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Der Verbotene Zungenkuss » Lateinamerika Nachrichten

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Telenovela Latinoamerika

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7/21/2019 Der Verbotene Zungenkuss » Lateinamerika Nachrichten

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Queer 

Nummer 391 - Januar 2007

Der verbotene ZungenkussDie Darstellung von Homosexualität in lateinamerikanischen Telenovelas

Telenovelas besitzen einen außergewöhnlich hohen Stellenwert in Lateinamerika. Sie übertreffen die Einschaltquoten aller 

anderen Fernsehübertragungen und prägen die jeweiligen Gesellschaften. Die relativ kurze Geschichte der Darstellung von

Schwulen und Lesben in lateinamerikanischen Telenovelas ist voller Klischees und Ängste der dominanten Machogesellschaft.

Zwischen Zensur und zaghafter „Normalisierung“ in der Darstellung spiegelt sich in den Telenovelas der gesellschaftliche

Umgang mit Homosexualität wider.

Zeca (Erom Cordeiro) schaut Júnior (Bruno Gagliasso) tief in die Augen. Und auch Júnior schaut Zeca ganz tief in

die Augen. Die beiden gutaussehenden jungen Männer stehen hinter einem Vorhang und sind wie hypnotisiert

voneinander, die Stimmung ist romantisch knisternd, das Einzige was fehlt ist der Kuss. Doch bevor geküsst wird,

erfolgt ein scharfer Schnitt, die Kamera schwenkt und zeigt in einer neuen Einstellung Júniors Mutter mit ihrem

neuen, mehrere Jahre jüngeren Freund. Die beiden geben sich intensiv dem ersten Kuss hin, im Hintergrund der 

 Abendhimmel und ein riesiges Feuerwerk. Boiaderos, das Caipira-Dorf im Hinterland von São Paulo, in dem die

Telenovela spielt, feiert ein berauschendes Fest und beendet damit América, nach acht Monaten und mehr als 200

Folgen. Auf den Kuss von Zeca und Júnior wartet man vergeblich.

Die beschriebene Szene ist nicht etwa einer Telenovela aus der Zeit der Militärdiktatur entnommen, nein, sie ist im

November 2005 im brasilianischen Fernsehen von dem Sender Globo zur Hauptsendezeit ausgestrahlt worden. Ist

es also heutzutage im 21. Jahrhundert, wo in ganz Lateinamerika Gay Parades mit Millionen von Zuschauern

gefeiert werden, möglich, dass ein harmloser Zungenkuss von zwei Schwulen zensiert wird? Und inwieweit

entspricht dieser „verbotene Kuss“ der allgemeinen medialen Repräsentation von Homosexualität in

lateinamerikanischen Telenovelas?

Telenovelas, welche sich von Soap Operas darin unterscheiden, dass sie eine klare narrative Struktur und ein

absehbares Ende nach fünf bis acht Monaten besitzen, haben einen besonderen Stellenwert in Lateinamerika.

Entstanden aus kubanischen und argentinischen Radionovelas Anfang der 1940er Jahre und zurückgehend auf 

den französischen Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts, stellen sie die massenmediale Neuaufbereitung der 

oralen populären Kultur in Lateinamerika dar. Zurückgehend auf eine in den meisten Ländern hohe Zahl von Analphabeten und eine sehr ausgeprägte Fernsehkultur nehmen die Telenovelas oder Teleseries einen zentralen

Platz im täglichen Leben vieler LateinamerikanerInnen ein. So übertreffen die Einschaltquoten der letzten Folge

mancher Serie die Einschaltquoten eines Endspiels der Fußballweltmeisterschaft.

Kaum gesellschaftskritisches Potenzial

Brasilien und Mexiko sind führend in der Produktion lateinamerikanischer Telenovelas und exportieren in mehr als

100 verschiedene Länder, darunter Russland, Rumänien, der Jemen und China. In China wurde in den 1990er 

Jahren sogar eine brasilianische Telenovela-Schauspielerin zur Schauspielerin des Jahres gewählt.

Das Format greift hochaktuelle Themen auf, welche die jeweilige Gesellschaft gerade in Atem hält. Aber auch

anders herum funktioniert der Einfluss: „Die Telenovela besitzt die Macht, ein bestimmtes Thema aufzugreifen, so

dass es in ganz Brasilien diskutiert wird,“ meint Brasiliens Telenovela-Autorin Nummer 1 Gloria Pérez. Telenovelas

verfügen durch die starke mediale Präsenz über eine unglaubliche Reichweite. Drogenmissbrauch, Frauenrechte,

Migration und eben Homosexualität sind einige der am häufigsten verarbeiteten Themen.

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 Anders als im Kino oder im Theater verfügen Telenovelas aber über kaum gesellschaftskritisches Potenzial. Es

wird vielmehr das gezeigt, was innerhalb eines Produkts der Kulturindustrie möglich ist, eingebettet in eine

melodramatische Erzählstruktur. Nur, dass darüber sowohl auf dem Schulhof, dem Arbeitsplatz als auch in der 

Disco diskutiert wird.

Für die Darstellung von Schwulen bedeutete dies über viele Jahrzehnte hinweg eine sehr stereotypisierte Art der 

Beschreibung, die ihren Anfang in den ersten zaghaften Versuchen in den 1970er Jahren nahm. Der in ganz

Lateinamerika dominante Machismo und die offene Homophobie insbesondere der Militärdiktaturen in Südamerika

trugen damals dazu bei, dass Homosexuelle vor allem übertrieben gestikulierend und in unsäglich buntenGlitzerkleidern gezeigt wurden – hauptsächlich als Friseure oder Modedesigner. Schwule wurden als „feminisiert“

dargestellt, häufig im Gegensatz zum starken Macho.

Erst in den 1980er Jahren, und parallel zu den ersten aufkommenden Gay Pride Bewegungen, wurden zum ersten

Mal nicht überzogen stereotypisch dargestellte Schwule in Telenovela-Hauptrollen gezeigt (Omar Omana 1984 in

La Dueña, Venezuela; im konservativen Mexiko erst 1997 mit Desencuentros). Und es sollte bis in die 1990er 

Jahre dauern, bis sich in einer argentinischen Telenovela (Zona de Riesgo, 1992) zwei Schwule, Rodolfo Ranni

und Gerardo Romano, einen Zungenkuss geben durften.

 Argentinien ist auch das einzige lateinamerikanische Land, in dem vermehrt explizit homosexuelle Szenen in

Telenovelas gezeigt wurden und werden. Dies geht wohl darauf zurück, dass das Land stärker als die meisten

anderen Länder auf dem Kontinent europäisch geprägt ist. Mittlerweile scheint in Argentinien eine Zensur wie von

Júnior und Zecas beijo undenkbar. Stereotypische und karikierende Darstellungen von Schwulen bestanden und

bestehen in Argentinien jedoch weiterhin fort.

In Chile wurde ähnlich wie in Brasilien unlängst eine homosexuelle Szene einer Telenovela vom Sender zensiert.

Es sollte jedoch nicht zwangsläufig von der Freizügigkeit oder Zensur in der Darstellung auf die (Un-)Beliebtheit

von Schwulen beim Hetero-Publikum geschlossen werden. So hat zum Beispiel in Brasilien 2005 ein offen über 

sein Sexualleben redender Homosexueller die brasilianische Ausgabe von Big Brother (BBB) für sich entscheiden

können – und dies auf Kanal Globo, der den „verbotenen Kuss“ zensiert hatte.

Lesben als „Störenfriede“

Die Geschichte der medialen Darstellung von Lesben in lateinamerikanischen Telenovelas unterscheidet sich von

der von Schwulen. Argentinien hat hier keine innovative Vorreiterrolle inne. Ganz im Gegenteil, in diesem Land gab

es bereits in den 1960ern eine eigene Richtung der Telenovelas mit dem Titel Mujeres en la cárcel, die auf einer 

machohaften Sichtweise gründete, welche lesbische Frauen als hetzerisch darstellte.

In anderen Ländern in Lateinamerika wurden Lesben in den

Telenovelas häufig als „Störenfriede“, und „Unruhestifterinnen“ charakterisiert. Die kolumbianische Telenovela Los

Pecados de Inés de Hinojosa, in der lesbische Frauen dargestellt wurden, wurde aufgrund von

Zuschauerprotesten 1986 eingestellt. Zu einem Wandel kam es erst in den 1990er Jahren.

Die realistischsten Darstellungen von Lesben entstammen heute dem Land, in dem Júniors und Zecas Kuss

zensiert wurde. Meist sind es elegante Frauen aus der brasilianischen Mittelklasse, welche ein unabhängiges

Leben führen. Dabei ist eine interessante Veränderung festzustellen: Wurde 1998 in A Torre de Babel ein

lesbisches Pärchen noch aufgrund von Zuschauerprotesten in der Telenovela in die Luft gesprengt, so fanden 2003Clara (Aline de Moraaes) und Rafaela (Paula Picarelli) in Mulheres Apaixonadas glücklich zueinander und wurden

im gleichen Bett schlafend gezeigt. Schließlich adoptierten die beiden Frauen ein Baby, was sowohl innerhalb der 

Telenovela als auch in der Öffentlichkeit von allen Seiten positiv aufgenommen wurde.

Protestküsse gegen Zensur 

Zwei Beispiele aus der jüngsten Zeit geben Anlass zur Hoffnung auf realistischere und differenzierte Darstellungen

von Schwulen und Lesben. Zum einen ist das Machos (2003) aus dem konservativen Chile, wo zum ersten Mal

eine homosexuelle Konstellation gezeigt wurde, die fernab von Klischees angesiedelt war: Felipe Braun stellt als

Dr. Ariel Mercader einen brillanten Kardiologen dar, weit ab von dem karikierenden Bild des tuntigen Friseurs.

Schließlich war dies 2006 auch in Kuba (El lado oscuro de la luna) der Fall, wo Homosexualität bis dahin nicht imFernsehen thematisiert wurde – beispielsweise wurde der vielfach ausgezeichnete kubanische Gay-Film Erdbeer 

und Schokolade (1993) noch nie im kubanischen Fernsehen ausgestrahlt.

Ein letzter Rückblick auf Júnior und Zeca: Der in den brasilianischen Medien bereits Wochen zuvor angekündigte

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Kuss der beiden männlichen Schauspieler hatte heftige Diskussionen ausgelöst. Globo ließ daraufhin

Meinungsumfragen durchführen. Eine hauchdünne Mehrheit sprach sich gegen den Kuss aus.

Dies genügte der konservativen Chefabteilung des Senders, sich gegen die Ausstrahlung der Szene

auszusprechen und sie zu zensieren, ohne die Autorin Gloria Pérez darüber zu informieren. Es kam zu heftigen

Proteststürmen sowohl von der Gay Community als auch von sich solidarisierenden Heteros in ganz Brasilien. In

Brasilia versammelten sich mehrere hunderte Schwule und Lesben vor dem Palast der Republik, um dort als

 Antwort auf die Zensur einen Massen beijo gay (schwulen Kuss) zu zelebrieren.

Gundo Rial y Costas

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