als zentrale Annahmen der neoklassischen Kapitalmarkttheorie können Markteffizienz
sowie rationales Anlegerverhalten gesehen werden. Die hierauf fußenden
Kapitalmarktmodelle werden als Rückgrat moderner Finanztheorie angesehen und
finden in der Praxis oftmals ihre Anwendung.
Bei der Bewertung von Wertpapieren, speziell Aktien, findet die neoklassische
Kapitalmarkttheorie häufig Verwendung. Zu diesem Zwecke, kann die zentrale Rolle in
der Herleitung eines linearen Zusammenhanges zwischen Rendite und Risiko gesehen
werden. Zur Ausgrenzung anderer wertbestimmender Einflussfaktoren, werden unter
anderem auch folgende als restriktiv geltende Annahmen getroffen:3
1. Ein Markteilnehmer ist (mehr oder minder) risikoscheu. Nur angemessene Renditen
können ihn zur Übernahme von Risiken bewegen.
2. Der Kapitalmarkt ist als informationseffizient anzusehen. Informationen sind ohne
vorhandene Friktionen frei zugänglich und werden vollständig berücksichtigt,
weswegen alle Teilnehmer obgleich vorhandener Unsicherheiten dieselben
Erwartungen hegen.
3. Ein vollkommener Kapitalmarkt ist ein Markt, auf welchem keinerlei Reibungs-
verluste verursacht durch eingeschränkten Marktzugang, Steuern oder
Transaktionskosten eintreten. Die gehandelten Anlagen sind beliebig teilbar sowie
vollkommen marktfähig.
3 Vgl. Perridon/Steiner (2002), S.21.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
5
Exkurs: Homo Oeconomicus vs. Homo Psychologicus
Versucht man dem Ursprung des Begriffs Homo Oeconomicus auf den Grund zu
gehen, so stößt man in der Literatur meist auf drei Namen. John Kells Ingram (Ökonom
und Historiker), Eduard Spranger (Philosoph und Psychologe) sowie Vilfredo Pareto
(Ingenieur und Ökonom). Der Homo Oeconomicus wird als fiktives Wesen
umschrieben, welches eine zentrale Rolle in der neoklassischen Forschung einnimmt.
Das Wesen zeichnet sich dadurch aus, dass es stets rational handelt, den eigenen
Nutzen maximieren möchte, feststehende Präferenzen besitzt sowie über unverzerrte
und vollständige Informationen verfügt. Weiterhin soll dieser keinerlei Emotionen in
seine Handlungen und Entscheidungen einfließen lassen.
Da diese Verhaltensmuster nicht eins zu eins auf die in der Realität vorzufindenden
Finanzmärkte zu übertragen sind, wird das Modell in zahlreichen Studien kritisiert.
Somit ergab sich in der Behavioral Finance Forschung die Unabdingbarkeit der
Schaffung eines Homo Psychologicus, welcher nach Meinung der Anhänger jener
Theorie ein besseres Bild der tatsächlich an Märkten anzutreffenden Teilnehmern
bietet. Jenes Wesen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es neben den oben
genannten Motiven des Homo Oeconomicus auch auf Basis von Emotionen und
Gefühlen Entscheidungen trifft.
2.2. Portfoliotheorie nach Markowitz
Harry Markowitz hat die Grundlagen der modernen Portfoliotheorie geschaffen.
Einschneidend war zur damaligen Zeit die Überlegung, dass sich der Fokus von Stock-
Picking und Market-Timing hin zu einer quantitativen Denkweise wandelte. Die Basis
hierfür legte Markowitz mit seinem 1952 veröffentlichten Aufsatz „Portfolio Selection“.
In den Jahren 1956 sowie 1959 wurden weitere bedeutsame Werke von ihm publiziert,
welche gemeinsam bis heute als Fundament moderner Portfoliotheorie gesehen
werden.4 Um eine Vereinfachung der Herangehensweise zu gewährleisten, kann jene
in zwei Schritten dargestellt werden:
1. Die von Wertpapieren erbrachte Rendite wird als Zufallsgröße betrachtet. Jene wird
durch Ertragswert, Standardabweichung sowie die Korrelation näher beschrieben.
Das Grundproblem der Geldanlage stellt der Umgang mit der auftretenden
Unsicherheit im Hinblick auf die zukünftige Rendite dar.
4 Vgl. Spremann (2008), S. 59.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
6
2. Der rationale Investor legt den Fokus auf die Optimierung des Erwartungswertes
sowie der Standardabweichung der Rendite des Portfolios. Während die
Standardabweichung das Risiko definiert und somit möglichst gering gehalten
werden sollte, ist für die einzelnen Anlagen eine tunlichst hohe Rendite erwünscht.5
Die Interessen des Investors gelten ausschließlich den finanziellen Aspekten eines
Portfolios. Weitere Eigenschaften finden in dessen Betrachtung und Entscheidungs-
horizont keinerlei Beachtung. Markowitz beschreibt Risiko als die vorliegende
Abweichung zwischen dem Anlageergebnis und den Erwartungen.6 Hierdurch ist der
Faktor Risiko verbunden mit zufällig auftretenden Schwankungen der Anlage, welche
durch die Standardabweichung der jährlichen Rendite errechnet werden können.
Markowitz rückt somit die Diversifikation in den Fokus. Bei der Zusammenstellung
eines Portfolios ist gemäß seiner Theorie eine Reduktion des Risikos möglich, sofern
eine Selektion verschiedener, auch unter Umständen risikobehafteter Anlagen
stattfindet. Gleichwohl kann das Risiko niemals vollständig eliminiert werden. Das
systematische Risiko ist nicht diversifizierbar, und bleibt somit stets erhalten.7
Abb. 1: Die Effizienzkurve nach Markowitz
Quelle: Spremann (2008), S. 186.
Gemäß Markowitz stellt derjenige Anlagekorb ein effizientes Portfolio dar, welcher sich
durch eine möglichst hohe Renditeerwartung sowie ein möglichst geringes Risiko
5 Vgl. Spremann (2008), S. 59 f. und Markowitz (1952), S.77 ff. 6 Vgl. Markowitz (1952), S. 89. 7 Vgl. Auckenthaler (2001), S. 84 ff.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
7
auszeichnet. Als Minimum-Varianz-Portfolio (MVP) wird hierbei das gerade noch
effiziente Portfolio bezeichnet. In Abbildung 1 soll dies verdeutlicht werden. Jene
Portfolios, welche in der Grafik möglichst weit oben liegen, somit also eine hohe
Rendite bringen sowie gleichzeitig möglichst links, womit ein geringeres Risiko
verbunden ist, gelten für einen potenziellen Investor als interessant und bevorzugt.
Gleichsam gelten jene, welche entweder unterhalb des Minimum-Varianz-Portfolios,
oder aber respektive rechts der Effizienzkurve anzufinden sind als nicht effizient.8
2.3. Die Tobin-Separation
Der Wirtschaftswissenschaftler James Tobin erweiterte Markowitz Theorie 1958 um ein
weiteres Element. Neben risikobehafteten Investitionsmöglichkeiten soll ein Investor,
welcher rational handelt, gleichsam risikofreie Anlagen in Erwägung ziehen. Tobin wies
mit seiner Arbeit nach, dass für eine optimale Kombination bestehend aus
risikobehafteten Anlagen lediglich das Marktportfolio in Frage kommt. Jenes ergibt sich
als Berührungspunkt, der in Abbildung 2 aufgezeigten Tangente, welche durch den
Zinssatz R0 verläuft. Alle effizienten Portfolios entstehen durch eine teilweise Investition
der Anlagen in das Marktportfolio, wobei der verbliebene Anteil in risikofreie Anlagen
investiert wird.9
Abb. 2: Kapitalmarktlinie (Tobin) Quelle: Spremann (2008), S.222.
8 Vgl. Spremann (2008), S. 186 ff. 9 Vgl. Spremann (2008), S. 218 ff.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
8
Als revolutionär anzusehen hierbei war die durch Tobin’s Grundlagen geschaffene
Herbeiführung einer Simplifizierung in Bezug auf die Strukturierung der Anlagewahl
eines Investors. Zuvor war jene deutlich diffiziler, da jedes Mal eine auf das
Individuum zugeschnittene Lösung gefunden werden musste. Aufbauend auf Tobin’s
Überlegungen war es nun möglich, den als Portfoliomanagement bezeichneten
Prozess in zwei grundlegende Aufgaben zu parzellieren:
1. Determination des Marktportfolios: Zur Bestimmung benötigt es lediglich den
Zinssatz (risikofrei) sowie die Formvariablen der Einzelanlagen (risikobehaftet).
Aufgrund dessen, dass jene für alle Investoren stets identisch bleibt, ist diese
Berechnung nur einmalig durchzuführen.
2. Persönliche Risikoaversion: Auf Grundlage der persönlichen Risikoaversion eines
jeden Investors, kann dieser nun festlegen, welchen auf der Kapitalmarktlinie
liegenden Punkt er zu realisieren erwünscht.10
Jene Auftrennung in zwei separate Aufgaben, welche losgelöst voneinander
durchgeführt werden können, ist in der Literatur als Tobin-Separation bekannt.
2.4. Das Capital Asset Pricing Model (CAPM)
Das Capital Asset Pricing Model wurde 1964 von William Sharpe vorgestellt.11 Unter
Verwendung jenes, ist es möglich unter Marktgleichgewichtsbedingungen sowohl das
Anlagerisiko, wie gleichsam auch die Relation zwischen erwarteter Rendite und Risiko
zu bestimmen. Diese Beziehung zwischen Risikoprämie (je Einzelanlage) sowie dem
gemeinsamen Risiko ist einzig der Annahme geschuldigt, dass das Marktportfolio
bestmöglich zusammengestellt sei. Grundsätzlich gilt hierbei die Annahme, dass mit
steigender Risikobehaftung (βk) einer Anlage, gleichzeitig auch deren erwartete
Rendite (µk) ansteigt.12
10 Vgl. Spremann (2008), S. 250 f. 11 Vgl. Sharpe (1964), S.425 ff. 12 Vgl. Spremann et al. (2001), S. 41 ff.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
9
Abb. 3: Das CAPM als Wertpapiermarktlinie (Security Market Line SML).
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Spreemann (2010), S. 197.
Die Grundgleichung des CAPM lautet wie folgt:
µk = r0 + ßk × (µM – r0)
Die vorstehende Gleichung gilt für alle Anlagen k13. Hierbei stellt µk die erwartete
Rendite der Einzelanlage k mit dem risikolosen Zinssatz r0 und der erwarteten Rendite
des Marktportfolios µM dar. Der Betafaktor ßk ist ein Maß für das nicht diversifizierbare
systematische (Markt-) Risiko und gibt die Sensitivität der Rendite eines Wertpapiers in
Bezug auf die Rendite des Marktes, beziehungsweise das relative Marktrisiko an. Mit
dem systematischen Anteil verbleibt ein minimales Risiko, welches nicht durch
Diversifikation eliminiert werden kann.14 Der Betafaktor des Marktes beträgt 1 (ßM = 1).
Hieraus folgt, dass Aktien mit einem Betafaktor größer 1 riskanter sind als der Markt,
und somit eine höhere Rendite bieten, wohingegen Aktien mit einem Betafaktor kleiner
1 weniger riskant als der Markt sind und gleichzeitig eine geringere Rendite erzielen.15
13 (k= 1,2,..., n). Vgl. Spremann (2010), S. 196 f. 14 Vgl. Spremann (2008), S. 216 ff. und Spremann et al. (2001), S. 41 ff. 15 Vgl. Wittrock (2000), S. 36.
Wertpapiermarktlinie (Security Market Line SML)
Renditeerwartung
Beta
µk
µM
ßM = 1 ßk
r0
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
10
2.5. Die Markteffizienzhypothese Als eine der Kernannahmen der modernen Finanzmarkttheorie gilt die
Markteffizienzhypothese gemäß Fama. Jene besagt, dass die heutigen Kapitalmärkte
einem Idealbilde eines effizienten Marktes zum Großteil entsprechen. Gemäß
Definition gilt ein Markt als effizient, insofern aufgrund einer Vielzahl von
Marktteilnehmern sowie dem Vorliegen einer unmittelbaren Informationsverarbeitung
eine als vollkommen zu bezeichnende Konkurrenz vorzufinden ist.16. Hieraus lässt sich
gemäß Fama schlussfolgern, dass es einem Investor nicht möglich ist, durch
selbstständige Beschaffung und Aufarbeitung von Informationen zu einem
überlegenem Ergebnis der Anlage zu gelangen, da die Preise auf dem durch
Informationseffizienz gekennzeichneten Markt bereits sämtliche als relevant zu
erachtenden Informationen enthalten. Würde der Markt dieses Merkmal nicht
aufweisen, so würden dort zu keiner Zeit korrekte Preise anzutreffen sein.
Die unterschiedlichen Ausprägungen von Informationseffizienz auf den Kapitalmärkten
lassen sich nach Fama in drei Kategorien eingliedern. Jene Untergliederung geht von
schwacher Informationseffizienz17, über mittelstarke18, bis hin zu starker Informations-
effizienz19.
Man spricht von schwacher Informationseffizienz eines Kapitalmarktes, insofern für
keinen Teilnehmer die Möglichkeit besteht auf Grundlage einer historischen Analyse
der Preise sowie Renditen solche, den restlichen Teilnehmern überlegene Gewinne zu
erzielen. Demgemäß sind sämtliche auf die historische Kursentwicklung bezug-
nehmenden Informationen zu einhundert Prozent in den gegenwärtigen Preisen
enthalten und abgebildet.
Fama nutzt den Begriff einer mittelstarken Informationseffizienz für den Fall, dass kein
Teilnehmer des Kapitalmarktes auf Grundlage von öffentlich verfügbaren Informationen
überlegene Gewinne gegenüber den restlichen Teilnehmern erzielen kann. Bei jener
Form, würde unverzüglich eine Anpassung der Aktienkurse stattfinden, insofern
aktuelle und frei zugängliche Informationen veröffentlicht würden.20 Als Beispiele für
16 Vgl. Fama (1970), S. 383. 17 Im Englischen auch unter dem Begriff weak-form-efficiency bekannt. 18 Im Englischen auch unter dem Begriff semi-strong-form-efficiency bekannt. 19 Im Englischen auch unter dem Begriff strong-form-efficiency bekannt. 20 Vgl. Fama (1970), S. 414.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
11
solcherlei Informationen lassen sich etwa Analysteneinschätzungen wie auch die
Publikation von Geschäftsberichten aufführen.21
Dass der Kapitalmarkt durch eine starke Informationseffizienz charakterisiert werden
kann, gilt sofern neben den öffentlich und frei verfügbaren Informationen zusätzlich
weitere, nicht öffentlich verfügbare, respektive gar monopolistische Informationen in
den Kursen eingepreist sind. Hierfür lässt sich beispielsweise das sogenannte
Insiderwissen anführen. Bereits zum Zeitpunkte der Entstehung, würde jenes
unternehmensrelevante Wissen den Börsenkurs so verändern, respektive anpassen,
dass keine Überrenditen durch Ausnutzung eben dieser Informationen möglich
wären.22
2.6. Random Walk Theorie
Die sogenannte Random Walk Theorie gilt als ein etabliertes Paradigma der
Kapitalmarkttheorie. Jene geht davon aus, dass die Kurse auf den Kapitalmärkten stets
jeglichen verfügbaren Informationsstand wiedergeben, somit also das Bild eines
effizienten Marktes widerspiegeln.23 Auf diesem Markt finden sich eine Vielzahl von
profitmaximierenden sowie rational handelnden Individuen, welche alle den Versuch
einer Bestimmung des zukünftigen Wertes einer Anlage unternehmen. Hierdurch sollte
der Handelswert zu jeder Zeit dem inneren Wert der Anlage entsprechen. Dadurch,
dass die Einschätzung des inneren Wertes unter den Individuen schwankt, folgt ein
wahlloses Pendeln des Preises um jenen inneren Wert. Weiterhin gilt die Prämisse,
dass neu aufkommende Informationen stets unmittelbar in die Kurse einfließen.
Mit in der Regel eher zufällig und nicht prognostizierbar auftretende Änderungen des
Informationsstands der Teilnehmer auf dem Markt, geht gleichsam eine ebenso nicht
direkt vorhersehbare Änderung der Aktienkurse einher. Weiterhin geht die Random
Walk Theorie davon aus, dass der Wert einer Anlage kein Gedächtnis besitzt, womit
zukünftige Preisentwicklungen, respektive deren Vorhersage, nicht auf Grundlage
historischer Daten errechnet werden können. 24Zur mathematischen Darstellung wird
meist auf die Signaltheorie zurückgegriffen.
21 Vgl. Fama (1970), S. 388. 22 Vgl. Fama (1970), S. 414 f. 23 „A market in which prices always “fully reflect” available information is called “efficient.”, Fama (1970), S. 382. 24 Vgl. Fama (1965), S. 55 f.
2 Historische Entwicklungen der Finanzmarkttheorie
12
Die Formel stellt sich folgendermaßen dar:
S(t)= T(t)+P(t)+U(t)
S ist hierbei das Signal, in diesem Anwendungsbeispiel also der Kurswert. Der
jeweilige Zeitpunkt wird durch t angegeben. T beschreibt den Driftanteil, während P
den periodischen Anteil wiedergibt und U für den unabhängigen Rauschanteil steht.
Gemäß der Theorie ist U zu vernachlässigen, wobei P und T gemeinsam eine
Zufallsfunktion darstellen. Hierdurch folgt, dass eine eindeutige und sichere
Bestimmung von S nicht möglich ist.25 In anderen Worten lässt sich festhalten, dass
gemäß der Random Walk Theorie ein zukünftiger Kurs am ehesten aus dem aktuellen
Kurs unter Addition einer beliebigen Variabel zu errechnen ist.26
2.7. Kritische Würdigung der klassischen Kapitalmarkttheorie
Es lässt sich festhalten, dass die Modelle der klassischen Kapitalmarkttheorie
weitgehend auf äußerst restriktiven und durchaus als realitätsfern zu bezeichnenden
Annahmen fußen. So etwa der dem CAPM zugrunde liegende perfekte Kapitalmarkt.
Die Annahme, dass alle Teilnehmer des Kapitalmarktes vollständig rational und
nutzenmaximierend agieren, wird so in der Realität nicht anzutreffen sein. Eine
Abweichung des Idealverhaltens kann unter anderem durch fehlerhafte
Informationsverarbeitung oder aber auch durch eine falsche Wahrnehmung und
Einschätzung von Risiken auftreten.27
Gemäß der Effizienzmarkthypothese sind weiterhin bereits sämtliche Informationen
von Bedeutung in die Kurse der Wertpapiere am Kapitalmarkt eingepreist. Diese
Annahme impliziert einen kostenlosen und freien Zugang auf sämtliche relevante
Informationen. Als Folge für die Praxis, würden auftretende Kosten für Beschaffung
und Verarbeitung jener Informationen zu ineffizienten Aktienkursen führen.28
Etwa gegen Ende der 1970er Jahre verstärkte sich ein Forschungszweig, welcher die
Effizienzmarkthypothese als Modell, welches die tatsächlichen Geschehnisse des
Kapitalmarkts abbilden solle hinterfragte. Hierfür wurden verstärkt sogenannte
25 Vgl. Finanzen.net (2016). 26 Vgl. Auer/Schuster (2010), S. 605. 27 Vgl. Murschall (2007), S. 32. 28 Vgl. Grossmann/Stiglitz (1980), S. 393 ff.
3 Behavioral Finance Theorie
13
Anomalie-Studien durchgeführt. Als Resultat dieser empirischen Studien wurden
Erkenntnisse gewonnen, die nicht mit einer neoklassischen Sichtweise auf die
Kapitalmärkte zu vereinbaren waren.29 Bisher nur in der Theorie existente Kritikpunkte
konnten im Anschluss erstmals mit Hilfe wissenschaftlich belegter Kurs- und
Verhaltensanomalien bestärkt werden. Der Forschungszweig der Behavioral Finance
Theorie erblickte „das Licht der Welt“ und rückte nun verstärkt in den Fokus der
Wirtschaftswissenschaften.
3. Behavioral Finance Theorie
Im nachfolgenden Kapitel sollen zunächst die Grundlagen der Behavioral Finance
Theorie erläutert werden, wie auch der Versuch einer Definition gewagt werden. Daran
anschließend sollen die der Theorie zugrunde liegenden Heuristiken 30 genauer
definiert und untersucht werden.
3.1. Grundlagen der Behavioral Finance
Bisher ist in der Literatur keine einheitliche Definition zum Begriff der Behavioral
Finance anerkannt. Die Forschung beschäftigt sich im Allgemeinen mit der
Fragestellung, inwiefern auf den Finanzmärkten auftretende Phänomene unter
Zuhilfenahme aus der Verhaltensforschung entnommener psychologischer Modelle
erklärt werden können. Hierauf zielt auch eine von Shefrin gegebene Definition ab:
„Behavioral Finance is the study of how psychology affects financial decision making
and financial markets.“31
Weitere Definitionen werden unter anderem von Barberis und Thaler erbracht:
„Behavioral Finance argues that some financial phenomena can plausibly be
understood using models in which some agents are not fully rational. The field has two
building blocks: limits to arbitrage (…) and psychology (…).“32
29 Vgl. Eustermann (2010), S. 97. 30 In der Psychologie als einfache Denkstrategie zur Erzielung effizienterer Urteile sowie Problemlösung umschrieben. 31 Shefrin (2008), S. 1. 32 Barberis/Thaler (2002), S. 1.
3 Behavioral Finance Theorie
14
Somit gehen Barberis und Thaler im Speziellen von zwei vorliegenden Forschungs-
feldern aus. Zum einen begrenzte Möglichkeiten zur Arbitrage, und zum anderen die
Psychologie. Die begrenzte Arbitrage stellt hierbei eine eher als markorientierte zu
bezeichnende Sichtweise der Behavioral Finance Forschung dar, während
andererseits der Versuch unternommen wird, aus der Psychologie entliehene Aspekte
auf das Verhalten der Teilnehmer des Marktes anzuwenden, wodurch
verhaltenstheoretisch Ursachen, welche zur Entstehung ineffizienter Märkte führen,
erklärt werden sollen. Die vorliegende Arbeit soll hierbei ihren Fokus auf die
Auswirkung psychologischer Einflussfaktoren richten, welche Gegenstand der
Psychologie, im speziellen der verhaltensorientierten Forschung sind. Es soll ein
Erklärungsansatz geliefert werden, inwiefern Marktteilnehmer durch Anwendung der
eingangs erwähnten Heuristiken rational eingeschränkte Entscheidungen fällen sowie
ob, und wie hierdurch eine Möglichkeit zur Erklärung für auf den Finanzmärkten
anzutreffende Anomalien gegeben ist. Zu diesem Zwecke, soll im Folgenden eine
nähere Definition der einzelnen Heuristiken erfolgen.
3.2. Theoretische Grundlagen zur Erfassung von Heuristiken
Die so genannten Urteilsheuristiken können als wichtige Basis für die Entstehung von
Anomalien angesehen werden. Jene sind Thema der kognitiven Forschung im Bereich
der Sozialpsychologie. Heuristiken werden meist zur Erleichterung der
Entscheidungsfindung in komplexen Situationen zur Anwendung gebracht. Sofern der
Mensch vor der Aufgabe steht eine Entscheidung zu treffen, muss dieser Erwartungen
bezüglich zukünftiger Entwicklungen und Sachverhalte bilden. Demnach sieht sich
jener Entscheider häufig mit unsicheren Entscheidungen konfrontiert. Zur Beurteilung
der gegebenen Informationen, welche als Grundlage der Entscheidung dienen, werden
Entscheidungs- und Beurteilungsregeln verwendet. Diese sollen den Prozess der
Problemlösung umschreiben, und werden wie bereits oben angesprochen als
Heuristiken bezeichnet. Hierunter lässt sich die Art und Weise verstehen, wie im Falle
von Entscheidungssituationen ein prognostizierendes Urteil bezüglich unbekannter
Sachverhalte gebildet werden soll. Verwendung finden jene also vor allem, insofern
eine Entscheidung unter Unsicherheit getroffen werden soll, welche keine Möglichkeit
zum Rückgriff auf mehrfache Beobachtung, respektive umfassende frühere
Erfahrungen bietet. Die zur Findung einer Entscheidung angewendeten Heuristiken
3 Behavioral Finance Theorie
15
können als kognitive Faustregeln verstanden werden, welche dem Individuum eine, in
gewissem Umfang treffende Beurteilung der jeweiligen Erlaubnisse gestatten.33
Bei genauer Betrachtung lässt sich die Anwendung solcherlei Heuristiken wunderbar
auf die Akteure der heutigen Finanz- und Kapitalmärkte übertragen. Geht es
beispielsweise um die Prognostizierung zukünftiger Kursentwicklungen eines
Wertpapieres, so sehen sich die Teilnehmer unter Berücksichtigung diverser
zukünftiger Ereignisse und Entwicklungen meist unsicheren Entscheidungen
ausgesetzt.
Im weiteren Verlauf sollen nun drei typische Urteilsheuristiken genauer definiert
werden. Jene sind die Repräsentativitäts-, Verfügbarkeits- sowie die Verankerungs-
heuristik.34
3.2.1. Verfügbarkeitsheuristik
Die Verfügbarkeitsheuristik 35 wird häufig dann angewendet, wenn es um die
Komplexreduktion eines Sachverhaltes geht. So orientieren sich Menschen oftmals an
leicht verfügbaren Informationen. Die Bedeutung wurde bereits 1936 durch Keynes
betont, noch lange bevor die Theorie der Behavioral Finance das Licht der Welt
erblickte. So schrieb jener: „It would be folish, in forming our expectations, to attach a
great weight to matters which are very uncertain. It is reasonable, therefore, to be
guided to a considerable degree by the facts about which we feel somewhat confident,
even though they may be less decisively relevant to the issue than other facts about
which our knowledge is vague and scanty. For this reason the facts of the existing
situation enter, in a sense disproportionally, into formation of our long-term
expectations; our usual practice being to take the existing situation and to project into
the future, modified only the extent that we have more or less definite reasons for
expecting a change“.36
Genau diese entstehende Übergewichtung der „facts of the existing situation“ werden
in der Behavioral Finance Literatur durch Verfügbarkeitsheuristiken abgebildet.
33 Vgl. Jost (2008), S.185 ff. 34 Vgl. Strack/Deutsch (2002), S. 352 ff. 35 Elementare Grundlagen zur Verfügbarkeitsheuristik wurden von Tversky und Kahneman aufgestellt. Vgl. Kahneman/Tversky (1972) und Kahneman/Tversky (1972). 36 Keynes (1936), S. 148.
3 Behavioral Finance Theorie
16
Menschen hegen die Neigung, Dinge, welche kürzlich erlebt worden überzugewichten.
Dieser Umstand ergibt sich aus der Tatsache, dass jenes Erlebte schneller und leichter
verfügbar ist und somit priorisiert abgerufen wird. Eine Verstärkung dieses
Verhaltensmusters tritt zusätzlich ein, insofern ein lebendiger Eindruck verbleibt. Es
wurden vielfältige Experimente durchgeführt, welche aufzeigen, dass Menschen zuvor
gefällte Urteile spontan ändern. Grund hierfür ist, eine eintretende selektive
Interpretation der momentanen Situation auf Basis vorheriger Erlebnisse. 37 Umso
leichter es einem Individuum fällt Ereignisse aus dem Gedächtnis abzurufen, desto
größer wird die Wahrscheinlichkeit des Eintretens jener eingestuft.38 Unterstützung
erfährt die Verfügbarkeitsheuristik durch die im menschlichen Gedächtnis vorliegenden
Organisationsmerkmale. Begriffe werden ähnlich einer Katalogisierung abgelegt, was
zur Folge hat, dass Ereignisse, welche zu den jeweiligen Kategorien passen, deutlich
einfacher abgerufen werden als jene, welche erst kompliziert einsortiert werden
müssten. Eine Beeinflussung der Verfügbarkeit steht häufig in Abhängigkeit zur
direkten persönlichen Erfahrung sowie der Häufigkeit der Erlebnisse.39
Als Beispiel hierfür in der Literatur findet sich etwa ein Importeuer, welcher US Dollar
Devisen benötigt. Nach Studium diverser Berichte und Rücksprache mit Analysten
entschließt sich jener mit dem Kauf zu warten, da ein deutlich niedrigerer Wechselkurs
erwartet wird. Als der Importeur schließlich von einem Kollegen erfährt, dass dieser
zuletzt massive Verluste aufgrund des Abwartens erfahren hat, verwirft der Importeuer
umgehend seine zuvor durchgeführte fundierte Analyse und kauft Devisen ein. Die
Verfügbarkeitsheuristik ist in diesem Beispiel für eine Überschätzung der
Eintrittswahrscheinlichkeit verantwortlich, wodurch meist eine Überreaktion40 auf neue
Informationen in Gang gesetzt werden kann.41
3.2.2. Repräsentativitätsheuristik
Als Repräsentativitätsheuristik wird eine bei Entscheidungen zugrunde liegende
Tendenz bezeichnet, welche den Entscheider dazu verleitet einzelne Beobachtungen
oder Ereignisse als typisch (somit repräsentativ) für eine Grundgesamtheit,
Entwicklung oder Kategorie einzustufen, wenngleich auch deren Auftritts-
37 Vgl. Maas/Weibler (1990), S. 90 ff. 38 Vgl. Strack/Deutsch (2002), S. 355. 39 Vgl. Strack/Deutsch (2002), S. 356. 40 „ (…) most people „overreact“ to unexpected and dramatic news events.“ De Bondt/Thaler (1985), S. 804. 41 Vgl.Goldberg/Nitzsch (2004), S. 57 f.
3 Behavioral Finance Theorie
17
wahrscheinlichkeit überhaupt nicht geprüft wurde.42 Als je höher Ähnlichkeiten in der
Ausprägung charakteristischer Merkmale angesehen wird, desto größer ist gleichsam
auch die Wahrscheinlichkeit etwas als typisch zu erachten. Bei der Urteilsfindung
ergibt sich die Problematik durch den Umstand, dass ein Einzelfall als mehr oder
minder repräsentativ für die Grundgesamtheit einzuordnen ist. Kahneman und Tversky
gehen davon aus, dass der Mensch Regelmäßigkeiten bei Zufallsstichproben intuitiv
ausschließt. Jene werden schlicht als nicht repräsentativ für die Grundgesamtheit
erachtet.43
Veranschaulichen lässt sich diese Heuristik anhand eines von Kahneman und Tversky
durchgeführten Experimentes, bei welchem Testpersonen zu Wahrscheinlichkeits-
einschätzungen gewisser Ereignisse befragt wurden.44Im vorliegenden Fall sollte eine
Einschätzung vorgenommen werden, welche Reihenfolge der Geburten einer Familie
die Probanden für wahrscheinlicher erachten. 45 Zur Auswahl standen folgende
Varianten:
a. JJJJJJ
b. MMMJJJ
c. JMMJJM46
Es erscheint als nicht allzu überraschend, dass eine Mehrheit der Probanden sich für
Alternative c entschied. Die Wahrscheinlichkeit liegt je Geburt bei 50% pro Geschlecht.
Jedoch lässt sich hieraus keinerlei Wahrscheinlichkeit ableiten, welches dem
vorausgegangenen folgt. Obwohl sämtliche Variationen die exakt gleichen
Eintrittswahrscheinlichkeiten haben, erschien Variante c den Probanden als schlicht
logischer.
3.2.3. Verankerungsheuristik
Bei Schätzung entwickelt der Mensch die Neigung zunächst einem ihm eigenen
Richtwert (Anker)47zu definieren, welcher anschließend, unter der Berücksichtigung
zusätzlicher Informationen, einer Anpassung hin zur Realität unterzogen wird. Es ergibt
sich ein Prozess, welcher durch fortlaufende Änderungen und Anpassungen
42 Vgl. Oehler (2000), S.983. 43 Vgl. Maas/Weibler (1990), S. 85. 44 Vgl. Kahneman/Tversky (1972), S. 430 ff. 45 Einen ähnlichen Versuch führten beide auch unter Verwendung eines Münzwurfes durch. 46 Wobei J für die Geburt eines Jungen steht, wohingegen M für jene eines Mädchens steht. 47 Im Englischen auch unter dem Begriff Anchoring bekannt.
3 Behavioral Finance Theorie
18
gekennzeichnet ist. Interessanterweise kann der Anfangswert sowohl durch das
Problem bestimmt werden, vom Entscheider selbst gewählt werden, als auch zufällig
vorgegeben werden.48Der Prozess der Anpassung fällt in der Realität meist relativ
knapp aus, und wird vom Individuum nicht bis zum Ende hin betrieben. Problematisch
erscheint deswegen der Umstand, dass viele Urteile sich trotz neuer Informationen
nicht stark genug anpassen. Oftmals verweilt das Augenmerk auf dem Ankerwert, weil
neu hinzugewonnene Informationen nicht als solche betrachtet werden. Eine
(eigentlich notwendige) Revidierung des Ankerwertes findet nicht statt, womit Urteile
einer sehr starken Prägung des ursprünglich festgelegten Wertes unterliegen.49
Als Beispiel für die Finanzmärkte ließe sich die Befragung unterschiedlicher Analysten
zu einer Einschätzung der aktuellen Marktlage anführen. Während der Wert eines auf
steigende Kurse setzenden Analysten meist zu hoch wäre, würde es sich bei einem
auf fallende Kurse setzenden Analysten umgekehrt verhalten. Sofern keine
zusätzlichen Informationen zur Verfügung stehen, wird auch meist der aktuelle Wert
als Anker gesetzt. So würde man etwa sofern man um die Einschätzung des Euro
Kurses in einem Jahr gebeten wird, den jetzigen Wert als Ausgangspunkt wählen, und
je nach volkswirtschaftlichem Wissen und Einschätzung zukünftiger Ereignisse etwas
nach oben oder unten korrigieren.
3.3. Heuristiken der kognitive Erkenntnisgewinnung
Informationen bestimmen und beeinflussen das menschliche Verhalten in großem
Umfang. Der Prozess, wie genau die Behandlung jener Informationen bei den
Menschen abläuft, lässt sich in drei unterschiedliche Phasen eingliedern. Zunächst
erfolgt die Wahrnehmung der Information, woran sich die Informationsverarbeitung
anschließt, welche schließlich in die Informationsbewertung mündet. Zuletzt kommt es
zu einer Entscheidung des Menschen, woraus dieser sein Verhalten ableitet.
In enger Verknüpfung zwischen Informationen und Verhalten stehen die Erwartungen
des Individuums. Häufig entscheiden subjektive Vorstellungen über die Aufnahme von
Informationen. Durch jene selektive Wahrnehmung erhöht sich die Wahrscheinlichkeit
der Aufnahme von Informationen, insofern jene den zugrunde liegenden Erwartungen
entsprechen. Beim Aufkommen neuer Informationen werden jene zunächst einer
48 Vgl. Maas/Weibler (1990), S. 93. 49 Vgl. Shefrin (2000), S. 21.
3 Behavioral Finance Theorie
19
Bewertung unter Zuhilfenahme der eigenen, somit subjektiven Hypothese unterzogen.
Der Hypothese kann folglich zugestimmt, oder aber widersprochen werden. Ein
Widerspruch kann zu einer prognostischen Unterschätzung selbiger führen. Hingegen
haben erwartungskonform auftretende Informationen meist eine Überschätzung zur
Folge. 50 Da neue Informationen in der Regel sowohl als Pro-, wie auch als
Kontraargument betrachtet werden können, ist eine korrekte Bewertung durch den
Menschen schwierig. Dieses Dilemma beschrieb auch schon Keynes, als er aufführte,
dass sich am Markt weder die eigene subjektive Meinung, noch die objektiv als am
besten betrachtete durchsetzen wird, sondern vielmehr eine Durchschnittsmeinung.
Sofern man diese antizipieren könne, erscheine dies für ihn am erfolg-
versprechendsten.51
Im Folgenden sollen die auf kognitiven Erkenntnissen ruhenden und in der Behavioral
Finance Theorie angewandten Ausprägungen menschlichen Verhaltens genauer
erläutert und definiert werden.
3.3.1. Kontrollillusion
Ein Individuum neigt zu dem Verhalten, die eigenen Einflussmöglichkeiten zu
überschätzen, wenngleich es sich aus einem objektiven Betrachtungswinkel um
zufallsbedingte Situationen handelt, welche von situativen Einflussfaktoren bestimmt
und gelenkt werden. Der hier zugrunde liegende Attributionsfehler führt letztlich zu
einer Kontrollillusion. Dies ist oftmals in Situationen zu beobachten, welche durch
vorheriges Wissen bezüglich der erwünschten Ergebnisse, persönliches Involvement
sowie einen Fokus auf Erfolg geprägt sind. 52 Es werden nichtexistente
Kontrollmöglichkeiten wahrgenommen sowie gleichsam Erfolge auf die eigenen
Fähigkeiten zurückgeführt, wohingegen etwaige Misserfolge dem Zufall, respektive der
Situation geschuldet sind.53 Kontrolle erzeugt ein Gefühl von Kompetenz und führt
ebenso zu einem Anstieg des eigenen Selbstwertgefühls, wohingegen der Verlust
selbiger durch einen negativen Effekt auf das Wohlbefinden des Menschen
gekennzeichnet ist.54
50 Vgl. Frey/Stahlberg (1990), S. 113. 51 Vgl. Keynes (1936), S. 156. 52 Vgl. Frey/Jonas (2002), S. 19. 53 Vgl. Oehler (1992), S. 104. 54 Vgl. Goldberg/Nitzsch (2004), S. 141.
3 Behavioral Finance Theorie
20
3.3.2. Selbstüberschätzung (Overconfidence)
Während Zuversicht grundsätzlich als positive Eigenschaft gilt, kann ein Überfluss
jener schnell zu Selbstüberschätzung55 führen. Wie De Bondt und Thaler bemerken,
scheint die Selbstüberschätzung ein weitverbreitetes Phänomen zu sein. „Perhaps the
most robust finding in the psychology of judgement is that people are
overconfident“. 56 Durch eine Zunahme von Informationen, wird ein Individuum
typischerweise selbstsicherer, wenngleich auch die Genauigkeit bei Entscheidungen
auf relativ konstantem Niveau verweilt. Durch einen Zugewinn von mehr und mehr
Informationen, steigt in gleichem Maße auch die Intensität der Selbstüberschätzung.57
Es folgt eine Überbewertung der eigenen Erfahrungen, wobei die Möglichkeit selber
Fehler zu begehen beinahe komplett ausgeschlossen wird. Hierdurch kommen
beispielsweise Investoren zu der Annahme, sie seien selbstsicher, wohingegen
tatsächlich lediglich eine relative Selbstsicherheit vorliegt. Dies führt in der Folge dazu,
dass das eigene Konfidenzintervall als weitaus größer angenommen wird, als dies
tatsächlich der Fall ist.58
Unter zunehmender Schwierigkeit der Entscheidungen, kann die Selbstüberschätzung
gar noch ansteigen. Dies lässt sich etwa bei schwer kontrollierbaren Aufgaben, welche
zusätzlich ein offenes Ergebnis aufweisen beobachten. Weiterhin kann auch die
persönliche Situation und Veranlagung eines Individuums dessen Selbstüberschätzung
fördern. Mit steigender Anzahl von Fähigkeiten, steigt gleichsam auch das Risiko zur
Überschätzung. Geht man in der Folge nun davon aus, das sehr aktive Trader am
Aktienmarkt, welche dementsprechend auch hohe Summen bewegen gleichzeitig die
größten Fähigkeiten zugesprochen werden, so folgt hieraus ein nicht außer Acht
zulassender Grad an Selbstüberschätzung auf den Märkten. Dies kann weitreichende
Effekte nach sich ziehen. So können etwa überdurchschnittlich hohe Risiken
eingegangen werden, oder auch als wenig vernünftig erscheinende Transaktionen
getätigt werden. Gemäß Shefrin, steigt mit zunehmendem Grade der
Selbstüberschätzung auch das Handelsvolumen an.59
55 Im Englischen Overconfidence. 56 De Bondt/Thaler (1995), S. 389. 57 Vgl. Oskamp (1965), S. 288. 58 Vgl. De Bondt/Thaler (1995), S. 389. 59 Vgl. Shefrin (2000), S. 47.
3 Behavioral Finance Theorie
21
3.4. Heuristiken der Informationswahrnehmung und -bewertung
Der folgende Abschnitt soll ein genaueres Bild aufzeigen, mit welchen Heuristiken sich
ein Individuum hinsichtlich der Aufnahme von Informationen sowie bei deren
Bewertung auseinandergesetzt sieht. Einige jener werden automatisch angewandt,
wohingegen andere bewusst eingesetzt werden, um im Angesicht einer auftretenden
Informationsflut eine gezielte Verarbeitung zu ermöglichen.
3.4.1. Vereinfachung
Eine der schnellsten Herangehensweisen um eine Reduzierung der Komplexität zu
gewährleisten, stellt eine Vereinfachung des Sachverhalts dar, welche durch
Vernachlässigung bestimmter Informationen erreicht wird.60 Die Vereinfachung lässt
sich anhand des folgenden Beispiels veranschaulichen:
Einem Investor stehen drei unterschiedliche Anlagevarianten zur Auswahl, wobei er
lediglich in eine investieren kann.
Abb. 4: Beispiel zur Vereinfachung Quelle: Eigene Darstellung)
So der Investor denn nun den Sachverhalt vereinfachen möchte, beginnt er zunächst
mit dem Vergleich der einzelnen Positionen zueinander. Dementsprechend würde er
Anlage 2 der ersten vorziehen, da für ihn die Relation von zusätzlicher Rendite zum
zusätzlichen Risiko als nicht befriedigend erscheint. Stellt er nun einen weiteren
Vergleich zwischen 2 und 3 an, ist davon auszugehen, dass er sich für letztere Anlage
entscheiden könnte, da ihm die quasi halbe Rendite bei sehr kleinem Risiko als
ansprechend erscheint. Wenn er nun allerdings Anlage 3 mit Nummer 1 vergleicht,
würde er aufgrund der deutlich höheren Rendite wohl die erste Kapitalanlage
präferieren. Sofern man nun eine Zusammenfassung der vorliegenden Situation
anstellt, zeigt sich im Vergleich Anlage 3 überlegen zu 2, Anlage 2 überlegen zu 1
sowie Anlage 1 überlegen zu Nummer 3. Anhand dieser Zusammensetzung ist
60 Vgl. Kahneman/Tversky (1979), S. 274 ff.
Rendite Risiko (β)Kapitalanlage 1 10,00% 1,60Kapitalanlage 2 5,00% 1,15Kapitalanlage 3 2,00% 0,60
3 Behavioral Finance Theorie
22
keinerlei Aussage darüber zu treffen, welche der drei gebotenen Möglichkeiten
tatsächlich genutzt werden wird.
3.4.2. Mental Accounting
Zur Herbeiführung einer Reduktion der Komplexität einer Entscheidung gibt es noch
eine weitere Vorgehensweise. Neben der oben umschriebenen Methodik der
Vereinfachung, besteht weiterhin die Möglichkeit potenzielle Abhängigkeiten, welche
zwischen einzelnen Projekten und Engagements bestehen, zu vernachlässigen.
Hierfür prägten Kahneman und Tversky den Begriff des „mental account“.61 Gemäß
ihrer Ansichten führt der Mensch für sämtliche Vorhaben unterschiedliche mentale
Konten. Jedoch ist der Mensch nicht dazu in der Lage, seinen Fokus auf mehr als
eines jener Konten zu richten, weswegen etwaige Korrelationen zwischen jenen
Konten ignoriert werden. Kahneman und Tversky veranschaulichen das Mental
Accounting anhand des folgenden Beispiels, welches sich mit dem Kauf einer
Eintrittskarte für das Theater befasst:
Gegebenheit 1: Sie haben ein Ticket für eine Vorführung im Theater für 10
Dollar erworben. Dort angekommen fällt Ihnen schließlich auf, dass Sie das
Ticket verloren haben. Es gibt nun im Theaterhaus noch weitere Tickets der
gleichen Preiskategorie an der Abendkasse zu erwerben.
Würden Sie eine neue Karte kaufen?
Gegebenheit 2: Sie haben an der Abendkasse ein Ticket für die Vorführung im
Wert von 10 Dollar reserviert. Am Theaterhaus angekommen bemerken Sie
schließlich, dass Sie 10 Dollar auf dem Weg dorthin verloren haben.
Würden Sie die reservierte Karte nun kaufen, insofern Sie noch genügend Geld
bei sich tragen?
Betrachtet man den Vorfall aus einer rein ökonomischen Sichtweise, so ergibt sich
keinerlei Unterschied zwischen dem Verlust der Karte, beziehungsweise des gleichen
Geldbetrages in bar. In beiden Fällen müssten weitere 10 Dollar investiert werden, um
schließlich die Theatervorstellung besuchen zu können. Letztendlich entstehen für
beide Eventualitäten Gesamtkosten in Höhe von 20 Dollar. Die empirische
Untersuchung von Kahneman und Tversky kommt hierbei zu einem als durchaus
61 Vgl. Kahneman/Tversky (1981), S. 456.
4 Modelle der Behavioral Finance Theorie
23
interessant zu bewertenden Ergebnis. So hätte ein Großteil der Versuchsteilnehmer
bei dem Verlust des Tickets auf den geplanten Theaterbesuch verzichtet (das gleiche
mentale Konto wird angesprochen), wohingegen bei dem Verlust des Bargeldes
(anderes mentales Konto wird angesprochen) die Mehrheit die zuvor reservierten
Karten abgeholt hätte.62
Unter konsequenter Einhaltung des Mental Accountings kann es zu einer fehlerhaften
Einschätzung von Risiken bei Investoren kommen. Dies kann dazu führen, dass die als
risikomindernd einzustufende Eigenschaft der Diversifikation außer Acht gelassen und
nicht ausreichend angewandt wird.
Nachdem in diesem Kapitel nun die wichtigsten Heuristiken der Behavioral Finance
Theorie erläutert und definiert wurden, sollen im nächsten Kapital zwei grundlegende
Modellannahmen der Theorie vorgestellt werden, welche als Alternativen zu den
klassischen Kapitalmarkttheorien verstanden werden können.
Selbstverständlich beinhaltet die Behavioral Finance noch zahlreiche weitere Aspekte
der Psychologie und Sozialforschung, welche allerdings in diesem konkreten Fall den
Umfang der hier vorliegenden Arbeit sprengen würden und daher außen vor gelassen
werden.
4. Modelle der Behavioral Finance Theorie
4.1. Prospect Theory
Die als Prospect Theory bezeichnete Modellannahme kann als Alternative zur
Erwartungsnutzentheorie verstanden werden, wobei sie auf der Grundlage erdacht
wurde, dass Individuen sämtliche Ergebnisse wie auch Reize als relativ betrachten.
Kahneman und Tversky haben in ihren Arbeiten bewiesen, dass der Mensch gerade in
Risikosituationen ein irrationales Verhalten an den Tag legt, welches sich konträr zu
den in der Erwartungsnutzentheorie postulierten Annahmen verhält. 63 Aus diesen
Erkenntnissen heraus schufen beide die sogenannte Prospect Theory. Den Kernpunkt
jener Theorie stellt die Erkenntnis, dass Menschen in ihrer Wahrnehmung, wie auch
gleichsam bei der Bewertung von Ereignissen zur Orientierung einen neutralen Punkt
wählen, welchen sie zu Orientierungszwecken nutzen. Hierbei werden jene
Ergebnisse, welche sich oberhalb dieses neutralen Punktes befinden als Gewinne
62 Vgl. Kahneman/Tversky (1981), S. 457 f. 63 Vgl. Kahneman/Tversky (1979), S. 263 ff.
4 Modelle der Behavioral Finance Theorie
24
gesehen, während Ergebnisse unterhalb jenes Fixpunktes als Verluste verstanden
werden. Die Wahrnehmung bezüglich Verlusten und Gewinnen erscheint
dementsprechend als bezugspunktabhängig. Illustrieren lässt sich dies anhand der
folgenden Abbildung.
Abb. 5: Wertfunktion der Prospect Theory Quelle: Goldberg/Nitzsch (2004) S. 87.
Die Wertfunktion angelehnt an Kahneman und Tversky64 verdeutlicht die vorliegende
Abnahme der Sensitivität sowohl bei Gewinnen, als auch bei Verlusten. Durch diese
der Wertfunktion zugrunde liegende Eigenschaft ergibt sich ein konkaver Kurvenverlauf
im Gewinnbereich sowie ein konvexer Verlauf auf der Verlustseite. Aufgrund der
Tatsache, dass Individuen Verluste stärker bewerten, als sie dies mit Gewinnen tun, ist
für die Verlustkurve ein steilerer Verlauf festzustellen. Diese menschliche Denkweise
wird auch als Verlustaversion65 bezeichnet. Der Mensch bewertet einen Verlust höher,
als er dies mit einem Gewinn in gleicher Höhe tut.66 Weiterhin spiegelt sich hierbei
auch der sogenannte Dispositionseffekt wider. Gemäß Shefrin neigen Investoren zu
der Tendenz Gewinne zu früh zu realisieren, wohingegen Verluste deutlich zu spät
realisiert werden.67 Veränderungen, welche nahe dem Bezugspunkt liegen werden
deutlich stärker empfunden, als jene die weiter davon entfernt liegen. Dies wird durch 64 Vgl. Kahneman/Tversky (1979), S. 263 ff. 65 Im Englischen loss aversion. 66 Vgl. Kahneman/Tversky (1981) S. 454. 67 Vgl. Shefrin/Statman (1985) S.777 f.
4 Modelle der Behavioral Finance Theorie
25
die abnehmende Sensitivität mit zunehmender Entfernung zum Bezugspunkt
dargestellt.
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Wertfunktion einen eher konzeptionellen
Charakter besitzt, und sich von Individuum zu Individuum unterscheidet.
4.2. Behavioral Portfolio Theory
Die Behavioral Portfolio Theory kann als eine Weiterentwicklung der Prospect Theory
angesehen werden.68 In jener sollen sowohl kognitive Fehler, wie auch mangelnde
Selbstkontrolle mit eingebunden werden.
Gemäß der Theorie, sehen Anleger ihr eigenes Portfolio nicht auf Grundlage der
Risikodiversifizierung als eine Einheit an, sondern restrukturieren jenes mental in leicht
fassbare Ebenen. Jede dieser Ebenen stellt eine eigene Risikoklasse dar. Die Theorie
unterstellt, dass die Anleger hierbei die Interdependenzen der einzelnen Klassen außer
Acht lassen. Weiterhin kann es auf Basis der Erwartungen der Anleger zu einer
Variation der einzelnen Ebenen kommen. Eine Verschiebung jener, kann sich gemäß
Roßbach in auf die Risikoprämien der Wertpapiere auswirken, womit auch die
Preisbildung an den Märkten beeinflusst wäre.69
Das Investor Sentiment Modell erklärt unter zu Hilfenahme von Verhaltensmechanis-
men auftretende Über- und Unterreaktionen. Auf Basis von Repräsentativitäts- sowie
Verankerungseffekten können demnach Preise am Kapitalmarkt beeinflusst werden.70
Zwischen den Zeilen kann man bei genauerer Betrachtung jener Modelle der
Behavioral Finance Theorie bereits einen Anflug von Erklärungsversuchen etwaiger
Abweichungen zwischen der klassischen Modellwelt und den tatsächlich an den
Finanzmärkten anzutreffenden Ereignissen feststellen. Doch welch genaue
Anomalitäten lassen sich nun an den Kapitalmärkten wiederfinden, und wie hoch fällt
der Beitrag der Behavioral Finance zur Erklärung jener aus? Diesen Fragen soll sich
das nun folgende Kapitel widmen.
68 Vgl. Shefrin/Statman (2000), S. 127. 69 Vgl. Roßbach (2001), S. 20. 70 Vgl. Barberis et al. (1998), S. 307 f.
5 Kapitalmarktanomalien
26
5. Kapitalmarktanomalien
„…finance consists of theories for which there is no evidence and empirical facts for
which there is no theory“71
Unter Anomalien werden in der Wissenschaft empirische Beobachtungen verstanden,
welche in Widerspruch zu den aus vorherrschenden Theorien abgeleiteten
Erwartungen stehen.72 Bezugnehmend auf die Aktienmärkte, können unter dem Begriff
Anomalie empirische Beobachtungen von Renditen zusammengefasst werden, welche
konträr zu jenen aus der neoklassischen Kapitalmarkttheorie abgeleiteten Erwartungen
stehen und weiterhin das Konzept der Informationseffizienz umgehen, respektive
missachten.
Im Folgenden sollen an den Kapitalmärkten anzutreffende, ausgewählte Anomalien
genauer erläutert werden sowie Abhängigkeiten zwischen jenen und den im Vorfeld
näher beschriebenen Heuristiken der Behavioral FInance Theorie untersucht werden.
5.1. Anomalien auf Marktebene
Im Markt zu entdeckende Anomalien gelten als Forschungsgebiet der Behavioral
Finance. Gemäß der Markteffizienzhypothese ist ein effizienter Markt dadurch
gekennzeichnet, dass sämtliche bekannte Informationen bereits in die Kurse
eingepreist sind, und weiterhin nicht auf Grundlage von historischen Kursen auf
künftige Kursentwicklungen geschlossen werden kann. Jene Annahmen stützen auch
das CAPM. Das nun folgende Kapitel soll aufzeigen, wo und ich welcher Form
Abweichungen von der Markteffizienzhypothese herausgestellt werden konnten.
5.1.1. Home Bias
Der sogenannte Home Bias lässt sich sowohl bei privaten, wie auch bei institutionellen
Anlegern beobachten. Sofern eine Optimierung des Portfolios betrieben wird, sind
generell keinerlei Richtlinien in Bezug zur Verteilung auf bestimmte Regionen oder
Länder gegeben. In der Praxis lässt sich jedoch häufig die Beobachtung anstellen,
dass Investoren diejenigen Wertpapiere bevorzugen, welche aus heimischen Ländern 71 Vgl. De Bondt/Thaler (1995), S. 386. 72 Vgl. Kuhn (2012), S. 65 f.
5 Kapitalmarktanomalien
27
und Regionen stammen. Als Ursache wird hierbei häufig auf Faktoren wie
Wechselkurse, Transaktionskosten, Marktzugangsbeschränkungen oder aber
Besteuerung verwiesen. Viele Anleger unterliegen dem Glauben, sie unterlägen bei
den heimischen Wertpapieren einem höheren Informationsniveau, als dies bei
ausländischen Papieren der Fall wäre. Weiterhin werden Renditeerwartungen von
Wertpapieren des inländischen Marktes meist als höher eingeschätzt. Hierfür lässt sich
wohl eine, zumindest gefühlt, erschwerte Zugänglichkeit zu Informationen über
Analgen des ausländischen Marktes verantwortlich machen. Es lassen sich
interessanterweise gar Beispiele dafür finden, dass einige Portfolios, welche mit
lokalem Bezug zusammengestellt wurden, teils deutlich höhere Renditen aufweisen
können, als jene mit ausländischen Werten. Jedoch kann mangelnde Diversifikation
hierbei das Risiko erhöhen. Als Folge können bei gleicher Rendite deutlich höhere
Volatilitäten beobachtet werden. Im Umkehrschluss kommt ein Verzicht des Anlegers
auf entsprechende Risikoprämien hinzu.73
5.1.2. Closed-End-Fund-Puzzle
Geschlossene Aktienfonds weisen in der Regel zu Anfang einen in Relation zum
Marktwert des Fondsvermögens gesehen höheren, später jedoch einen geringeren
Wert auf. 74 Zurückzuführen ist dies auf heuristisch bedingte Verzerrungen sowie
Framing-Effekte75 zurückzuführen. So werden geschlossene Fonds zu Beginn häufig
mit einer Art Aufschlag zum eigentlichen Wert des Inventars gehandelt. Im späteren
Verlauf setzt ein Wandel hin zu einem Abschlag ein, welcher im Zeitverlauf teils zu
starken Schwankungen neigt. Bei Auflösung des Fonds wird dieser schließlich
komplett abgebaut.
Die Ursachen für diese auftretenden Ineffizienzen können in Stützungskäufen der
Emittenten, versteckten Gebühren oder aber auch Stimmungen der Investoren
gefunden werden. Das Maß der Schwankungen kann hierbei als Indikator der
Stimmungen jener betrachtet werden.
73 Vgl. Schäfer (2002), S. 746. 74 Vgl. Lee et al. (1991), S. 75 ff. 75 Man spricht von Framing-Effekt, insofern verschiedenartige Darstellungen einer gegebenen Sachlage, unter der Prämisse einer gleichartigen inhaltlichen Aussage, unterschiedliche Entscheidungen des Empfängers hervorrufen können.
5 Kapitalmarktanomalien
28
5.1.3. Winner’s Curse
Es wurde beobachtet, dass Teilnehmer während einer Auktion mitunter von den dort
auftretenden Umständen beeinflusst werden können. So ist derjenige Teilnehmer,
welcher die Auktion für sich entscheidet in der Regel dazu bereit, einen
unverhältnismäßig hohen Preis für den gebotenen Gegenwert zu zahlen. Hier setzt ein
als Fluch des Gewinners bezeichneter Effekt ein, welcher gleichzeitig auch Anleger an
den Kapitalmärkten treffen kann. Dieses Phänomen hat seine Ursprünge in der
Beobachtung und Analyse von Versteigerungen im Bereich Ölbohrrechte und
Firmenübernahmen. Gleiches gilt für Versteigerungen von Telekommunikationsrechten
innerhalb der europäischen Union. Nur in seltenen Fällen können die anschließend
erwirtschafteten Profite den zuvor gezahlten Preis rechtfertigen.
Zurückzuführen ist der Effekt auf das irrationale Verhalten der Teilnehmer, welche den
erwarteten Wert auf Grundlage der vorliegenden Informationen nicht in Relation zu
jenem Wert nach Beendigung der Verhandlung oder Auktion setzen können. 76
Begünstigt wird dieses Verhalten durch die Anzahl der Mitbewerber sowie den Grad
der Unsicherheit, welcher bezüglich des Wertes des Objekts vorliegt. In letzter
Konsequenz könnte dies im negativsten Fall zu adverser Selektion77 führen, womit sich
einige Bieter komplett aus den Auktionsverfahren herausziehen würden.78
5.1.4. Mean Reversion
Die sogenannte Mean Reversion beschreibt die Tendenz von Aktienkursen nach einer
Über-, respektive Untertreibungsphase wieder zum tatsächlichen Wert zurückzu-
kehren. Die Literatur spricht auch von einer vorhandenen Prägung der Kurse sich auf
lange Sicht gesehen in zyklischen Mustern zu bewegen.79 Neben Informationen welche
eine fundamentale Relevanz aufweisen, können auch weitere Daten die Kurse in
erheblichem Maße beeinflussen. Verantwortlich für solcherlei Bewegungen ist neben
weiteren Einflussfaktoren häufig das auf Märkten zu beobachtende Herdenverhalten.
Es wurde beobachtet, dass Anleger häufig nach den Gesetzen des Durchschnitts
handeln. Anschließend an Phasen welche durch Über- oder Untertreibung
76 Vgl. Schäfer (2002), S. 747. 77 Eine Ausprägung von Marktversagen aufgrund einer vorliegenden Informationsasymmetrie. 78 Vgl. Oehler (1992), S. 109. 79 Vgl. Fama/French (1988), S. 247 ff.
5 Kapitalmarktanomalien
29
gekennzeichnet sind, erwarten sie als Folge von steigenden auch wieder fallende
Kurse. Dieser Trend ist auch umgekehrt zu beobachten. Eine besonders lang
anhaltende Übertreibung, die gleichzeitig hohe Ausmaße annimmt, verleitet Anleger zu
einem regressiven Verhaltensmuster.80
5.1.5. Index- und Ankündigungseffekt
Der auf den Märkten anzutreffende Index- und Ankündigungseffekt können als eng
miteinander verknüpft angesehen werden. Zumeist wird das in Kapitel 3.4.2 näher
umschriebene systematische Kognitionsproblem des Mental Accountings hierfür
verantwortlich gemacht.81 Auf der Basis von neu aufkommenden Informationen, so
etwa eine Indexaufnahme oder auch eine Kapitalerhöhung, werden teils heftige
Kursveränderungen hervorgerufen. Jene zu erkennende Veränderung der Kurse muss
jedoch nicht zwingend erwartungsgemäß verlaufen. In Folge einer Ankündigung kann
zunächst ein Erwartungseffekt beobachtet werden. Hierbei wird eine Repositionierung
der Investoren auf Grundlage der neu erlangten Informationen versucht. Überdies
wohnt sowohl positiven, wie auch negativen Informationen eine Signalwirkung inne.
Entsprechend des nun neu erlangten Standes der Information, ändert sich gleichsam
der Gesamteindruck, wodurch Anpassungen zu beobachten sind. Hieraus folgt, dass
der Ankündigungseffekt mitunter einer Zeitverzögerung unterliegen kann. Es können
Nachwirkungen auftreten, und eine Reaktion tritt mit Verzögerung auf die eigentliche
Information ein. 82 Oftmals bestehen die durch eine Ankündigung verursachten
Preisänderungen auch dann noch weiter, selbst wenn das gerechtfertigte Maß bereits
erreicht wurde.83
Die Aufnahme eines Wertpapiers in einen Index, führt im Regelfall zu einem steilen
Kursanstieg der Aktie.84 Hierbei kann bereits die Ankündigung einen ersten Sprung des
Kurses verursachen, wobei dieser in den meisten Fällen erst kurze Zeit vor der
tatsächlichen Aufnahme stattfindet. Ob jene Kurseffekte lediglich temporär bestehen
oder aber von dauerhaftem Bestehen sind, gilt als noch nicht zweifelsfrei geklärt.85
80 Vgl. Oehler (1991), S. 600. 81 Vgl. Shiller (1997), S.8. 82 Vgl. Deininger et al. (2002), S. 262 ff. 83 Vgl. zur Anomalie des Ankündigungseffekts Haugen (1995). 84 Vgl. Harris/Gurel (1986) zu Kursauswirkungen bei Aufnahme eines Wertpapiers in den S&P500-Index. 85 Vgl. Deininger et al. (2002), S. 262 ff.
5 Kapitalmarktanomalien
30
Der Indexeffekt ist mitunter auf die Praktiken sogenannter Indexfonds zurückzuführen.
Jene beginnen die Umschichtung ihres Portfolios häufig erst am Tage der Umsetzung.
Etwaige vorherige Kursanstiege werden jenen Marktakteuren zugeschrieben, welche
bereits am Tag der Ankündigung einen Zukauf von Aktien tätigen, und hiermit das Ziel
verfolgen diese später gewinnbringend an den Indexfonds zu veräußern.86 Aufgrund
von die Veränderung von Indizes betreffenden geltenden Regularien in Deutschland,
ist der Indexeffekt hierzulande meist lediglich in einer abgeschwächten Form zu
beobachten. Durch Antizipation der Aufnahme einer Aktie in einen Index, wird der
Kursanstieg durch Spekulationen partiell schon vor der eigentlichen Ankündigung
vollzogen.87
5.1.6. Overreaction and Underreaction
Eine Overreaction (Überreaktion) ist dadurch gekennzeichnet, dass Teilnehmer des
Marktes neuen Informationen eine zu hohe Gewichtung beimessen, wobei
Basiswahrscheinlichkeiten oder alte Informationen einer zu niedrigen Gewichtung
unterliegen oder gar vernachlässigt werden. Diese Anomalie lässt sich gemäß
Kahneman und Riepe auf die Repräsentativitätsheuristik zurückführen. Individuen
stehen in der Erwartung der Fortsetzung eines Trends, respektive meinen sie
bestimmte Muster an Stellen zu erkennen, wo eigentlich keine existieren. Hierbei lässt
sich weiterhin ein (zu) starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten erkennen, womit
die Tendenz zur Overconfidence vorliegt. Die Gewinneraktien vorangegangener
Perioden werden zu optimistisch eingeschätzt, wohingegen Verliereraktien mit einem
als zu pessimistisch eingestuften Charakter versehen werden. De Bondt und Thaler
haben daraufhin eine nonkonformistisch angehauchte Strategie entwickelt, und jene
auch empirisch überprüft und belegt. Über einen speziellen Zeitraum wurden
Gewinner-, wie auch Verliereraktien eines Marktes identifiziert. Hieraus wurden im
Anschluss schließlich ein Gewinner- sowie ein Verliererportfolio zusammengestellt,
welche beide die gleiche Anzahl an Aktien enthielten. Das Ergebnis der Untersuchung
scheint auf den ersten Blick überraschend. Während für das Verliererportfolio eine
Überrendite festgestellt wurde, erwirtschaftete das Gewinnerportfolio lediglich eine
unterdurchschnittliche Rendite im Vergleich zum Markt.88 Jene Beobachtungen wurden
in weiteren Versuchen auf unterschiedliche Zeitspannen ausgedehnt. Die Erkenntnisse
lassen sich in folgender Abbildung darstellen:
86 Vgl. Beneish/Whaley (1996), S. 1909 ff. 87 Vgl. Gerke et al. (2001), S. 11. 88 Vgl. De Bondt/Thaler (1985), S. 793 ff.
5 Kapitalmarktanomalien
31
Abb. 6: Untersuchungen zu Winner-Loser-Effekten Quelle: Eigene Darstellung
Je nach Betrachtungsdauer von Identifizierungs- wie auch Beobachtungsphase
ergeben sich Unterschiede bei der Performance der jeweiligen Portfolios. In
unterschiedlichen Märkten ließen sich mit den drei abgebildeten Strategien statistisch
gesehen Überrenditen erzielen. Jene lassen sich unter der Einbeziehung von
Transaktionskosten wie auch durch Kombinationen der Strategien weiter optimieren.89
Diese empirisch nachgewiesenen Strategien stehen in einem deutlichen Widerspruch
zur Effizienzthese. Der Haussemarkt kann eine abnehmende Risikowahrnehmung
fördern. Die nun einsetzende positive Performance der Papiere kann die
Selbstüberschätzung fördern und mitunter auch zu einer verzerrten Attribution führen.
Setzt nun eine Kontrollillusion ein, so kann hierdurch die Rückkehr zu einem
„gesunden“ Wert verhindert werden. Die zwingend irgendwann einsetzende
Seitwärtsbewegung kann bei den Teilnehmern des Marktes Verlustängste auslösen,
was schließlich in Verbindung mit einem einsetzenden Kontrollverlust eine regelrechte
Verkaufspanik auslösen kann.
Von einer Underreaction (Unterreaktion) ist dann die Rede, wenn Anleger neuen
Informationen zu wenig Beachtung schenken, respektive zeitverzögert auf jene
reagieren. Als ursächlich hierfür lassen sich unter anderem eine an der Vergangenheit
orientierte Erwartungsbildung (Verankerungseffekte), oder aber Mental Accounting,
somit eine Einordnung der neuen Information unter anderem Bezug identifizieren.90
Weiterhin wird aufgeführt, dass Anleger aufgrund eines zu hohen Selbstvertrauens
tendenziell dazu neigen, an eigenen, vormals aufgestellten inkorrekten Schätzungen
festhalten, statt jene bei dem Aufkommen neuer Informationen zu revidieren.91
89 Vgl. Oehler (2000), S. 981 ff. 90 Vgl. Roßbach (2001), S. 17 f. 91 Vgl. Kiehling (2001).
Strategie Empfehlung
kurzfristig (bis ein Monat) Kauf von Verliereraktien und Verkauf von Gewinneraktien
mittelfristig(dreibiszwölfMonate) Kauf von Gewinneraktien und Verkauf von Verliereraktien
langfristig(dreibisfünfJahre) Kauf von Verliereraktien und Verkauf von Gewinneraktien
5 Kapitalmarktanomalien
32
Shefrin wiederum versucht sich an einer Erklärungsfindung in Bezug auf das Wesen
der Informationsaufnahme. So beschreibt er eine Neigung von Investoren, wonach
diese denen in einer Serie auftretenden Änderungen vergleichsweise wenig Bedeutung
beimessen, insofern jene Veränderungen innerhalb der letzten Zeit wenig prägnant
erschienen und einer grundlegenden und dauerhaften Ursache zuzuschreiben seien.92
In der Praxis zeigt sich, dass Anleger große Schwierigkeiten bei der Einordnung von
Gewinnbekanntgaben durch Unternehmen aufweisen. Man stößt auf zwei Theorien,
welche den Versuch einer Erklärung unternehmen. Gemäß dem Investor-Sentiment-
Modell schwankt ein Anleger zwischen zwei Überzeugungen. Erstere besagt, dass
eine Veränderung des Gewinns lediglich von temporärer Dauer sei, wohingegen die
zweite Überzeugung davon ausgeht, dass dies der Beginn einer neuen Epoche sei,
und dauerhafte Gewinnsprünge für die Zukunft zu erwarten sind. Zu Beginn tendieren
Anleger zu ersterer Überzeugung, wohingegen sie bei weiteren Überraschungen
bezüglich des Gewinns umgehend zu letztere umsiedeln. Die erste Reaktion ist
dementsprechend als zu passiv zu klassifizieren, wohingegen der darauf folgende
Wechsel zu Überzeugung zwei als zu überhitzt beschrieben werden kann.93
Eine zweite Theorie geht schließlich von einer Verbindung zwischen
Selbstüberschätzung sowie Selbstattribution aus, welcher Investoren unterliegen. Auf
aus öffentlichen Quellen zugänglich gemachten Informationen wird unterreagiert,
wohingegen eigene Analysen eine Überreaktion zur Folge haben.94
5.2. Kennzahlenanomalien
Das Auftreten von Kennzahlenanomalien kann mitunter die dem Capital Asset Pricing
Modell zugrunde liegenden Prämissen verletzen. Die Existenz jener Anomalien soll
durch empirische Beobachtungen des Kapitalmarktes bestätigt werden, wird jedoch in
der Literatur teils kontrovers diskutiert. Im folgenden Abschnitt sollen die wichtigsten
Kennzahlenanomalien näher erläutert werden.
92 Vgl. Shefrin (2000), S. 116. 93 Vgl. Barberis et al. (1998), S. 307 ff. 94 Vgl. Daniel et al. (1998), S. 1839 ff.
5 Kapitalmarktanomalien
33
5.2.1. Size-Effect
Der Size-Effect 95 besagt, dass Aktiengesellschaften, welche eine niedrige
Kapitalisierung aufweisen über einen längeren Zeitraum hinweg betrachtet tendenziell
höhere Renditen vorweisen als solche mit einer hohen Marktkapitalisierung.96 Der
Effekt tritt jedoch meist bei kleineren Firmen auf, und ist in keinen direkten linearen
Zusammenhang mit der Unternehmensgröße zu setzen. Nach Veröffentlichung jener
anfänglichen Studien erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit diesem
Phänomen. Weitere Untersuchungen bestätigten teils die Theorie, da sie ebenfalls
eine überdurchschnittliche Rendite bei kleineren Unternehmen feststellten, jedoch gab
es auch andere Erhebungen, welche zu einem komplett konträren Ergebnis kamen.
Eine eindeutige statistische Signifikanz ist somit nicht festzustellen. Den
Untersuchungen lagen meist verschiedene Zeiträume zugrunde, was zu einer
eingeschränkten Vergleichbarkeit führt. Es scheint jedoch so, dass der Size-Effect
nicht mehr in dem Maße zu erkennen und somit von Bedeutung ist wie dieser es einst
augenscheinlich war. Die Literatur führt hierfür als Begründung unter anderem die sich
im Laufe der Zeit für die entsprechenden Unternehmen veränderten Risikoprämien
auf.97
Der Size-Effect lässt sich mit dem sogenannten Neglected-Firm-Effect in
Zusammenhang bringen. Gemäß dieses Effektes, lassen sich mit Unternehmen,
welche weniger stark im Fokus und unter der Beobachtung von Analysten stehen
höhere Renditen erwirtschaften. Unter der Prämisse, dass Unternehmen mit geringer
Kapitalisierung tendenziell weniger im Fokus der Analysten stehen, lässt sich eine
Verbindung zum eben angesprochenen Size-Effect erkennen.98 Bezieht man in die
Überlegungen mit ein, dass solch „unbeachtete“ Firmen meist risikobehafteter sind,
sollten diese in der Folge auch höhere Renditen abwerfen.
5.2.2. Weitere ausgewählte Kennzahlenanomalien
Neben dem Size-Effect lassen sich weitere Kennzahlenanomalien beobachten. Drei
ausgewählte, sprich, das Buchwert / Marktwertverhältnis, das Kurs / Gewinnverhältnis
sowie die Dividendenrendite sollen im Folgenden noch genauer vorgestellt werden.
95 In der Literatur auch als Kleinfirmen-Effekt bezeichnet. 96 Vgl. Fama/French (1992), S. 427 ff. 97 Vgl. Schwert (2002), S. 4 ff. 98 Vgl. Steiner/Bruns (2002), S. 47.
5 Kapitalmarktanomalien
34
So man das Verhältnis des Buchwertes je Aktie (entspricht im vorliegenden Fall dem
bilanziellen Eigenkapital + / - Korrekturen) zu dem Marktwert (Anzahl Aktien x Kurs je
Aktie) jener in Vergleich setzt, lassen sich interessante Tendenzen erkennen. Aktien,
welche über ein hohes Buchwert / Marktwertverhältnis verfügen, sogenannte Value
Stocks, weisen meist auch eine höhere Aktienrendite auf. Demgegenüber lässt eine
niedrige Verhältniszahl bei Aktien (Growth Stocks) tendenziell eher auf eine
unterdurchschnittliche Rendite schließen.99
Ein ähnlicher Effekt, wenn auch mit umgedrehten Vorzeichen, lässt sich bei genauerer
Betrachtung des Kurs / Gewinnverhältnisses (KGV) von Aktien beobachten. Hier ergibt
sich im Vergleich zum Buchwert / Marktwertverhältnis eine negative Korrelation zur
Rendite einer Aktie. Ein hohes Kurs / Gewinnverhältnis deutet somit auf eine niedrige
Aktienrendite hin. Kommt zu einem hohen Verhältnis auch noch eine hohe
Kapitalisierung hinzu, so weisen die Wertpapiere tendenziell die schlechtesten
Renditen auf.100
Schließlich lässt sich auch unter Zuhilfenahme der Dividendenrendite ein Rückschluss
auf die Kursentwicklung ziehen. So denn eine hohe Dividendenrendite vorliegt,
impliziert dies auch eine hohe Gesamtrendite des Wertpapiers.101
5.3. Kalenderanomalien
Als Kalenderanomalien, teils auch saisonale Anomalien genannt, werden empirisch
beobachtete Kursanomalien bezeichnet, welche in einer signifikanten Korrelation zu
einem bestimmten Zeitpunkt stehen. 102 In diesem Abschnitt soll eine Auswahl
derartiger Anomalien genauer untersucht werden.
5.3.1. Day-of-the-Week-Effekt
Zahlreiche bereits in der Vergangenheit durchgeführte Studien kamen zu dem
Ergebnis, dass im Verlaufe einer Woche die durchschnittlichen Tagesrenditen
99 Vgl. Steiner/Bruns (2002), S. 271 f. 100 Vgl. Basu (1983), S. 129 ff. 101 Vgl. Litzenberger/Ramaswamy (1979), S. 163 ff. 102 Vgl. Eustermann (2010), S. 98.
5 Kapitalmarktanomalien
35
variieren. 103 Hierbei zeigt sich eine auffallend positive Performance für Freitage,
wohingegen Montage durch eine signifikant negative Abweichung zum Mittelwert der
Woche gekennzeichnet sind.
Jene Anomalie wird in der Kapitalmarktforschung mitunter auch als Weekend-Effekt
bezeichnet und gilt als kontrovers diskutiert. Eine als konsistent zu bezeichnende
Begründung ist bisher noch nicht allgemein akzeptiert. Bisher gibt es zahlreiche
Ansatzpunkte zur Erklärungsfindung wie etwa der Versuch systematisch auftretende
Muster der Anleger nachzuweisen oder auch Handelsaktivitäten von Spezialisten
hierfür verantwortlich zu machen.
5.3.2. Holiday-Effekt
Jene Erkenntnisse, welche während den Studien zum Weekend-Effekt gewonnen
wurden, veranlassten unter anderem Ariel eine Untersuchung mit dem Ziel eines
Nachweises für einen sogenannten Holiday-Effekts an den amerikanischen
Aktienmärkten.104 Hierbei konnte eine deutliche Überrendite für den letzten Handelstag
vor gesetzlichen Feiertagen in den USA festgestellt werden. Später wurden die
Untersuchungen auf eine globalere Ebene ausgeweitet, um etwaige Data Mining
Problematiken auszuschließen. Hierbei konnten auch global betrachtet teils
signifikante Holiday-Effekte nachgewiesen werden. Ein Erklärungsversuch bildet unter
anderem ein möglicher Nachfragedruck welcher von Short-Sellern ausgelöst wird,
welche risikobehaftet Positionen vor Feiertagen abstoßen.105
5.3.3. Turn-of-the-Month-Effekt
Weitere saisonale Besonderheiten lassen sich bei genauerer Betrachtung von
Renditegrößen vor, respektive nach einem Monatswechsel ausmachen. Bei
Untersuchungen stellte Ariel am letzten Handelstag des Monats sowie während der
ersten Monatshälfte überdurchschnittliche Renditen fest. Dementgegen lagen die
Durchschnittsrenditen in der zweiten Monatshälfte nahe null.106
103 Vgl. Cross (1973), S. 67 ff. 104 Vgl. Ariel (1990), S. 1612 ff. 105 Vgl. ebd. 106 Vgl. Ariel (1987), S. 162 ff.
5 Kapitalmarktanomalien
36
Eine klare und eindeutige Erklärung konnte Ariel für diesen Effekt jedoch nicht finden.
Eine etwaige Verzerrungen welche durch Dividendenausschüttungen, die
normalerweise zu Monatsanfang stattfinden, konnte er bei seiner Untersuchung
erfolgreich ausschließen.107 Mögliche Ursachen werden in Portfolioumschichtungen
gesehen, welche tendenziell um den Monatswechsel herum stattfinden.
5.3.4. Januar-Effekt
Eine in der Literatur als Januar-Effekt108 umschriebene saisonale Anomalie besagt,
dass für den Monat Januar eine signifikant positive Performance für Aktienwerte
ausgemacht werden kann. Die monatliche Rendite ist dementsprechend als
überdurchschnittlich hoch gekennzeichnet.109 Jener Effekt ist sowohl bei Unternehmen
mit hoher Marktkapitalisierung, als auch bei solchen mit einer niedrigeren gegeben.
Insbesondere bei kleineren Unternehmen lässt sich dieser Effekt jedoch besonders
deutlich beobachten. Eine besonders gute Performance ist speziell in der ersten
Handelswoche des Jahres zu erkennen.
Es lassen sich zahlreiche mögliche Ursachen finden, welche zum Auftreten dieser
Anomalie im Januar beitragen. Ein Ansatzpunkt geht hierbei von primär steuerlichen
Gesichtspunkten aus. So verkaufen Investoren als steueroptimierende Maßnahme
gewisse Anlagen im Dezember, um sich anschließend im Januar wieder einzukaufen,
wodurch für diesen Monat überproportionale Renditen zu identifizieren sind. 110
Allerdings bleibt auch festzuhalten, dass jener Effekt auch in Ländern beobachtet
werden konnte, welche ein unterjähriges Steuerjahr besitzen, respektive über eine
andere Steuergesetzgebung verfügen.
Eine weitere mögliche Begründung stellt das so genannte Window-Dressing dar. Die
Manager von Investmentfonds kaufen zu Jahresbeginn vermehrt riskante Small Caps,
welche sie, sofern jene eine gute Performance abliefern am Ende des Jahres wieder
verkaufen, um die Gewinne zu realisieren, beziehungsweise wieder abstoßen, falls
sich die Papiere durch eine schlechte Performance auszeichnen, um jene nicht in den
Jahresabschlüssen führen zu müssen.111
107 Vgl. Ariel (1987), S. 162 ff. 108 Auch als Turn-of-the-Year-Effekt beschrieben. 109 Vgl. Rozeff / Kinney (1976), S. 379 ff. 110 Vgl. Guo (2002), S. 14. 111 Vgl. Siegel (2002), S. 303 ff.
6 Kritische Würdigung der Behavioral Finance Theorie
37
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die genannten Anomalien zwar durchaus
nachgewiesen werden konnten, die zu erzielenden Renditeunterschiede jedoch
vergleichsweise gering ausfallen. Gegen eine als effektiv anzusehende Ausnutzung
sprechen unter anderem Unsicherheiten bezüglich des tatsächlichen Auftretens sowie
entstehende Transaktionskosten.112
6. Kritische Würdigung der Behavioral Finance Theorie
Wie jede Theorie, so weist auch die Behavioral Finance Angriffsflächen für Kritik auf.
So gelten die im Rahmen jener durchgeführten Untersuchungen etwa hauptsächlich
dem Aktienmarkt. Eine als konkludent einzustufende empirische Überprüfung erweist
sich für viele Teilgebiete als durchaus schwierig. So bemängelt Oehler etwa eine in
gewissen Studien fehlende Risikoadjustierung, welche über die reine
Marktadjustierung eine Durchschnittsbetrachtung der Portfolios hinausgeht.113
Weiterhin lässt sich experimentell beobachtetes Verhalten teils schwierig auf
tatsächliche Marktsituationen übertragen. Bei vielen der verwendeten Modelle, wie
etwa dem zuvor erwähnten Investor Sentiment Modell werden verschiedene
Erklärungen für ähnliche Beobachtungen gefunden. Folglich handelt es sich im Kern
wohl eher um Hypothesen, welche durch weitere Untersuchungen einer Verifizierung
zu unterziehen sind.114 Viele Erklärungen welche im Rahmen der Behavioral Finance
Theorie gefunden werden sind solche, welche erst nach bereits geschehenen
Ereignissen erbracht werden. Ein Fehlen von geschlossenen Modellen gestaltet das
Erstellen von prognosehaltigen Aussagen bezüglich des Marktgeschehens als äußerst
diffizil. Zudem kann eine nicht in ausreichendem Maße gegebene mathematische
Fundierung der Modelle kritisiert werden.115
Fama, der als ein Verfechter der Effizienzthese gesehen werden kann, hegt darüber
hinaus Zweifel bezüglich der beobachteten Anomalien. Jene besitzen seiner Meinung
nach nur in wenigen Fällen Gültigkeit und können teils nicht wirklich als statistisch
112 Vgl. Siegel (2002), S. 303 ff. 113 Vgl. Oehler (2000), S. 722. 114 Vgl. Shefrin (2000), S. 118. 115 Vgl. Roßbach (2001), S. 18.
7 Schlussbetrachtung
38
signifikant angesehen werden. Zudem sieht er deren ökonomische Bedeutung als
äußerst gering an.116
7. Schlussbetrachtung
Die Behavioral Finance Theorie bietet eine Vielzahl von Forschungsansätzen, welche
das Entscheidungsverhalten von Akteuren eines Marktes modellhaft, wie auch
empirisch untersuchen und analysieren. Fokus wird hierbei, im Gegensatz zu vielen
klassischen Modellen, auf die Aufnahme, Verarbeitung sowie die Erwartungsbildung
von Entscheidungskriterien gelegt. Hierdurch wird eine Art von Verknüpfung zwischen
psychologischen, sozialen und ökonomischen Faktoren geschaffen, wodurch eine
genauere Analyse tatsächlich auftretender Verhaltensweisen von Teilnehmer der
Finanzmärkte ermöglicht wird. Sogleich auch ökonomische Faktoren weiterhin als die
wichtigsten Einflussfaktoren auf Preisbildung angesehen werden können, so liefert sie
dennoch einen Zugewinn an Erkenntnissen bezüglich weiterer, nicht ökonomischer
Einflussfaktoren. Die vorliegende Komplexität jener Faktoren scheint unbestritten, was
die Schwierigkeit einer Analyse all jener an welcher sich die Behavioral Finance
versucht unterstreicht.
Es kann durchaus festgehalten werden, dass die Theorie einen brauchbaren und als
sinnvoll zu erachtenden Beitrag für das Verstehen von Anomalien an den
Finanzmärkten liefert. Jene Erklärung der Anomalien erfolgt jedoch nicht zum
Selbstzweck, sondern soll als Grundlage dafür dienen, ein klareres Bild und
Verständnis der Realität am Markt zu schaffen. Hierfür bietet die Theorie zahlreiche
wertvolle Ansätze, welche sie weiterhin in einer plausiblen und nachvollziehbaren Art
und Weise zu erklären schafft.
Viele, auf den ersten Blick nicht direkt zusammenhängende Irrationalitäten lassen sich
innerhalb der Theorie zu einem größeren Ganzen zusammenfügen, womit für jene eine
höhere Analysefähigkeit gebildet wird. Gerade auch die Tatsache, dass das Verhalten
von Individuen dafür genutzt wird um komplexe Vorgänge eines riesigen und globalen
Gesamtmarktes zu erklären kann durchaus als elementar betrachtet werden.
Alternative Theorien, welche zur Erklärung von Anomalien angewandt werden,
beschreiten nicht den eingeschlagenen Weg der Behavioral Finance, da hier oftmals
entweder ein zu starker Fokus auf verhaltenswissenschaftliche Einflussbereiche gelegt
116 Vgl. Fama (1998), S. 283 ff.
7 Schlussbetrachtung
39
wird, oder aber die ökonomischen Aspekte zu sehr in den Hintergrund treten.
Dementsprechend vernachlässigen klassische ökonomisch geprägte Theorien oftmals
das Auftreten etwaiger Anomalien innerhalb des Systems.
Sicherlich kann man der Behavioral Finance auch ein Fehlen des letzten Quäntchens
an Konsequenz vorwerfen. Viele der in Ansätzen erkannten Phänomene sind noch
nicht in ausreichender Form erforscht, und weite Teile der definierten Anomalien sind
noch zu sehr auf einzelne Teilmärkte, wie etwa den Aktienmarkt beschränkt.
Abhängigkeiten und Wechselwirkungen müssen noch genauer erkundet und definiert
werden. Die im menschlichen Handeln mitschwingenden Restriktionen sind sicherlich
nicht von der Hand zu weisen, jedoch sollten deren potentielle Auswirkungen auf die
an den Märkten anzutreffende Realität weiter untersucht und auch empirisch belegt
werden.
Es bleibt die Frage, ob die Behavioral Finance den Sprung von einer primär als
deskriptiv auftretenden Wissenschaft hin zu einer auch in letzter Konsequenz an- und
umsetzbaren Theorie schafft, somit also den Schritt in die Praxis. So kann zwar erklärt
werden, warum Anleger zu gewissen Heuristiken neigen, jedoch fehlt eine darauf
aufbauende Outperformance.
Die Theorie kann definitiv als Ergänzung zu den vorherrschenden
Kapitalmarktmodellen verstanden werden, da sie jene durch eminent wichtige Aspekte
erweitert. Jedoch bildet sie hierbei mehr eines vieler kleiner Zahnrädchen, welche
versuchen die Geschehnisse der Finanzmärkte aufzuklären und greifbarer zu
gestalten. Insbesondere bietet sie auch eine wichtige Grundlage für das einzelne am
Markt auftretende Individuum, da jenes anhand der gebotenen Erkenntnisse die
eigenen Verhaltensweisen kritischer analysieren und hinterfragen zu lernt.
Es bleibt die Ausgangsfrage, ob nun die Möglichkeit einer Heranziehung der
Behavioral Finance Theorie für die Erklärung von Anomalien an den Märkten gegeben
ist. Nun, abschließend lässt sich diese Frage sicherlich bejahen, doch wie so oft gilt es
die vorhandenen Möglichkeiten zunächst auch zu erkennen, um jene anschließend in
zielgerichteter Form nutzen, wie auch konsequent voranzutreiben zu können.
Zum Ausklang sei der daher der dänische Philosoph Søren Aabye Kierkegaard zitiert:
„Die Möglichkeit ist die schwerste aller Kategorien.“
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Eidesstaatliche Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Abschlussarbeit selbständig
und ohne fremde Hilfe verfasst und andere als die angegebenen Quellen und
Hilfsmittel nicht benutzt habe. Die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich
entnommenen Stellen (direkte oder indirekte Zitate) habe ich unter Benennung des
Autors/der Autorin und der Fundstelle als solche kenntlich gemacht. Sollte ich die
Arbeit anderweitig zu Prüfungszwecken eingereicht haben, sei es vollständig oder in
Teilen, habe ich die Prüfer/innen und den Prüfungsausschuss hierüber informiert.
Berlin, den 25. August 2016 Unterschrift