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Plenarprotokoll 16/211 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 211. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 Inhalt: Wahl des Abgeordneten Dr. Carl-Christian Dressel als Mitglied im Gremium nach Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 12 und 31 c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Tagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009 in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Kurt Bodewig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende vorantreiben – Atomausstieg fortsetzen (Drucksache 16/12288) . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwortlich- keiten für die Zustände im Endlager Asse II benennen und Konsequenzen für die Endlagersuche ziehen (Drucksache 16/10359) . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen (Drucksachen 16/6319, 16/7882) . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Sicherheit geht vor – 22711 A 22711 B 22712 D 22712 D 22713 C 22717 C 22719 C 22721 B 22722 C 22724 A 22726 B 22727 D 22729 C 22730 A 22730 C 22731 D 22732 D 22734 A 22735 A 22736 B 22736 B 22736 B

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Plenarprotokoll 16/211

Deutscher BundestagStenografischer Bericht

211. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

I n h a l t :

Wahl des Abgeordneten Dr. Carl-ChristianDressel als Mitglied im Gremium nachArt. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes . . . . . . . .

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Absetzung der Tagesordnungspunkte 12 und31 c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . .

Tagesordnungspunkt 4:

Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerin zum Europäischen Rat am19./20. März 2009 in Brüssel und zumG-20-Gipfel am 2. April 2009 in London

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . .

Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Otto Bernhardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . .

Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . .

Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

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Kurt Bodewig (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 5:

a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast,Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewendevorantreiben – Atomausstieg fortsetzen(Drucksache 16/12288) . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwortlich-keiten für die Zustände im EndlagerAsse II benennen und Konsequenzenfür die Endlagersuche ziehen(Drucksache 16/10359) . . . . . . . . . . . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-geordneten Renate Künast, Bärbel Höhn,Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN: Alte Atomkraftwerke jetzt vomNetz nehmen(Drucksachen 16/6319, 16/7882) . . . . . . .

d) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-geordneten Hans-Josef Fell, SylviaKotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherheit geht vor –

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II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Besonders terroranfällige Atomreakto-ren abschalten(Drucksachen 16/3960, 16/8469) . . . . . . .

e) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-geordneten Hans-Josef Fell, SylviaKotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vertragstreue Abschal-tung alter Atomkraftwerke in Ost-europa(Drucksachen 16/11764, 16/12312) . . . . .

f) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung zu dem An-trag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Für eine Schließung des Forschungs-endlagers Asse II unter Atomrecht undeine schnelle Rückholung der Abfälle(Drucksachen 16/4771, 16/12270) . . . . . .

g) Große Anfrage der Abgeordneten AngelikaBrunkhorst, Cornelia Pieper, MichaelKauch, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Informations-Materia-lien der Bundesregierung zum Thema„Fakten und Kontroversen zum so ge-nannten Ausstieg aus der friedlichenNutzung der Kernenergie“ für Kinderund Heranwachsende (Drucksachen 16/9509, 16/11343) . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

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Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

Marco Bülow (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 39:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Direktzah-lungen-Verpflichtungengesetzes(Drucksache 16/12117) . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei-ten Gesetzes zur Änderung des Gefahr-gutbeförderungsgesetzes(Drucksache 16/12118) . . . . . . . . . . . . . .

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Aufhebung der Freihäfen Em-den und Kiel(Drucksache 16/12228) . . . . . . . . . . . . . .

d) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Gesetzeszur Errichtung einer Stiftung DeutscheGeisteswissenschaftliche Institute imAusland, Bonn(Drucksache 16/12229) . . . . . . . . . . . . . .

f) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Vier-ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzeszur Durchführung der GemeinsamenMarktorganisationen und der Direkt-zahlungen(Drucksache 16/12231) . . . . . . . . . . . . . .

g) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Ergänzung behördlicher Aufga-ben und Kompetenzen im Bereich deswirtschaftlichen Verbraucherschutzes(Drucksache 16/12232) . . . . . . . . . . . . . .

h) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Errichtung eines Sondervermö-gens „Vorsorge für Schlusszahlungenfür inflationsindexierte Bundeswertpa-

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 III

piere“ (Schlusszahlungsfinanzierungs-gesetz – SchlussFinG)(Drucksache 16/12233) . . . . . . . . . . . . . . .

i) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zu dem Zweiten Protokoll vom26. März 1999 zur Haager Konventionvom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kul-turgut bei bewaffneten Konflikten(Drucksache 16/12234) . . . . . . . . . . . . . . .

j) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zu dem Stabilisierungs- und As-soziierungsabkommen zwischen denEuropäischen Gemeinschaften und ih-ren Mitgliedstaaten einerseits und Bos-nien und Herzegowina andererseits(Drucksache 16/12235) . . . . . . . . . . . . . . .

k) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Vier-ten Gesetzes zur Änderung von Ver-brauchsteuergesetzen(Drucksache 16/12257) . . . . . . . . . . . . . . .

l) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung medizinprodukte-rechtlicher Vorschriften (Drucksache 16/12258) . . . . . . . . . . . . . . .

m) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring,Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther(Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Verkehrsschilder re-duzieren – Verkehrssicherheit bewah-ren(Drucksache 16/10612) . . . . . . . . . . . . . . .

n) Antrag der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Si-cherheit auf deutschen Straßen – Mas-terplan Vision Zero(Drucksache 16/11212) . . . . . . . . . . . . . . .

o) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring,Angelika Brunkhorst, Hans-MichaelGoldmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Ausbauziele der Off-shore-Windenergie nicht gefährden –Raumordnungsplanung des Bundesüberarbeiten(Drucksache 16/11214) . . . . . . . . . . . . . . .

p) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann,Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Bahnstrom auferneuerbare Energien umstellen(Drucksache 16/11930) . . . . . . . . . . . . . . .

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q) Antrag des Präsidenten des Bundesrech-nungshofes: Rechnung des Bundesrech-nungshofes für das Haushaltsjahr 2008– Einzelplan 20 –(Drucksache 16/12091) . . . . . . . . . . . . . .

r) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth(Quedlinburg), Cornelia Behm, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Stärkung des europäischen Haischutzes(Drucksache 16/12290) . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 2:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung der Verständigung imStrafverfahren(Drucksache 16/12310) . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Dr. HermannOtto Solms, Rainer Brüderle, Carl-LudwigThiele, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP: Maßnahmen zur ef-fektiven Regulierung der Finanzmärkte(Drucksache 16/10876) . . . . . . . . . . . . . .

c) Unterrichtung durch die Deutsche Welle:Zweite Fortschreibung der Aufgaben-planung der Deutschen Welle 2007 bis2010 mit Perspektiven für 2010 bis 2013undZwischenevaluation 2008(Drucksache 16/11836) . . . . . . . . . . . . . .

d) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Bericht der Bundesregierung zur Mit-nahmefähigkeit von beamten- und sol-datenrechtlichen Versorgungsanwart-schaften(Drucksache 16/12036) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 40:

a) Zweite und dritte Beratung des von denFraktionen CDU/CSU, SPD, FDP undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung der Strafprozessordnung – Erwei-terung des Beschlagnahmeschutzes beiAbgeordneten(Drucksachen 16/10572, 16/12314) . . . . .

b) Zweite Beratung und Schlussabstimmungdes von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabili-sierungs- und Assoziierungsabkommenzwischen den Europäischen Gemein-

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IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

schaften und ihren Mitgliedstaaten ei-nerseits und der Republik Montenegroandererseits(Drucksachen 16/12064, 16/12305) . . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht desAusschusses für Umwelt, Naturschutz undReaktorsicherheit zu der Verordnung derBundesregierung: Zweite Verordnungzur Änderung der Altfahrzeug-Verord-nung(Drucksachen 16/12106, 16/12181,16/12313) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

d) – j)Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-schusses: Sammelübersichten 536, 537,538, 539, 540, 541 und 542 zu Petitionen(Drucksachen 16/12123, 16/12124,16/12125, 16/12126, 16/12127, 16/12128,16/12129) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 3:

Antrag der Bundesregierung: Ausnahme vondem Verbot der Zugehörigkeit zu einemAufsichtsrat für Mitglieder der Bundesre-gierung(Drucksache 16/12282) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 4:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionder FDP: Umsetzung des Beschlusses derEU in Deutschland für einen ermäßigtenMehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen

Ernst Burgbacher (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eduard Oswald (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Lydia Westrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl, Parl. StaatssekretärinBMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eckhardt Rehberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Simone Violka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tagesordnungspunkt 6:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurverbesserten steuerlichen Berücksichtigungvon Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlas-tungsgesetz Krankenversicherung)(Drucksache 16/12254) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nicolette Kressl, Parl. StaatssekretärinBMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gabriele Frechen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Carl-Ludwig Thiele (FDP) . . . . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 7:

Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent-wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderungdes Opferentschädigungsgesetzes(Drucksache 16/12273) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gregor Amann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 8:

a) Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr(Münster), Heinz Lanfermann, Dr. KonradSchily, weiterer Abgeordneter und der

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 V

Fraktion der FDP: Moratorium für dieelektronische Gesundheitskarte(Drucksache 16/11245) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender,Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Rechtauf informationelle Selbstbestimmungbei der Einführung der elektronischenGesundheitskarte gewährleisten(Drucksache 16/12289) . . . . . . . . . . . . . . .

Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eike Hovermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 9:

– Zweite und dritte Beratung des von denFraktionen der CDU/CSU und der SPDeingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Fortführung der Gesetzeslage 2006bei der Entfernungspauschale(Drucksachen 16/12099, 16/12299) . . . . .

– Bericht des Haushaltsausschusses gemäߧ 96 der Geschäftsordnung(Drucksache 16/12302) . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Pronold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . .

Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . .

Tagesordnungspunkt 10:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend

22797 C

22797 C

22797 D

22799 A

22800 D

22801 C

22802 B

22803 B

22803 D

22804 C

22805 C

22806 D

22807 A

22807 A

22808 D

22810 A

22811 A

22812 A

22812 D

– zu dem Antrag der AbgeordnetenIrmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck(Köln), Britta Haßelmann, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Durchsetzung der Ent-geltgleichheit von Frauen und Män-nern – Gleicher Lohn für gleichwertigeArbeit

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP:Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit –Für eine tatsächliche Chancengleichheitvon Frauen und Männern

– zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann,Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKE: Entgeltgleich-heit zwischen den Geschlechtern wirk-sam durchsetzen

(Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192,16/12265) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Eva Möllring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Renate Gradistanac (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ingrid Fischbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 11:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Carola Reimann, Detlef Parr, FrankSpieth und weiteren Abgeordneten einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zurdiamorphingestützten Substitutionsbe-handlung(Drucksache 16/11515) . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes überdie diamorphingestützte Substitutions-behandlung(Drucksache 16/7249) . . . . . . . . . . . . . . .

c) Antrag der Abgeordneten Jens Spahn,Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faustund weiterer Abgeordneter: Ausstiegsori-entierte Drogenpolitik fortführen –Künftige Optionen durch ein neuesModellprojekt zur heroingestütztenSubstitutionsbehandlung Opiatabhängi-ger evaluieren(Drucksache 16/12238) . . . . . . . . . . . . . .

22814 A

22814 B

22815 C

22816 D

22817 D

22818 D

22819 D

22821 A

22822 A

22822 B

22822 B

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VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Detlef Parr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Maria Eichhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Marion Caspers-Merk (SPD) . . . . . . . . . . .

Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Sabine Bätzing (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . .

Monika Knoche (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sabine Bätzing (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 5:

Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,Kai Gehring, Ulrike Höfken, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN: Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen(Drucksache 16/12303) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nina Hauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 13:

a) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Regelung des Datenschutzauditsund zur Änderung datenschutzrechtli-cher Vorschriften(Drucksache 16/12011) . . . . . . . . . . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-nenausschusses zu der Unterrichtung durch

22822 C

22823 D

22825 A

22826 C

22827 B

22828 A

22829 A

22829 D

22830 C

22831 A

22831 B

22832 B

22832 D

22833 A

22833 C

22833 C

22834 C

22835 A

22836 A

22837 A

22838 B

22839 B

den Bundesbeauftragten für den Daten-schutz und die Informationsfreiheit: Tä-tigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bun-desbeauftragten für den Datenschutzund die Informationsfreiheit – 21. Tätigkeitsbericht –(Drucksachen 16/4950, 16/12271) . . . . . .

Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 14:

a) Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer,Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP: Mobilfunkforschung verant-wortlich begründen(Drucksache 16/10325) . . . . . . . . . . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann,Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE: Mobilfunkstrahlung mini-mieren – Vorsorge stärken(Drucksache 16/9485) . . . . . . . . . . . . . . .

Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) . . . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 15:

Antrag der Abgeordneten Christian Freiherrvon Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof),Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie derAbgeordneten Dr. Michael Bürsch, Ute Berg,Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD: Faire Wettbewerbsbedin-gungen für Öffentlich Private Partner-schaften schaffen(Drucksache 16/12283) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 16:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab-

22839 C

22839 D

22841 C

22843 A

22843 D

22844 C

22846 A

22846 A

22846 B

22847 D

22849 A

22850 B

22852 A

22853 A

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 VII

geordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche,Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneterund der Fraktion DIE LINKE: Pakistan undAfghanistan stabilisieren – Für eine zen-tralasiatische regionale Sicherheitskonfe-renz(Drucksachen 16/10845, 16/11249) . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 17:

Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs eines …Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbu-ches – Anhebung der Höchstgrenze des Ta-gessatzes bei Geldstrafen(Drucksachen 16/11606, 16/12143) . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 18:

a) Große Anfrage der Abgeordneten JosefPhilip Winkler, Volker Beck (Köln), KaiGehring, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Situation in deutschen Abschiebehaft-anstalten(Drucksachen 16/9142, 16/11384) . . . . . .

b) Beschlussempfehlung und Bericht des In-nenausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Sevim Dağdelen, WolfgangNešković, Petra Pau, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion DIE LINKE: Grund-sätzliche Überprüfung der Abschie-bungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagenund der Inhaftierungspraxis in Deutsch-land(Drucksachen 16/3537, 16/12020) . . . . . .

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . .

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . .

Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Henry Nitzsche (fraktionslos) . . . . . . . . . . . .

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 19:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Einlagensicherungs- undAnlegerentschädigungsgesetzes und an-derer Gesetze(Drucksache 16/12255) . . . . . . . . . . . . . . .

22853 C

22853 D

22854 B

22854 B

22854 C

0000 A22855 C

22856 C

22858 A

22859 B

22861 A

22862 A

22863 A

b) Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler,Hans-Michael Goldmann, Dr. HermannOtto Solms, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der FDP: Reform der Anle-gerentschädigung in Deutschland(Drucksache 16/11458) . . . . . . . . . . . . . .

c) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-nanzausschusses zu dem Antrag der Abge-ordneten Nicole Maisch, Dr. GerhardSchick, Cornelia Behm, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucherschutz aufden Finanzmärkten stärken(Drucksachen 16/11205, 16/12184) . . . . .

Tagesordnungspunkt 20:

Antrag der Abgeordneten Michael Kauch,Joachim Günther (Plauen), Horst Meierhofer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derFDP: Nachtstromspeicherheizungen nichtverbieten, sondern modernisieren – Chan-cen für erneuerbare Energien und für denKlimaschutz nutzen(Drucksache 16/11193) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Rainer Fornahl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 21:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurStärkung der Sicherheit in der Informa-tionstechnik des Bundes(Drucksachen 16/11967, 16/12225) . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 22:

Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,Monika Knoche, Heike Hänsel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Öf-fentlich finanzierte Pharmainnovationenzur wirksamen Bekämpfung von vernach-lässigten Krankheiten in den Entwick-lungsländern einsetzen(Drucksache 16/12291) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Kretschmer (CDU/CSU) . . . . . . . . .

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22863 A

22863 A

22863 C

22863 D

22864 D

22866 A

22866 D

22867 C

22868 C

22868 C

22870 A

22870 A

22871 B

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VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Karl Addicks (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 23:

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen undJugend zu dem Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und der SPD: BürgerschaftlichesEngagement umfassend fördern, gestaltenund evaluieren(Drucksachen 16/11774, 16/12202) . . . . . . . .

Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Elke Reinke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . .

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 24:

Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert,Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Um-weltberichterstattung in die Gemeinschafts-diagnose und Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung aufnehmen(Drucksache 16/11649) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Berg (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 25:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung arzneimittelrechtlicher und an-derer Vorschriften(Drucksache 16/12256) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . .

22872 D

22874 A

22874 D

22876 A

22877 A

22877 B

22878 B

22879 A

22879 C

22880 C

22881 A

22881 B

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22883 A

22883 C

22884 A

22884 D

22885 A

22886 C

22887 C

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 26:

Erste Beratung des von den AbgeordnetenVolker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk,Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurErgänzung des Lebenspartnerschaftsgeset-zes und anderer Gesetze im Bereich desAdoptionsrechts (LPartGErgG AdoptR)(Drucksache 16/5596) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 27:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurAnordnung des Zensus 2011 sowie zur Än-derung von Statistikgesetzen(Drucksache 16/12219) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Maik Reichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 28:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Grundgesetzes (Artikel 87 d)(Drucksache 16/12280) . . . . . . . . . . . . . .

b) Erste Beratung des von den Fraktionen derCDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Änderungluftverkehrsrechtlicher Vorschriften(Drucksache 16/12279) . . . . . . . . . . . . . .

22888 B

22889 B

22890 A

22891 C

22891 C

22892 A

22892 D

22893 C

22894 B

22895 B

22895 B

22896 C

22897 C

22898 C

22898 D

22899 C

22899 C

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 IX

c) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Errichtung eines Bundesauf-sichtsamtes für Flugsicherung und zurÄnderung und Anpassung weitererVorschriften(Drucksache 16/11608) . . . . . . . . . . . . . . .

Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Norbert Königshofen (CDU/CSU) . . . . . . . . .

Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . .

Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Jan Mücke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 29:

Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zudem Übereinkommen vom 30. Mai 2008über Streumunition(Drucksache 16/12226) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Hans Raidel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . .

Andreas Weigel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 30:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurNeuregelung der abfallrechtlichen Pro-duktverantwortung für Batterien undAkkumulatoren(Drucksachen 16/12227, 16/12301) . . . . .

b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN: Schadstoffbelas-tung durch Batterien begrenzen(Drucksache 16/11917) . . . . . . . . . . . . . . .

Michael Brand (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . .

Gerd Bollmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . .

22899 D

22900 A

22900 C

22901 B

22902 B

22903 B

22904 C

22905 D

22906 D

22908 B

22908 C

22910 B

22911 C

22912 C

22913 B

22914 D

22914 D

22915 A

22916 B

22917 B

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . .

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tagesordnungspunkt 39:

e) Erste Beratung des von der Bundesregie-rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Gesetzes zur Er-richtung einer „Stiftung Denkmal fürdie ermordeten Juden Europas“(Drucksache 16/12230) . . . . . . . . . . . . . .

Zusatztagesordnungspunkt 6:

Antrag der Abgeordneten Volkmar UweVogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W.Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenErnst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortset-zung eines Erfolgsprogramms(Drucksache 16/12284) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . .

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Regelung desDatenschutzaudits und zur Änderung da-tenschutzrechtlicher Vorschriften

– Beschlussempfehlung und Bericht zu derUnterrichtung: Tätigkeitsbericht 2005 und2006 des Bundesbeauftragten für den Da-tenschutz und die Informationsfreiheit – 21. Tätigkeitsbericht –

(Tagesordnungspunkt 13 a und b)

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Faire Wettbewerbsbedingungenfür Öffentlich Private Partnerschaften schaf-fen (Tagesordnungspunkt 15)

22917 D

22918 B

22919 B

22919 C

22919 D

22921 A

22921 C

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X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Michael Bürsch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . .

Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungder Beschlussempfehlung und des Berichts:Pakistan und Afghanistan stabilisieren – Füreine zentralasiatische regionale Sicherheits-konferenz (Tagesordnungspunkt 16)

Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . .

Detlef Dzembritzki (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . .

Hellmut Königshaus (FDP) . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . .

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderungdes Strafgesetzbuches – Anhebung derHöchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen(Tagesordnungspunkt 17)

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . .

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Ulrich Maurer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desEinlagensicherungs- und Anlegerentschä-digungsgesetzes und anderer Gesetze

22922 A

22923 A

22923 C

22924 D

22925 A

22925 D

22926 A

22927 D

22929 C

22930 C

22931 B

22932 B

22933 A

22933 C

22934 C

22935 A

22935 C

– Antrag: Reform der Anlegerentschädi-gung in Deutschland

– Beschlussempfehlung und Bericht: Ver-braucherschutz auf den Finanzmärktenstärken

(Tagesordnungspunkt 19 a bis c)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . .

Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . .

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung derSicherheit in der Informationstechnik desBundes (Tagesordnungspunkt 21)

Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Errichtung einer „StiftungDenkmal für die ermordeten Juden Europas“(Tagesordnungspunkt 39 e)

Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . .

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . .

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . .

Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Antrags: Programm „Stadtumbau Ost“ –Fortsetzung eines Erfolgsprogramms (Zusatz-tagesordnungspunkt 6)

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) . . . . . . . . . .

22936 D

22937 C

22938 A

22938 C

22939 B

22940 D

22942 A

22942 D

22943 B

22944 A

22946 A

22946 C

22947 B

22947 C

22947 D

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 XI

Ernst Kranz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22948 D

22950 C

Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . .

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22951 C

22953 A

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22711

(A) (C)

(B) (D)

211. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen ei-

nige Änderungen in der Tagesordnung mitteilen und da-vor noch einen kurzen Wahlvorgang durchführen.

Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der KollegeDr. Carl-Christian Dressel anstelle des KollegenDr. Hans-Ulrich Krüger Mitglied im Gremium nachArt. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes werden. Sind Sie da-mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dannist der Kollege Dressel zum Mitglied dieses Gremiumsgewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und der SPD:Kinder, Jugendliche, Familien stärken – Kon-sequenzen nach dem Amoklauf(siehe 210. Sitzung)

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren(Ergänzung zu TOP 39)a)Erste Beratung des von der Bundesregierung

eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zurRegelung der Verständigung im Strafverfah-ren

– Drucksache 16/12310 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

b)Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle,Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der FDP

Maßnahmen zur effektiven Regulierung derFinanzmärkte– Drucksache 16/10876 –

Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

c)Beratung der Unterrichtung durch die DeutscheWelle

Zweite Fortschreibung der Aufgabenpla-nung der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mitPerspektiven für 2010 bis 2013

und

Zwischenevaluation 2008

– Drucksache 16/11836 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

d)Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Bericht der Bundesregierung zur Mitnah-mefähigkeit von beamten- und soldaten-rechtlichen Versorgungsanwartschaften

– Drucksache 16/12036 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-sprache(Ergänzung zu TOP 40)

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeitzu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-desregierung

– Drucksache 16/12282 –

Redetext

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22712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) (C)

(B) (D)

Präsident Dr. Norbert Lammert

ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derFDP:

Umsetzung des Beschlusses der EU inDeutschland für einen ermäßigten Mehrwert-steuersatz auf Dienstleistungen

ZP 5 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen

– Drucksache 16/12303 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkmarUwe Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. KlausW. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenErnst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPD

Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortsetzungeines Erfolgsprogramms

– Drucksache 16/12284 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenChristian Ahrendt, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Hermann Otto Solms, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Notleidenden Unternehmen Sanierungschan-cen durch effizientere Gestaltung der gesetz-lichen Regelungen im Insolvenzplanverfahrengeben

– Drucksache 16/12285 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten WernerDreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. DagmarEnkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKE.

Sicherheit und Zukunft – Initiative für ein so-zial gerechtes Antikrisenprogramm

– Drucksache 16/12292 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem

Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer,Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP

Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten,Rechtssicherheit schaffen – Notwendige Be-dingungen für die Sinnhaftigkeit eines Pro-jekts „Umweltgesetzbuch“

– Drucksachen 16/9113, 16/10393 –

Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)Dr. Matthias Miersch Horst Meierhofer Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl

ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales(11. Ausschuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenDr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, ChristianAhrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall derZuverdienstgrenzen

– Drucksachen 16/8542, 16/12311 –

Berichterstattung:Abgeordneter Anton Schaaf

ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Lebensmittel- und Futter-mittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften

– Drucksache 16/8100 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-cherschutz (10. Ausschuss)

– Drucksache 16/12315 –

Berichterstattung:Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Dr. Marlies Volkmer Hans-Michael Goldmann Karin Binder Ulrike Höfken

Dabei soll wie immer von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der ursprünglich ohne Debatte vorgesehene Tagesord-nungspunkt 39 e soll nach dem Tagesordnungspunkt 30aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 12 und31 c werden abgesetzt.

Schließlich mache ich auf drei nachträgliche Aus-schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:

Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie(9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden.

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22713

(A) (C)

(B) (D)

Präsident Dr. Norbert Lammert

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder-nisierung von Verfahren im patentanwaltli-chen Berufsrecht

– Drucksache 16/12061 – überwiesen:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demVerteidigungsausschuss (12. Ausschuss) zur Mitbera-tung überwiesen werden.

Beratung des Antrags der Abgeordneten RainderSteenblock, Jürgen Trittin, Manuel Sarrazin, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Zwei Jahre Europa-Vereinbarung – Bundesre-gierung muss ihre Verpflichtungen unverzüg-lich vollständig erfüllen

– Drucksache 16/12109 – überwiesen:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss

Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich demAusschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zurMitberatung überwiesen werden.

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE

Gewerkschaften in der Türkei stärken

– Drucksache 16/11248 – überwiesen:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Auch hier stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist dasso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April2009 in London

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung 90 Minuten vorgesehen. – Darüber besteht offen-kundig Einvernehmen und ist damit so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er-hält nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aus-

wirkungen der Finanzmarktkrise haben die Weltwirt-schaft – wir spüren das jeden Tag – mittlerweile voll er-fasst. Überall gehen Investitionen und Produktionzurück. Die Arbeitslosigkeit steigt. Der InternationaleWährungsfonds und die Weltbank erwarten für diesesJahr bestenfalls weltweit eine Stagnation, wahrschein-lich sogar einen Rückgang der Weltwirtschaftsleistung.Von dieser Entwicklung sind alle Wirtschaftsräume derWelt betroffen. Kein Land kann sich davon abkoppeln.Dies stärkt eben auch das Bewusstsein für die Notwen-digkeit gemeinsamer Antworten.

Das Motto heißt also Kooperation statt Abschottung.Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zuBeschäftigung zu kommen. Wir alle erleben in unsereninternationalen Kontakten, dass diese Erkenntnis Schrittfür Schritt Eingang in konkretes Handeln findet. Dieswar so bei den Gipfeltreffen der vergangenen Wochenund Monate, und ich hoffe, dies wird auch bei dem an-stehenden EU-Gipfel heute und morgen und bei demG-20-Gipfel am 1. und 2. April in London so sein.

Die Bundesregierung setzt sich mit aller Kraft dafürein, diese Chance zum gemeinsamen Handeln zu nutzen.Wir müssen dabei zwei Fragen in den Mittelpunkt stel-len. Erste Frage: Wie können wir unsere nationalenMaßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Fi-nanzkrise noch besser abstimmen und bündeln, damitdie in den einzelnen Staaten getroffenen Maßnahmensich nicht gegenseitig behindern, sondern befördern; anwelchen Stellen benötigen wir dazu gemeinsame europäi-sche Regeln; gibt es gemeinsame europäische Projekte,die wir jetzt vorziehen oder zusätzlich durchführen kön-nen, die uns in Europa hinsichtlich unserer Innovations-kraft wirklich voranbringen? Genau darüber werden wirheute und morgen sprechen. Das Motto des Rates mussund sollte lauten: Wir meistern die Krise gemeinsam,und wir legen in dieser Krise den Grund, um aus ihr alsEuropäische Union dauerhaft gestärkt hervorzugehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Die zweite Frage, die wir behandeln, ist: Was müssenwir tun, um zu verhindern, dass eine solche Krise sich inZukunft wiederholt? Dieses Thema kann nur im globa-len Zusammenhang betrachtet werden. Deshalb wird esim Vordergrund des zweiten Weltfinanzgipfels AnfangApril in London stehen.

Es gibt beim Europäischen Rat weitere Themen, vondenen ich heute nur eines kurz anreißen möchte, nämlichdie Aussagen zur Vorbereitung der Klimakonferenz inKopenhagen. Wir haben neben den Finanz- und Wirt-schaftsmaßnahmen in diesem Jahr einen entscheidendeninternationalen Schritt zu meistern: die Erarbeitung einesPost-Kioto-Abkommens, also eines Folgeabkommensfür das Kioto-Protokoll. Die entsprechende Konferenzwird Ende des Jahres in Kopenhagen stattfinden. Aber

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22714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) (C)

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

schon heute ist absehbar, dass wir sowohl den Gipfel inLondon als auch das G-8- und G-5-Treffen – also dasTreffen der G 13, Stichwort: Heiligendamm-Prozess –im Sommer nutzen müssen, um die Weichen zu stellen,damit die Umweltminister Ende des Jahres auch wirklichzu belastbaren Ergebnissen kommen. An diesem Punktwird sich genauso wie an der Frage einer Finanzmarkt-architektur zeigen, ob die Welt bereit ist, auf die globa-len Fragen auch globale Antworten zu geben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich füge hinzu, dass Europa sich seiner Aufgabe be-wusst ist, hier eine Führungsrolle einzunehmen. Ich willallerdings auch sagen, dass wir unser Licht nicht dau-ernd unter den Scheffel stellen sollten. Die EuropäischeUnion ist die einzige Staatengruppe, die klare Zusagengemacht hat, was die Reduktionsziele anbelangt. Wirsind natürlich bereit, den Entwicklungsländern in Fragendes Klimaschutzes zu helfen. Aber schon jetzt alle An-gaben zu machen, bevor zum Beispiel die VereinigtenStaaten von Amerika überhaupt ein Ziel für die mittlereSicht – sagen wir für 2020 – erarbeitet haben, das halteich verhandlungstaktisch für falsch. Wir können als Eu-ropäer das Problem nicht alleine lösen, aber wir wollenVorreiter sein; das sage ich hier zu.

Meine Damen und Herren, das Zusammenwachsender europäischen Volkswirtschaften im gemeinsamenBinnenmarkt ist die entscheidende Grundlage für Wohl-stand und Wachstum unseres Kontinents. Jeder Mitglied-staat handelt heute mit all seinen EU-Partnern mehr alsmit allen anderen Ländern außerhalb der EuropäischenUnion. Die natürliche Folge ist, dass wir aufs Engsteverflochten sind und dass sich jede Maßnahme in einemLand natürlich sofort auf die Situation in allen anderenMitgliedstaaten auswirkt.

Deshalb ist es zwingend notwendig, dass wir uns seitBeginn der Krise laufend und intensiv im Kreis der Mit-gliedstaaten – bei den Finanzministern, bei den Außen-ministern, auf der Ebene der Staats- und Regierungs-chefs – abstimmen. Der französische Präsident und ichhatten deshalb Anfang März zu einem Sondertreffen ein-geladen. Es ist richtig, dass wir im Mai noch einmal zueinem Sondertreffen der Europäischen Union zusam-menkommen, um uns über die Beschäftigungschancenin der Krise auszutauschen.

Wir haben beim Rat im Dezember, also beim zurück-liegenden Rat, innerhalb der Mitgliedstaaten mit derKommission abgestimmt, dass wir unsere nationalenKonjunkturpakete koordinieren. Die Europäische Unionhat für 2009 und 2010 einen Konjunkturimpuls vonüber 400 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, ein-schließlich der automatischen Stabilisatoren. Das sind3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EuropäischenUnion. Deutschland hat daran mit 80 Milliarden Euro ei-nen wesentlichen Anteil. Unser Beitrag ist ausweislichder Zahlen der Kommission mit 4,7 Prozent des Brutto-inlandsprodukts für die Jahre 2009 und 2010 beziffert.Das heißt, wir sind in der Spitzengruppe. Wir leistenÜberdurchschnittliches. Ich finde das richtig, weil wirals Exportnation natürlich ein Interesse daran haben,dass die Weltwirtschaft wieder auf die Beine kommt.

Wir können dies selbstbewusst sagen und deutlich ma-chen; das halte ich für ganz wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Unsere Maßnahmen fügen sich in das ein, was die Eu-ropäische Kommission vorgegeben hat. Sie sind Anreizefür zusätzliche Investitionen in Bildung und Forschung,in Infrastruktur und in Klimaschutz. Wir helfen Unter-nehmen, die aufgrund der Finanzmarktkrise keine Kre-dite bekommen, mit unserem Bürgschaftsprogramm.Wir stärken die private Nachfrage durch eine Senkungvon Steuern und Abgaben, und wir sichern Beschäfti-gung, zum Beispiel durch die Verlängerung der Bezugs-dauer von Kurzarbeitergeld. Das ist im Übrigen ein Mo-dell, das jetzt in vielen europäischen StaatenNachahmung findet, weil es eine wirkliche Brücken-funktion im Zusammenhang mit der Krise erfüllt. Wirerleben das jeden Tag in Deutschland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir folgen damit auch komplett der sogenannten Lissa-bon-Strategie, also der Wachstumsstrategie der Europäi-schen Union, die traditionell Gegenstand der Beratungendes Frühjahrsrates ist.

Elemente unserer Strategie sind Maßnahmen zur För-derung der Innovationsfähigkeit und zum Bürokratieab-bau, der in Europa glücklicherweise vorankommt, sowieweitere Schritte auf dem Weg zur kohlenstoffarmenWirtschaft. Über zusätzliche Anreize durch gemeinsameeuropäische Projekte werden wir auf diesem Rat disku-tieren. Deutschland hat allerdings deutlich gemacht, dasswir – wir werden nur zustimmen, wenn dies Eingang indie Beschlüsse findet – zusätzliche Maßnahmen nur ak-zeptieren können, wenn sie 2009 oder 2010 wirklichsubstanziell begonnen werden; denn es macht keinenSinn, Geld für die Jahre 2013, 2014 oder 2015 auszuge-ben, weil die Krise dann – davon gehen wir aus – längstüberwunden sein wird. Das muss sicher sein. Dafür tre-ten wir ein.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Es geht darum, dass wir jetzt nicht schon wieder dienächsten Konjunkturmaßnahmen fordern.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!)

Ich halte davon überhaupt nichts. Die jetzigen Maßnah-men müssen wirken;

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

sie müssen ihre Wirkung entfalten können. Ein Überbie-tungswettbewerb von Versprechungen wird mit Sicher-heit keine Ruhe in die Entwicklung bringen. Deshalbhalte ich es für außerordentlich gefährlich, wenn jetzttransatlantische Gegensätze aufgebaut werden. Ich bindem amerikanischen Präsidenten sehr dankbar dafür,dass er seinerseits gesagt hat, dass es sich hierbei umeine künstliche Diskussion handelt. Wir brauchen psy-chologisch gute Signale von London und keinen Wettbe-werb um nichtrealisierbare Konjunkturpakete. Wir ha-ben unseren Beitrag jetzt erst einmal geleistet, und dermuss wirken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22715

(A) (C)

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Deutschland ist in einer guten Lage, weil wir in denletzten Jahren unsere Staatsfinanzen konsolidiert haben.Dadurch haben wir haushaltspolitische Spielräume ge-wonnen, um in dieser Krise zu agieren. Es ist ganz wich-tig, dass wir auf dem Rat, der heute und morgen stattfin-det, das Signal setzen, dass wir nach der Krise zurnachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik zurückkehren.Das ist aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregie-rung unbedingt erforderlich, um sicherzustellen, dassVertrauen in die Märkte hineinkommt und das Vertrauender Bürger wächst; es wäre falsch, wenn die Angst vorzukünftigen Steuererhöhungen schon heute das Kon-sumverhalten bestimmen würde.

Deshalb ist es ein elementarer Fortschritt, dass es inder Föderalismuskommission II gelungen ist, im Grund-gesetz eine Schuldenbremse zu verankern, über die wirnächste Woche debattieren werden. Ich möchte michganz herzlich bei Herrn Struck und bei Herrn Oettingerdafür bedanken, dass sie diese Föderalismuskommissionzum Erfolg geführt haben.

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir hätten vielleicht kein Ergebnis bekommen, wenn dieZeiten ganz normal gewesen wären. Dass wir in dieserKrise die Kraft aufgebracht haben, diese Maßnahmen zuvereinbaren, ist etwas, was international sehr wohl regis-triert wird; es findet allerdings auf internationaler Ebeneleider noch nicht so viele Nachahmer, wie ich mir daswünschen würde. Deutschland kann und sollte hierfürwirklich werben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden uns auf dem Europäischen Rat über dieverschiedenen Maßnahmen austauschen. Wir werdennoch einmal deutlich machen, dass die Abschottung vonMärkten oder die Diskriminierung im europäischen Bin-nenmarkt kontraproduktive Verhaltensweisen sind – dassind die falschen Antworten auf die Krise – und dass esin dieser Krise nicht um Subventionswettläufe gehenkann, weil auch das das Vertrauen zerstört. Das heißt,wir müssen die grundlegenden Ordnungsprinzipieneinhalten, die glücklicherweise durch die EuropäischeUnion vorgegeben sind. Die Europäische Kommissionist die Hüterin der Verträge. Die Regeln des europäi-schen Binnenmarktes haben sich in den vergangenenJahrzehnten bewährt, und sie haben auch in der KriseGültigkeit.

Allerdings sage ich auch: Die Kommission tut gut da-ran, wenn auch sie auf diese krisenhafte Situation rea-giert. Das gilt für Bearbeitungszeiträume, und das giltzum Teil für Lockerungen im Beihilferecht. Ich sageausdrücklich, dass dies befristet sein sollte.

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Telekom!)

Das gilt für Ausschreibungsmöglichkeiten, die beschleu-nigt werden müssen. Dabei müssen die Flexibilitätsin-strumente, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt vor-sieht, genutzt werden.

Ein ganz wesentlicher Punkt, den Deutschland imEcofin-Rat schon eingebracht hat und auf dem Europäi-

schen Rat noch einmal einbringen wird, ist, dass wir si-cherstellen müssen, dass die prozyklischen Wirkungendes Basel-II-Abkommens – verständlicher gesagt: dieTatsache, dass sich die Kreditbedingungen in der Kriseimmer weiter verschärfen, wenn eine Branche in einerschwierigen Situation ist – befristet ausgesetzt werden,damit wir nicht im Frühjahr oder Sommer in eine Kredit-klemme geraten, die sozusagen durch Basel II selbst er-zeugt ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir werden sehr dafür kämpfen, das durchzusetzen. Daskann mehr wert sein als manch weiteres Konjunkturpro-gramm. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass unsereamerikanischen Partner Basel II nie vollständig umge-setzt haben und dass es dadurch einen extremen Wettbe-werbsunterschied gibt. Das können wir uns in der jetzi-gen Situation nicht leisten.

Wir werden ein klares Bekenntnis zum Stabilitäts-und Wachstumspakt abgeben. Wir werden von deut-scher Seite die Kommission ermuntern, die öffentlichenHaushalte in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr sorgfäl-tig zu überprüfen und Wert darauf zu legen, dass nachder Krise ein Ausweg zu soliden Finanzen gefundenwird. Das Beispiel des europäischen Stabilitäts- undWachstumspakts zeigt ebenso wie die Regeln des Bin-nenmarktes, dass Europa uns einen gemeinsamen Hand-lungs- und Orientierungsrahmen bietet, den wir natürlichnutzen wollen und der uns zu einem kohärenten und ge-meinschaftlichen Verhalten und Handeln bringt.

Wir müssen konstatieren, dass einige Mitgliedstaaten– nicht nur Unternehmen, nicht nur Banken, sondernauch Mitgliedstaaten – in eine Notsituation geraten sind.Diese Mitgliedstaaten können – das haben wir immerwieder deutlich gemacht – auf unsere Solidarität zählen.Wir haben uns bereits im Dezember des vergangenenJahres darauf verständigt, dass wir versuchen, die Struk-turfonds insbesondere für die mittel- und osteuropäi-schen Länder schneller zur Umsetzung zu bringen.Auch hier ist die Kommission gefordert, bürokratischeHemmnisse abzubauen. Es liegt nicht immer nur an denMitgliedstaaten, sondern zum Teil auch an der Möglich-keit, diese Strukturfonds überhaupt anzuwenden. DenMitgliedstaaten, die finanziell in Not geraten sind, wer-den wir helfen. Wir haben dies bereits an den BeispielenUngarn und Lettland gezeigt; wenn es andere Mitglied-staaten trifft, wird das auch dort der Fall sein.

Wir haben seitens der Bundesregierung verabredet,dass wir gemeinsam mit dem Internationalen Währungs-fonds und der Europäischen Entwicklungsbank darübersprechen, wo und wie wir bei der Restrukturierung derBankenlandschaft in den mittel- und osteuropäischenLändern eventuell Hilfe leisten können. Denn die mittel-und osteuropäischen Länder sind für uns ein wichtigerExportmarkt. Wenn dort die Kreditvergabe und die Fi-nanzkreisläufe völlig zum Erliegen kommen, ist dasnicht nur ein Schaden für diese Länder, sondern dannzeigt sich, dass es auch in unserem Interesse ist, dass wirdort tätig werden. Deshalb wollen wir durchaus helfen.

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Aber wir müssen – auch in Richtung der Länder, diesich im Augenblick mit politischen Entscheidungen lei-der sehr schwer tun – sagen: Die wesentliche Verantwor-tung liegt bei den Mitgliedstaaten bzw. Ländern, denenwir helfen. Ich denke, dass wir zum Beispiel in Bezugauf die Ukraine alles unternehmen sollten, damit die not-wendigen Handlungen dort erfolgen und das Land nichtimmer weiter in Schwierigkeiten gerät.

Meine Damen und Herren, neben dem aktuellen Kri-senmanagement werden wir heute und morgen auch be-raten, welche Lehren wir aus der Entstehung der derzei-tigen Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen. Denn es mussuns gelingen, derartige Krisen in der Zukunft zu vermei-den. Es ist ganz offensichtlich, dass der bisherige Fi-nanzmarktrahmen nicht mit der Globalisierung der Fi-nanzmärkte Schritt gehalten hat. Es gibt dafür eineVielzahl von Ursachen: Regelungsdefizite und völligfalsch gesetzte Anreize. Das alles hat zu einer verhäng-nisvollen Kettenreaktion geführt, die die gesamte Welt-wirtschaft in diese Krise gestürzt hat. Zur Wahrheit ge-hört die Tatsache – es macht keinen Sinn, darumherumzureden –, dass manche Fehlanreize und Rege-lungsdefizite zum Teil politisch unterstützt und nicht be-kämpft wurden. Die Politik kann sich an dieser Stellenicht herausreden und sagen, dass sie von nichts gewussthat.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Deutschland gehörte zu denen, die in diesem Zusam-menhang vieles angemahnt haben.

(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)

– Auch wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen,

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ist auch nicht so wichtig!)

kann ich Ihnen nur sagen, dass es so war. Aber Sie wis-sen es offenbar besser.

Meine Damen und Herren, was die Dimension derKrise, die wir derzeit erleben, angeht, stelle ich fest: Esgeht um nicht mehr und nicht weniger als um den Auf-bau einer neuen, noch nicht existierenden internationa-len Finanzmarktverfassung. Dies steht auch im Vor-dergrund des G-20-Treffens Anfang April dieses Jahres.

Der erste Weltfinanzgipfel im November vergange-nen Jahres in Washington war ein Meilenstein. Dortwurde zum ersten Mal ein Aktionsplan zur Neugestal-tung der Finanzmärkte verabredet. Dieser Aktionsplanist sehr konkret und umfasst knapp 50 Punkte. Wir ha-ben uns damals darauf geeinigt, den wirtschaftlichenOrdnungsrahmen den globalen Bedingungen anzupassenund für eine lückenlose Regulierung bzw. Aufsicht derFinanzmärkte zu sorgen.

Der Londoner Gipfel wird natürlich ein Stück weit alsBeweis dafür dienen, ob wir wirklich in der Lage sind,das, was wir uns vorgenommen haben, umzusetzen. Umdieses Ziel zu erreichen, habe ich die europäischen G-20-Teilnehmer eingeladen, um sich auf eine gemeinsameeuropäische Position zu einigen. Wir werden das auf

dem Europäischen Rat noch einmal bekräftigen. Die Fi-nanzminister haben erhebliche Vorarbeiten geleistet. Ichglaube, man kann sagen, dass die Fortschritte sichtbarsind, dass wir aber noch nicht am Ende dessen sind, waswir in London erreichen wollen.

Wir haben uns darauf verständigt, dass Orte, Akteureund Produkte der Transparenz und Überwachung bedür-fen. Gerade im Hinblick auf Steueroasen sage ich, dasses richtig und unabdingbar ist, Ross und Reiter beim Na-men zu nennen. Allein diese Androhung hat bereits dazugeführt, dass sich viele Staaten, insbesondere im europäi-schen Raum, zu Wort gemeldet und dazu beigetragen ha-ben, dass die OECD-Standards anerkannt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut, HerrSteinbrück! – Gegenruf des Abg. VolkerKauder [CDU/CSU]: Sehr gut? Das ist ein Rü-pel! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Struck[SPD]: Das musst du gerade sagen!)

Ich hoffe, dass uns in London ein wesentlicher Schrittgelingt. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind.

Deutschland wird auf jeden Fall Wert darauf legen– darüber habe ich neulich auch mit dem französischenPräsidenten gesprochen –, dass auf dem Londoner Gip-fel die Frage „Welche Lehren ziehen wir aus dieserKrise?“ in den Mittelpunkt gerückt wird und man sichnicht nur mit aktuellen Fragen der Krisenbekämpfungbeschäftigt. Das halte ich für sehr wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Ursa-chen dieser Krise vergegenwärtigen, stellen wir fest: InWahrheit ist sie das Ergebnis langfristiger Entwicklun-gen, die immer wieder zugelassen haben, dass Länderüber ihre Verhältnisse gelebt haben. Deshalb halte ichdie deutsche Schlussfolgerung, eine Schuldenbremse zuverankern, auch wenn dieser Weg mühevoll wird undviele schon heute besorgt sind, welche Folgen sie in dennächsten Jahren für unsere Haushalte haben wird, fürsehr wichtig.

(Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/CSU])

Wir können nicht so weitermachen wie bisher und so-zusagen von Krise zu Krise eilen. Wenn wir uns die Ver-gangenheit vor Augen führen, stellen wir fest: Ende der90er-Jahre haben wir eine schwere Asien-Krise erlebt.Anfang des 21. Jahrhunderts gab es die sogenannteNew-Economy-Krise. Jetzt befinden wir uns in einernoch schlimmeren weltweiten Krise. Wir müssen allestun – das beschäftigt mich sehr, weil wir darüber kontro-verse Auseinandersetzungen führen und manchmal viel-leicht auch als diejenigen dastehen, die nicht bereit sind,so viel auszugeben wie andere –, damit wir nicht gera-dezu gesetzmäßig in die nächste Krise laufen. Wir habeninzwischen drei große Krisen erlebt. Wenn die Mensch-heit daraus nicht die richtigen Lehren zieht, dann hat sienichts verstanden. Die Folgen wären wirklich schwer-wiegend.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel

Da unsere Aufgabe nicht nur darin besteht, Finanz-produkte und Finanzmärkte zu regulieren, habe ich vor-geschlagen, dass wir gemeinsam eine Charta des nach-haltigen Wirtschaftens entwickeln. Das hat bei deneuropäischen G-20-Teilnehmern große Zustimmung ge-funden. Ich hoffe, dass wir uns dies in London vorneh-men können.

Nachhaltiges Wirtschaften heißt, Prinzipien festzule-gen, die verhindern, dass wir dauerhaft über unsere Ver-hältnisse leben und dass wir Ressourcen in Anspruchnehmen, die wir nicht regenerieren können. Nur wennsich die Welt gemeinsam auf einen solchen Anspruchverständigt, wird es möglich sein, in der Zukunft Krisenzu verhindern.

Globalisierung bedeutet, dass wir uns das nicht al-leine vornehmen. Jedes Land muss natürlich seinen Bei-trag leisten. Globalisierung bedeutet aber eben auch,dass wir miteinander, international, verabreden müssen,dass keiner von diesen Standards abweicht. Es reichtnicht, zu sagen, dass kein Land eine Steueroase seindarf. Darüber hinaus müssen sich alle zum nachhaltigenWirtschaften verpflichten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Ich bin also der Meinung, dass wir alle Möglichkeitenhaben, statt Angst und Ohnmacht Zuversicht und aktivesHandeln zu gestalten. Es muss der Wille dazu da sein.Ich sage für die Bundesregierung, dass dieser Wille daist. Ich sage auch, dass wir mit unserer Erfahrung im60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland und mit über60 Jahren Erfahrung mit der sozialen Marktwirtschaft ei-nen Beitrag dazu leisten können. Das heißt, dass derStaat bereit ist, als Hüter der Ordnung aufzutreten, unddas heißt, dass sich Staaten in der globalen Welt gemein-sam darauf verständigen, Institutionen zu akzeptieren,die überwachen und kontrollieren, ob die Staaten die ge-meinsam verabschiedeten Prinzipien einhalten.

Die wesentliche Frage ist: Gibt es eine solche Bereit-schaft? Die europäischen Mitgliedstaaten kennen sichdamit aus. Sie haben Aufgaben an die EuropäischeKommission und an das Europäische Parlament abgege-ben. Es ist uns nicht immer leichtgefallen, aber es hat dieGrundlage dafür geschaffen, dass wir heute in der Euro-päischen Union gemeinschaftlich agieren können. DieserProzess muss sich vollziehen, auch auf der internationalenEbene. Wir werden mit unseren nationalen Erfahrungenmit der sozialen Marktwirtschaft und mit der Erfahrungaus der europäischen Zusammenarbeit unseren Beitragdazu leisten. Ich glaube, dass wir dazu die Unterstützungdieses Hohen Hauses haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst

der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Frak-tion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerinist in weiten Teilen so allgemein gehalten, dass man ihrnur zustimmen kann. Es ist kein Wunder, dass sie nichtwirklich konkret wurde. Würde sie konkret, dann würdeoffensichtlich, dass es in ihrer Regierungskoalition mehrStreit als Einigkeit gibt.

(Beifall bei der FDP)

Sie sagen, Sie glauben, dass Sie für Ihre Politik dieUnterstützung dieses Hohen Hauses haben. Der Glaubesoll bekanntlich Berge versetzen. Es ist aber mittlerweileoffensichtlich geworden, dass Sie sich nicht mehr einigsind.

Diese Regierungserklärung findet vor dem Hinter-grund eines Tiefpunkts in der Beziehung der Koalition,die die Bundesregierung trägt, statt. Am heutigen Tageist zu lesen, dass der Vorsitzende der sozialdemokrati-schen Partei gesagt hat, Merkels internationale Auftritteseien nicht glaubwürdig, wenn sie zulasse, dass im In-land Gesetze gegen die Steuerflucht blockiert würden.Er sagt außerdem, Merkel sei nur noch Geschäftsführe-rin der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, werin Europa einigen will, sollte wenigstens in der eigenenBundesregierung zur Einigkeit fähig sein.

(Beifall bei der FDP)

Nicht glaubwürdig, Schutzpatron der Steuerhinterzieher,nicht mehr Kanzlerin, sondern Geschäftsführerin: Wiesoll Deutschland nach außen Führung zeigen, wenn esnach innen nicht geführt wird?

(Beifall bei der FDP)

Wir haben schon zu Beginn dieser Krise in zahlrei-chen Debatten auch in diesem Hohen Hause festgestellt,dass wir uns im Grundsätzlichen – gerade auch was dieEuropapolitik angeht – einig sind. Die EuropäischeUnion hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise alsein Glücksfall erwiesen. Wenn es sie nicht schon längstgegeben hätte, dann hätte man sie spätestens jetzt erfin-den müssen. Kein europäisches Land wäre in der Lagegewesen, der Krise im Alleingang etwas entgegenzuset-zen. Ohne den Euro beispielsweise hätte die Finanzkriseschnell zur Währungskrise werden können mit fatalenFolgen für unsere Exportwirtschaft.

Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbankund ihre Orientierung an der Geldwertstabilität haben ih-ren Wert bewiesen. Es hat sich auch gezeigt, wie wichtigder gemeinsame Markt für Wohlstand und Stabilität inEuropa ist.

(Beifall bei der FDP)

Klar ist aber auch, und das wissen wir alle auch amheutigen Tage: Der Test ist noch nicht bestanden. DieEuropäische Union muss auch und gerade in der Krisegeschlossen und entschlossen handeln. Sie muss an ihrenGrundsätzen festhalten. Auch darin sind wir uns einig:Es darf keinen Rückfall in überwunden geglaubtes Den-ken, in Protektionismus, in Abschottungspolitik und na-türlich auch nicht in Subventionswettläufe geben.

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Dr. Guido Westerwelle

Deswegen ist Ihre Bemerkung, Frau Bundeskanzle-rin, angemessen und auch richtig, wenn Sie sagen, esdürfe keinen Wettlauf hinsichtlich der neuen schuldenfi-nanzierten Milliardenpakete in Europa geben. Darumgeht es aber nicht. Es geht nicht darum, dass wir inDeutschland noch ein Konjunkturpaket auflegen, das wirwiederum durch höhere Steuern oder höhere Schuldenfinanzieren, sondern es geht darum, dass in Deutschlandendlich strukturelle Veränderungen der Rahmenbedin-gungen vorgenommen werden müssen. Wir brauchenkein Konjunkturpaket, das wieder durch Schulden finan-ziert wird. Was wir jetzt brauchen, ist ein Strukturpa-ket, mit dem die Rahmenbedingungen so verändert wer-den, dass in Deutschland investiert wird, dass derMittelstand eine Chance hat, Arbeitsplätze zu schaffen,und dass die Menschen durch niedrigere Steuern undAbgaben wieder Lust auf Leistung haben können. Dasist die Aufgabe, die jetzt angegangen werden muss.

(Beifall bei der FDP)

Meine Damen und Herren, Sie sprechen von dereuropäischen Bankenaufsicht. Sie sagen zu Recht,dass es dafür in Europa Regeln geben muss. WelchenSinn macht es aber – an die Bundesregierung gefragt –,dass Sie auf europäischer Ebene eine Bankenaufsichtfordern, zu deren effektiver Gestaltung Sie im Inlandaber nicht fähig sind, weil Sie sich uneinig sind? In jederDebatte hören wir von den Kolleginnen und Kollegender Union – übrigens mit unserer Zustimmung –: DieBankenaufsicht muss neu organisiert werden. Die Zer-splitterung war ungesund. Das ist eine der Ursachen da-für, warum vieles passieren konnte.

Es geschieht jedoch nichts. Sie gehen an die Zersplit-terung der deutschen Bankenaufsicht nicht heran. Werdie deutsche Bankenaufsicht nicht effektiv gestaltenkann, dem wird man dies auch nicht auf europäischerEbene zutrauen, meine sehr geehrten Damen und Her-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP)

Was wir jetzt brauchen, sind strukturelle Veränderun-gen. Dazu zählen aus unserer Sicht neben dem großenThema eines gerechteren Steuersystems vor allen Din-gen auch der Abbau der Bürokratie und die Beseitigungvon Investitionshemmnissen. Das wäre ein Strukturpa-ket, das beschlossen werden müsste und das den Staatkeinen einzigen Euro kostet.

Dieses Strukturpaket könnte beispielsweise darauf ab-zielen, die ideologische Energiepolitik zu beenden, aufeinen vernünftigen Energiemix zu setzen und dafür zusorgen, dass auch in Deutschland moderne, saubere undeffiziente Kraftwerke gebaut werden können, die alteund schmutzige Kraftwerke ablösen. Wenn Sie das täten,wenn Sie endlich in der Energiepolitik die ideologischenBremsen Ihrer Politik lösen würden, dann könnten etwa40 Milliarden Euro private Mittel in den Wirtschafts-kreislauf fließen.

Sie sagen, die SPD verhindere dies. Das ist aber zuwenig. Sie führen unser Land. Jedenfalls ist dies das,was in dem Wort „regieren“ der Wortwurzel nach enthal-ten ist. Sie können sich nicht immer hinter der Aussage

verstecken, dass Sie sich nicht durchsetzen können. Esist in diesen Zeiten der Krise Ihre Aufgabe, unser Landstrukturell so zu verändern, dass wir eine echte Chancehaben, aus der Krise herauszukommen.

90 Prozent der Investitionen in Deutschland werdenvon Privaten getätigt. Sie können noch 1 000 Konjunk-turpakete des Staates beschließen, wenn Sie die Investi-tionsbedingungen für die Privaten nicht verbessern,

(Joachim Poß [SPD]: Tun wir doch!)

indem Sie die Bürokratie und die Ideologie in diesemLand endlich abschaffen.

(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Siehaben von nichts Ahnung und davon reich-lich!)

Wir wissen, dass 20 Milliarden Euro darauf warten, inInfrastruktur im Bereich der Energie investiert zu wer-den. Wir wissen beispielsweise auch, dass in die Flugha-feninfrastruktur ebenfalls 20 Milliarden Euro investiertwerden könnten. Die Meinung, Konjunkturpakete müss-ten für den Staat teuer sein, ist falsch. Jetzt müsstenStrukturpakete geschnürt werden. Die Chance der Krisekann man nutzen, indem man jetzt die strukturellen Ver-änderungen durchsetzt, die in Deutschland ohnehin drin-gend angegangen werden müssen; das ist überfällig.

(Beifall bei der FDP)

Da wir mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondernauch in Europa über die Steuerpolitik reden, ist es fürunsere Bürgerinnen und Bürger schon von einem gewis-sen Interesse, festzustellen, dass Sie die Harmonisie-rung des europäischen Steuerrechts in Deutschlandausschließlich so verstehen, dass wir in Richtung derSteuersätze der Länder harmonisieren, in denen sie hö-her als in Deutschland sind. Das ist keine Harmonisie-rung.

In der letzten Woche wurde auch durch unseren Fi-nanzminister beschlossen, dass die europäischen Länderermäßigte Mehrwertsteuersätze einführen können. 22 eu-ropäische Staaten machen davon Gebrauch. Anschlie-ßend haben Sie in Deutschland erklärt: Wir in Deutsch-land tun das aber nicht, weil wir das nicht wollen. –Damit vorenthalten Sie dem deutschen Mittelstand faireChancen. Den anderen geben Sie die Möglichkeit, Steu-ern zu senken, unseren Bürgern und unserem Mittelstandverweigern Sie das. Das ist unfair, meine sehr verehrtenDamen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der FDP)

Nicht alle anderen sind die Geisterfahrer in Europa,sondern wir sind es. Wir Deutschen sind in der Steuer-politik die Geisterfahrer in Europa;

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind es!)

denn 22 europäische Staaten in der Europäischen Union,also die überwiegende Mehrheit, gehen diesen Weg, denSie den deutschen Bürgerinnen und Bürgern verweigern.Das halten wir für falsch.

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Dr. Guido Westerwelle

Wer das Thema mit dem einfachen Wort „Steueroase“angeht, der macht es sich natürlich zu einfach. Natürlichmüssen wir die Steuerkriminalität und die illegaleSteuerflucht bekämpfen. Natürlich ist es richtig, dasswir auch in Europa und in der Welt die Regeln derOECD anwenden wollen.

(Peer Steinbrück, Bundesminister: Aha!)

– Herr Steinbrück, weil Sie gerade „Aha“ gerufen haben:Die Frage ist, ob man das mit der Peitsche tut bzw. in-dem man der Schweiz mit der Kavallerie gegen Indianerdroht. Sie können ja nicht einmal mit der Schweiz Frie-den halten.

(Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: Steueroasen ab-schaffen, Herr Westerwelle!)

Herr Steinbrück, Herr Finanzminister, ich muss Ihnenwirklich sagen: Diese Art und Weise des Umgangs mitunseren Nachbarländern ist eine schlicht undiplomati-sche Unverschämtheit. Das wird auch hier zu einemThema gemacht werden müssen. Das ist eine schlichteUnverschämtheit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Da hat er leider recht! – Dr. h. c. GerdAndres [SPD]: So ein Quatsch! – Weitere Zu-rufe von der SPD)

– Es ist sehr interessant, dass Sie das gutfinden.

(Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: Steueroasen-Guido!)

– Jetzt wurde gerade ein schöner Zwischenruf zur Steu-eroase gemacht. Ich will Ihnen das einmal wie folgt er-klären, Herr Kollege:

(Lachen bei der SPD)

Für den normalen Bürger ist in der Regel weniger dieOase, sondern vielmehr die Wüste drum herum das Pro-blem.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD)

Ich sage Ihnen: Dieselbe Energie, die Sie dafür aufwen-den, Steueroasen auszutrocknen, sollten Sie dafür auf-wenden, dass die deutsche Steuerwüste durch niedrigereSteuern endlich wieder fruchtbarer wird. Liebe Kollegin-nen und Kollegen der SPD, das ist das Mittel, das mananwenden sollte.

(Beifall bei der FDP – Kurt Bodewig [SPD]: Steuerhinterziehung als Steuerförderung!)

Hinterher höre ich bestimmt wieder von Ihnen: „Schade,dass wir bei euch nicht klatschen durften!“

(Heiterkeit bei der FDP)

Der entscheidende Punkt ist aber, Frau Bundeskanzle-rin: Statt dass Sie als Regierungschefin Deutschlands einWort der Diplomatie an unsere Nachbarn richten, sagenSie – ganz im Bild von Herrn Steinbrück bleibend –,man müsse Ross und Reiter nennen, mit der Peitschedrohen und die Kavallerie gegen die Indianer ins Feldschicken.

(Widerspruch bei der SPD)

Ich glaube, diese Art und Weise ist schlichtweg unver-antwortlich. Sie haben Ihren Kompass in der Regierungverloren. Sie sind zu einem wirklich kraftvollen undmachtvollen Führen in Europa nicht mehr fähig. DieseDebatte zeigt, dass Sie auch inhaltlich nicht mehr einigsind. Mittlerweile ist die Koalitionszerrüttung so weitfortgeschritten, dass deutsche Interessen auch auf inter-nationaler Ebene beschädigt werden.

(Kurt Bodewig [SPD]: Steuerhinterziehung ist kein Teil deutscher Interessen!)

Das ist schlecht für unser Land.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

(Lebhafter Beifall bei der FDP – Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: Das war der Wüsten-Guido!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Joachim

Poß das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol-

lege Westerwelle, ich freue mich, dass Sie für die Öf-fentlichkeit vernehmbar Ihre tiefe Sympathie für dieStaaten geäußert haben, die mit ihren Regelungen mitdafür sorgen, dass den ehrlichen deutschen Steuerzah-lern Milliarden entzogen werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi-derspruch bei der FDP)

Denn die Rechnung für diese systematische Steuerhin-terziehung zahlen die ehrlichen Steuerzahler in Deutsch-land. Dass Sie, der sich dem Vernehmen nach in der Fi-nanzszene der Schweiz gut auskennt, Herr Westerwelle,das so unverhohlen sagen, trägt sehr zur Klarheit in derdeutschen Öffentlichkeit bei. Wir haben in den nächstenTagen und Wochen einiges zu diskutieren. Dann wollenwir mal sehen, was die Umfragen ausweisen und wieviele Menschen wirklich wollen, dass ein solches sozial-schädliches Verhalten vom selbsternannten Oppositions-führer im Deutschen Bundestag unterstützt wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]:Schicken Sie doch die Kavallerie!)

Sie haben Ihre Sympathie erklärt. Offen geblieben istdabei Ihre inhaltliche Position

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuersenkungen!)

zu den vom Bundesfinanzminister und anderen aufge-worfenen Fragen bezüglich der Schweiz.

(Jörg van Essen [FDP]: Das hat er doch eben gesagt! Sie haben nicht zugehört!)

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Joachim Poß

– Nein. Er hat Sympathie für die Schweiz ausgedrückt,offenkundig auch für das übersteigerte Bankgeheimnisder Schweiz.

(Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch Unsinn! Sie haben nicht zugehört!)

Wie ich gehört habe, lassen Sie sich auch gerne von denProfiteuren dieser Steuerhinterziehung einladen, Vor-träge zu halten, Herr Westerwelle. Sie kennen sich alsowirklich aus.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber leider nicht so oft wie Herr Schröder, Herr Kollege!)

Darüber wird, wie gesagt, noch zu reden sein.

Sie sollten lieber über die Sache reden – nämlich überdie sozialschädlichen Steuerhinterzieher –, statt sich mitder Stilkritik an einem Regierungsmitglied aufzuhalten,dem man im Ergebnis attestieren muss, dass der Druck,der in den letzten Wochen und Monaten vornehmlich un-ter dem Einfluss der Finanzkrise aufgebaut wurde, zumErfolg geführt hat. In die sogenannten Steueroasen istschließlich Bewegung gekommen. Die Frage ist aber, obdas ausreicht, um weltweit und in Europa zu einem fai-ren Steuerregime zu kommen. Diese Frage muss hierbeantwortet werden.

(Beifall bei der SPD)

Nach allem, was man bisher erkennen kann, reichendie von der Schweiz und anderen angekündigten Schritteunseres Erachtens nicht aus. Darüber wird in der Sachezu reden sein. Das wird ein Thema auf dem nächstenTreffen – ich nehme an, das ist der sehr wichtige G-20-Gipfel – sein. Ich freue mich, dass sich die Frau Bundes-kanzlerin heute Morgen so uneingeschränkt zugunsteneiner Einschränkung dieser Steuerfluchtmöglichkeitenund gegen die Steueroasen geäußert hat, weil sie, wie wiralle, weiß, dass wir nur dann zu einer fairen Finanzmarkt-regulierung für die Zukunft kommen können, wenn dieinternationalen Fluchtpunkte des Geldes ausgetrocknetwerden.

(Beifall bei der SPD)

Aber dabei muss man glaubwürdig bleiben. Dann mussdie nationale Politik auch dem entsprechen, was auf dereuropäischen und der internationalen Ebene von uns ge-fordert ist. Deswegen herrscht bei uns ein solches Un-verständnis, dass aus der Fraktion des Koalitionspartnerseine Blockade in einer so zentralen Frage errichtet wird.Das erhöht nicht unsere internationale Glaubwürdig-keit.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. OskarLafontaine [DIE LINKE] und Jürgen Trittin[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Daher fordere ich den Koalitionspartner in aller Sach-lichkeit und Friedlichkeit

(Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Freund-schaft!)

– „Freundschaft“ ist ein so oft missbrauchtes Wort, FrauMerkel, wie Sie wissen – sowie in aller Freundlichkeitauf, diese Blockade aufzugeben; denn in der Tat stärkt

das weder unsere Glaubwürdigkeit im Innern noch un-sere internationale Glaubwürdigkeit im Kampf gegenSteueroasen.

International herrscht inzwischen eine große Überein-stimmung, was die Überschriften der notwendigenSchritte in der Finanzmarktregulierung und im Kampfgegen Steueroasen angeht. Glaubwürdig sind wir nur,wenn wir das auch national unterfüttern. Ich füge mitBlick auf manche Abstimmungen im Europäischen Par-lament hinzu: Auch die deutschen Europaabgeordnetensind im Rahmen der europäischen Rechtsetzung gefragt,sich der Einflussnahme und den Interessen der Finanzin-dustrie zu entziehen. Da reichen gefällige Formulierun-gen hier im Deutschen Bundestag für eine Partei nichtaus, wenn man sich dann bei der konkreten Entschei-dung, wenn es darauf ankommt, anders verhält.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen sage ich für uns Sozialdemokraten ausdrück-lich: Wir werden uns sehr intensiv mit dem Kleinge-druckten befassen. Die Überschriften reichen uns nicht.

Natürlich freue ich mich, dass bei den Vorschlägen,die jetzt in der Diskussion sind, die Vorarbeiten der So-zialdemokraten – namentlich das Papier von Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück – eine wichtigeRolle spielen. Ich finde, dass die „Finanzmarktgrund-sätze“, über die auch in der letzten Runde des Koali-tionsausschusses diskutiert wurde, die richtige und wich-tige Grundlage für weitere Lösungen bei uns inDeutschland, auf europäischer Ebene und weltweit dar-stellen.

Die Regulierung bisher unregulierter Marktbereiche,Regeln für alle Produkte und alle Akteure, der Aufbaueiner effektiven grenzüberschreitenden Aufsicht überBanken und andere Finanzakteure, eine bessere Kon-trolle der Ratingagenturen, aber auch eine stärkere Be-deutung des Internationalen Währungsfonds und des Fo-rums für Finanzstabilität – um nur einige Punkte zunennen –, das alles wird heute nicht nur vom sozialde-mokratischen Teil des Kabinetts und der Regierungskoa-lition vertreten, sondern ist unter uns Konsens.

Ich habe aber die Wahrnehmung aus der praktischenArbeit in der Koalition und im Parlament, dass es nocheiniger Überzeugungsarbeit beim Koalitionspartner andieser oder jener Stelle bedarf, um wirklich durchzu-kommen. Dass beim Partner manche Erkenntnis nur un-ter dem Druck der Krise entstanden ist und nicht ganz sofreiwillig, finde ich nicht so erfreulich. Aber für dieSPD-Bundestagsfraktion möchte ich der Bundeskanzle-rin und den anderen beteiligten Regierungsmitgliedernvolle Rückendeckung für die anstehenden Treffen inBrüssel und London geben.

Bei allen Turbulenzen und Umstürzen müssen wir inden nächsten Monaten Folgendes bedenken: Das igno-rante Verhalten bei AIG, das ganz Amerika in Aufregungversetzt hat, zeigt, wie vorsichtig man auf die Dingeschauen muss. Der Einfluss der Finanzindustrie an derWall Street, in der Londoner City oder in Brüssel istnach wie vor nicht zu unterschätzen. Im Moment geht esum das Überleben mit massiver staatlicher Unterstüt-

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zung. Sobald sich aber die Stürme etwas beruhigen, wer-den die guten Kontakte der Branche zu den jeweiligenAdministrationen wieder genutzt werden, um die anste-hende Regulierung möglichst zu entschärfen und dieneue Weltfinanzarchitektur im Sinne der Branche zu ge-stalten. Da müssen wir gemeinsam Obacht geben, weildiese Bemühungen zu registrieren sind. Auf dem Welt-schattenfinanzmarkt haben eben zu viele über langeJahre zu gut gelebt und sich doof und dämlich verdient,um es umgangssprachlich zu sagen. Diese geben nicht soschnell auf, wie das Verhalten nicht nur bei AIG, sondernauch anderswo zeigt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ihnen müssen wir klarmachen: Wir akzeptieren einsolches Verhalten gesellschaftlich nicht mehr. So ähnlichhat es auch Obama ausgedrückt: Dies kann nicht mehr inDollar oder Cent ausgedrückt werden, Herr Westerwelle.Auch Sie sollten sich darüber einmal Gedanken machen.Die Frage ist, mit welchem Geist und mit welcher Men-talität wir die soziale Marktwirtschaft in Deutschlandund weltweit leben wollen.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion

Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ex-

Post-Chef Klaus Zumwinkel hat sich 20 Millionen EuroPensionsgelder auszahlen lassen. Nach den Strapazenseiner Steuerhinterziehung über die Steueroase Liech-tenstein will er jetzt den wohlverdienten Ruhestand aufseinem Schloss am Gardasee genießen. „Einen ganz nor-malen Vorgang“ nennt er das.

Gleichzeitig nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu, auchdie der Menschen, die von Kurzarbeit leben müssen oderauf Hartz IV angewiesen sind. Viele Existenzen vonkleinen und mittleren Selbstständigen sind in Gefahroder bereits zerstört. Die aktuelle Finanz- und Wirt-schaftskrise zeigt den Menschen das hässliche Gesichtder gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsord-nung: von maßlos übersteigertem Renditestreben undmangelnder gesellschaftlicher Solidarität geprägt, ohnedemokratische Kontrolle und ohne wirkliche demokrati-sche Mitentscheidung der Menschen über die wirtschaft-lichen Abläufe.

(Beifall bei der LINKEN)

Das empört, und zwar zu Recht. Ich weiß: Auch man-che Kollegin und mancher Kollege aus den Koalitions-parteien teilen diese Empörung. Aber was folgt politischaus dieser Empörung für ihre Parteien und Fraktionen?Was folgt daraus für die von ihnen getragene Bundesre-gierung? Wie reagiert die Bundesregierung angesichtsder Finanz- und Wirtschaftskrise? Sie macht vor allemeines: Sie reist. Im November vergangenen Jahres ginges mit kaum erkennbarem Gewinn zum Weltfinanzgipfel

in Washington. Am vorigen Wochenende gab es ein Mi-nistertreffen in London, bei dem der Europäische Rat amDonnerstag vorbereitet werden sollte. Der EuropäischeRat soll nun vor allem dazu dienen, die gemeinsamenPositionen von EU und Mitgliedstaaten für den Finanz-gipfel der G-20-Staaten in London vorzubereiten.

Aber was wird dabei herauskommen? „G20-Finanz-minister beschließen nichts“, titelte die Financial TimesDeutschland am Montag. Ich zitiere:

Konkrete Verpflichtungen für die Regierung odergenaue Größenordnungen für … weitere Konjunk-turpakete wurden nicht beschlossen.

In der Sache kam es zu kaum mehr als Andeutungen.Die Hedgefonds sollen nur registriert und Informationenweitergegeben werden, den sogenannten Schrottpapierensoll allein mit Leitlinien für die einzelnen Länder begeg-net werden. – Das wird kaum helfen.

Wir von der Linken bleiben dabei: Wir wollen erstensHedgefonds verbieten,

(Beifall bei der LINKEN)

zweitens Zweckgesellschaften verbieten, drittens Steuer-oasen wirksam austrocknen oder verbieten und viertensVerbriefungen verbieten. Nur wenn diese vier Grundübelan der Wurzel gepackt werden, haben wir überhaupt dieChance, den Sumpf aus Gier und Spekulation trockenzu-legen.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute und morgen tagt nun der Europäische Rat, derunter anderem für den neuen G-20-Gipfel die Positionenbestimmen soll. Die bisherige Tagesordnung lässt leidernicht ahnen, welche gemeinsamen Ergebnisse zu erwartensind. Welche Vorschläge der hochrangigen Larosière-Gruppe werden denn von den teilnehmenden Regierun-gen geteilt? Steht denn die Kommission, die die Arbeits-gruppe im Oktober des vergangenen Jahres eingesetzthat, überhaupt hinter dem Ganzen oder doch wenigstenshinter einem Teil der Vorschläge? Wie bewertet die Bun-desregierung den Bericht? Erst wenn wir von ihrschwarz auf weiß haben, welche konkreten Vorschlägesie für richtig hält, kann eine wirkliche parlamentarischeDebatte stattfinden.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Unabhängig davon fällt auf, wie einseitig die „hoch-rangige Arbeitsgruppe“ besetzt ist. Es sind auffälligviele dabei, die den Finanzsektor mit seinen überhöhtenRenditeansprüchen und seinen Spekulationen geradezubeispielhaft repräsentieren: Jacques de Larosière ist Mit-vorsitzender der Finanzlobbyorganisation Eurofi undwar bis vor kurzem Berater der französischen Bank BNPParibas. Rainer Masera war Direktor einer europäischenTochter der Pleitebank Lehman Brothers. Onno Rudingist Berater der Citigroup. Otmar Issing, früher bei derDeutschen Bundesbank und der Europäischen National-bank, ist Berater von Goldman Sachs. Für die vier ande-ren Beteiligten – natürlich auch Männer – gilt imWesentlichen die gleiche Ausrichtung. Eine Gewerk-schafterin oder ein Gewerkschafter oder eine unabhän-

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Dr. Lothar Bisky

gige Persönlichkeit aus dem Bereich der Wissenschaftfindet sich in der Arbeitsgruppe nicht. Dies ist nicht ak-zeptabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Einrichtung dieser „hochrangigen“ Gruppe zeigtalso deutlich: Weder die Bundesregierung noch die EU-Kommission sind bereit, die wahren Ursachen der Krisezur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, an ihre Be-seitigung zu gehen. Sie machen weiterhin Politik im In-teresse der Großbanken und Großkonzerne. Der Hun-derte von Milliarden schwere Rettungsschirm ist für dieGarantierung von Höchstprofiten und nicht für die Er-haltung von Arbeitsplätzen der Beschäftigten bestimmt.Die Empfehlung von EU-Finanz- und Haushaltskom-missar Almunia an die EU-Mitgliedstaaten spricht genaudafür: Die EU-Staaten dürfen nicht mit einer teuren undverfehlten Sozialpolitik auf die steigende Arbeitslosig-keit antworten. Dann würden die Staatsschulden nochmehr anschwellen. Dies ist eine Aufforderung zumSozialabbau.

Um einen nicht des Linksseins verdächtigen Zeugenzu zitieren, trage ich vor, was der Wirtschaftsnobelpreis-träger Krugman in seinem neuen Buch schreibt:

Frau Merkel und ihre Beamten glauben anschei-nend noch immer, hier herrschten die normalen Re-geln der Wirtschaft, die Regeln, die dann gültigsind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas aus-richten kann. Sie haben nicht begriffen, dass in Eu-ropa wie in Amerika mittlerweile ein Depressions-klima eingezogen ist, in dem die normalen Regelnnicht mehr gelten.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich zitiere weiterhin Nobelpreisträger Krugman, einenlesenswerten Mann:

Sobald wir wieder normale Verhältnisse haben,werde ich denjenigen, die wie Herr Steinbrück fis-kalische Disziplin predigen, gern die ihnen gebüh-rende Ehre erweisen. Sich jetzt aber an die Ortho-doxie zu klammern, ist hochgradig destruktiv fürDeutschland, Europa und die Welt.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, die Linke fordert kurzfris-tig einen Rettungsschirm für die Menschen und langfris-tig einen grundlegenden Wechsel in der Politik sowohlder Bundesregierung als auch der EU. Wir müssen wegvon einer Politik für eine Minderheit der Reichen undhin zu einer Politik, in der die Interessen der Bürgerin-nen und Bürger und die Bewältigung der globalen He-rausforderungen im Mittelpunkt stehen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile dem Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSU-

Fraktion, das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Otto Bernhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die internationale Finanzkrise zeigt, dass dieRahmenbedingungen versagt haben, die die Politik ge-setzt hat.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. DagmarEnkelmann [DIE LINKE]: Und was macht diePolitik jetzt?)

Sie zwingt uns, jetzt im politischen Bereich zu handeln.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. GuidoWesterwelle [FDP], an die CDU/CSU ge-wandt: Da seid Ihr gelandet!)

Es gibt keine Regierung auf der Welt, die so schnell undumfassend wie die deutsche reagiert hat. Dies sollte manzunächst in aller Deutlichkeit feststellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIELINKE]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)

Deutschland ist zwar immer noch eine der stabilstenVolkswirtschaften in der Welt – und das ist gut so –, den-noch haben wir, was die Konjunkturpakete anbetrifft, ab-solut und relativ – relativ heißt, bezogen auf das Brutto-inlandsprodukt – mehr als alle anderen europäischenStaaten gemacht. Was den Gipfel betrifft, so meine ich,wir sollten zunächst einmal alle Maßnahmen wirken las-sen und nicht ständig neue Maßnahmen fordern. Sonstbesteht die Gefahr, dass bestimmte Maßnahmen erst zueinem Zeitpunkt wirken, zu dem sie eine sich dann viel-leicht abzeichnende Inflation verstärken könnten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt eine Reihe von Punkten, über die wir uns hierim Hause einig sind. Ich sehe jetzt einmal von demKampf von Reich gegen Arm ab – der Beitrag meinesVorredners passte nicht in diese Debatte –, der löst dieProbleme nicht, sondern erzeugt höchstens Emotionen.Wenn ich also diesen Beitrag weglasse, dann sind wiruns alle darin einig, dass wir mehr Transparenz brau-chen. Ich sage als Ordnungspolitiker: Wir brauchen lei-der auch mehr Reglementierung, aber nur im Bereichder Finanzmärkte.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aha, genau!)

Es gibt jetzt eine allgemeine Stimmung auch in Deutsch-land, in vielen Bereichen mehr zu reglementieren. Wirhaben mit der sozialen Marktwirtschaft gute Chancen,aus der Krise herauszukommen. Wenn wir aber jetztauch die Realwirtschaft, den internationalen Handel usw.stärker reglementieren, dann wird der Weg schwieriger.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Deshalb sage ich: Wir haben keine Krise der Marktwirt-schaft, wir haben keine Krise der Demokratie, sondernwir haben eine internationale Finanzkrise, und wir sinddabei, die Ursachen zu analysieren, um die richtigenKonsequenzen zu ziehen.

Ich will einige Punkte aus dieser Debatte aufgreifen,nicht zuletzt um sie richtigzustellen. Ich beginne mit der

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Otto Bernhardt

Bankenaufsicht. Zunächst einmal stelle ich fest, dassdie Bankenaufsicht in Deutschland in der Krise insge-samt gut gehandelt hat. Das gilt für die Bundesbank, unddas gilt für die BaFin.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung hat ein Gutachten in Auftrag gege-ben, um all das zu überprüfen. Wir werden die Konse-quenzen aus diesem Gutachten ziehen und einige Dingenoch in dieser Legislaturperiode verändern. Das ändertnichts an der Grundposition meiner Fraktion. Da unter-scheidet sich unsere Auffassung von der der Sozialde-mokraten. In dieser Hinsicht stimmen wir mit den FreienDemokraten überein. Wir sind für eine Konzentrationder gesamten Bankenaufsicht bei der Deutschen Bundes-bank.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Dann macht es doch!)

Nur, in einer Krise wie dieser sollte man keine grundle-genden Veränderungen vornehmen. Wir haben zurzeitandere Sorgen. Da das System im Grundsatz funktio-niert, ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eine grundlegendeVeränderung. Dennoch haben wir ein klares Ziel.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aha!)

Ich greife einen zweiten Punkt auf, der Emotionenhervorruft und zum Teil mit unfairen Vorwürfen verbun-den ist. Es geht um die Steuerhinterziehung und dieSteueroasen. Ich finde es infam, wenn immer wiederversucht wird, die Union als die Partei darzustellen, dieSpaß an den Oasen hat und die diejenigen Leute, welcheSteuern hinterziehen, schützen will. Nein, auch wir sinddafür, dass Steueroasen trockengelegt werden. Für unsist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt. Das, wasHerr Zumwinkel gemacht hat, ist für uns nicht akzepta-bel, unabhängig von der rechtlichen Position.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt ein Wort zum Finanzminister. Viele wissen, dassich ihn schätze, aber es gibt einige Verhaltensweisen, dieich nicht schätzen kann. In einer Hinsicht irrt der Finanz-minister. Es ergibt keinen Sinn, Staaten, mit denen wirseit Jahrzehnten hervorragende Kontakte haben – fürBayern und Baden-Württemberg ist die Schweiz seitJahrzehnten ein ganz wichtiger Handelspartner –, öffent-lich zu beschimpfen. Das bringt nichts, das ist nicht gut,und das sollten wir nicht machen.

(Joachim Poß [SPD]: Die Schweiz war doch gar nicht genannt!)

– Herr Kollege, man hat sie als Indianer bezeichnet. Siemussten Ihren Minister verteidigen. Wenn wir einen Mi-nister hätten, der solche Fehler machen würde, würdeauch ich ihn verteidigen. Aber Gott sei Dank haben wirkeinen, der so etwas sagt. Die Art, wie der Minister mitder Schweiz umgeht, ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –Joachim Poß [SPD]: Die Schweiz war nichtgenannt!)

Ich sage genauso deutlich: Der Ansatzpunkt in demEntwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhin-terziehung ist falsch. 95 Prozent aller Deutschen, die mitÖsterreich, der Schweiz, Liechtenstein und vergleichba-ren Staaten seit Jahrzehnten wirtschaftliche Beziehungenhaben, haben sie nicht, um Steuern zu hinterziehen.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aha!)

Vor diesem Hintergrund ist es unangemessen – es istAusdruck einer falschen Grundeinstellung zu diesemThema –, diejenigen, die mit diesen Ländern seit Jahr-zehnten Kontakte haben, steuerlich bestrafen zu wollen.Das ist der falsche Ansatz.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Weil wir diesen Ansatz für falsch halten, kann man unshier nicht als diejenigen hinstellen, die Steuerhinterzie-hung nicht bekämpfen wollen. Wir wollen sie bekämp-fen. Wir haben klare Vorstellungen. Übrigens, wir habenin der Großen Koalition einen gemeinsamen Antrag ver-abschiedet, zu dem in der nächsten Woche, so glaubeich, eine Anhörung stattfindet. Dann erfahren wir dieAuffassung der Fachleute.

In diesem Zusammenhang möchte ich einen weiterenPunkt nennen, der für mich als Banker bei den jetzigenMaßnahmen sehr wichtig ist: Viel Unheil ist von derVerbriefung und Strukturierung ausgegangen.

(Beifall des Abg. Ortwin Runde [SPD])

Ich sage das, ohne dieses Thema zu vertiefen. Ich gehörezu denjenigen – ich bitte die Kanzlerin, diese Auffas-sung auf dem G-20-Gipfel intensiv zu vertreten –, die sa-gen: Wer in Zukunft Kredite verkauft, muss mit einembestimmten Anteil in der Haftung bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Nur dann werden wir sicherstellen, dass die Verbriefungeiner vernünftigen Begrenzung unterliegt.

Ich stelle abschließend fest: Die Bundesregierung unddie sie tragenden Fraktionen haben immer sehr schnellalle notwendigen Entscheidungen getroffen, um gegendie Finanzkrise gewappnet zu sein. Wir werden morgendas SoFFin-Gesetz weiterentwickeln, in dem wir not-wendige Anpassungen vornehmen. Wir werden morgenetwas dafür tun – morgen steht die erste Lesung des Ge-setzentwurfs auf der Tagesordnung –, dass sich Mana-gergehälter in Zukunft nicht mehr an kurzfristigen Para-metern orientieren. Dies zeigt: Die Große Koalition warhandlungsfähig, und sie wird auch bis zur Bundestags-wahl handlungsfähig bleiben.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

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Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich

wollte ich diesen Redebeitrag mit ein paar Worten zuFrau Merkel beginnen. Frau Merkel, Sie rutschen bei mirjetzt ausnahmsweise in die zweite Reihe. Ich finde näm-lich, dass Guido Westerwelle heute wirklich den Vogelabgeschossen hat.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. GuidoWesterwelle [FDP]: Was heißt hier „heute“?)

– Na ja, ich wäre nicht so fröhlich. – Herr Westerwelle,heute haben Sie wieder einmal für soziale Kälte gesorgt:Bei Ihren Ausführungen zum Thema Steueroasen bzw.den Oasen allgemein haben Sie gesagt, es gehe um dieWüste drum herum. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: Inden Oasen saufen die großen Kamele, und Sie habensich heute wieder einmal als Schutzheiliger der großenKamele, die den anderen das Wasser wegsaufen, betä-tigt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN – Jörg vanEssen [FDP]: Diese ständig schlechtgelaunteFrau!)

– Herr van Essen, seien Sie nicht so verklemmt, auchnicht in Ihren Bemerkungen.

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordnetender FDP)

– So habe ich es gar nicht gemeint, auch wenn ihr jetztlacht.

Herr Westerwelle, Sie äußern jetzt Mitleid mit derEnergielandschaft in Deutschland. Sie klagen über dievielen bürokratischen und Investitionshemmnisse. DieSorge vor Korruption spielt bei Ihnen gar keine Rolle.Wie erklären Sie sich bei all der Sorge über zu viel Büro-kratie, die Sie hier zum Besten gegeben haben, dass Eonim letzten Jahr 10 Milliarden Euro Reingewinn erzielthat? Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Wer in derLage ist, seinen Reingewinn von einem Jahr zum ande-ren auf 10 Milliarden Euro zu verdoppeln, der ist nichtbürokratisch gehemmt. Man sollte ihn vielmehr fragen,was er für die Allgemeinheit zu tun bereit ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Investieren!)

Nun zum G-20-Gipfel und den Vorbereitungen da-rauf. Ich muss sagen: Frau Merkel hat heute wieder wun-derbare Geschichten darüber erzählt, was sie alles tunwürde, was alles in Vorbereitung sei. Aber am Ende istes doch wieder eine schöne Inszenierung, der eigentlichnichts folgt.

Wo ist eigentlich der Text nach all den wunderschö-nen Überschriften? Es ist immer das Gleiche: Uns wirderzählt, man müsse jetzt erst einmal in die Bankenkriseinvestieren, sozusagen systemisch relevante Banken ab-sichern, aber dann müsse man wieder zur sozialenMarktwirtschaft zurück. Alle Welt redet vom Green

New Deal, nur Frau Merkel und die CDU/CSU – von Ih-nen da mal ganz zu schweigen – haben mal wieder nichtgemerkt, wo die Probleme der Welt liegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt viele Ankündigungen, etwa die, man wolledie IWF-Mittel verdoppeln. Wo eigentlich ist die Ent-scheidung dazu? Eine Ankündigung lautet, die Europäi-sche Union wolle mit einer Stimme sprechen. Ich seheaber nur, dass Deutschland in der Europäischen Unionständig und immer wieder der Bremser ist, zuletzt beimKonjunkturpaket der EU: Es wird gebremst bis zur letz-ten Sekunde, und am Ende, nach Sonderregeln für dieTelekom und noch einem Extra für die deutschen Milch-bauern, weil Sie ihre alten Versprechungen nicht gehal-ten haben, wird Ja gesagt. So, meine Damen und Herren,sieht keine treibende gute Rolle Deutschlands in der Eu-ropäischen Union aus.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alles Überschriften, kein Text! Ein bisschen Regis-trierung von Hedgefonds. Schauen wir uns einmal dieSchrottpapiere an! Dazu gibt es nur sehr allgemeineLeitlinien, mit denen nicht viel umgesetzt wird.

Man kann eines sagen, auch wenn Sie versuchen, sichhier so groß darzustellen: Deutschland blockiert in derEuropäischen Union auch und gerade Regeln für die Fi-nanzmärkte. Das ist die Wahrheit.

(Joachim Poß [SPD]: Es blockiert doch kei-ner!)

Wo ist die europäische Ratingagentur, die wirklich regu-liert und beaufsichtigt – das wäre Verbraucherschutz! –,über die Sie immer reden, für die Sie bisher aber wederinternational noch national irgendetwas angeboten ha-ben? Wo ist die EU-Finanztransaktionssteuer, die Speku-lationen abbaut und Märkte wirklich stabilisiert? HerrSteinbrück möchte sie gern ins Wahlprogramm schrei-ben. Warum handeln wir gerade an der Stelle eigentlichnicht jetzt, statt bis zum nächsten Jahr zu warten?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alle reden über die Schließung von Steueroasen – au-ßer Guido Westerwelle. Es gibt überall Bewegung, aberdie Regierung ist unfähig, auch nur ein Gesetz gegenSteuerhinterziehung in Deutschland zu beschließen.Wieder diese Uneinigkeit Guttenberg und Steinbrück!Auch an der Stelle muss man sagen, dass die CDU/CSUim Ergebnis blockiert, um Steuerhinterzieher zu schüt-zen. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Her-ren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wo sind eigentlich – um noch einen Punkt zu nennen –Ihre Aktivitäten gegenüber deutschen Banken, die De-pendancen auf den Cayman Islands, in Singapur, in Lu-xemburg haben? Allen voran ist hier die Commerzbankzu nennen, der wir gerade die Steuergelder hinterherwer-fen. Wenn Sie so handlungsfähig sind, wie Sie sich dar-stellen, dann sagen Sie hier und jetzt, was Sie an dieserStelle eigentlich Positives erreicht haben!

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Renate Künast

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mein Vorredner hat gesagt, man werde wunderbareRegeln hinsichtlich der Gehälter von Managern schaf-fen. Sie bieten uns hier an, dass die Haltefrist für Aktien-pakete von zwei auf vier Jahre erhöht werden soll. Dassind Peanuts! Heute sind die meisten Unternehmen auf-grund freiwilliger Vereinbarungen schon bei einer Fristvon drei Jahren. Sie bieten also faktisch eine Erhöhungvon drei auf vier Jahre an. Zehn Jahre, das wäre der Ein-stieg in langfristiges Denken. Dazu haben Sie nicht denMut.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie wenig mutig Sie an der Stelle sind, sieht manauch an all den Rettungspaketen, die wir hier verab-schieden müssen. Das erste Rettungspaket ist geschei-tert.

(Joachim Poß [SPD]: Von der Sache hat sie keine Ahnung!)

Morgen findet die Abstimmung über das zweite Ret-tungspaket statt. Das ist eine Lex Hypo Real Estate. ImAusschuss war auf Einladung der FDP auch Herr Flowersvon Hypo Real Estate. Da konnte man sehen, was derenVorstellungen von marktwirtschaftlicher Ordnung sind.Die denken immer noch: Der Profit gehört uns, ansonstenwerden Steuergelder eingesetzt und die Steuerzahler fak-tisch enteignet. – Das ist Ihre Art von Finanzpolitik.

Ich sage Ihnen: Die Zeit der Spielereien muss zu Endesein, auch für den smarten Herrn Guttenberg, der amTimes Square herumturnt und von dem wir alle nun wis-sen, dass er gut Englisch kann. Wir brauchen jetzt wirk-lich eine Verstaatlichung der HRE und nicht irgendeinHerumerzählen oder noch eine Umdrehung nach demMotto, man könnte vielleicht irgendwann einmal das In-solvenzrecht verändern. Jetzt, meine Damen und Herren,brauchen wir Aktionen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Eine Sekunde lang hat mich nachdenklich gemacht,

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Eine Sekunde lang?)

was Frau Merkel zu dem Beitrag gesagt hat, den sie zu-sammen mit Herrn Balkenende für die FAZ verfasst hat.Auch sonst hört man von Frau Merkel ja immer wiederden Satz, man müsste jetzt Regeln für eine neue Art desWirtschaftens aufstellen. Im gemeinsam mit HerrnBalkenende verfassten Text heißt es – heute wurde esähnlich formuliert –, dass die internationale wirtschafts-politische Zusammenarbeit mit der Globalisierung derWirtschaft nicht Schritt gehalten hat. Das hat sie ja heuteauch wieder gesagt.

Meine Damen und Herren, ich finde es schon putzig,wie geschichtsvergessen Frau Merkel ist. Es ist ja nichtwahr, dass die internationale Wirtschaftspolitik nichtSchritt gehalten habe, sondern die Wahrheit ist, dass ge-rade die Unionsparteien und ihre Fraktion hier im Bun-destag sich jahrelang dagegen gewehrt haben, dass derFreiheit der Wirtschaft ein Rahmen mit ökologischen

und sozialen Aspekten für den globalen Handel entge-gengesetzt wird, damit nicht auf Kosten der Bürgerinnenund Bürger gewirtschaftet wird.

Wenn ich mir jetzt anschaue, was Frau Merkel anbie-tet, dann finde ich nur den Verweis auf eine Charta fürnachhaltiges Wirtschaften bzw. die Forderung – dashat sie an anderer Stelle gesagt – nach Einsetzung einesWeltwirtschaftsrates. Einige aus meiner Fraktion habensich nun die Mühe gemacht, über Kleine Anfragen he-rauszubekommen, was eigentlich dahintersteckt. Wis-sen Sie, was wir festgestellt haben? Keiner weiß, worumes dabei gehen soll. Die verschiedenen Ressorts antwor-ten entweder, sie wüssten es nicht, oder, sie verträtendiese Position nicht. Wenn ich mich nun entgegenkom-menderweise darum bemühe, herauszubekommen, washinter diesem Angebot steckt, dann komme ich zu demSchluss, dass Ihr Weltwirtschaftsrat bzw. Ihre Charta fürnachhaltiges Wirtschaften, Frau Merkel, eher vom Altenist. Sie beweisen an der Stelle, dass Sie nichts ändernwollen, sondern nur jetzt über die KonjunkturpaketeGeld investieren, um später wieder zu den alten Regelnder Marktwirtschaft zurückkehren zu können. Das istunverantwortliche Politik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Statt solche Wolkenkuckucksheime zu errichten, wäre esdoch hilfreicher, international für die Einführung einerRechnungslegung über ökologische und soziale Indika-toren zu sorgen; das wäre ja ganz simpel zu machen.Dann hätte man Kriterien, anhand derer man Politik aus-richten könnte.

Die Absichten von Frau Merkel werden in Gänzesichtbar, wenn man die von ihr verfassten Texte zu Endeliest. In dem gemeinsam mit Herrn Balkenende verfass-ten Text wird zum Beispiel am Ende deutlich, was siewirklich will, nämlich kein nachhaltiges Wirtschaften,sondern – dieser Satz steht auch hier wieder als Erstesim Zusammenhang mit der internationalen Wirtschaft –Freiheit der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wir haben ge-nug von Freiheit der Wirtschaft. Das wurde nämlich im-mer als Freiheit von Verantwortung für das Gemein-wesen ausgelegt. Wir brauchen jetzt ein Bekenntnisdazu, dass jeder, der wirtschaftet, auch Verantwortungfür die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das steht schonimmer im Grundgesetz, Frau Künast!)

Frau Merkel hat auch gesagt, wir bräuchten jetzt drin-gend eine weitere Liberalisierung des Handels, sprichFortschritte bei den Doha-Verhandlungen und einen ent-sprechenden Abschluss bei der nächsten Welthandels-runde. Meine Damen und Herren, genau das brauchenwir jetzt definitiv nicht. In der Vergangenheit wurde derHandel schon zu stark liberalisiert. Die WTO erlaubt derWirtschaft, Raubbau auf Kosten der Menschen und derUmwelt zu betreiben. Wenn Frau Merkel nun fordert, indiesem Jahr zu einem entsprechenden Abschluss bei derWTO zu kommen, entlarvt sie ihre Absicht, dass es ihrdoch eher um mehr Liberalisierung für einige wenige

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Renate Künast

geht als um den Schutz des Klimas und der Finanz-märkte.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Frau Merkel in der Stimmung und mit den Aus-sagen, die sie hier an den Tag gelegt hat, heute zumEuropäischen Gipfel oder am 2. April nach Londonfährt, dann steht zu befürchten, dass Europa jetzt die Ge-legenheit verpatzt, eine Führungsrolle zu übernehmen.Genau diese wollen wir aber. Wir wollen, dass eine neueArt zu wirtschaften die Oberhand gewinnt, die nichtmehr auf Kosten anderer geht. Europa hätte dabei dieAufgabe, Frau Merkel, dabei voranzugehen, sich nichtvor Kopenhagen zu drücken, sondern dieses Thema aufdie Tagesordnung zu setzen, entsprechende Vorschlägezu entwickeln und zu sagen, was Europa selber will.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin.

Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sofort. – Die anderen sind nicht unsere Verhandlungs-

gegner bzw. unsere Gegenspieler, mit denen wir zockenmüssen, sondern die Europäische Union hat die Auf-gabe, zu zeigen, wie national und international auf denFeldern der Finanzen und des Klimas etwas erreicht wer-den kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Joachim Poß [SPD]: Die SPD-Fraktion ist eigentlich an der Reihe!)

– Entschuldigung, das stimmt. Frau Kollegin Schwall-Düren, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

gibt doch noch ein paar Differenzen zwischen unseremKoalitionspartner und uns. Deswegen ist es schon rich-tig, dass ich – und nicht Herr Krichbaum – für die SPDspreche.

Der Frühjahrsgipfel ist traditionell der Gipfel, aufdem die Finanz- und Wirtschaftspolitik auf der Tages-ordnung steht, insbesondere die Lissabon-Strategie.Noch nie hatten wir einen Frühjahrsgipfel, auf dem wirmit einer derartigen Krise konfrontiert waren wie in die-sem Jahr.

Was brauchen wir in dieser Krise? Wir brauchen zu-nächst einmal entschlossenes Handeln der Politik. Denneines ist inzwischen klar geworden: Die Rolle desstarken und handlungsfähigen Staates ist wieder inden Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nicht der Nacht-wächterstaat und auch nicht der Staat des Laisser-fairewerden gebraucht, sondern der Staat, der als Regulator,Stimulator und Garant für öffentliche Güter da einschrei-tet, wo die Marktkräfte versagt haben. Das hören wir

interessanterweise auch von den Marktradikalen undApologeten der Deregulierung.

Ich bin ganz froh, dass wir es in der Koalition ge-schafft haben, das auf Initiative von Frank-WalterSteinmeier vorgelegte Konjunkturpaket umzusetzen, umInvestitionen in Bildung, Innovation und Nachhaltigkeitzu tätigen und, Herr Westerwelle, um die Kaufkraft derGeringverdiener, der Rentner und der Familien zu stär-ken, statt Steuern für diejenigen zu senken, die hohe undhöchste Einkommen beziehen.

(Beifall bei der SPD)

Wir investieren in den Arbeitsmarkt, um damit in Über-einstimmung mit der Lissabon-Strategie nachhaltig et-was für die Zukunft zu tun, damit Fachkräfte die Innova-tionen und die neuen Ideen umsetzen können, die wirbrauchen.

Diese Krise ist nicht national entstanden. Deswegenkann sie auch nicht national bewältigt werden. Für inter-nationales Krisenmanagement und Krisenverhinderungist zunächst einmal eine Übereinstimmung in der Euro-päischen Union nötig. Wir brauchen gemeinsame Maß-nahmen und eine Abstimmung auf europäischer Ebene.Angesichts dieser wirtschaftlich schwierigen Zeiten er-warten die Bürger mehr denn je, dass die EuropäischeUnion hier tätig wird und dass Anstrengungen unter-nommen werden, damit es nicht zu Massenarbeitslosig-keit und nicht zu einer sozialen und politischen Krisekommt. Nur dann können wir das Vertrauen stärken.Deswegen brauchen wir neben Sozial- und Globalisie-rungsfonds insbesondere Maßnahmen zum Erhalt derArbeitsplätze. Wir brauchen eine besser abgestimmteund besser koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitikin der EU. Dann haben wir Chancen für die Zukunft.

(Beifall bei der SPD)

Wir brauchen zweitens europäische Solidarität; sieist nötiger denn je. Wir reden oft davon, dass die EU eineWertegemeinschaft ist. Dazu gehört vorrangig Solidari-tät.

Was heißt das in dieser Krise? Solidarität heißt in derTat: kein Protektionismus, keine nationalen Egoismen.Ich möchte ganz deutlich sagen: Wenn wir erwarten,dass sich die Bürger und Bürgerinnen am 7. Juni an derEuropawahl beteiligen, dann können wir nicht sagen:Wir müssen erst einmal das eigene Hemd retten; die an-deren sind uns egal. – Das ist nicht nur ein Verstoß gegendie europäischen Werte, sondern auch ökonomisch undvolkswirtschaftlich unvernünftig. Denn wenn wir nichtgemeinsam dazu beitragen, dass unsere Volkswirtschaf-ten diese Krise überstehen, dann sind wir jeweils mitbe-troffen.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben das am Beispiel der Abwrackprämie durch-diskutiert. Wir können das auch durchdeklinieren ange-sichts der Frage, was mit Opel geschieht. Auch hiermuss es eine europäische Lösung geben.

Solidarität heißt außerdem, dass wir in der EU keinesich widersprechenden Maßnahmen beschließen kön-

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Dr. Angelica Schwall-Düren

nen. Es darf, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat,nicht zu einem Unterbietungs- oder Überbietungswett-lauf in Bezug auf Subventionen, aber auch in Bezug aufLohn-, Sozial- und Steuerstandards kommen.

Solidarität heißt auch: Unterstützung der Nicht-Euro-Mitgliedstaaten in der EU. Wir haben Lettland undUngarn bereits geholfen und müssen vielleicht noch an-deren helfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hin-weisen: Am 15. März dieses Jahres hat sich zum 20. Malder Tag gejährt, an dem die Opposition anlässlich desungarischen Nationalfeiertages den Siegeszug in Ungarnbegonnen hat. Wenige Wochen zuvor fand die erste Sit-zung des runden Tisches in Polen statt. Dem Mut unserereuropäischen Freunde haben wir unsere Freiheit undEinheit zu verdanken. Ich glaube, es ist nicht mehr alsrecht und billig, dass sich in dieser Krise ein Teil unsererDankbarkeit in europäischer Solidarität zeigt.

(Beifall bei der SPD)

Da auf diesem Frühjahrsgipfel weitere Themen auf derTagesordnung stehen, will ich unter dem Stichwort derSolidarität die europäische Nachbarschaftspolitik undinsbesondere die Östliche Partnerschaft ansprechen.Denn es ist dringend notwendig, dass wir die Transfor-mationsprozesse bei unseren Nachbarn in Richtung De-mokratie, wirtschaftlichen Erfolg und Rechtsstaatlich-keit erst recht in der Krise unterstützen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Ich glaube zutiefst, dass Investitionen in die Ener-gieinfrastruktur, die im Rahmen des europäischen Kon-junkturprogramms angedacht sind – auch wenn nochkeine Einigkeit im Detail besteht –, im Zusammenhangmit dem Klimaschutz unerlässliche Maßnahmen sindund dass wir im europäischen Verbund die Effizienzstei-gerung, den Einsatz erneuerbarer Energien und denNetzausbau solidarisch voranbringen müssen.

Nicht zuletzt bedeutet Solidarität aber auch, dass wirim Rahmen der G 20 die Entwicklungsländer nicht ver-gessen dürfen, die in dieser Krise am meisten leiden.

Wir müssen drittens gemeinsam dafür sorgen, dass inZukunft eine derartige Krise von vornherein verhindertwird. Das heißt, der G-20-Gipfel muss die weltweiteRegulierung politisch voranbringen. Das wird uns nurdann gelingen, wenn wir Europäer gemeinsam auftreten.Wenn die Forderung von Frau Merkel und HerrnSarkozy, die sie auf dem Ministerrat in Frankreich erho-ben haben, nämlich dass konkrete Ergebnisse erfolgensollen, wirklich Realität werden soll, dann müssen sichdie Europäer auf diesem Frühjahrsgipfel einigen, damitsie überzeugend wirken und die USA sowie andere Staa-ten auf dem Weg zu einer entsprechenden Finanzmarkt-regulierung mitnehmen können.

(Beifall bei der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesbezüglich hegeich aber doch den einen oder anderen Zweifel. Es reichtnämlich nicht, davon zu sprechen, dass wir bei den Rating-agenturen einen Verhaltenskodex brauchen. Wir brau-chen eine europäische gesetzliche Regelung. Es reichtebenfalls nicht – das ist mehrfach angesprochen worden –,dass wir uns bei den Steueroasen nach dem Motto „bla-ming and shaming“ verhalten, sondern auch hier brau-chen wir Regelungen. In diesem Zusammenhang appel-liere ich, auch was die Managergehälter anbelangt, anunseren Koalitionspartner. Vergleichbares könnte man zudem Thema „Selbstbehalt bei Verbriefungen“ sagen, wodie Sozialdemokraten 20 Prozent fordern, die Konserva-tiven und die Liberalen aber allenfalls 5 Prozent zugeste-hen wollen.

Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wann soll dieEU einig sein, die Herausforderungen anpacken und dieProbleme lösen, wenn nicht jetzt? Die EU ist weiterhinwirtschaftlich stark. Jetzt braucht es den politischen Wil-len. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück habenmit ihren Finanzmarktgrundsätzen gute Voraussetzungengeschaffen. Frau Merkel, liebe Bundeskanzlerin – ichweiß nicht, wo Sie gerade sind –,

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wissen wir oft auch nicht!)

nutzen Sie dieses Potenzial! Motivieren Sie Ihre euro-päischen Kollegen und Kolleginnen, einen gemeinsamenStandpunkt zu finden und weitreichende Vorschläge zuentwickeln, die auch die USA und andere Staaten über-zeugen, damit wir gemeinsam zukünftigen Krisen vor-beugen können. Ich wünsche der Kanzlerin und der Bun-desregierung bei diesem Vorhaben viel Erfolg.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun hat der Kollege Gunther Krichbaum das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Finanzmarktkrise hat die Welt verändert, und sie wird sieweiter verändern. Doch wir haben jetzt die Möglichkeit,diese Veränderung mitzugestalten. Der bevorstehendeEuropäische Rat bietet hierfür eine große Chance. Diesekann aber nur dann genutzt werden, wenn Europa mit ei-ner Stimme spricht; denn nur dann wird es gelingen, un-sere Überlegungen und Vorstellungen auf dem bevorste-henden G-20-Gipfel Anfang April weltweit zum Standardzu machen.

Ich denke, es war ein ermutigendes Signal, dass vonDeutschland und Frankreich eine gemeinsame Initiativeausging. Das ist unter anderem auch ein wichtiger Im-puls für das deutsch-französische Verhältnis. Solche Im-pulse haben gerade in der letzten Zeit gefehlt. Deswegenist die Bedeutung dieser Initiative für die Wiederbele-

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Gunther Krichbaum

bung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht zuunterschätzen. Wenn wir es jetzt noch schaffen, unserebritischen Freunde und Partner mit ins Boot zu nehmen,dann wird es uns gelingen – davon bin ich überzeugt –,die Leitplanken einzuziehen, die wir auf den Finanz-märkten brauchen. Eines ist wichtig: Wir müssen jetztStandards setzen. Wir müssen jetzt ein Immunsystemschaffen, damit sich eine derartige Krise nicht wiederho-len kann.

Weil mein Kollege Bernhardt auf die Aufsichtssys-teme, die hierfür notwendig sind, hinlänglich eingegan-gen ist, möchte ich einige andere Aspekte ansprechen.Wenn es darum geht, Krisen vorzubeugen, brauchen wirzweierlei: zum einen eine Stärkung des IWF, des Inter-nationalen Währungsfonds, und zum anderen eine Stär-kung der Europäischen Zentralbank. Hier sind die Poten-ziale bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Angesichtsder Tatsache, dass Produkte die Grenzen überschreiten,muss auch die Aufsicht Grenzen überschreiten.

Beim Konjunkturpaket hätten wir uns sicherlich eini-ges mehr vorstellen können. Richtig ist, dass die Verant-wortung bei den Mitgliedstaaten liegt. Bei einem Kon-junkturpaket in einer Größenordnung von 5 MilliardenEuro, wie es die Europäische Union schnürt, können dieWirkungen nur begrenzt sein. Da die BundesrepublikDeutschland davon immerhin circa 1 Milliarde Euro tra-gen wird, sollten wir darauf hinwirken, dass diese kon-junkturellen Maßnahmen schnell wirksam werden, vorallem aber auch dem Mittelstand zugutekommen. Denngerade der Mittelstand ist bei alledem besonders gebeu-telt und bedarf unserer Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ein Wort zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wer jetzt hiermit Mehrwertsteuersenkungen und ermäßigten Mehr-wertsteuersätzen operieren möchte, streut den BürgernSand in die Augen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU undder SPD – Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie dasmal der CSU! – Alexander Ulrich [DIELINKE]: Was sagt denn Seehofer dazu?)

Ganz nebenbei: So viel Sand, wie Sie den Bürgern in dieAugen streuen, gibt keine Wüste dieser Welt her.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Meinen Sie dieCSU? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ken-nen Sie Bayern? – Dr. Axel Troost [DIELINKE]: Das liegt in der Nähe von derSchweiz!)

Auch Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, dassniedrige und ermäßigte Mehrwertsteuersätze nur sehrbegrenzt an die Verbraucher weitergegeben werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Westerwelle?

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Die Frage des Herrn Kollegen Westerwelle wird

wahrscheinlich durch meine Ausführungen beantwortet.

(Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen][CDU/CSU] – Dr. Guido Westerwelle [FDP]:Heißt das jetzt Ja oder Nein? Kann ich jetztfragen oder nicht?)

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Nehmen Sie als Beispiel Großbritannien. Dort wurde

genau das gemacht. Das hatte aber die Folge, dass dieVerbraucher davon nicht profitiert haben, weil Preissen-kungen nicht an die Verbraucher weitergegeben wurden

(Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das einmal der CSU!)

und die Profite woanders geblieben sind. Deswegen istes richtig, dass die Bundesregierung dies nicht machenwird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ich möchte noch auf weitere Aspekte zu sprechenkommen, die beim Europäischen Rat nicht unter denTisch fallen sollten. Das sind die Lissabon-Strategieund die Östliche Partnerschaft. Bei der Lissabon-Strate-gie befinden wir uns im sogenannten zweiten Dreijahres-zyklus zwischen 2008 und 2010. Ich denke, es hat schonheute Sinn, über die Zukunft der Lissabon-Strategienach 2010 nachzudenken. Deswegen muss an dem Kern-anliegen, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sor-gen, festgehalten werden. Die Strategie sollte aber inso-weit neu ausrichtet werden, als dass in Zukunft stärkerauf stabiles, nachhaltiges Wachstum Wert gelegt wird.Genau diese qualitative Komponente beim Wachstummuss in Zukunft stärker betont werden.

Die Östliche Partnerschaft wurde bereits von Kolle-gin Schwall-Düren angesprochen. Ich denke, es hatSinn, dass wir diese Östliche Partnerschaft auch vondeutscher Seite forcieren und unterstützen. Ich möchtean dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, dass esnoch offene, klärungsbedürftige Punkte gibt. Zum einenbetrifft dies die Finanzierung. Zum anderen ist es wich-tig, dass wir kein Konkurrenzverhältnis zur Schwarz-meersynergie aufbauen und die Prozesse und Mechanis-men, die wir bereits haben, aufeinander abstimmen. Wiralle wollen, so denke ich, keine Duplizierung der Struk-turen; dies wäre teuer und ineffektiv.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ein weiterer Punkt ist die europäische Integration.Wir können diese aktuelle Krise nur bewältigen, weil wirdiesen Stand der europäischen Integration haben. Des-wegen muss die europäische Integration weitergehen.Das betrifft auch die Staaten, mit denen wir Beitrittsver-handlungen führen. Aber man muss auch nüchtern kon-statieren, dass es bei einzelnen Beitrittsländern nur sehrschleppend vorangeht. Wir unterstützen Kroatien. Maze-donien aber hat noch sehr viele Aufgaben vor sich.

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Gunther Krichbaum

Im Hinblick auf die Türkei muss ein klärendes Worterlaubt sein – ich sage dies ohne Schaum vor dem Mund –:Die jüngsten Bestrebungen der türkischen Regierunghinsichtlich der Begrenzung der Pressefreiheit sind nichtakzeptabel.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Denn die Repressalien, mit denen vor allem die Dogan-Gruppe konfrontiert wird, zielen darauf ab, dass ein Un-ternehmen vom Markt verschwinden soll. Man muss aufFolgendes hinweisen: Ohne Pressefreiheit keine Mei-nungsfreiheit, ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie;aber ohne Demokratie ist ein Beitritt in die EuropäischeUnion völlig undenkbar. Wir müssen die Vertreter dertürkischen Regierung an ihre Verantwortung erinnern.Die Reformen müssen zunächst einmal den Bürgerinnenund Bürgern im eigenen Land dienen. Sie dürfen nichtnur durchgeführt werden, um der Europäischen Unionzu gefallen. Hier muss nachgebessert werden. Die Tür-kei muss gewissermaßen auf den Pfad der Tugend zu-rückkehren.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Die europäische Integration ist eine Erfolgsge-schichte. Ohne sie gäbe es weder den Euro noch denSchengen-Raum. Auch 20 Jahre nach dem Mauerfallmuss man darauf hinweisen, dass die eigentlichen Errun-genschaften der europäischen Integration für die Bürgererst mit der Kreierung des Schengen-Raums greifbarwurden. Der Eiserne Vorhang war zwar gefallen, die ei-sernen Gardinen, wenn man so will, aber noch nicht. Wirmüssen den Schengen-Raum sukzessive erweitern; dennhiervon profitieren die Bürgerinnen und Bürger ammeisten. Dabei spielen auch Visaerleichterungen eineRolle.

(Beifall des Abg. Kurt Bodewig [SPD])

Wir müssen den jungen Menschen, insbesondere in Ost-europa, die Möglichkeit geben, das – in Anführungszei-chen – alte Westeuropa kennenzulernen. Nur wer dieseMöglichkeit hat, kann auch die Werte der EuropäischenUnion teilen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Diese Aspekte dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Last, not least: Der Londoner Gipfel bietet dieChance, eine neue Finanzmarktarchitektur zu kreieren.Die anderen Themen, die von Bedeutung sind, dürfendabei aber nicht in Vergessenheit geraten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Guido

Westerwelle das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Kollege, da Sie meine Zwischenfrage nicht zu-

gelassen haben, möchte ich Ihnen meine Fragen im Rah-men einer Kurzintervention stellen. Sie haben die FDPund meine Person dafür kritisiert, dass wir uns für redu-zierte Mehrwertsteuersätze ausgesprochen haben.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ja, leider! Das war eine viel zu guteVorlage!)

Sie haben gesagt, mit dieser Forderung würden wir denBürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen streuen.

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wüstensand!)

Tut das auch der Bundeswirtschaftsminister, der das-selbe sagt wie ich?

(Kurt Bodewig [SPD]: Der hätte Ihre Rede nicht gehalten! Da bin ich mir sicher!)

Tut das auch die CSU, ein immerhin nicht unmaßgebli-cher Teil Ihrer Fraktionsgemeinschaft, die dasselbe sagtwie ich? Tut das auch der bayerische Ministerpräsident,der dasselbe sagt wie ich?

Außerdem hätte ich gerne von Ihnen gewusst:

(Ute Kumpf [SPD]: Meine Güte! Heute möch-ten Sie aber besonders viel wissen!)

Wie erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, dass – miteiner einzigen Ausnahme, nämlich mit der AusnahmeDänemarks – alle Nachbarländer Deutschlands einenniedrigeren Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastro-nomie haben? Von europäischer Ebene wurde das alsMöglichkeit ausdrücklich bestätigt. In Österreich, derSchweiz, den Niederlanden, in Frankreich und in Lu-xemburg beträgt der Mehrwertsteuersatz für Hotels undGastronomie 3 Prozent, in Belgien 6 Prozent, und auchin Tschechien und Polen ist er geringer als in Deutsch-land. Mit anderen Worten: Mit einer Ausnahme, nämlichmit der Ausnahme Dänemarks, ist Deutschland in dergesamten Europäischen Union das einzige Land, das beiHotels und Gastronomie den vollen Mehrwertsteuersatzerhebt.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: In denanderen Ländern sind die Preise aber teilweisedeutlich höher als bei uns! Das interessiert Siewohl nicht! Gehen Sie doch mal in Frankreichessen! Dann merken Sie, dass da alles viel teu-rer ist als hier!)

Finden nicht auch Sie, dass das eine enorme Wettbe-werbsverzerrung zulasten unseres Mittelstandes ist?

Zum Schluss möchte ich auf das Thema Medika-mente zu sprechen kommen. Medikamente sind etwas,was die Menschen wirklich brauchen. Der normale Bür-ger kann, wenn er krank ist, nicht auf Medikamente ver-zichten. Ist Ihnen bekannt, dass neben Deutschland nurvier Länder in ganz Europa, nämlich Bulgarien, Däne-mark, Österreich und Schweden, den vollen Mehrwert-steuersatz auf Medikamente erheben?

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Dr. Guido Westerwelle

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wa-rum haben Sie denn unserem Antrag nicht zu-gestimmt?)

Vor diesem Hintergrund würde ich gerne von Ihnen wis-sen: Ist es nicht so, dass Deutschland das Land ist, dasseine Position überprüfen muss, wenn 22 von 27 Mit-gliedstaaten der Europäischen Union einen anderen Weggehen und das tun, was die FDP vorschlägt?

(Beifall bei der FDP – Dr. Diether Dehm [DIELINKE]: Wir haben das doch beantragt! –Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ge-nau! Wir waren das! Das stimmt! – AlexanderUlrich [DIE LINKE]: Warum hat die FDP da-gegengestimmt?)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung Herr Kollege Krichbaum.

Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Werter Kollege Westerwelle, ich wehre mich gegen

den grenzenlosen Populismus, den Sie in diesem HohenHause betreiben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Bei den Bürgerinnen und Bürgern im Land erwecken Sieden Eindruck, als würde eine Reduzierung der Mehr-wertsteuersätze automatisch die Konjunktur beleben.Das ist ein Irrglaube. Andere Länder – siehe Großbritan-nien – haben bereits unter Beweis gestellt, dass redu-zierte Mehrwertsteuersätze nicht in Form von niedrige-ren Preisen an die Verbraucher weitergegeben werden.Das, was Sie hier machen, ist populistisch.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Populistisch ist auch, dass Sie einzelne Steuersätzeherauspicken, so zum Beispiel den reduzierten Mehr-wertsteuersatz in manchen Bereichen in Dänemark. Esgehört dann aber zur Ehrlichkeit dazu, auch zu erwäh-nen, dass der normale Mehrwertsteuersatz in Dänemarkweit über dem bundesdeutschen liegt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Deswegen funktioniert Ihre Rosinenpickerei nicht,Herr Westerwelle. Deutschland liegt, was die Steuerbe-lastung der Bürger angeht, im Mittelfeld der Europäi-schen Union. Man muss immer wieder darauf hinweisen,dass dem Staat die notwendigen Ressourcen zur Verfü-gung gestellt werden müssen, wenn man Schulen, Bil-dungsinfrastruktur und Straßenbau finanzieren möchte.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Ein weiterer Punkt betrifft die Gastronomie. Ichkomme aus Baden-Württemberg – das kann man un-schwer an meinem Zungenschlag heraushören –, einemBundesland, in dem es auf Fläche und Dichte bezogendie meisten Zwei- und Drei-Sterne-Restaurants gibt.Kein Mensch fährt ins nur wenige Kilometer entfernte

Elsass, nur weil dort vielleicht die eine oder andereSpeise 1 Euro weniger kostet.

(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Dort istes teuer; das weiß ich! – Ute Kumpf [SPD]: Esist dort teurer und schlechter!)

Ich kann nur empfehlen, die Gastronomie im Elsass, dieexzellent ist, einmal kennenzulernen. Sie werden dortaber eher mehr Geld lassen als in den hervorragendenbaden-württembergischen Restaurants. Das kann ich mitSicherheit auch in Bezug auf viele andere Restaurants imrestlichen Deutschland behaupten.

Ihr Populismus, mit dem Sie hier versuchen, denMenschen etwas vorzugaukeln, gehört gebrandmarkt. Esist also dienlich, diese offenen Punkte einmal zu benen-nen, was Ihnen ganz offensichtlich nicht gefallen hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das gefällt mirsehr! Das gefällt mir so sehr, dass wir IhreAntwort gleich versenden werden! Das gefälltmir außerordentlich!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich

von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Alexander Ulrich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Linke hat beantragt, dass der verringerte Mehrwertsteu-ersatz auch für Medikamente gelten soll. HerrWesterwelle, die FDP hat damals nicht zugestimmt – soviel zur Ehrlichkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Die massive Umverteilung von Arm zu Reich, dermassive Sozialabbau, der mit der Lissabon-Strategie ver-bunden ist, die Privatisierung der sozialen Sicherungs-systeme und der öffentlichen Daseinsvorsorge warenwichtige Ursachen der jetzigen Wirtschaftskrise.Deutschland wurde durch seine wachstums- und europa-feindliche Lohndrückerei Exportweltmeister.

Wenn man sich die heutige Regierungserklärung an-hört, denkt man sich: Die Bundeskanzlerin sollte nichtdie Letzte sein, die einsieht, dass Europa und Deutsch-land nicht Opfer, sondern Mitverursacher der jetzigenKrise sind. Die Schröder- und die Merkel-Regierungenhaben diesen gescheiterten Finanzmarktkapitalismusmassiv gefördert und mit verursacht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bundesregierung hat daher eine besondere interna-tionale Verantwortung zur Belebung der Konjunktur. DieBundesregierung tritt aber weiter auf die Bremse. Ich zi-tiere die Worte vom Wirtschaftsnobelpreisträger PaulKrugman aus dem Stern der letzten Woche:

Deutschland war bislang nur ein riesiger Stolper-stein, ein gewaltiges Hindernis.

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Alexander Ulrich

Weiter wird er in dem Artikel zitiert:

Finanzminister Peer Steinbrück scheine mit koordi-nierten Konjunkturprogrammen „ein echtes Pro-blem“ zu haben.

Außerdem sagte Krugman, manchmal glaube er – ich zi-tiere –,

in Deutschland begreift man das ungeheure Aus-maß der Krise immer noch nicht ganz.

Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Krisein ihrer Dimension zu erkennen. Sie ist nicht in derLage, die richtigen Antworten zu finden. Die Bundesre-gierung versagt auf Kosten von Wohlstand und Arbeits-plätzen in unserem Land. Wie wollen Sie die internatio-nalen Ungleichgewichte mit dieser Politik verringern?Die Linke fordert, wie Jean-Claude Juncker, eine Euro-Anleihe, um die öffentliche Kreditbeschaffung in Europazu verbilligen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein Staatsbankrott wird auf jeden Fall teurer. Dochdie Bundesregierung zeigt wieder ihr antieuropäischesGesicht und beharrt auf nationalen Anleihemärkten.

An dieser Politik ist aber eines ganz besondersschlimm: Viele Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz.Die Opel-Beschäftigten erwarten zu Recht schnelle Hilfeder Bundesregierung. Was wird gemacht? Der Wirt-schaftsminister reist zu PR-Zwecken in eigener Sache indie USA, erreicht gar nichts und will das auch noch alsErfolg verkaufen. Die Bundesregierung kennt scheinbarzwei Klassen von Menschen: Arbeitnehmer und Bank-manager. Deshalb braucht die Bundesregierung den au-ßerparlamentarischen Druck. Die Linke unterstützt dieForderungen und den Protest am 28. März in Berlin undFrankfurt unter dem Motto: Wir zahlen nicht für eureKrise.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Bundeskanzlerin, reisen Sie nicht als Lobbyistder Finanzwirtschaft auf den Gipfel und zu G 20! Esreicht nicht aus, nur für mehr Transparenz zu sorgen.Das Kasino muss endgültig geschlossen werden. Esmuss verboten werden, mit Währungen, Rohstoffen undLebensmitteln zu zocken. Die Finanzmärkte müssen un-ter demokratische Kontrolle gebracht werden. Wir brau-chen eine Transaktionssteuer. Hedgefonds müssen ver-boten und Steueroasen geschlossen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich finde es sehr interessant – wir erleben ja zurzeit inDeutschland den Vorwahlkampf –: Trittin, Frau Künast,Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, alle schwadronie-ren von der Ampel. Heute Morgen haben wir festgestellt,dass man Steueroasen zusammen mit dem Oasen-Guidoschließen will.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Deshalb wird von Rot-Grün jetzt schon die nächsteWahlkampflüge vorbereitet.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ihr wollt ja nicht! Ihr seid doch Verant-wortungsverweigerer!)

Wie wollen Sie ernsthaft Mindestlöhne einführen, wiewollen Sie Steueroasen schließen, wie wollen Sie denFinanzmarktkapitalismus regulieren, wenn Sie eine Ko-alition mit der FDP wollen?

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie wollen doch nicht regieren!)

Das ist unglaubwürdig, und das nimmt Ihnen niemandmehr ab.

(Beifall bei der LINKEN)

Ihr Problem ist nicht Guido, sondern Ihre Inhaltsleere.Sie wollen nur regieren, unabhängig davon, welche In-halte dabei herauskommen.

(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie habenschon Schaum vor dem Mund!)

Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Bundes-regierung, die ihrer Verantwortung für die Menschen ge-recht wird und nicht weiter kläglich versagt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Axel Schäfer [Bo-chum] [SPD]: Sie sind die obersten Verantwor-tungsverweigerer! – Dr. Guido Westerwelle[FDP]: Lieber Oasen-Guido als Wüsten-Peer!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort erhält die Kollegin Nina Hauer, SPD-Frak-

tion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nina Hauer (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Westerwelle, wenn man der Meinung ist,dass die Leute lieber im Ausland essen gehen, weil dortdie Mehrwertsteuer etwas geringer ist, dann ist es nurfolgerichtig, Steueroasen zu verteidigen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es geht nicht allein darum, dass wir eine bessere Ko-operation der europäischen Staaten bei der Bekämpfungder Steuerhinterziehung erreichen. Vielmehr geht es da-rum, dass wir verhindern, dass es Staaten gibt, die aufDauer einen Teil ihrer Wertschöpfung dadurch erzielen,dass sie Steuerflüchtlingen Zuflucht bieten. Es geht auchnicht allein darum, in der Finanzmarktkrise mit Kon-junkturprogrammen an einzelnen Punkten zu helfen.Darüber sollten wir es aber nicht versäumen, unser Sys-tem mit neuen Regeln neu aufzustellen.

Wer diese Krise bewältigen und für die Zukunft vor-sorgen will, der muss jetzt dafür sorgen, dass wir Regelnbekommen, an die sich auf dem Finanzmarkt alle hal-ten. Ich finde, bei dem Vortreffen ist schon einiges er-reicht worden. Dass die Ratingagenturen beaufsichtigtund registriert werden, das ist ein großer Fortschritt.

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Nina Hauer

Frau Künast, es geht nicht darum, ob sie europäisch oderamerikanisch sind, sondern es geht darum, wer kontrol-liert, was sie eigentlich machen. Wer nimmt ihr Ge-schäftsmodell unter die Lupe? Wer bewertet, wie sie ihreBewertungen aufstellen? Wenn wir schon vor ein paarJahren Regelungen geschaffen hätten, die außerbilan-zielle Zweckgesellschaften verhindern, dann wäre unsviel geholfen.

Immerhin – ich weiß nicht, wie der Finanzministerdies erreicht hat, vielleicht mit Diplomatie, offensicht-lich aber auch mit Durchsetzungskraft – haben wir er-reicht, dass die USA mit uns darüber reden wollen, wiewir die Hedgefonds beaufsichtigen und regulieren. Ichfinde, das ist ein großer Fortschritt. Das wäre vor zweiJahren noch nicht ohne Weiteres möglich gewesen.

(Beifall bei der SPD)

Es geht aber – das hat mich etwas an der Regierungs-erklärung der Bundeskanzlerin enttäuscht – nicht nur da-rum, zu sagen, dass wir neue Regeln wollen. Wir wollenauch ein Leitbild für den Finanzmarkt entwerfen. Dabeigeht es darum, dass diejenigen, die ein hohes Risiko ein-gehen – das muss man auch weiterhin am Finanzmarktdürfen –, dafür auch die Verantwortung tragen. Risikound Verantwortung müssen sich also die Waage halten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das war bisher aber nicht der Fall. Wenn jemand Pa-piere kauft, die zu Paketen geschnürt worden sind, dieKredite enthalten, die nicht zurückgezahlt werden kön-nen oder bei denen das Risiko groß ist, dass sie aufgrundder Zinsbedingungen nicht zurückgezahlt werden kön-nen, dann muss derjenige einen Teil des Risikos tragen,wenn er diese Papiere weiterverkauft.

Deshalb finde ich den Vorschlag unseres stellvertre-tenden Parteivorsitzenden und KanzlerkandidatenFrank-Walter Steinmeier richtig, dass ein Teil des Risi-kos bei denjenigen bleiben soll, die die Pakete schnüren.Bei einem Selbstbehalt von 20 Prozent bei Verbriefun-gen beispielsweise, die wir am Finanzmarkt ja brauchen– wir wollen sie nicht abschaffen –, wird sich der eineoder andere schon überlegen, was darin enthalten ist, be-vor er verkauft und bevor am Ende niemand mehr nach-vollziehen kann, wohin eigentlich verkauft worden ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Genauso finde ich, dass es beim Risiko und bei derVerantwortung darum geht, wie viel Eigenkapital einUnternehmen bereithält. Wir wollen mit unseren Eigen-kapitalstandards nicht prozyklisch dann reagieren, wennwir sehen, dass in Europa die Bereitschaft sinkt, Kreditefür die Wirtschaft zu vergeben. Für die Zukunft wollenwir, dass diejenigen, in deren Bilanzen große Risikenstehen, diese auch mit dem entsprechenden Eigenkapitalunterfüttern müssen. Hier müssen dann eben alle mitma-chen. Ausgerechnet die USA setzen Basel II nicht um.Ausgerechnet jetzt, da wir es am dringendsten gebrau-chen könnten, haben sie gesagt: Wir machen das an die-ser Stelle nicht mit.

Wir wollen mit diesen Anforderungen an Eigenkapi-tal erreichen, dass Stresstests durchgeführt werden kön-

nen und überprüft werden kann, ob die nötige Liquiditätvorhanden ist, um ein Risiko im Geschäft auszugleichen.Dazu gehört auch, dass wir dafür sorgen, dass diejeni-gen, die Geschäfte tätigen, nicht nur dann immer hochbelohnt werden, wenn das Risiko und die Verantwortungmöglichst weit auseinanderklaffen. Ich finde schon, dassjemand, der ein Risiko eingeht, belohnt werden sollte,aber das muss an Regeln gebunden sein, und es mussklar sein: Wenn ich nachhaltig wirtschafte – das ist aucham Finanzmarkt notwendig –, dann ist meine Vergütungam Ende höher, als wenn ich ein Risiko eingehe, für dashinterher die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen auf-kommen müssen. – Diese Regeln wollen wir am Finanz-markt verankern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich finde, dass wir hier schon große Schritte weiterge-kommen sind. Dass wir überhaupt international darüberreden, dass wir alle Produkte, Akteure und Finanzmärktebeaufsichtigen müssen, und dass dort Vorschläge ge-macht werden, ist schon ein erheblicher Fortschritt. Bisvor Kurzem gab es noch viele Staaten – übrigens auchviele Politiker und Politikerinnen hier in Deutschland –,die gesagt haben: Der Finanzmarkt braucht gar keine Re-geln. Er hat ganz eindeutig das Interesse, die Rendite zumaximieren. Wenn das nach diesem Prinzip geht, dannläuft das schon.

Das ist falsch und auch nicht die Aufgabe des Finanz-marktes. Seine Aufgabe ist es, Kapital für Ideen von Un-ternehmen hier und anderswo in der Welt zur Verfügungzu stellen und es zu ermöglichen, dass wir Verbrauche-rinnen und Verbraucher unser Geld für das Alter, zurVorsorge und für alles andere dort anlegen können. Da-bei müssen wir natürlich auch nachvollziehen können,was mit dem Geld passiert.

Das sind die Leitlinien, an denen wir uns orientierensollten. Ich bin froh, dass wir als SPD schon sehr frühVorschläge zu diesen Leitlinien eingebracht haben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/CSU])

Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält der Kollege Thomas Silberhorn für die

CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. GuidoWesterwelle [FDP]: Wie wird das denn jetztbei der Mehrwertsteuer?)

Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir sind uns einig, dass aufgrund der globalenDimension dieser Finanzmarktkrise auch globale Lö-sungsansätze erforderlich sind. Ich finde es gut, dass wiran uns den Anspruch stellen, dass der Globalisierung ausdiesem Anlass ein politischer Ordnungsrahmen gegebenwerden muss.

Die Europäische Union kann mit dem Gipfel, der jetztbevorsteht, eine Pilotfunktion wahrnehmen, weil es da-

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Thomas Silberhorn

rum geht, dass wir internationale Standards setzen, dieauf der Grundlage demokratischer Vorbilder und auf derGrundlage der sozialen Marktwirtschaft zustande kom-men. Wir sind uns über das Ob einig, aber wir müssenüber den richtigen Weg streiten.

Als beispielsweise schnell der Vorschlag gemachtwurde, jetzt eine zentralisierte europäische Aufsichts-behörde für den Finanzmarkt zu errichten, wurde ichdoch sehr skeptisch. Kann es wirklich zielführend sein,eine europäische Behörde einzurichten, wenn es um eineFinanzkrise globalen Ausmaßes geht? Eine Insellösungder Europäischen Union wird dieser Herausforderungnicht gerecht und die strukturellen Schwächen auf demFinanzsektor weltweit ganz sicher nicht beseitigen.

Ich halte ein solches Modell auch nicht unbedingt fürpraktikabel; denn Aufsicht findet immer lokal statt.Wenn man Regulierungsstandards setzt, über die wir unsgerne international verständigen können, dann muss dieBeachtung dieser Regulierungsstandards vor Ort kon-trolliert und durchgesetzt werden.

Es ist auch nicht unbedingt verantwortungsbewusst,wenn man europäische Behörden einrichten will, aberim Krisenfall die Folgen von den Mitgliedstaaten getra-gen werden müssen. Ich glaube, dass eine Lehre dieserFinanzkrise darin bestehen muss, Handeln und Haftenzusammenzuführen. Insofern mahne ich, dies nichtdurch neue Institutionen oder Organisationsfehler aus-einanderfallen zu lassen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich halte es auch für riskant, eine Krise, die mögli-cherweise durch kollektives Versagen vieler Beteiligterentstehen konnte, dadurch lösen zu wollen, dass manjetzt die Entscheidungen, die bisher viele getroffen ha-ben, in einer Behörde zentralisiert. Wenn dann eine Fehl-entscheidung getroffen wird, ist die Wirkung umsoschlimmer. Die spanische Finanzaufsicht beispielsweisehat den spanischen Banken untersagt, diese vergiftetenFinanzprodukte aufzulegen. Wir müssen uns die Fragestellen, weshalb die kritische spanische Aufsicht, diesich letzten Endes als richtig erwiesen hat, nicht europa-weit die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. MeinVorschlag ist, die Aufsicht international zu koordinieren.Wir dürfen sie aber nicht zentralisieren, sondern müssendie nationalen Aufsichtsbehörden besser miteinandervernetzen.

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu diesemPunkt. Wenn man sich in Brüsseler Fluren darüber strei-tet, wo der Sitz einer solchen europäischen Finanzauf-sichtsbehörde sein könnte, dann ist das ein verdammtkleines Karo vor dem Hintergrund der globalen Krise.Ich rate uns dazu, von solchen Kuhhandeln Abstand zunehmen und durch eine Vernetzung der bestehenden na-tionalen Einrichtungen eine globale Lösung in Angriffzu nehmen.

Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der ausmeiner Sicht in der gesamten Debatte über die Wirt-schafts- und Finanzkrise zu kurz kommt, nämlich diepersönliche Verantwortung der Akteure, die die Ursa-chen für diese Krise geschaffen und unternehmerischeFehlentscheidungen getroffen haben. Es kann doch nicht

angehen, dass wir eine Art Softkriminalität in Vorstands-etagen hinnehmen, die dadurch zustande kommt, dassman mit dem System von Bonuszahlungen Handeln imEigeninteresse fördert und unternehmerische Entschei-dungen letztlich nicht im Interesse des Unternehmens,der Kunden und schon gar nicht der Beschäftigten ge-troffen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wenn wir solche Fehlentscheidungen dadurch korrigie-ren, dass wir Steuergelder der kleinen Leute einsetzen,dann liegt es nahe, dass das Vertrauen in das Funktionie-ren der sozialen Marktwirtschaft untergraben wird. Des-wegen rate ich dazu, dass wir dort, wo die Gelegenheitbesteht, die Akteure in Haftung nehmen.

Vorstände von Aktiengesellschaften sind schaden-ersatzpflichtig. Sie haften mit ihrem vollen Privatvermö-gen für ihr Tun.

(Joachim Poß [SPD]: Nach geltendem Recht!)

Es ist nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Fehlent-scheidungen mit Abfindungen, Bonuszahlungen undAuszahlungen der Rente in Millionenhöhe belohnt wer-den und dies zum Teil noch gerichtlich eingeklagt wird.Stattdessen sollten wir den Spieß umdrehen und dieHandelnden in Haftung nehmen.

Wenn man das angehen will, braucht es einen Kläger.Wenn der Bund in die Verlegenheit kommen sollte, sichan Aktiengesellschaften wie der Hypo Real Estate zu be-teiligen, dann ist die Gelegenheit, ernsthaft zu prüfen, in-wieweit die Handelnden in Form von Schadenersatzleis-tungen herangezogen werden können, und damit dafürzu sorgen, dass Handeln und Haften wieder zusammen-geführt werden. Ich bitte darum, dass die Bundesregie-rung in diesem Sinne tätig wird, bevor wir entspre-chende Anträge vorlegen müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Darin liegt für uns durchaus die Chance, insoweit auchin der Europäischen Union stilbildend und vertrauensbil-dend zu wirken und zu versuchen, das, was an Vertrauenzerstört worden ist, so weit wie möglich wiederherzu-stellen.

Erlauben Sie mir noch eine kritische Anmerkung zuden bevorstehenden Verhandlungen in der EuropäischenUnion. Ich glaube, wir haben alles getan, was in unserenMöglichkeiten steht. Wir sind bis an die Grenzen unsererLeistungsfähigkeit gegangen. Deswegen muss jetzt wie-der ein Konsolidierungskurs eingeschlagen werden.Ich rate dazu, diese Krise nicht dazu zu missbrauchen,neue Sünden zu begehen, von einem Sonderfonds fürosteuropäische Staaten über Euroanleihen, die Auswei-tung des Globalisierungsfonds bis hin zum Aufschnürender Finanziellen Vorausschau und allem, was das Sün-denregister sonst noch umfasst. Im Zweifel sollte dasBeichtstuhlverfahren, für das die europäischen Gipfel-treffen berühmt sind, wieder zur Anwendung kommen,aber es sollte keine Absolution erteilt werden, wenn mannicht von diesen Sünden lassen will.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig für die

SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Kurt Bodewig (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In einer Debatte soll man auch auf die Rede-beiträge der anderen eingehen. Eine kurze Anmerkungzur Rede des Kollegen Silberhorn: Das Haftungsrechtbesteht; wir müssen es nur anwenden. Das ist keine ge-setzgeberische Frage, sondern eine Frage der Kultur inden Unternehmen. Auf diese können wir gemeinsameinwirken.

(Beifall bei der SPD)

Ich gehe gerne noch auf die populistische Kurzinter-vention ein. Ich möchte den Bundeswirtschaftsministerausdrücklich in Schutz nehmen. Eine solche Rede, HerrWesterwelle, wie Sie sie gehalten haben, würde er nie-mals halten; das ist eine wichtige Grundvoraussetzung.Ihre sehr eigenartige, unverhohlene Sympathie für Steu-eroasen – diese sind nichts anderes als der Zufluchtsortfür Steuerhinterzieher – teilt niemand in der Bundes-regierung und der Koalition; das sollten wir ausdrücklichfeststellen. Ich glaube, Sie haben sich Ihren neuen Spitz-namen zu Recht erarbeitet.

(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Kann ich dennoch einmal hören, bitte? Für die Öffentlich-keit!)

– Ihre Egopflege dürfen Sie selbst betreiben.

(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])

Ich fahre fort und gehe auf die Bemerkungen desBundesfinanzministers ein. Ich glaube mich richtig zuerinnern, dass er die Schweiz mit keinem Wort erwähnthat. Er hat von den Instrumentarien der OECD gespro-chen. Die heftige Reaktion in der Schweiz dokumentiert– das ist sehr interessant –, dass man sich dort offenbarangesprochen fühlt. Auch das sollten wir wahrnehmen.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte eigentlich noch auf einen anderen Punkteingehen, der heute und morgen eine besondere Rollespielt, nämlich das Zusammenwirken der europäischenStaaten bei der Energieversorgungssicherheit; dieBundeskanzlerin hat das bereits angesprochen. Das wirdein Thema sein, in der Zeit bis zur Klimakonferenz inKopenhagen.

Wir sollten uns die Barroso-Vorschläge sehr genauanschauen; denn das, was er im Moment macht, istnichts anderes als eine Reise der Wahlgeschenke, die sei-ner Wiederwahl als Kommissionspräsident dient. Ermacht Programmvorschläge, die das Thema Konjunktur-programm in keiner Weise berühren. Seine vorgeschla-genen Programme sind nicht geplant und stehen zurzeitnicht an. Sie werden daher auch keine konjunkturelleWirkung haben. Das alles passt nicht an diese Stelle. Si-cherlich handelt es sich um wichtige Projekte; aber siegehören in das ganz normale Haushaltsverfahren der

EU. Es dürfen aber nicht infolge der Krise Geschenkeverteilt werden, da sonst nur Mitnahmeeffekte erzieltwürden. Da diese Projekte trotzdem wichtig sind, müs-sen wir neben der konjunkturellen Wirkung darübernachdenken – dabei geht es nicht um neues Geld –, waswir nach der Überwindung der Krise in der Konsolidie-rungsphase tun werden. Dann können diese Projektewieder eine Rolle spielen. Aber sie dürfen nicht verzer-rend wirken. Nabucco ist genauso wichtig wie NordStream. Interkonnektoren sind in den Ostseeanrainer-staaten genauso wichtig wie in Südosteuropa. All dasführt dazu, dass wir die künstliche Trennung etwa imEnergieversorgungsbereich zwischen Ost und West inEuropa aufheben können. Darüber sollten wir schonheute nachdenken; das ist mir sehr wichtig. Die Barroso-Vorschläge dürfen nicht zu einer Wettbewerbsverzerrungführen. Das Problem ist, dass dann bereits geplante In-vestitionen zurückgestellt würden, weil man sich Mit-nahmeeffekte erhofft.

Wir sollten das fortsetzen, wofür Deutschland stehtund was wir seit zehn Jahren sehr intensiv betreiben.Energieeffizienz stellt eine Haupteinsparquelle dar. Wirwollen die erneuerbaren Energien und Energieformen,die nicht belastend wirken. Deswegen ist Offshore einganz wichtiges Thema. Hierbei handelt es sich übrigensum eine der Technologien, die im Obama-Programm mit3,2 Milliarden US-Dollar Forschungsmitteln begleitetwird. Wir haben hier Planungen und eine entsprechendeTechnologie. Wir sollten daher auch zur Anwendungkommen. Ich glaube, wir Europäer haben große Chan-cen, die Meinungsführerschaft auszuüben. Vorausset-zung ist aber, dass wir Geschlossenheit zeigen. Indiesem Sinne dienen die Barroso-Vorschläge eher derAblenkung als der Konzentration und Fokussierung aufdieses Thema.

Ich möchte noch andere Bereiche ansprechen. Wirbrauchen in der Konsolidierungsphase Investitionen, diesich rechnen und gleichzeitig den neuesten Stand derTechnologie abbilden. Ein Beispiel ist die betriebsopti-mierte Anlagetechnologie in der deutschen Braunkohle-industrie. Diese Technologie könnte in China den Wir-kungsgrad bei der Steinkohleverwertung verfünffachen,vielleicht sogar versiebenfachen. Das wäre eine Investi-tion für den Klimaschutz. Gleichzeitig hätte diese großeTechnologie eine Anreizfunktion und würde sich auf diedeutsche Wirtschaft, an der mir sehr gelegen ist, positivauswirken. Wir haben also etwas vorzuweisen; auchCCS und andere Verfahren sind in diesem Bereich au-ßerordentlich zukunftsträchtig.

Ich würde mich freuen, wenn der Europäische Rat dieGelegenheit nutzen würde, strategisch über die Initiie-rung von zukunftsfähigen Investitionen zu sprechen, an-statt länderausgewogen alle Teile Europas mit kleinen100-Millionen-Euro-Projekten zu unterstützen. Die Bun-deskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Diese Form derUnterstützung müssen wir auf den Prüfstand stellen.Gleichzeitig muss ein Appell des ganzen Hauses erfol-gen, Europa so zu entwickeln, dass wir selber die Zu-kunft gestalten können.

Vielen Dank.

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Kurt Bodewig

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Thomas Bareiß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Am Schluss dieser Debatte zeigt sich, dass kei-ner von uns wirklich sagen kann, ob wir am Anfang oderam Ende dieser Krise stehen und welche Herausforde-rungen wir noch bewältigen müssen. Doch eines möchteich zu Beginn meiner Ausführungen klarstellen: Ichglaube, dass wir diesen Herausforderungen in einer Posi-tion der Stärke gegenüberstehen. Deutschlands Volks-wirtschaft ist so stark wie seit langem nicht mehr. Wirhaben eine starke handlungsfähige Regierung,

(Zuruf von der LINKEN: Wo denn?)

auch aufgrund dessen, dass wir drei Jahre lang Haus-haltskonsolidierung betrieben haben.

(Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Wir haben ein starkes dreigliedriges Bankensystem.Trotz aller Probleme sorgt es dafür, dass auch in der Flä-che Kredite vergeben werden. Außerdem haben wir nachdrei Boomjahren eine starke deutsche Wirtschaft. Wirbefinden uns also in einer Position der Stärke. Das ist ge-rade in der jetzigen Zeit für uns enorm wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Heute, am Tag des Zusammentreffens des Europäi-schen Rates, und wenige Tage vor dem G-20-Treffen inLondon müssen wir die richtigen Schlussfolgerungenziehen. Viele meiner Vorredner gingen auf dieseSchlussfolgerungen ein. Ich möchte nur einen Punkt he-rausgreifen, der mir besonders wichtig ist: Ein Haupt-auslöser der Krise war eine maßlose und oftmals aufSchulden basierte Ausgaben- und Liquiditätspolitikaller Finanzmarktteilnehmer: der Zentralbanken, der Re-gierungen, der Wirtschaft und auch der Privathaushalte.Diese maßlose Politik hat dazu geführt, dass eine Blase,größtenteils in den USA, entstanden ist. Als diese Blasegeplatzt ist, hat dies die Volkswirtschaften der Welt indie Krise gestürzt. Ich nehme deshalb diejenigen, diejetzt besorgt vor weiteren größeren Ausgaben warnen,ernst. Ich habe heute gelesen, dass die Fed 1 Billion US-Dollar in den Markt pumpen will. Das erfüllt mich per-sönlich mit Sorge. Vor einem solchen Handeln auch inEuropa müssen wir warnen. Deshalb bin ich dankbar,dass die Bundeskanzlerin und der Finanzminister Forde-rungen nach weiteren Konjunkturprogrammen aus denUSA, England und Japan eine klare Absage erteilt ha-ben. Eine solide Haushalts- und Finanzpolitik ist ein Ga-rant für das Vertrauen, das wir so dringend brauchen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Ich finde es besorgniserregend, dass entgegen allenBeteuerungen seit dem G-20-Gipfel in Washington imNovember letzten Jahres 17 der dort vertretenen Staateninsgesamt 47 neue Handelsbeschränkungen verfügthaben. Wichtiger denn je ist deshalb ein Fortführen undAktivieren der Doha-Runde und der WTO-Gespräche.Protektionistischen Tendenzen muss vor allem in dieserKrise Einhalt geboten werden. Davon profitiert Deutsch-land.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie wollen doch nur exportieren! Wirdürfen keinen Raubbau beim Klima zulassen!)

– Frau Künast, davon profitieren vor allen Dingen auchdie Schwellen- und Entwicklungsländer, die aus einemfairen und freien Welthandel großen Nutzen ziehen.

Aber nicht nur die Doha-Runde und die WTO-Ge-spräche sind eine wichtige Komponente. Auch dieMärkte, insbesondere der europäische Binnenmarkt undder US-Markt, sind ein Motor der Weltwirtschaft. Diesebeiden Märkte machen 60 Prozent der weltweiten Ein-kommen aus und vereinen über 70 Prozent der weltwei-ten Direktinvestitionen auf sich. Allein diese beidenMärkte nehmen 40 Prozent aller Exporte der Entwick-lungs- und Schwellenländer auf. Daraus entsteht eineenorme Wirtschaftskraft, aber auch eine enorme Verant-wortung für diese beiden Wirtschaftszweige.

Aus diesem Grund ist der von BundeskanzlerinAngela Merkel initiierte Transatlantische Wirtschafts-rat wichtiger denn je. Er sorgt dafür, dass Handels-hemmnisse abgebaut werden und der Welthandel wiederfunktioniert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wer die Warenströme kennt, weiß, dass dies sowohl fürunsere Automobil- und Chemieindustrie als auch für dieEnergie- und Umwelttechnologien wichtig ist. In diesenBereichen können wir ebenso wie im Sicherheits- undim Umweltbereich Standards in der Welt setzen und da-mit zu einem Vorreiter für andere Länder werden. Eineerfolgreiche Fortsetzung der Gespräche im Transatlanti-schen Wirtschaftsrat hat deshalb nicht nur für Europa,sondern auch für das Weiße Haus und die Obama-Admi-nistration oberste Priorität. Dies stimmt mich zuversicht-lich. Dieses Instrument stellt zugleich eine ganz wichtigeAntwort auf die derzeitige Krise dar.

Meine Damen und Herren, wir haben jetzt dieChance, zu einem entscheidenden Durchbruch zu kom-men. Dass wir global handeln und diese Chance nutzenmüssen, liegt auf der Hand. Die Weltwirtschaft kann ausdieser Krise gestärkt hervorgehen. Für die EU und dieUSA ist dies von besonderer Bedeutung. Lassen Siemich zum Schluss dieser Debatte betonen, dass auch wirin Europa für mehr Handelsfreiheit sorgen müssen.Diese Gunst der Stunde sollten wir jetzt nutzen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen nun zu den Abstimmungen über dieEntschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache16/12296? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FraktionDie Linke abgelehnt.

Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12297? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan-trag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke abgelehnt.

Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12298 soll zur federfüh-renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung anden Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie anden Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver-standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis g auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Energiewende vorantreiben – Atomausstiegfortsetzen

– Drucksache 16/12288 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Verantwortlichkeiten für die Zustände imEndlager Asse II benennen und Konsequenzenfür die Endlagersuche ziehen

– Drucksache 16/10359 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu demAntrag der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel

Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen

– Drucksachen 16/6319, 16/7882 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Christoph Pries Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill Hans-Josef Fell

d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu demAntrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, SylviaKotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN

Sicherheit geht vor – Besonders terroranfäl-lige Atomreaktoren abschalten

– Drucksachen 16/3960, 16/8469 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Christoph Pries Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill Hans-Josef Fell

e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu demAntrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, SylviaKotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN

Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft-werke in Osteuropa

– Drucksachen 16/11764, 16/12312 –

Berichterstattung:Abgeordnete Christian Hirte Christoph Pries Angelika Brunkhorst Hans-Kurt Hill Hans-Josef Fell

f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine Schließung des ForschungsendlagersAsse II unter Atomrecht und eine schnelleRückholung der Abfälle

– Drucksachen 16/4771, 16/12270 –

Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)Dr. Ernst Dieter Rossmann

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt

Cornelia Pieper Dr. Petra Sitte Priska Hinz (Herborn)

g) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenAngelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, MichaelKauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Informations-Materialien der Bundesregie-rung zum Thema „Fakten und Kontroversenzum so genannten Ausstieg aus der friedlichenNutzung der Kernenergie“ für Kinder undHeranwachsende

– Drucksachen 16/9509, 16/11343 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Siesind damit einverstanden. Dann können wir so verfah-ren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er-teile ich der Kollegin Bärbel Höhn für die FraktionBündnis 90/Die Grünen das Wort.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir Grünen haben diese Debatte über die Energiewendeund den Atomausstieg beantragt, weil unser Land vor ei-ner energiepolitischen Richtungsentscheidung steht. Esgeht darum, wie die Energie der Zukunft aussehen soll:Wollen wir auf erneuerbare Energien oder auf die Re-naissance der Atomkraft setzen? Wir Grüne setzen auferneuerbare Energien und sagen: Eine Renaissance derAtomkraft und erneuerbare Energien – beides zusammengeht nicht; wir müssen uns entscheiden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Warum geht das nicht? Man denkt ja zuerst einmal, eskönnte sein. Auch die Bundesregierung sagt, dass derAnteil der erneuerbaren Energien im Jahr 2020 30 Pro-zent betragen soll, wir Grünen wollen mehr, nämlichüber 40 Prozent, und die Unternehmen im Sektor erneu-erbare Energien sprechen sogar von 47 Prozent. Wirwissen, dass davon ein großer Anteil Windenergie seinwird. Auch wenn wir immer besser prognostizieren kön-nen, wann der Wind weht, und auch wenn die großenWindkraftanlagen auf dem Meer kontinuierlicher Stromliefern, so wissen wir doch, dass es Zeiten gibt, in denender Wind nicht weht. Das heißt, dass wir zusätzlich zuden erneuerbaren Energien Kraftwerke brauchen, dieschnell und flexibel hoch- und heruntergefahren werdenkönnen und die erneuerbaren Energien ergänzen können.Dazu taugen Atomkraftwerke nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Sie sind langsam, sie sind schwerfällig, und sie sind un-flexibel. Wenn man sie hoch- und herunterfahren würde,

würden sie auch noch ein erhebliches Sicherheitsrisikodarstellen. Das funktioniert nicht.

Dass das nicht nur unsere Meinung ist, haben wir ge-rade erfahren. Die Briten setzen bekanntlich auf Atom-kraft. Deshalb haben sie bei den großen Energiekonzer-nen eine Stellungnahme darüber angefordert, wie sichder Ausbau der erneuerbaren Energien in Großbritanniendarstellt. Eon und EDF sagen, dass Großbritannien denAusbau der erneuerbaren Energien beschränken müsse,wenn der Ausbau der Atomkraft gewünscht werde. EDFspricht von einer Deckelung bei 20 Prozent, Eon geht et-was darüber hinaus. Das heißt, nicht nur wir Grünen,sondern auch die Energiekonzerne sind der Meinung,dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit demAusbau der Atomkraft nicht zusammengeht. Deshalbmuss doch die Alternative heißen: Ja zu den erneuerba-ren Energien.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wir sind aber auch für den Atomausstieg, weil Atom-kraft lebensgefährlich ist. Sichere Atomkraftwerke gibtes nicht. Je älter ein Atomkraftwerk ist, desto gefährli-cher ist es. Kein Atomkraftwerk der Welt wäre vor einerReaktorkatastrophe wie in Tschernobyl in der damaligenSowjetunion oder in Harrisburg in den USA gefeit. Wervon uns hätte gedacht, dass wir vor drei Jahren in demLand mit der größten Sicherheitskultur, in Schweden,fast einen GAU in einem Atomkraftwerk gehabt hätten?Das war in Forsmark. Der Chef dieses AKWs hat gesagt:Ich hätte das nicht für möglich gehalten. – Es war aberdoch möglich, und es bleibt möglich. Weil wir dieseMöglichkeit ausschließen wollen, wollen wir raus ausder Atomkraft. Wir wollen dieses Risiko nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraftschmutzig ist. Ich wundere mich immer über Plakate, aufdenen steht, Atomkraft sei saubere Energie. Das, findeich, ist absurd und unverfroren. Eine Technik, die Atom-müll produziert, der für Hunderttausende von Jahren ge-fährlich ist, von dem wir nicht wissen, wo er gelagertwerden kann, erzeugt keine saubere Energie. Diese Be-hauptung ist falsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Atommüll ist giftig, Atommüll strahlt, und wir wissennicht, wohin damit. Wir haben das Problem der Endlage-rung überhaupt nicht gelöst. Wenn man sich den Skandalbei dem Versuchslager Asse anschaut, dann sieht man:Strahlenmüll kann nicht sicher eingeschlossen werden.In Asse ist in einem Bergwerk, das für Hunderte vonJahren als sicher galt, Müll ausgesifft. Das funktioniertalso nicht. Das Atommüllproblem ist nicht gelöst. DieEndlagerfrage ist nicht beantwortet. Wir wollen deshalbmit dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Pro-bleme mit dem Atommüll nicht verstärken. Wir fordern

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Bärbel Höhn

den Atomausstieg, damit das Problem des Atommüllsendlich ein Ende hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft teuerist. In Finnland sind die Kosten des Reaktorbaus von3 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,5 Milliarden Eurogestiegen. Wer zahlt das? Es sind der deutsche und derfranzösische Steuerzahler. Eine halbe Milliarde Eurozahlt Siemens – damit hat Siemens weniger Gewinn –,und 1 Milliarde Euro zahlt der französische Steuerzahler,weil EDF an dem Kraftwerksbau beteiligt ist. Es ist alsokeinesfalls so, dass Atomkraft billig ist. Sie ist günstigfür die Konzerne, aber nicht günstig für die Gesellschaft;denn alle Kosten, zum Beispiel die, die mit der Endlage-rung verbunden sind, muss am Ende der Steuerzahlertragen. So verschlingen zum Beispiel die Asse oderMorsleben Milliarden. Diese wird am Ende der Steuer-zahler zahlen müssen. Atomkraft kommt uns also teuerzu stehen. Deshalb wollen wir die Atomkraft nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Atomkraft ist aber auch überflüssig. Wir brauchenkeine Atomkraft. Die Atomkraftwerke Brunsbüttel,Krümmel, Biblis A und Biblis B waren in den letztenzwei Jahren im Schnitt neun Monate am Netz, also nurin etwas mehr als einem Drittel der Zeit. Das heißt, dieseAtomkraftwerke wurden in einem Großteil der Zeitüberhaupt nicht betrieben. Teilweise waren siebenAtomkraftwerke gleichzeitig abgeschaltet. Haben Sie ir-gendwo gesehen, dass eine Lampe geflackert hat? HabenSie irgendwo gesehen, dass ein Kühlschrank ausgefallenist? Nein, im Gegenteil: Deutschland hat in dieser Zeitenorm viel Strom exportiert. Deshalb gilt: „Stromlücke“ist eine Stromlüge. Wir haben genug Strom, auch ohnedie Atomkraftwerke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das ist in vielen Studien, die von der Bundesregierungselbst in Auftrag gegeben worden sind, bewiesen. Dasheißt, wir haben genug Strom. Es geht ohne Unfallrisi-ken, ohne Terrorgefahren und ohne Strahlenmüll. Des-halb sagen wir: Wir wollen raus aus der Atomkraft.

Wir werden die Debatte darüber in den kommendenMonaten führen. Die Menschen haben ein Recht darauf,die Argumente zu hören. Sie sollen wissen, dass wir ander Weggabelung stehen. Sie sollen wissen: Wir müssenuns entscheiden, ob wir eine Renaissance der Atomkraftoder ob wir erneuerbare Energien wollen. Wir als Grünesagen: Wir gehen den Weg der erneuerbaren Energien.Wir wissen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird uns fol-gen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Christian Hirte.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Christian Hirte (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist zwar bald Ostern; die Anträge der Grünen erinnernaber eher an das alte Weihnachtslied „Alle Jahre wie-der“: Jahr für Jahr legen uns die Grünen Anträge zumAtomausstieg oder zumindest zur Fortsetzung des Atom-ausstiegs vor,

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Monatlich!)

jeweils in leicht abgewandelter Form, um ihnen einenneuen Anstrich zu geben. Indes bleiben die Anträge diealten – so wie die Sachlage. Geändert hat sich vielleichtnur die Auffassung der Bevölkerung. Dort ist nämlicheindeutig eine Trendwende hin zur Kernenergie zu be-merken.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Weil den Leuten Sachen versprochenwerden, die überhaupt nicht stimmen!)

Nach einer Umfrage des MeinungsforschungsinstitutsEmnid sprechen sich mittlerweile 48 Prozent der Deut-schen für eine Verlängerung der Laufzeiten aus, nur42 Prozent dagegen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfeifen im Wald!)

Das Bundesumweltministerium hatte auf seiner Home-page die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, in dersich immerhin 57 Prozent der Teilnehmer für eine Ver-längerung der Laufzeiten ausgesprochen haben.

(Marco Bülow [SPD]: Was ist denn das für eine Umfrage? So ein Quatsch!)

Diese Ergebnisse haben dort bekannterweise nicht langegestanden. Das DIW konstatiert, dass sich dieser Trendzu einem Ja für längere Laufzeiten noch verstärkt.

Der Neuaufguss der Grünen-Anträge ist durchausnachvollziehbar – Frau Höhn hat das gerade ausgeführt –:Uns steht ein Wahlkampf bevor, und die Grünen hoffennatürlich, ihre bei diesem Thema abtrünnige Klientel imWahljahr wieder auf Kurs zu bringen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben gar keine abtrünnige Klientel!)

Dieses Thema ist allerdings zu ernst, um es für reinwahlkampftaktische Manöver zu missbrauchen. Wir allesind uns dem Grunde nach darin einig, dass Kohlen-dioxid einen wesentlichen Anteil am vom Menschenverursachten Treibhauseffekt hat. Deutschland ist mitknapp einem Viertel der größte Treibhausgasproduzentin der Europäischen Union. Daher stellt sich für uns dieHe-rausforderung einer schnellen CO2-Reduktion in be-sonderer Weise und Verantwortung.

Zentrales politisches Anliegen der Energiepolitikmuss aber sein – obwohl es leider keine Selbstverständ-

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Christian Hirte

lichkeit mehr ist –: eine sichere Energieversorgung beimöglichst geringer Importabhängigkeit für die Bürgerund für die Wirtschaft zu bezahlbaren Preisen – und diesalles mit möglichst niedrigen CO2-Emissionen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Aus diesem Spannungsfeld ergibt sich sodann die grund-legende Frage: Wie können wir unsere Klimaziele errei-chen, ohne dabei die Versorgungssicherheit und dieWirtschaftlichkeit zu vernachlässigen?

Bei der Energieerzeugung gibt es sicherlich keinenKönigsweg. Aus diesem Grunde ist es nach wie vor ver-nünftig, auf ein breites Fundament zurückzugreifen.Auch die Enquete-Kommission „Nachhaltige Energie-versorgung unter den Bedingungen der Globalisierungund der Liberalisierung“ erwartet, dass die Kraftwerks-kapazitäten in den nächsten Jahren weiter erhöht werdenmüssen. Es wird sogar davon ausgegangen, dass in denkommenden Jahren bis 2020 ein Ersatzbedarf bei derKraftwerksleistung von etwa 40 Gigawatt vorliegt; dasist mithin ein Drittel der derzeitigen Kraftwerkskapazitä-ten. Das verdeutlicht die Brisanz und auch die Dimen-sion, vor der die deutsche Energiewirtschaft steht.

Die Anträge der Opposition enthalten zwar jedeMenge Forderungen, eine konkrete Antwort auf dieFrage, wie Deutschland diesen immensen Energiebedarfdecken soll, aber leider nicht.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch selber in Ihren Studien!)

Deutschland braucht also zumindest mittelfristig ei-nen vielfältigen Energiemix. Entgegen dem, was FrauHöhn gesagt hat, geht doch beides, sowohl erneuerbareEnergien als auch Kernkraft. Ich meine sogar: Beidesbedingt einander, weil die Kernkraft kostenbewusst er-möglicht, die erneuerbaren Energien zu unterstützen.

(Lachen bei der SPD – Marco Bülow [SPD]: „Kostenbewusst“!)

Wenn die erneuerbaren Energien dem Ziel der Bun-desregierung entsprechend bis 2020 etwa 20 bis30 Prozent der Stromerzeugung leisten, heißt das imUmkehrschluss, dass 70 bis 80 Prozent der Stromerzeu-gung weiter aus konventionellen Kraftwerken kommenmüssen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:70 bis 80 Prozent, Sie wollen aber nur 20 Pro-zent erneuerbare Energien!)

Wir brauchen in Deutschland also auch künftig neue undeffiziente Kraftwerke, das heißt auch Gas- und Kohle-kraftwerke.

Einerseits wehrt man sich gegen konventionelleKraftwerke. Andererseits sind wir uns darüber im Kla-ren, dass kurzfristig die erneuerbaren Energien nochnicht den gesamten Energiebedarf decken können. Wirmüssen uns also Alternativen überlegen.

Wir wissen, dass die Stromerzeugung überwiegendaus Gas erfolgt, das wir importieren. Wenn wir nur aufGas setzten, weil konventionelle Kohlekraftwerke abge-

lehnt werden, würde das dazu führen, dass wir in relativkurzer Zeit über 70 Prozent des importierten Gases ausRussland beziehen müssten.

(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!)

Was eine derartig große Importabhängigkeit von auslän-dischem Gas bedeuten kann, haben wir am Beispiel derUkraine vor einiger Zeit erlebt.

Ich will jetzt gar nicht auf die Nachteile des Methanseingehen – dieser Hauptbestandteil von Erdgas ist selbstein Treibhausgas –, sondern nur kurz darauf verweisen,ohne das näher erläutern zu wollen, dass die russischenPipelines, auch was die Dichtigkeit angeht, sicherlichnicht den deutschen Maßstäben entsprechen und damitdie Energiebilanz von Gas nicht so positiv ist, wie siemanchmal dargestellt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aus diesen Gründen halte ich eine Energieversorgungfür richtungsweisend, die die Abhängigkeit von anderenStaaten auf ein erträgliches Maß reduziert.

(Christoph Pries [SPD]: Uran, ja!)

Ich erspare mir an dieser Stelle weitere Ausführungen.Ich habe aber den Eindruck, dass die Opposition keineeigenen Optionen liefert.

(Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE])

– Moment! – Es ist nach wie vor die Auffassung derUnion, dass wir derzeit, auch als Überbrückung, auf dieKernenergie nicht verzichten können. Die Kernenergieist nämlich die einzige sofort verfügbare Energieform,die praktisch keine klimaschädlichen Abgase produziert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Heinz-Peter Haustein [FDP] – Lachen bei derSPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Ute Kumpf [SPD]: Unglaublich! – MarcoBülow [SPD]: Da muss er selber lachen!)

Ich will dieses Mal nicht umfangreich auf die Kern-kraft eingehen – dazu wird die weitere Debatte sicherlichnoch Gelegenheit bieten –, aber abschließend StephenTindale, den ehemaligen Direktor von Greenpeace,wörtlich zitieren:

Es war ein wenig wie eine religiöse Bekehrung. Ge-gen die Kernkraft zu sein war lange Zeit eine essen-tielle Position, wenn man Umweltschützer war.Aber nun, wenn ich mit anderen Umweltschützerndarüber spreche, ist die Ansicht tatsächlich ziem-lich weit verbreitet, dass die Kernkraft zwar nichtideal, aber immer noch besser als der Klimawandelsei.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kolle-

gin Angelika Brunkhorst.

(Beifall bei der FDP)

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Angelika Brunkhorst (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns liegen sechs Anträge der Grünen vor, Frau Höhn,aus dem von Ihnen auserkorenen Lieblingsfeld Kernen-ergie. Es ist immer wieder dieselbe Predigt, es sind im-mer wieder dieselben von Ihnen auch gerade wieder be-schriebenen Angstszenarien. Liebe Grüne, die Menschenim Lande haben eine sehr viel differenziertere Meinungzur Energiepolitik, als Ihnen lieb sein dürfte. Sie erken-nen nämlich an, dass wir in Zukunft weiter einen Ener-giemix brauchen, auch im Hinblick auf Versorgungssi-cherheit und Qualitätssicherung, und dass derEnergiemix uns bezahlbare Energie liefert.

(Beifall bei der FDP)

Viele wissen schon, dass wir den Energiemix technolo-gisch hoch anspruchsvoll und umweltschonend ausge-stalten können.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

Was die Akzeptanz der Kernenergie im Lande an-geht, so möchte ich gern, auch wenn Herr Hirte dasschon getan hat, auf die Onlinebefragung des BMU zusprechen kommen, und zwar wonnevoll. 57 Prozent derBefragten – immerhin waren das mehr als 14 700 – ha-ben sich zum Ausstieg aus dem Ausstieg bekannt, undnur 28 Prozent wollten am Ausstieg festhalten. Aber dieUmfrage ist ja ganz schnell wieder von der Internetseitedes Umweltministeriums heruntergenommen worden.

Sie von den Grünen versuchen nun auch in Ihrem ak-tuellsten Antrag, den Nutzen der Kernenergie ganz be-wusst kleinzureden. Sie sprechen davon, dass sie nurganz wenig Energie bereitstelle, nämlich nur 6 Prozent,vergessen dabei aber, zu erwähnen, dass die Kernenergiezumindest zur Grundlaststromversorgung 45 Prozentbeiträgt, also eine der Hauptsäulen darstellt.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch!)

– Das steht in einer neuen Broschüre des Bundeswirt-schaftsministeriums. Ich kann sie Ihnen gerne geben.

Die Kernenergie produziert CO2-freien Strom.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch das ist falsch!)

Immerhin 150 Millionen Tonnen CO2 werden gespart.Das ist ein Segen für unser Klima.

Auch die FDP setzt auf den weiteren Ausbau der er-neuerbaren Energien. Deren Anteil wird auf jeden Fallsteigen. Wir erkennen auch die technologische Leistungan; das ist gar keine Frage.

(Beifall bei der FDP)

Wir wünschen uns aber, dass die erneuerbaren Energienpassgenau und umweltverträglich ausgebaut werden – dagibt es Probleme; das wissen auch Sie –, und wir wollenvor allen Dingen, dass sie nicht zulasten anderer Nut-zungsoptionen, jedoch zu möglichst günstigen undmarktfähigen Preisen ausgebaut werden. Das ist unsganz wichtig; das ist nämlich auch eine soziale Frage.

Ihre Vision einer Energieversorgung überwiegend auserneuerbaren Energien ist ambitioniert. Die können Siegerne vertreten; das ist Ihre Sache. Mich stört aber derAbsolutheitsanspruch, mit dem Sie sie vertreten: nur Er-neuerbare und nichts anderes. Ich sehe das etwas anders.Ich glaube, dass wir heute und auch zukünftig noch einelange Weile einen Dreiklang aus erneuerbaren Energien,aus konventionellen und hoffentlich modernisiertenKraftwerken sowie aus Kernenergie haben werden.Diese drei werden also noch länger Schwestern im Netzbleiben. Darauf setzt die FDP.

Schauen wir einmal, was unsere europäischen Nach-barn machen. Nur einige Beispiele: In Finnland ist derEPR-Reaktor im Bau, weitere sind geplant. Auch Italiensteigt jetzt wieder in den Bau von Kernkraftwerken ein.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten wir einmal ab!)

Schweden hat seinen Ausstiegsbeschluss von 1980 zu-rückgenommen und will nun wieder in die Kernenergieeinsteigen, und auch viele osteuropäische Länder wollenalte Reaktoren durch neue Reaktoren ersetzen. Just indiesem Moment fordern Sie den Ausstieg aus der Euro-päischen Atomgemeinschaft. Ich finde, das Verbleibenin EURATOM ist gerade jetzt so wichtig wie nie zuvor.Weil so viele Reaktoren in west- und osteuropäischenLändern hinzukommen, ist EURATOM wichtiger dennje. Wir brauchen nämlich den Austausch technologi-schen Wissens, wir brauchen die gemeinsame For-schung, und wir brauchen vor allen Dingen eine gemein-same, hochambitionierte Sicherheitsarchitektur. All daskann man gut über EURATOM erreichen. Der Vertragüber EURATOM könnte sicherlich modifiziert werden;dagegen hätten wir nichts.

(Beifall bei der FDP)

Konkret zu Ihrem aktuellsten Antrag: Sie beklagendarin ungeniert Zustände, die Sie in den sieben Jahrenvon Rot-Grün, in denen Sie mitregierten, hätten ändernbzw. bei denen Sie Veränderungen hätten in Gang setzenkönnen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie beschwören insbesondere immer wieder die unge-löste Endlagerfrage.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Lassen Sie uns doch Schacht Konrad besu-chen!)

Sie haben damals den AK End installiert. Dessen Berichtwurde nie ausgewertet. Herr Trittin hat diverse Gutach-ten in Auftrag gegeben, die nie veröffentlicht, sonderngleich immer wieder einkassiert wurden, weil die Ergeb-nisse nicht so ganz passten.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Lassen Sie uns doch nach anderen Stätten su-chen!)

Herr Trittin, Sie haben ein zehnjähriges Moratorium fürGorleben verfügt, Ihre Kollegen schreiben nun aber imaktuellsten Antrag – ich zitiere –:

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Angelika Brunkhorst

Die umstrittene Erkundung am Standort Gorlebenberuht nicht auf dem neuesten Stand von Wissen-schaft und Technik.

Ja, was denn? Das Moratorium lässt nichts anderes zu.Dann fordern Sie auch noch, das Moratorium zu verlän-gern. Das ist Politik aus dem Tollhaus.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)

Das Thema nukleare Sicherheit, Frau Höhn, ist unsLiberalen auf jeden Fall sehr wichtig. Wir wollen aberErkenntnisgewinn, der zu konkreten und vor allen Din-gen auch zeitnahen Lösungen führt. Ein solches Bestre-ben konnte ich bei Ihnen bislang überhaupt nicht erken-nen.

(Beifall bei der FDP)

Ich habe eher den Eindruck, die Grünen leben davon,eine nukleare Unsicherheit zu beschwören, weil ihnendas hilft, eine möglichst gute Argumentationskette fürden Ausstieg in der Hand zu haben.

Abschließend möchte ich zu den Anträgen, die Siehier heute vorgelegt haben, Folgendes sagen: Sie habeneine Kleine Anfrage zur nuklearen Sicherheit gestellt.Diese erweckt bei mir persönlich und wohl auch bei eini-gen anderen den Eindruck, dass es Ihnen wiederum nurdarum geht, quantitativ möglichst viele Unsicherheits-fragen aufzuwerfen und damit zu suggerieren, diese Fra-gen seien nicht zu lösen. Aber wir wollen sie lösen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nicht zu lösen! Das ist das Problem!)

Sie wissen ganz genau, dass die Asse II einen neuen Be-treiber hat und in einer neuen Zuständigkeit liegt. Wirsind zuversichtlich, dass man jetzt ernsthaft die Endla-gerfrage angehen will. Ich bin Herrn Gabriel durchausdankbar, dass er sich – zumindest vorübergehend – dafürsehr eingesetzt hat. Ich hoffe, dies bleibt auch so.

Ich mache einen Schnitt und komme noch auf unsereGroße Anfrage zu den Unterrichtsmaterialien „Einfachabschalten?“ des Bundesumweltministeriums zu spre-chen. Ich möchte vorab sagen, dass es gewisse Grund-sätze gibt, wie man politische Bildungsarbeit zu gestal-ten hat. Dazu gehört der sogenannte BeutelsbacherKonsens von 1976. Darin ist ein Überwältigungsverbotenthalten. Das heißt, politische Bildung soll nicht indok-trinieren. Weiter heißt es:

Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist,muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen …Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, einepolitische Situation und seine eigene Interessenlagezu analysieren …

Heranwachsende sollen also unterstützt werden, eine ei-gene Meinung bilden zu können. Sie sollen hierzu um-fassend informiert und nicht beeinflusst werden. Da sindwir uns, glaube ich, alle einig.

Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zudem Beutelsbacher Konsens. Wir wundern uns aller-

dings sehr, dass in den Unterrichtsmaterialien „Einfachabschalten?“ dieses Bekenntnis untergraben wird. Ein-leitend steht darin:

Mit Hilfe der vorliegenden Materialien sollen dieSchülerinnen und Schüler den Sachstand zur Pro-blematik der Nutzung der Atomenergie (Unfälle,Risiken, Auswirkungen, Umweltschäden …) erfas-sen.

Es ist überhaupt kein positives Element der Kernenergieenthalten wie Klimafreundlichkeit, Wirtschaftlichkeitund Versorgungssicherheit.

Herr Gabriel wird dann weiter zitiert mit dem Satz:

Die Atomkraft ist eine Technologie des letztenJahrhunderts …

Ich muss schon sagen: Das ist jetzt nicht unbedingt neu-tral, Herr Minister.

(Gerd Bollmann [SPD]: Aber richtig!)

Von Neutralität in der Darstellung keine Spur!

Ich komme zum Schluss. Ich appelliere an das Bun-desumweltministerium – Herr Minister Gabriel, das hatIhr ehemaliger Ministerkollege Glos auch getan –, dieIndoktrination unserer Schüler zu stoppen

(Zurufe von der SPD: Oh!)

und die Unterrichtsmaterialien entweder zu überarbeitenoder aber aus dem Netz zu nehmen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bitte Sie, sich in Zukunft wieder an den Beutels-bacher Konsens zu halten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Christoph Pries (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zumwiederholten Male in dieser Legislaturperiode über denAtomausstieg. Es liegen uns sechs Anträge und die Ant-wort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage vor.Die zur Abstimmung vorliegenden Anträge der Grünensind – das sage ich trotz unserer Sympathie – in einigenPunkten entweder überholt, durch Regierungshandelnerledigt oder nicht umsetzbar. Wir lehnen sie daher ab.

In meinen Ausführungen möchte ich heute exempla-risch auf zwei Schlagworte eingehen. Sie fassen symbo-lisch die Diskussion über die Atomenergie der vergange-nen Jahre zusammen. Da ist zunächst die angeblicheRenaissance der Atomenergie, wie sie von der Atom-lobby im Verbund mit Union und FDP propagiert wird.Die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des

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Christoph Pries

Hauses behaupten seit Jahren: Der Atomausstieg ist dasWerk ideologisch verblendeter Technologiefeinde. DieGroße Anfrage der FDP zielt genau darauf. Sie behaup-ten ferner: Die Atomenergie ist weltweit auf dem Vor-marsch, und Deutschland isoliert sich durch den Atom-ausstieg. – Sehr geehrte Damen und Herren, das sindMärchen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN – Angelika Brunkhorst [FDP]: Dasist Realität!)

Wir sagen: Atomenergie ist aus ökologischen, ökono-mischen und sicherheitspolitischen Gründen nicht ver-antwortbar. Wir sagen: Atomenergie ist eine Form derEnergieerzeugung des letzten Jahrhunderts. Wir sagen:Deutschland ist nicht der isolierte Nachzügler einer welt-weiten Atomrenaissance. Deutschland ist vielmehr Vor-reiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,abgesehen vom radioaktiven Abfall strahlt Atomkraftnur in den Hochglanzbroschüren der Lobbyverbände.Wer deren aktuelle Ausbaupläne liest, fühlt sich unwei-gerlich an die Luftschlösser der 70er-Jahre erinnert. DiePrognose der Internationalen Atomenergie-Organisa-tion damals: Im Jahre 2000 würden weltweit Atomkraft-werke mit einer Leistung von 4 500 Gigawatt installiertsein. Die Realität im Jahr 2008: 372 Gigawatt. Die be-stehenden 436 Reaktoren decken gerade einmal 2,5 Pro-zent des weltweiten Energieverbrauchs.

(Gerd Bollmann [SPD]: Hört! Hört!)

Das Fazit: Gemessen an den Erwartungen ist Atomener-gie immer Ankündigungsenergie geblieben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Nun wenden die Kolleginnen und Kollegen vonUnion und FDP ein, überall würden bald neue Atom-kraftwerke gebaut.

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ja!)

Das stimmt – allerdings nur auf dem Papier.

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was? Finn-land zum Beispiel!)

Die Realität sieht folgendermaßen aus: Im Jahr 2008ging zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atom-kraftwerk ans Netz. Selbst ein Vertreter der Internationa-len Atomenergie-Organisation stellte in der Süddeut-schen Zeitung zum angeblichen Atomboom fest, eineRenaissance bei der Atomkraft gebe es lediglich – ich zi-tiere – „beim theoretischen Interesse“. Wie so ein theore-tisches Interesse aussieht, möchte ich am Beispiel Süd-afrika verdeutlichen. Im August 2007 brach dort lautn-tv die Atomära aus. 15 Milliarden Euro sollten in fünfJahren in den Ausbau der Atomenergie investiert wer-den. Diese Ära dauerte genau 15 Monate. Bereits im De-

zember 2008 erklärte der staatliche Energiekonzern Es-kom, der Neubau eines Druckwasserreaktors werde ausfinanziellen Gründen aufgegeben.

Dieses Schicksal wird vor dem Hintergrund der Fi-nanzkrise auch zahlreiche Neubauankündigungen inEuropa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, woher dasLand 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplantenAtomkraftwerke nehmen soll. Ob in Schweden wirklichneue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen entste-hen, bleibt ebenfalls abzuwarten; denn die Anlagen müs-sen komplett privatwirtschaftlich finanziert werden.Derartige Bedingungen haben bisher noch jedem hoch-fliegenden Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen.

Es gibt aber auch Lichtblicke in der Atomdebatte.Selbst Union und FDP sind sich ihrer Sache nicht wirk-lich sicher. Deshalb kleiden sie ihre Befürwortung derAtomenergie derzeit in den Begriff der Übergangstech-nologie. Dazu sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! Siehaben die Beschlusslage der SPD von 1986 erreicht.

(Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei Abgeord-neten der LINKEN)

Ich meine das gar nicht negativ, lehrt doch der Blick indie Vergangenheit, dass die bürgerlichen Parteien beivielen Themen etwas länger gebraucht haben.

(Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Denken wir zum Beispiel an das Frauenwahlrecht, an dieFinanzmarktkontrolle oder die Familienpolitik.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ichmöchte aber auch noch auf das eingangs angekündigtezweite Schlagwort der Atomdebatte eingehen, auf diesogenannte Renaissance des Widerstands. Es ist uns al-len klar, dass dieses Schlagwort vor allem der Absiche-rung des grünen Wählerpotenzials dient. Das ist erlaubt.Ihr aktueller Antrag zeigt aber wieder einmal deutlich,dass Sie krampfhaft versuchen, die SPD in der Frage desAtomausstiegs zu übertrumpfen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Ach was! Das haben wir doch gar nicht nötig! –Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, inIhrem Interesse rate ich Ihnen: Verkohlen Sie die Bürge-rinnen und Bürger nicht! Nicht alles, was moralisch oderpolitisch wünschbar wäre, ist auch rechtlich umsetzbar.Versprechen Sie nichts, was Sie am Ende nicht haltenkönnen! Beim Kohlekraftwerk Moorburg sind Sie schoneinmal als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelan-det.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derFDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Das sollten gerade Sie nicht sa-gen!)

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Christoph Pries

Noch eines: Wir werden Ihnen auf jeden Fall nichtdurchgehen lassen, die SPD als Handlanger der Atomin-dustrie abzustempeln, Frau Höhn.

(Beifall bei der SPD)

In der Frage des Atomausstiegs brauchen wir uns vorniemandem zu verstecken. Wir haben in den vergange-nen drei Jahren nicht gewackelt – trotz einer beispiello-sen PR- und Öffentlichkeitskampagne der Atomlobby,trotz Drohungen, Gerichtsverfahren und populistischenLockangeboten. Die Standfestigkeit von Sigmar Gabrielund der SPD-Bundestagsfraktion müssen andere ersteinmal unter Beweis stellen.

(Beifall bei der SPD – Bärbel Höhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht fürdie Renaissance der Vernunft in der Energiepolitik.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Eine vernünftige Energiepolitik ist langfristig angelegt.Sie löst Probleme und schafft keine neuen. Mit demAtomausstieg haben wir einen gesellschaftlichen Kon-flikt gelöst, der dieses Land 25 Jahre lang gespalten undenergiepolitisch gelähmt hat. Mit dem Ausbau der er-neuerbaren Energien, mit Energieeinsparung und einerSteigerung der Energieeffizienz legen wir die Grundla-gen für die Energieversorgung der Zukunft. Mit unsererökologischen Industriepolitik schaffen wir die Basis fürwirtschaftliches Wachstum und den Wohlstand unsererKinder. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg vo-ranschreiten, statt unsere Energie mit der fruchtlosenFortführung von Kämpfen aus der Vergangenheit zu ver-geuden.

Danke, dass Sie mir zugehört haben.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner

für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Als Linke begrüßen wir diese Debatte. Sie ist überfällig.Ich erinnere nur an den 26. Februar 2009, als ungefähr15 000 Menschen Braunschweig, Asse und SchachtKonrad – das ist eine Wegstrecke von 52 Kilometern –durch eine Lichterkette unter dem Motto „Wir bringenLicht ins Dunkel“ miteinander verbanden.

Ich zitiere aus dem Antrag der Grünen:

Der Statusbericht zu den Zuständen im Forschungs-endlager Asse II hat unsere schlimmsten Vermutun-gen noch übertroffen.

Das spiegelt die Stimmung in der Region wider, undzwar nicht nur der Menschen, die sich seit Jahrzehntengegen Atomkraft engagieren, sondern auch der ganz nor-malen Bürgerinnen und Bürger, der ganz normalen An-wohnerinnen und Anwohner. Ihre Befürchtungen sind

übertroffen worden, und jede Woche ereilen sie neueHiobsbotschaften.

Was hören diese Menschen hier oder auch sonst impolitischen Raum? Ich zitiere die stellvertretende Vorsit-zende der CDU/CSU-Fraktion, Katherina Reiche, die am26. Februar im Inforadio Berlin gesagt hat, der Vergleichzwischen Asse und Gorleben sei „ein durchsichtiges po-litisches Manöver“.

(Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Ist es auch!)

Im Gegensatz zu Asse verfüge Gorleben über einen in-takten Salzstock. Außerdem sei Gorleben in den vergan-genen 25 Jahren systematisch untersucht worden.

(Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Genau so ist es!)

Ich zitiere wörtlich:

Über einen langen, transparenten und wissen-schaftsgeleiteten Prozess ist man zu dem Schlussgekommen, Gorleben sei geeignet.

(Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Das ist auch richtig!)

Das lässt Schlimmes erahnen. Die Menschen fühlensich verhöhnt und bedroht. Das, was ich hier von denmöglichen Koalitionspartnern einer möglichen Ampelhöre, beruhigt die Menschen meiner Ansicht nach nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Die Menschen fühlen sich von CDU/CSU, FDP undAtomindustrie für dumm verkauft. Ihnen wird immerwieder erzählt, die Atomkraft sei sicher; vor der Haustürerleben sie aber das Gegenteil. Es werden Märchen er-zählt, die sie selber als Horrorgeschichten empfinden.

Das erste Märchen lautet, Atomstrom sei billig. Dashaben wir auch hier heute wieder gehört. Die mehrerenMilliarden, die je nach gewählter Option für die Assefällig werden und die für den Steuerzahler zur Zahlunganstehen, werden nicht erwähnt. Auch die über 2 Mil-liarden Euro, die zur Schließung des Endlagers Morsle-ben anfallen, werden nicht erwähnt; von Gorleben,Schacht Konrad und den Kosten für die Transporte ein-mal ganz zu schweigen.

Wir wissen auch, dass Uran nicht unbegrenzt vorrätigist. Wir merken, dass sich das Vorkommen seinem Endenähert. Die Wissenschaftler sagen, dass es noch rund50 Jahre reichen wird. Das wird auch an der Preisent-wicklung deutlich: Während 1 Pfund Uran 2001 nochungefähr 7 US-Dollar kostete, kostete es 2007 140 US-Dollar.

Von dem Kollegen Hirte und der Kollegin Brunkhorsthaben wir eben wieder einmal gehört, Atomstrom seiklasse, um CO2 zu sparen. Ich möchte nur darauf hinwei-sen, dass Strom aus südafrikanischem Uran heute je Ki-lowattstunde 126 Gramm CO2 verursacht.

Auch über die Unverzichtbarkeit hören wir immerwieder vieles. Das lässt sich trefflich widerlegen.

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Dorothée Menzner

Wichtig ist eine transparente und umfassende Kos-tenbeteiligung der Konzerne. Das muss unser gemein-sames Ziel sein. Dafür werden wir streiten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Einen Vorwurf kann ich den Kolleginnen und Kolle-gen der Grünen, die in ihren Anträgen viel Richtigesschreiben, nicht ersparen: Bündnis 90/Die Grünen hat inder Vergangenheit Vertrauen zerstört, und zwar nicht nurVertrauen in die eigene Partei, sondern in die Politik ins-gesamt:

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unsinn! – Renate Künast [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da mache ich eineGegenkampagne zu Ihren SED-Geldern!)

mit dem sogenannten Atomkonsens, der eine Betriebs-garantie für die Konzerne war, dem Wegschauen unddem Aussitzen bei Asse II, Gorleben und SchachtKonrad, solange man in der Koalition war, und zwar so-wohl in Niedersachsen als auch im Bund.

Es ist zwar lobenswert, jetzt in der Opposition guteAnträge zu schreiben – wir werden gerne mit Ihnen strei-ten und versuchen, gemeinsam aktiv zu werden –, aberes könnte sehr nach Wahlkampfgeklingel aussehen,

(Zuruf von der SPD: Da haben Sie ja Erfah-rung!)

wenn man nicht deutlich macht: Die Macht der vier gro-ßen Energiekonzerne, von K+S und anderen DAX-Kon-zernen ist groß. Dagegen müssen wir angehen; aber dasschaffen wir nicht allein.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Das schaffen wir nur gemeinsam mit den Menschen,wenn wir die nötige Transparenz herstellen und wennwir mit ihnen, die sie sich seit Jahren und Jahrzehntenengagieren und Kompetenz angeeignet haben, streiten.Ich glaube, nur so kommen wir in der Frage des Atom-ausstiegs weiter, also gemeinsam mit den Menschen undnicht, indem wir Parlamentarier sagen, dass wir alles lö-sen können. Vielmehr brauchen wir den Druck derStraße, den Druck der Bewegung und die entsprechendeKompetenz.

Ich danke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für

die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Im Zentrum dieser Debatte heute Morgen stehtwieder einmal die Schachtanlage Asse II. Von 1909 bis1964 wurde dort Salz abgebaut mit der Folge, dass die-

ser Salzstock durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse.Nach heutigen Maßstäben würde niemand mehr auf dieIdee kommen, dort Atommüll einzulagern.

Die Asse wurde 1965 als Forschungsbergwerk vomBund übernommen. Bis 1978 – in dem Jahr stoppte ErnstAlbrecht die Einlagerung – wurden 126 000 Fässerschwach- und mittelradioaktiven Abfalls eingelagert.Betreiber der Asse war das GSF, das Forschungszentrumfür Umwelt und Gesundheit, aufgegangen im Helmholtz-Zentrum München. Es erforschte im Auftrag des Bundesim Salzstock die Einlagerung radioaktiver Abfälle.

Die Einlagerung erfolgte nicht etwa geordnet, son-dern man kippte nach ersten Versuchen den Müll einfachin die Schächte und überdeckte ihn mit Salzgrus, waseine mögliche Rückholung heute so schwierig macht.Dazu kommt – das ist seit vielen Jahren bekannt –, dassausgebeutete Salzbergwerke dazu neigen, abzusaufen.Das heißt, die durchlöcherten Salzstöcke fallen unterdem Druck des Deckgebirges zusammen, und Grund-wasser findet seinen Weg in den Berg. Genau das ge-schieht seit 1988. Täglich fließen 12 Kubikmeter Salz-lauge in das Bergwerk. Bislang kommt das Wasser nichtin Kontakt mit den radioaktiven Abfällen. Genau dasmuss dauerhaft verhindert werden, damit Radioaktivitätnicht durch das Wasser in die Biosphäre gelangt undMensch und Umwelt schädigt.

Erschwerend kommt hinzu, dass einige der ausgebeu-teten Kammern, die sich in der Nähe der Kammern mitdem Atommüll befinden, mit feuchtem Versatz verfülltworden sind, um ein Zusammenbrechen zu verhindern.In der Folge ist das so in den Berg eingebrachte Wasser indie Kammern mit dem Atommüll eingedrungen. SeitJuni letzten Jahres ist bekannt, dass es in der Asse Lau-gen gibt, die mit Cäsium 137 kontaminiert sind und zu-dem ohne Wissen und Genehmigung der Überwachungs-behörden innerhalb des Schachtes umgelagert wordensind.

Das Vertrauen der Bevölkerung in den BetreiberGSF war – das ist aus meiner Sicht absolut nachvollzieh-bar – erheblich gestört. Die nicht genehmigte Umlage-rung brachte das Fass zum Überlaufen. Seit dem1. Januar dieses Jahres wurde ein Betreiberwechsel vor-genommen. Nun ist das Bundesamt für Strahlenschutzzuständig.

Wichtigste Aufgabe ist es nun, unter Einbeziehungder Bevölkerung und mit höchstmöglicher Transparenzdie Anlage geordnet zu schließen. Die GSF hatte vorge-schlagen, einen Teil des Bergwerks zu fluten. Das trafangesichts der Ungewissheit, ob der radioaktive Müllzurückgeholt werden kann, auf absolutes Misstrauen derBevölkerung. Um neues Vertrauen aufzubauen, hattenbereits im Herbst 2007 das niedersächsische Umweltmi-nisterium als Kontrollbehörde, das Bundesforschungs-ministerium, das Bundesumweltministerium und dieGSF im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung ver-einbart, die Vertreter der Bevölkerung in der Region engin die Prüfung unterschiedlicher Konzepte einzubezie-hen. Genau das halten wir als Union für richtig. SeitMärz 2008, also seit gut einem Jahr, prüft die Arbeits-gruppe Optionenvergleich Stilllegungskonzepte, entwi-

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Dr. Maria Flachsbarth

ckelt Maßnahmen zur Verbesserung der Grubenstabilitätund untersucht mithilfe externer Sachverständiger dieMöglichkeit, die radioaktiven Abfälle aus der Asse zu-rückzuholen.

Ich führe das deshalb so ausführlich aus, um zu doku-mentieren, dass die Probleme nicht neu sind, dass man,wenn man sich interessiert hätte, sehr wohl von diesenProblemen hätte wissen können und dass diese Bundes-regierung – ganz anders als die Vorgängerregierung mitihrem grünen Umweltminister – die Probleme in derAsse beherzt angeht,

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])

auch wenn die Grünen heute versuchen, in ihren Anträ-gen einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der optimale Schutz von Anwohnern und Umweltund eine zeitnahe und sichere Schließung der Asse sind– das habe ich bereits gesagt – das vordringliche Anlie-gen der Union. Allerdings müssen wir tatsächlich zügighandeln. Gutachten besagen, dass das Bergwerk nurnoch bis Mitte des nächsten Jahrzehnts standfest ist. ImJanuar dieses Jahres hat unter der Obhut des Bundesam-tes für Strahlenschutz ein Expertengespräch stattgefun-den. Man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir dochnoch bis zum Jahr 2020 Zeit haben, allerdings nur, wennsich die Laugenzuflüsse nicht erhöhen. Genau das ist al-lerdings die Gretchenfrage, die niemand beantwortenkann. Daher muss zügig gehandelt werden.

Die Arbeitsgruppe Optionenvergleich hat im Februardieses Jahres einen Zwischenbericht vorgelegt. Sie legtsich aber noch nicht fest, welche Methoden sie beimUmgang mit dem Atommüll und bei der Stilllegung derAnlage favorisiert. Vielmehr werden Machbarkeitsstu-dien und Auswirkungsstudien angefordert. Eine ab-schließende Bewertung soll bis Ende des Jahres vorlie-gen. Das muss es dann aber auch sein. Wir müssen zügighandeln,

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

damit wir nicht in die Situation kommen, im Rahmen derakuten Asse-Gefahrenabwehr unüberlegt und plötzlichhandeln zu müssen.

Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir ha-ben in den Haushalt des BfS des letzten Jahres über 70zusätzliche Stellen eingestellt. Wie schon gesagt, sinddas Zurückgewinnen von Vertrauen und verantwortli-ches Handeln erforderlich. Es dürfen keine politischenSpielchen stattfinden; das betone ich.

Es war kontraproduktiv, dass gerade der Bundesum-weltminister während seiner Sommerreise im letztenJahr den Verdacht geschürt hat, die von mir bereits er-wähnten Laugenzuflüsse von 12 Kubikmetern pro Tagseien radioaktiv kontaminiert und ihr Verbringen in an-dere stillzulegende Salzbergwerke in Niedersachsen ge-fährde möglicherweise die dortige Bevölkerung. Es hilftwenig, das im Nachhinein zurückholen zu wollen. ImCeller Kreistag führte dieser längst aufgeklärte Sachver-

halt noch vor wenigen Wochen zu erheblichen Diskus-sionen.

Herr Minister, es ist auch kontraproduktiv, dass sichIhre Meinung zur Finanzierung der erheblichen Kostender Asse-Stilllegung wie eine Fahne im Wind dreht. DerDeutsche Bundestag hat am 30. Januar dieses Jahres imRahmen der Änderungen des Atomgesetzes auch denWechsel der Betreiber der Asse beschlossen; das wissenwir alle. Der Entwurf dieses Gesetzes kam aus IhremHause.

In diesem Gesetzentwurf und in einer Formulierungs-hilfe zum Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen hatdas Ministerium die Möglichkeit, die Kernkraftwerksbe-treiber an der Sanierung der Asse finanziell zu beteili-gen, aus rechtlichen Gründen ausdrücklich ausgeschlos-sen. Dazu wurden im Umweltausschuss Fragen gestellt.Außerdem haben Sie, Herr Minister, dem ZDF drei Tagevor der Beschlussfassung in diesem Hause ein Interviewzu diesem Thema gegeben.

In diesem Interview haben Sie, wie es auch Ihr Staats-sekretär im Umweltausschuss getan hat, erklärt, eine Be-teiligung der Kernkraftwerksbetreiber an den Kosten derSanierung der Asse sei aus rechtlichen Gründen nichtmöglich. Nur eine Woche nach der Verabschiedung desGesetzentwurfs des BMU in diesem Hause haben SieIhre Auffassung plötzlich geändert und sich dafür ausge-sprochen, dass die Betreiber der Kernkraftwerke nundoch an der Sanierung der Asse finanziell beteiligt wer-den sollten. Nun ging es Ihnen angeblich nicht mehr umrechtliche Notwendigkeiten, sondern vielmehr um politi-sche Beweggründe.

Man könnte es als Irreführung des Parlaments be-zeichnen, wenn ein Minister, eine Woche nachdem derDeutsche Bundestag seinen Gesetzentwurf verabschie-det hat, politische Forderungen erhebt, die er ohne Wei-teres in seinen eigenen Gesetzentwurf hätte einfließenlassen können. Dass Sie sich nicht getraut haben, kannsich bei Ihnen wirklich niemand vorstellen.

Ich rufe uns alle auf, auch in Zeiten des herannahen-den Wahlkampfes nicht zu versuchen, durch die Verun-sicherung der Bürgerinnen und Bürger vermeintliche po-litische Vorteile zu erlangen. Aufgabe der Politik ist es,keine Angst zu schüren. Aufgabe der Politik ist auch, dieSorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen, Lö-sungsvorschläge zu erarbeiten und diese offensiv undtransparent zu kommunizieren.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Angelika Brunkhorst [FDP])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über

die Kosten und über die Mär von der billigen Atomkraftreden. Billig ist Atomstrom nur für die Betreiber abge-

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Sylvia Kotting-Uhl

schriebener Atomkraftwerke. Volkswirtschaftlich istAtomstrom so teuer wie kein anderer Strom.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.Dorothée Menzner [DIE LINKE])

Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Beginnen wirganz am Anfang, beim Uran. Die „billige“ RessourceUran kommt normalerweise von weiter her; so viel zumStichwort Importunabhängigkeit. Aber auch in Deutsch-land gab es einmal den Uranabbau, und zwar in Wismut.Für die Sanierung des Uranabbaus in Wismut sind bisher6,4 Milliarden Euro von der Bundesregierung eingestelltworden. Wer zahlt das? Der Steuerzahler.

Sehen wir uns das Ende der Geschichte an. BeispielMorsleben: Ihren angehäuften schwach- und mittelakti-ven Müll loszuwerden, kostete die westdeutschen Atom-kraftwerksbetreiber in den 90er-Jahren gerade einmal183 Millionen DM. Die Entsorgung dieses Mülls ermög-lichte die damalige Umweltministerin; das war übrigensAngela Merkel. Allein für die Stabilisierung des ein-sturzgefährdeten Lagers wurden bis heute 2,2 MilliardenEuro veranschlagt. Wer zahlt das? Der Steuerzahler.

Beispiel Asse: Forschung für die sichere Endlagerungmit Atommüll, billigst oder auch umsonst eingelagert.Die Sanierung der Katastrophe Asse ist nun öffentlicheAufgabe, schließlich kommen 90 Prozent des radioak-tiven Potenzials in der Asse aus der Wiederaufarbei-tungsanlage Karlsruhe. In die WAK kam es aber aus denAKWs. 70 Prozent dieses radioaktiven Potenzials kamenalleine aus dem Atomkraftwerk Obrigheim.

Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe funk-tionierte wie eine Waschanlage. Die schmutzige Hinter-lassenschaft der Atomstromproduktion wurde zu öffent-lichem Forschungsmaterial. Das war für dieursprünglichen Verursacher des Mülls sehr bequem. DieKosten sind heute noch überhaupt nicht abzuschätzen,aber sie werden mindestens die Größenordnung der Kos-ten für die Sanierung von Morsleben haben. Wer zahltdas? Der Steuerzahler.

Herr Gabriel, ich kann Ihnen an dieser Stelle aus-nahmsweise nicht ersparen, Frau Flachsbarth recht zugeben; das passiert selten in diesen Debatten. Ja, Sie ha-ben einen Schlingerkurs betrieben. Erst hieß es, dieAKW-Betreiber sollen sich beteiligen. Dann hieß eswährend der Novellierung des Atomgesetzes: Es istreine Aufgabe der öffentlichen Hand. Nun heißt es wie-der, sie sollen sich beteiligen. – Sie wollen dafür die ur-sprünglich von uns geforderte Brennelementsteuer ver-wenden. Das ist löblich. Wenn wir aber die Option derRückholung des Mülls aus der Asse tatsächlich wahrma-chen, werden Sie mit 1,6 Milliarden Euro nicht weitkommen.

Das System der privatisierten Gewinne und der sozia-lisierten Kosten zieht sich durch alles, was mit Atom-kraft zu tun hat: die Deckelung der Haftpflichtversiche-rungen, die steuerfreien Rückstellungen und auch diejahrtausendelange Überwachung des Atommülls. Atom-kraftbefürworter argumentieren gern mit dem so teurenFotovoltaikstrom, den die Bezieher mit 31 bzw.

43 Cent über ihren Strompreis subventionieren. Wennman die volkswirtschaftlichen Kosten und die40 Milliarden Euro an Subventionen einrechnet, stelltman fest, dass der billige Atomstrom überhaupt nichtmarktfähig ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vor allem handelt es sich um eine Technologie, dieder Devise folgt: Risiken und Nebenwirkungen trägt dieBevölkerung. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die heuteleben, sondern auch für diejenigen, die noch gar nichtgeboren sind. So ist das Stichwort Nachhaltigkeit nichtgemeint.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Lassen Sie uns aber auch über Vertrauen und Verant-wortung reden. Jahrelang hat man uns erzählt, die Assesei ein Forschungsendlager. Heute wissen wir, dass sichquer durch die Genehmigungsbescheide für die Atom-kraftwerke bis Ende der 70er-Jahre die Asse als ausge-wiesenes Endlager hindurchzieht. Das hört sich zumBeispiel so an: 1972 erste Teilgenehmigung für Isar 1:Für die BRD wird das stillgelegte Salzbergwerk Asse beiWolfenbüttel als Endlagerstätte für radioaktive Abfällehergerichtet.

Es gab auch eine Ausnahme: 1974 zweite Teilgeneh-migung für Krümmel: Seit April 1967 wird das ehema-lige Salzbergwerk Asse II in der Nähe von Braun-schweig für die Lagerung hochradioaktiver Abfällevorbereitet. In den 80er-Jahren ändert sich die Tonlage.Da ist dann nur noch von der in der Asse erprobten Ein-lagerungstechnologie und davon, dass die Asse für dieEndlagerung vorgesehen ist, die Rede. In den Teilgeneh-migungen für Brokdorf heißt es, das Bergwerk solle inerster Linie als Versuchsanlage für Gorleben dienen.

Wer alles – die Helmholtz-Gemeinschaft, das For-schungsministerium und die Kolleginnen und Kollegenvon FDP und Union – hat uns nicht erzählt, die Assehabe mit Gorleben nichts zu tun. Sie haben einen Unter-suchungsausschuss zur Asse abgelehnt, obwohl als ver-trauensbildende Maßnahme nichts notwendiger wäre alsdie Aufklärung und Benennung der verfehlten Verant-wortlichkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei der LINKEN)

Der ehemalige Umweltminister Trittin hat, ganz andersals Sie, überhaupt nichts gegen die Einsetzung eines Un-tersuchungsausschusses, sondern er hat ihn ausdrücklichbefürwortet.

Die Asse ist inzwischen nicht nur der GAU der Endla-gerfrage. Die Asse wird zum Symbol der Unzuverlässigkeitder Atomtechnik samt ihrer ganzen Betreibergemeinde. Indieser Situation wollen Sie die Laufzeitverlängerung derAtomkraftwerke und die unverzügliche Inbetriebnahmevon Gorleben.

Sie sind immer noch nicht in der Lage, bis drei zuzählen. Volkswirtschaftlich viel zu teuer, energetischvöllig überflüssig und der Vertrauens-GAU, das ist

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Sylvia Kotting-Uhl

Atomkraft. Zum Glück hat Deutschland den Atomaus-stieg beschlossen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD sowie desAbg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Bundesregierung hat Herr Bundesminister

Sigmar Gabriel das Wort.

(Beifall bei der SPD)

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LassenSie mich zunächst einmal etwas zu dem angeblichenSchlingerkurs sagen. Meine Frage an die Grünen ist:Warum haben Sie sich eigentlich sieben Jahre lang nichtum die Sanierung der Asse gekümmert?

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Warum haben Sie eigentlich sieben Jahre lang keinenGesetzentwurf erarbeitet, mit dem Sie den Versuch un-ternehmen, die deutsche Atomindustrie 30 Jahre rück-wirkend an der Finanzierung der Sanierung von Mors-leben oder der Asse zu beteiligen? Warum haben Sie dasnicht gemacht?

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie damals,als Ihr Minister noch in der Regierung war – er ist ge-rade draußen – –

(Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Ich weiß, bei Ihnen sind immer die Sozis schuld, wennSie etwas nicht hinbekommen, nur Sie selbst nicht.

(Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP])

Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie wuss-ten, dass dies rechtswidrig gewesen wäre. Einige derje-nigen, die mir jetzt im Blickfeld sitzen, haben einmal et-was mit Regierungstätigkeit zu tun gehabt. Sie wussten,die Verfassung verbietet es uns, die Atomindustrie rück-wirkend an der Finanzierung zu beteiligen.

Deswegen kann man das nicht in einem Gesetz ma-chen, mit dem wir die Asse sanieren. Deshalb könnenwir keine rückwirkende Finanzierung beschließen. Mankann aber sehr schnell ein Gesetz auf den Weg bringen,mit dem die Atomindustrie dadurch an der Finanzierungbeteiligt wird, dass der Staat Steuern im Bereich derKernbrennstoffe einnimmt. Das ist der richtige Weg.Das ist kein Schlingerkurs.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie schon darüber reden, Frau Kotting-Uhl,dann bitte unter Beherrschung der Grundrechenarten.Dies sind Einnahmen von 1,6 bis 2 Milliarden Euro proJahr. Sie haben gemeinsam mit uns einen Atomkonsens

beschlossen, der ein sukzessives Aussteigen vorsieht.Sie können sich ausrechnen, dass sich die Einnahmenauf einen zweistelligen Milliardenbetrag belaufen wer-den, die Sie nutzen können, damit nicht der Steuerzahlerdie Sanierung von Asse, Morsleben und anderer Stand-orte bezahlt. Damit würde die Atomindustrie endlich an-gemessen an den katastrophalen Hinterlassenschaftenbeteiligt, die sie uns vor die Füße oder besser gesagt: un-ter die Füße gekippt hat.

Das ist mein Vorschlag. Sie haben während Ihrer Re-gierungszeit nichts unternommen, um sich diesemThema zu widmen oder um die Finanzierung sicherzu-stellen.

(Beifall bei der SPD und der FDP – BärbelHöhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das istwirklich unglaublich!)

Es gibt zwei pharisäerhafte Umgänge mit der Asse.Das sind einerseits diejenigen, die dort billig entsorgt ha-ben, und andererseits die Grünen, die derzeit die Asseentdecken.

Vielleicht liegt es daran, dass ich dort wohne. Deshalbbrauchen Sie mir nicht zu erzählen, was dort los ist. Ichhätte es aber besser gefunden, Sie hätten während IhrerRegierungszeit im Bundesumweltministerium nicht allesunternommen, um die Zuständigkeit des Bundesum-weltministeriums zu verhindern.

(Beifall bei der FDP)

Ich hätte es gut gefunden, Sie hätten in Ihrer Regie-rungszeit nicht die Stellen im Bundesumweltministeriumgestrichen, die für die Beobachtung der Asse mit zustän-dig gewesen sind. Ich hätte mir außerdem gewünscht,Sie hätten Anträge wie diesen eingebracht, die richtigsind. Hätten Sie wesentlich früher mit der Sanierung derAsse begonnen, dann hätten wir heute nicht derartig dra-matische Probleme.

(Beifall bei der FDP)

Ich finde, was Sie hinsichtlich der Asse machen, isthochgradig pharisäerhaft.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Sie haben nichts unternommen. Sie wollten das nicht.Sie haben sich der Politik gebeugt, das so zu belassen,wie es ist. Sie wollten nicht hinschauen, und heute regenSie sich darüber auf.

Ich muss bei aller kollegialen Wertschätzung der Anti-atompolitik ganz offen sagen: So einfach kommen Sievor Ort nicht davon. Sie sind mitverantwortlich für dasHandeln.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Höhn?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Sehr gern.

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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Höhn, bitte sehr.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Umweltminister, können Sie bestätigen, dass das

Umweltministerium im Jahr 1998, als Jürgen Trittin indie Regierung eingestiegen ist, überhaupt nicht für dieAsse verantwortlich war, sondern dass die KolleginBulmahn als Bundesforschungsministerin die Verant-wortung für die Asse getragen hat? All das, was Sie jetztüber die Asse sagen, lag also in der Zuständigkeit IhrerSPD-Kollegin Bulmahn.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Ich kann bestätigen, dass in mehreren Vermerken desBundesumweltministeriums die Rechtsauffassung desBundesforschungsministeriums durch Ihren Minister be-stätigt wurde, dass es richtig sei, die Asse nicht unterAtomrecht zu bringen, und dass es richtig sei, die Assein der Verantwortung des Forschungsministeriums zubelassen, und dass es keine weiteren Anmerkungen zudiesen Vorstellungen des Forschungsministeriums gege-ben hat. Sie haben all das also wissentlich unterstützt,und Sie haben sogar noch eine Stelle gestrichen, durchdie die Asse bei uns im Ministerium mit unter Beobach-tung stand.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwi-

schenfrage: der Kollegin Kotting-Uhl?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Da sie sich anscheinend getroffen fühlen, gerne. So istdas Leben.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bitte sehr.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich diskutiere gerne mit Ihnen, Herr Minister. – Erin-

nern Sie sich, dass auch Sie bis zum Sommer 2008 derMeinung waren, die Zuständigkeit für die Asse liegebesser beim Forschungsministerium, wie Sie das jetztrückblickend dem Minister Trittin zuschreiben? Erin-nern Sie sich, dass Sie die gleichen Worte benutzt ha-ben? Erinnern Sie sich auch, dass Sie auch nicht durchunseren Antrag, sondern erst durch die Macht der Fak-ten, als nämlich die radioaktiven Laugen auftauchten,dazu bewegt werden konnten, die Asse unter Ihre Auf-sicht zu stellen?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, wir wer-den dieses Problem gemeinsam lösen. Die Kollegin FrauSchavan war die Erste, die das Bundesumweltministe-rium einbezogen hat. Ich erinnere mich gut, dass ich ge-

sagt habe, das Bundesumweltministerium ist zuständig,wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit eintritt.Dafür war damals nach § 19 des Atomgesetzes zu sor-gen.

Ich habe dann gesagt, es ist sinnvoller, dass wir beideuns einigen und mit der Asse beschäftigen, als dass wirein rechtsförmliches Verfahren beginnen. Dann habenwir etwas gemacht, was Sie nie getan haben, wir habendann nämlich einen Statusbericht in Auftrag gegeben,um zu wissen, was dort eigentlich los ist. Als der Status-bericht vorlag, erwies sich, dass ein Irrtum vorlag, waswir bis dahin nicht vermutet hatten: Die niedersächsi-schen Behörden unter Leitung von Herrn Umweltminis-ter Sander von der FDP – einschließlich der Bergbehör-den – waren nicht in der Lage, das Verfahren rechtmäßigzu führen.

Das ist übrigens auch die Antwort auf den Einwurfvon Frau Flachsbarth hinsichtlich des nicht sachgemä-ßen Umgangs mit Laugen. Ich habe niemals gesagt,dass die Strahlenbelastung zu hoch ist.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Aber na-türlich!)

– Nein, ich habe gesagt, sie hätten gegen geltendesStrahlenschutzrecht verstoßen. Das ist damals auch ge-tan worden.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein, nein!)

Wir haben das alles aufgeklärt. Wir haben kooperativzusammengearbeitet, statt uns diese Dinge immer hin-und herzuspielen.

Ich will gar nicht rechtfertigen, was dort auch unterfrüheren SPD-Regierungen gemacht worden ist. Es gehtmir nur darum, dass Sie sich hier jetzt aufspielen, alsseien Sie der Retter der Asse. Sie haben die Leute dortsieben Jahre lang alleingelassen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Bulmahn hat sie alleingelassen! Das warBulmahn, und das wissen Sie auch!)

Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich finde einfach, da-rüber muss man öffentlich reden, wenn Sie so mit demThema anfangen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Bundesminister, es gibt jetzt noch einen

Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen, nämlich den desKollegen Fell.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Ich muss mich einmal nach der Geschäftsordnung er-kundigen und fragen, ob ich eigentlich noch die Chancehabe, meine Rede zu halten.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich habe die Uhr angehalten. Sie haben noch jede

Menge Gelegenheit dazu.

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Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Dann gerne.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Fell, bitte sehr.

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Eine inter-aktive Rede!)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, danke, dass Sie mir die Gelegenheit

geben. – Sie haben so sehr hervorgehoben, dass Sie ausder Umgebung der Asse kommen und bestens über dieProbleme, die es dort seit vielen Jahren gibt, Bescheidwissen. Ich frage Sie: Warum haben Sie von diesenMissständen eigentlich nicht auch als Ministerpräsi-dent in Niedersachsen richtig Kenntnis gehabt, und wa-rum haben Sie nicht eingegriffen, sodass diese Miss-stände beseitigt wurden?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Ich will diese Frage gerne beantworten:

In der Tat war ich zum ersten Mal als 16-Jähriger undspäter als Abgeordneter mehrfach in der Asse. Die nie-dersächsische Landesregierung unter dem damaligenMinisterpräsidenten Gerhard Schröder hat als erste Lan-desregierung damit begonnen, Sanierungsmaßnahmen inder Asse durchzuführen – übrigens mit der Umweltmi-nisterin Monika Griefahn, einer sozialdemokratischenKollegin hier im Deutschen Bundestag. Damals wurdedamit begonnen, die Südflanke, so meine ich, zu stabili-sieren, nachdem vorher dort jahrzehntelang nichts pas-siert war.

Danach ist der Antrag durch das Forschungsministe-rium gestellt worden, mit der Planfeststellung zu begin-nen. Ab diesem Moment waren wir an der Debatte überdie Sicherungsmaßnahmen beteiligt. Wir haben sie sokritisch bewertet, wie Sie das auch heute von uns hören.Wir waren aber die Ersten in Niedersachsen, die Stüt-zungsmaßnahmen in der Asse veranlasst haben. Vorherhat sich niemand darum gekümmert.

Das ist die Antwort. Sie können aber gerne noch einpaar Fragen stellen.

(Heiterkeit bei der SPD)

Verstehen Sie mich richtig: Ich bin doch nicht derÜberzeugung, dass nur die Atomwirtschaft dort Fehlergemacht hat. Mich regt aber die pharisäerhafte Debatteauf. Ich sage Ihnen: Die Sozialdemokraten haben dasnicht unter die Verantwortung des Umweltministeriumsgestellt, die Christdemokraten haben das nicht getan, dieGrünen haben nicht darum gekämpft, sondern alles beimAlten belassen, und die Linkspartei hat sozusagen dieGnade der späten Geburt. Für das Erbe ihrer Vorläufer-organisation SED sind wir in Morsleben allerdings auchzuständig.

Wir alle haben dort also politisch unser Päckchen zutragen. Ich wehre mich aber gegen diese pharisäerhafte

Debatte, die Sie hier lostreten, wonach Sie das alles bes-ser gemacht hätten und wonach es bei uns einen Schlin-gerkurs hinsichtlich der Finanzierung gebe. Das alles ist– seien Sie mir nicht böse – Kokolores. Daran stimmtnichts. Wir haben das endlich in den Griff bekommenund versuchen, mit großer Intensität weiter daran zu ar-beiten. Die Menschen vor Ort erwarten von uns, dass wirdiesen Zirkus nicht fortsetzen,

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

– hört doch auf! –, sondern in der Art und Weise, in derwir uns in der Sache einig sind, arbeiten.

Es gibt zwei Dinge, die nicht gehen. Frau KolleginFlachsbarth, es ist nicht möglich, mit dem Hinweis aufdie angeblichen Sicherheitsbedenken das zu tun, wasder Kollege Sander in Niedersachsen will, nämlich mög-lichst schnell alles zu verfüllen, Deckel drauf und Ende,ohne zu wissen, was sich darin befindet und ob es lang-zeitsicher ist. Das machen wir nicht. Wir können dasnicht einfach nur deshalb, weil wir keine Lust mehr ha-ben, uns damit zu befassen, zulasten unserer Urenkelvergraben. Das ist unmöglich.

(Beifall bei der SPD)

Zweitens geht es nicht an – das sage ich kritisch andie Grünen gerichtet –, dass wir den Fehler wiederholen,den die Atomindustrie gemacht hat. Die Atomindustriehat politische Vorgaben machen wollen, wie mit derAsse umzugehen ist. Das hat dazu geführt, dass diesesChaos entstanden ist. Jetzt sagt Ihr Landstagskollege inNiedersachsen: „Der Gabriel muss das jetzt alles vor derBundestagswahl entscheiden; sonst glauben wir ihmnicht, dass das notfalls herausgeholt wird.“

(Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Tun Sie mir einen Gefallen, Frau Pothmer: Lassen Sieuns mit den Leuten reden, die etwas von der Sache ver-stehen. Sie gehören nicht dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – BärbelHöhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das istein bisschen überheblich!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Flachsbarth?

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur-schutz und Reaktorsicherheit:

Nein, ich würde gerne fortfahren. – Sie fordern „Allesraus, aber schnell!“. Das ist ein Motto für den Winter-schlussverkauf. Für die Asse ist es nicht geeignet. Diekritischen Wissenschaftler aus der Region sagen, dasswir Zeit brauchen. Genauigkeit geht vor Schnelligkeit.Es darf keine Schlampigkeit geben, nur weil die Bundes-tagswahl bevorsteht. Das werden wir durchhalten. Wasimmer Sie vor Ort sagen, wir werden nichts am Konzeptder Langzeitsicherheit ändern, und wir werden nicht,nur weil Sie gerne politischen Wahlkampf machen wol-len, Maßnahmen vorschlagen, die die Menschen dort auf

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Bundesminister Sigmar Gabriel

lange Sicht gefährden werden. Das werden wir nicht ma-chen, Frau Pothmer, auch wenn Sie es öffentlich fordern.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte noch einige wenige Bemerkungen zumThema Kernenergie machen. Ich finde, es macht Sinn,den Blick darauf zu richten, wie in der Vergangenheit ar-gumentiert worden ist. Dazu habe ich eine schöne An-zeige gefunden. Das, was heute zu diesem Thema ge-sagt wurde, scheint wieder in dieselbe Richtung zuführen. Der Wiedergänger in dieser Debatte, FrauBrunkhorst – das immer wieder auftauchende Thema –,ist die Kernenergie selber. Es sind nicht diejenigen, dievor den Gefahren warnen. Ich zitiere:

Strom aus Wind: Ja, aber …

– Das entspricht ein bisschen Ihrer Debatte. –

Die Dänen sind europäischer Spitzenreiter bei derNutzung der Windenergie: 1988 wurde in Däne-mark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Winderzeugt – das entspricht einem Anteil von0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch.

Jetzt kommt es:

Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraftist in der Bundesrepublik wegen anderer klimati-scher Bedingungen nicht möglich … Fragen zurKernenergie beantwortet gerne: InformationskreisKernenergie

Dieselbe Debatte erleben wir heute. Sie wollen denLeuten weismachen, man brauche die Atomenergie inder Grundlast, weil die erneuerbaren Energien nicht aus-reichten. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist richtig. Weröffentlich erklärt, man brauche wegen der fluktuierendenEnergie im Netz aus Wind oder Sonne die Atomenergiein der Grundlast, der hat entweder nicht verstanden, wieein Elektrizitätsnetz oder ein Atomkraftwerk funktio-niert, oder er sagt der Öffentlichkeit bewusst die Un-wahrheit.

(Beifall bei der SPD und bei der LINKEN so-wie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Atomenergie und erneuerbare Energien sind nicht zukombinieren. Wer wissen will, was dabei herauskommt,wenn man es versucht, konnte dies gerade beim Abfah-ren von Biblis A erleben. Man kann Atomkraftwerkenicht als Regelkraftwerke nutzen. Deswegen funktio-niert die Kombination Atomenergie und erneuerbareEnergien nicht.

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

– Es tut mir leid, dass Sie sich jetzt getroffen fühlen.Aber ich meinte Sie auch.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Diese Kombination funktioniert nicht. Allerdingsbraucht man Regelkraftwerke aus anderen Energiefor-men. Selbst wenn wir – wie es die Grünen wollen – bis2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an derStromversorgung auf 40 Prozent erhöhen, brauchen wir

Regelkraftwerke. Das sind dann unter den Bedingungendes Emissionshandels Kohle- und Gaskraftwerke.Dass die Grünen den Ausstieg aus Atomenergie und ausder Kohleenergie fordern und dann als einzige Regel-energie die Gasverstromung zur Verfügung steht, istnicht möglich. Das ist zu teuer. Deswegen ist eine De-batte über die Nutzung im Rahmen des Emissionshan-dels für Kohle notwendig.

Die Atomenergie ist weltweit bei weitem nicht aufdem Vormarsch, wie es öffentlich behauptet wird. Esgibt 436 Atomkraftwerke. 200 davon sind so alt, dass siein den nächsten Jahren erneuert werden müssten. Es lie-gen um die 40 Bauanträge vor. Einige davon sind20 Jahre alt.

Vielleicht will man sich nicht auf politische Aus-stiegsbeschlüsse verlassen. Auf den Kapitalismus kannman sich in der Regel eher verlassen. Es geht um Kostenin Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro. Es dauert 15 Jahre,bis man das Geld zurückbekommt. Ich bin gespannt, wiesexy dieses Investment nach den Erfahrungen des Fi-nanzmarktes beim Wiederanspringen der weltweitenKonjunktur ist. In Europa befindet sich de facto einAtomkraftwerk im Bau, und zwar in Finnland. Das wirdgerade vor die Wand gefahren. 700 Millionen Euro hatdort ein deutsches Unternehmen versenkt, glaube ich.Die Mehrkosten belaufen sich auf über 1 Milliarde Euro.Die Bauzeit verlängert sich um zwei Jahre. Wenn man soetwas als Wirtschaftsförderung in Deutschland einführenwill, dann kann ich nur gute Besserung wünschen.

(Beifall bei der SPD)

Völlig unterschätzt wird die Proliferationsgefahr.Wenn wir den Leuten weltweit sagen: „Die Atomenergieist das Richtige“, dann machen wir das, was die Indertun: Sie setzen nicht auf Uran – Frau Kotting-Uhl hatrecht, wenn sie sagt, das Uranvorkommen sei begrenzt –,sondern gleich auf Plutonium. Das bedeutet, die Verbrei-tung waffenfähigen Nuklearmaterials nimmt weltweitauf dramatische Weise zu, wie wir es uns zur Zeit desKalten Krieges nicht hätten vorstellen können. Wer derWelt erklärt, allein die Atomenergie sei die Energie derZukunft, der darf sich nicht wundern, wenn ein paar Ver-rückte in dieser Welt zuhören und sie auch haben wollen.

(Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Wer tut denn das?)

– Unter anderem Sie mit Ihrer Propaganda und der Be-hauptung, es gebe eine Renaissance der Kernenergie.

(Beifall bei der SPD – Katherina Reiche [Pots-dam] [CDU/CSU]: Ach Gott!)

Frau Reiche, es war nicht der Bundesumweltminister,der erklärt hat, Atomenergie sei Bioenergie. Das warendoch Sie von der CDU/CSU. Für Sie ist wahrscheinlichdie Asse eine Biotonne; das nehme ich stark an.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Wir jedenfalls setzen weiterhin auf Effizienz und erneu-erbare Energien.

(Zuruf von der CDU/CSU)

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Bundesminister Sigmar Gabriel

– Herr Kollege, ich habe nicht erwartet, dass meine Redeauf ungeteilten Beifall stößt; das wollte ich auch nicht.

Ich möchte Ihnen nicht die Umfragen ersparen, dieSie so nett zitiert haben. Das war zwar sehr freundlich,aber ich muss Sie leider korrigieren. Wir haben auf derBMU-Homepage eine Onlinebefragung – auf diese habenSie verwiesen – durchgeführt. Es gab 14 726 Votings. Al-lerdings waren Mehrfachabstimmungen zugelassen. DasErgebnis ist: 57 Prozent sind gegen den Atomausstieg.Nun hat die Welt, die sich solchen Umfragen offensicht-lich sehr verbunden fühlt, diese Umfrage fortgeführt.Man hat wahrscheinlich gedacht: Wir ärgern jetzt denUmweltminister, führen seine Umfrage fort – da so vieleMenschen für die Kernenergie sind – und zeigen, wiedas geht. – Bei der fortgeführten Umfrage gab es 59 734Votings. Dabei waren Mehrfachabstimmungen ausge-schlossen. Nun raten Sie einmal, wofür es eine Mehrheitgab? 51 Prozent waren für den Atomausstieg.

(Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warumhaben Sie das dann von Ihrer Homepage ge-nommen?)

– Sie irren sich. Die Ergebnisse finden Sie weiterhin aufunserer Homepage.

Es wird noch besser. Unabhängig von dieser gekaper-ten Umfrage bietet diese Zeitung seit dem 18. Februarihren Lesern ein weiteres Onlinevoting zum Atomaus-stieg an. Auf die Frage: „Sollen alle deutschen Atom-kraftwerke abgeschaltet werden?“

(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: „Onlinevo-ting“!)

– Sie haben das in Ihrer Rede eingeführt, ich zitiere nurdie Umfragen, die Sie auch zitiert haben; mehr macheich nicht – erklären 84 Prozent derjenigen, die an dieserUmfrage teilgenommen haben: Ja, sofort aussteigen. DasPünktchen auf dem I in Sachen Umfragen setzt die glei-che Zeitung mit einem Bericht vom 1. März 2009, indem sie auf eine repräsentative Umfrage der GfK imAuftrag der Welt am Sonntag – nun dürften alle im Saalberuhigt sein – hinweist. Unter der Überschrift „Mehr-heit will den Atomausstieg“ heißt es:

Das Ergebnis zeigt, dass die Vorbehalte gegenKernenergie in der Bevölkerung noch immer über-wiegen: 53,2 Prozent der Befragten plädierten da-für, am deutschen Atomausstieg wie geplant festzu-halten. Nur 29,7 Prozent hielten es dagegen fürrichtig, die gesetzlich begrenzten Laufzeiten derdeutschen Meiler doch wieder zu verlängern.

Fazit: Die Debatte über die Renaissance der Kern-energie wird von den Marketingabteilungen der Unter-nehmen getriggert. Diejenigen, die sich hier missbrau-chen lassen, machen sich zu Lobbyisten der vier großenEnergieversorger, die 1 Million Euro pro Tag an einemweiterlaufenden, abgeschriebenen alten Atomkraftwerkverdienen. Darum geht es, und nicht um Klimaschutz.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Michael Kauch (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de-

battieren heute über einen Antrag der Grünen; dort heißtes: Atomkraft ist lebensgefährlich. Liebe Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, Sie haben sieben Jahrelang den Umweltminister gestellt. Wenn Anlagen le-bensgefährlich sind, dann muss man sie abschalten, unddann macht man keinen Kompromiss. Ein Bundesum-weltminister muss unsichere Anlagen abschalten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie waren aber offensichtlich nicht so unsicher, dass sielebensgefährlich waren. Sie machen diese PR-Showrechtzeitig vor der Bundestagswahl, damit Sie ein Themahaben, weil Ihnen sonst im Bundestagswahlkampf nichtseinfällt. Das ist ein wirklich durchsichtiges Manöver.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die FDP-Bundestagsfraktion strebt langfristig einevollständig regenerative Energieversorgung an. Abermittelfristig werden wir weiterhin einen Energiemixbrauchen. Alles andere ist Wunschdenken. Man kann esnicht so machen, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern.Dort steht: „ … bis 2020 können es 30 – 50 % sein.“ DerHintergrund ist: Die Grünen sind sich doch selber nichteinig, wie schnell der Umstieg auf die regenerativen Ener-gien erfolgen kann. Sie haben auf ihren Parteitagen im-mer wieder die Debatte gehabt, ob die vollständige Ver-sorgung durch regenerative Energien bis 2020 möglichist. Herr Fell sagt das eine, Herr Loske das andere. Dasist Chaos. So kann man keine verantwortliche Energie-politik in Deutschland machen.

(Beifall bei der FDP)

Wir als FDP-Bundestagsfraktion glauben, dass eineVerlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke nötigist. Ich sage ganz eindeutig: Die Kernenergie ist für unseine Übergangsenergie. Deshalb bedeutet die Forderungnach einer Laufzeitverlängerung nicht die Forderungnach einem Neubau von Kernkraftwerken. Wir glaubenaber, dass wir die Grundlastversorgung für den Wirt-schaftsstandort Deutschland eben nicht zu einem ver-nünftigen Preis sicherstellen können, wenn wir nur aufGas setzen. Nur auf Gas setzen bedeutet auch die Ab-hängigkeit von nur wenigen Quellen. Das ist eben nichtverantwortbar. Wir können die Energiepolitik nicht aus-schließlich nach einigen wenigen Kriterien machen, dieSie sich wünschen, sondern wir müssen darauf achten,dass die Energieversorgung zu einem vernünftigen Preisauch für unsere Industrie gesichert ist.

(Beifall bei der FDP)

Wir haben hier viel über die Asse gesprochen. Wirsollten aber auch Folgendes in den Blick nehmen: Was

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Michael Kauch

ist falsch gelaufen, und was machen wir in der Zukunft?Unabhängig davon, ob wir die Kernkraft weiter betrei-ben oder nicht und wie lange wir sie weiter betreiben:Klar ist, dass wir in den letzten 50 Jahren Atommüllproduziert haben. Daran sind wir alle beteiligt. MeineDamen und Herren von den Grünen, viele von Ihnen wa-ren früher in anderen Parteien, waren zum Teil auch inpolitischen Jugendorganisationen tätig, zum Teil bei uns– Ihre Vorsitzende etwa war bei den Jungdemokraten –oder bei den Sozialdemokraten. Sie können sich hiernicht reinwaschen und so tun, als sei Ihre Bewegung völ-lig frei von irgendwelchen historischen Verantwortun-gen. Sie haben sieben Jahre lang den Umweltministergestellt. Dieser Umweltminister hat sieben Jahre langnichts getan, um den Atommüll unter die Erde oder wo-hin auch immer zu bringen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben den Atomausstieg beschlossen!)

Sie haben kein Konzept. Sie können nur kritisieren. AberSie haben nichts geleistet.

(Beifall bei der FDP)

Wir wollen nicht – wie hier gerade behauptet wurde,um eine neue Gorleben-Lüge aufzubauen – Gorleben alsEndlager in Betrieb nehmen. Wir wollen, dass geforschtwird. Wir wollen im Übrigen auch, dass Konzepte einerrückholbaren Lagerung von Atommüll geprüft werden,aber nicht so, wie das der Umweltminister will, um dasGanze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben,sondern um tatsächlich eine seriöse Abschätzung zu er-reichen: Welches Konzept ist für kommende Generatio-nen von der historischen Verantwortung her, die wir hieralle zu tragen haben, am ehesten zu verantworten?

(Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: So lange wollen Siedie laufen lassen und immer mehr Müll produ-zieren! Peinlich! Verantwortungslos!)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva

Bulling-Schröter das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn die Dinge schlecht laufen, werden wir im Herbsteine Regierung haben, die den Atomausstieg zurückneh-men will. Wie das dann läuft, haben wir gerade erfahren.Im Übrigen: Wer brüllt, hat nicht immer recht.

(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ausschlie-ßen kann man es auch nicht!)

Leider könnte dann Schwarz-Gelb die Früchte einerTaktik ernten, die darin bestand, das Abschalten vonAKWs in dieser Legislaturperiode zu verhindern. Ob-wohl der sogenannte Atomkompromiss unter Rot-Grünbereits 2000 beschlossen wurde, gingen seitdem geradeeinmal zwei AKWs vom Netz, unter der jetzigen Koali-tion kein einziges.

Der Begriff Atomausstieg verbietet sich eigentlich;denn durch ewig lange Stillstandszeiten und andereTricksereien wurde ermöglicht, Restlaufzeiten zu bun-kern und die Abschaltung in die nächste Wahlperiode zuverschleppen – natürlich in der Hoffnung, unter einer an-deren Regierung den Ausstieg endlich zu kippen. Dieshaben wir heute bis zum Erbrechen gehört. Es bewahr-heitet sich die damalige Prognose der Linken: Die garan-tierten Restlaufzeiten sind nicht nur eine Verstromungs-garantie für AKW-Betreiber, die sie vorher nie hatten,sondern sie verhindern auch, dass der Ausstieg unum-kehrbar wird. Wir aber wollen einen unumkehrbarenAusstieg.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Seit Monaten hören wir nun ein Trommelfeuer derStromkonzerne, Union und Liberalen, sekundiert vonRWE-U-Booten bei der Deutschen Energie-Agentur. Eswird behauptet, wir bräuchten in Deutschland neueAtom- und Kohlekraftwerke sowie längere Laufzeiten,da es bald eine Stromlücke geben werde. Das ist falsch.Ich wiederhole: Deutschland hat keine Strom-, sonderneine Handlungslücke.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENund des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Hier nützt auch die Imagekampagne der Energiekon-zerne nichts, die explizit für Frauen Überzeugungsarbeitleisten soll. Frauen sind nicht so dumm; sie wissen, wasZukunftsfähigkeit heißt.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Gerade in der letzten Woche wurde auf dem Jahres-kongress der Erneuerbaren Energien die Ausbaupro-gnose bis 2020 bekanntgegeben. Stimmen die politi-schen Rahmenbedingungen, so ist bis dahin mit einemÖkostromanteil von 47 Prozent zu rechnen. Anfang der90er-Jahre war noch allgemeine Lehrmeinung, dass esniemals mehr als 4 Prozent erneuerbare Energien imNetz geben werde. Seitdem sind regelmäßig alle Progno-sen übertroffen worden, nicht nur die der Bundesregie-rung und der Wissenschaft, sondern auch die der Erneu-erbaren-Branche selbst.

Interessanterweise hat die jetzige Prognose denStromverbrauch vorsichtshalber fast konstant gelassen.Dies ist angesichts der fehlenden politischen Impulse zurSenkung des Energieverbrauchs – man könnte auch sa-gen: angesichts der Blockade – kein Wunder. Das Ener-gieeffizienzgesetz – Sie wissen, wovon ich spreche; wirstreiten im Umweltausschuss gerade darüber – ist längstüberfällig und wird vom neuen Wirtschaftsminister tor-pediert. Erstaunlich ist aber, dass das CCS-Gesetz, dasjetzt auch als Kohleverstromungsgarantiegesetz bekanntist, innerhalb von wenigen Monaten nach Erlass der EU-Richtlinie ins Kabinett kommt. In der nächsten Wochesoll dies so weit sein. Die Milliarden für die riskanteTechnik stehen auch schon bereit, obwohl es gesell-schaftlich und wissenschaftlich höchst umstritten seindürfte, ob es sinnvoll ist, Milliarden an Tonnen Kohlen-

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Eva Bulling-Schröter

dioxid unter die Erde zu pressen. Das Energieeffizienz-gesetz hingegen, das nach EU-Recht schon seit fast ei-nem Jahr umgesetzt sein sollte, liegt immer noch auf Eis.

Man hat gelegentlich den Eindruck, als sei die Koali-tion auf der Suche nach einer sich selbst erfüllenden Pro-phezeiung: bloß keine wirklichen Fortschritte beim Ener-giesparen, damit das Märchen von der Stromlücke Wahr-heit werden kann.

Für interessant halte ich die Aussage von MinisterGabriel im Spiegel, mit einer Großen Koalition sei einestimmige Energie- und Umweltpolitik nicht zu machen.Wahre Worte!

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Da hat er recht! – Volker Schneider [Saarbrü-cken] [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat errecht!)

Meine Frage ist jetzt, ob es mit einer Ampel funktioniert.Angesichts der heutigen Reden wage ich dies zu bezwei-feln.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union will nuntatsächlich mit der Legende in den Wahlkampf ziehen,Atomstrom senke die Strompreise. Man glaubt offen-bar, dass Eon und Co. die Preise jemals unter den Groß-handelspreis senken würden. Warum sollten sie das tun?Atomstrom ist in der Herstellung gegenwärtig vielleichtnoch preiswert, auch weil die Risiken und Nachfolge-kosten nicht eingepreist sind. Die Konzerne brauchenauch keine Versicherungsprämien zu bezahlen, weilkeine Versicherung sie annimmt. Sie verkaufen denAtomstrom zum Großhandelspreis an der Börse. Dasheißt natürlich, dass die Preise nicht sinken. Deshalbsind Atomkraftwerke – übrigens auch Braunkohlekraft-werke – Gelddruckmaschinen. Jeder Tag Laufzeitverlän-gerung bringt den AKW-Betreibern rund 1 Million EuroProfit. Diese Zahl wurde schon genannt. Ich denke, dasmüssen wir den Wählerinnen und Wählern noch viel öf-ter sagen. So viel zum Thema soziale Preise, von denenSie, Frau Brunkhorst, reden.

Ich wiederhole: 1 Million Euro Profit pro Tag. Umdiesen Profit abzukassieren, wäre vielleicht die Brenn-elementesteuer geeignet, die Herr Minister Gabrielschon seit Monaten plant, die er aber leider nicht durch-setzen kann. Ich habe schon in den Haushaltsberatungengesagt, dass wir eine Brennelementesteuer unterstützen.Das wäre der einzige Weg, irgendwie an die absurd ho-hen Gewinne heranzukommen, die den AKW-Betreibernaus dem Emissionshandel zusätzlich zufließen; denndurch die Zertifikatekosten steigt der Großhandelspreisnoch ein Stück an. Ich meine, in dieser Beziehung musswesentlich mehr getan werden.

Zum Schluss kann ich sagen: Wer wie die Union dieLaufzeiten der Kernkraftwerke um weitere 30 Jahre ver-längern will, ist ein verantwortungsloser Lakai derAtomverstromer;

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

denn das bedeutet nicht nur 30 Jahre mehr Risiko undzusätzliche Berge von Atommüll, sondern das bedeutetauch 30 Jahre mehr Extraprofite in Milliardenhöhe ausdem Zertifikatehandel. Dann wird es nichts mit sozialenPreisen. Da geht es nur noch um die Gewinne der Kon-zerne. Vielleicht verspekulieren sie dieses Geld, unddann müssen wir ihnen Zuschüsse geben wie jetzt vielenanderen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die

heutige Debatte ist zum einen dem Bundestagswahl-kampf geschuldet, zum anderen habe ich den Eindruck,dass insbesondere bei den Grünen allmählich ankommt,dass sich das Blatt in Sachen Kernenergie wendet. DerKollege Hirte hat den früheren Greenpeace-DirektorStephen Tindale zitiert. Das Bemerkenswerte an dem Zi-tat ist nicht, dass er von seiner Meinung gesprochen hat,sondern das Entscheidende ist, dass er auf die wach-sende Zahl von Umweltschützern hingewiesen hat, diesagen, Kernkraft sei vielleicht nicht ideal, aber besser alsder Klimawandel.

(Marco Bülow [SPD]: Sie müssen genau hin-sehen!)

Es lassen sich eine ganze Reihe von Zeugen aus diesemUmfeld finden. Da gibt es zum Beispiel Chris Goodall,ein britischer Grüner, also einer von Ihrer Couleur, undetliche andere.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zwei, drei finde ich auch bei Ihnen!)

– Mir war klar, dass Sie jetzt diesen Zwischenruf brin-gen.

Ich führe aber jetzt einen ganz anderen an, weil derHerr Bundesumweltminister dazu einige Bemerkungengemacht hat, nämlich den Ausstiegskanzler GerhardSchröder. Er hat am 21. Februar 2009 gesagt, der Iranhabe das Recht auf die friedliche Nutzung der Kernener-gie. Jetzt frage ich mich, wie das mit dem kompatibel ist,was vorhin der Bundesumweltminister in Bezug aufSchurkenstaaten und zum Thema atomwaffenfähigesMaterial gesagt hat. Wie geht denn das zusammen?

(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD:Sagen Sie doch mal Ihre Meinung dazu!)

Schröder war immerhin der Kanzler der rot-grünen Ko-alition. Dass Ihnen das nicht gefällt, meine Damen undHerren, ist mir klar. Frau Höhn sagte vorhin, Schwedenhabe kurz vor dem Super-GAU gestanden;

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

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Dr. Georg Nüßlein

deshalb müsse Deutschland aus der Atomenergie aus-steigen. Da frage ich mich, warum die Konsequenz ausdiesem angeblichen Super-Gau in Schweden der Wie-dereinstieg ist. Das ist doch etwas, was man sich beimallerbesten Willen nicht erklären kann.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höhn?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Nüßlein, Sie haben eben auf Schweden hingewie-

sen und gesagt, Schweden habe die Konsequenz gezogen,nach dem Fast-Super-GAU wieder in die Atomkraft ein-zusteigen. Können Sie bestätigen, dass Schweden eineschwarz-gelbe Regierung hat, und damit der Bevölkerunghier deutlich machen, was kommen würde, wenn wirnach der Bundestagswahl Schwarz-Grün hätten, nämlichein Einstieg in die Atomkraft?

(Zurufe von der SPD: Schwarz-Gelb!)

– Schwarz-Gelb natürlich.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, was uns

Schwarz-Grün an dieser Stelle bringen würde. DiesesSzenario hier auszubreiten, würde – so gern ich es tunwürde – den Rahmen sprengen.

Natürlich ist das eine energiepolitische Entscheidungeiner solchen Koalition. Die Koalition dort vertritt dieBevölkerung. Wenn das, was Sie behauptet haben, wahrwäre – dass man dort tatsächlich vor einem GAU gestan-den hat –, dann wäre es – da bin ich mir sicher – völligegal gewesen, welche politische Farbe eine Koalitionhat. Sie würden unter solchen Umständen nichts zu-stande bringen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaubenicht, dass das mehrheitsfähig wäre; es wäre hier wiedort nicht durchsetzbar. Damit möchte ich nur zeigen,wie sehr Sie mit dem, was Sie an dieser Stelle immer be-haupten, überzeichnen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie glauben an den Weihnachtsmann!)

Das zeigt sich durchgängig auch in Ihren Anträgen. InBezug auf Krümmel und Brunsbüttel sprechen Sie, dieGrünen, tatsächlich von Störfällen, obwohl Sie genauwissen, dass das, was dort geschehen ist, nach der inter-nationalen achtstufigen INES-Skala der Stufe 0 ent-sprach,

(Widerspruch der Abg. Bärbel Höhn [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

also einem Ereignis ohne Bedeutung; das ist klipp undklar festzustellen. Sie wollen das Ganze natürlich inte-ressegeleitet hochstilisieren, um Stimmung zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist ein Unding. Die politische Institution ist das eine.Menschen in diesem Land komplett zu verunsichern, siein Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar nur auseinem Interesse, nämlich daraus politisches Kapital zuschlagen, ist das andere. Das, was Sie dort tun, ist unver-antwortlich.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage der Kollegin Höhn?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Wenn die Frau Kollegin einen Dialog wünscht, dann

gern.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Höhn, bitte sehr.

Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Nüßlein, Sie haben eben Krümmel angespro-

chen. In Krümmel hat der Trafo gebrannt. Wollen Siehier ernsthaft behaupten, dass diesem Trafobrand dieSicherheitsstufe 0 entsprach? Das hätten wir gerne imProtokoll.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Gemäß der internationalen INES-Skala entsprach das

der Stufe 0.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht!)

So ist meine Auskunft.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)

So muss ich das an dieser Stelle weitergeben. So habenwir es recherchiert. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist keinGrund, die INES-Skala zu ändern, Frau Höhn.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Keine Ahnung! Recherchieren Sie beimnächsten Mal besser!)

Es stimmt doch, dass sich Ihr Sprachschatz in diesemZusammenhang aus Wörtern wie „Risiken“, „Terror“,„Lebensgefahr“ und „unverantwortlich“ zusammensetzt.Ich muss an das anknüpfen, was der Kollege Kauch vor-hin schon gesagt hat. All das, was Sie jetzt sagen, habenSie schon gesagt, bevor Sie in Regierungsverantwortungkamen. Dann haben Sie beschlossen, dass die Kernreak-toren in diesem Land noch maximal 20 Jahre laufen dür-fen. Ihr Beschluss! In Ihrer Regierungszeit waren Siealso plötzlich der Meinung: Die Kernenergie ist für dienächsten 20 Jahre ungefährlich und akzeptabel.

(Marco Bülow [SPD]: Ein Kompromiss war das!)

– Kompromiss oder nicht Kompromiss: Wenn wir derMeinung wären, dass das Ganze tödlich, lebensgefähr-lich, von Terrorrisiken nicht abschirmbar ist, dann wür-den wir dort sofort aussteigen.

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Dr. Georg Nüßlein

Im Übrigen haben Sie mit der „Vereinbarung zwi-schen der Bundesregierung und den Energieversor-gungsunternehmen vom 14. Juni 2000“ – ich habe sieda; vielleicht wollen Sie sie noch einmal anschauen – et-was anderes unterschrieben. In dieser Vereinbarung wirdden deutschen Kernkraftwerken explizit ein hohes Si-cherheitsniveau attestiert. Ich wiederhole: Sie habendiese Vereinbarung unterzeichnet.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, Herr Kollege Kauch von der FDP-Frak-

tion würde gern eine Zwischenfrage stellen. GestattenSie diese?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Gern.

Michael Kauch (FDP): Herr Kollege, bei aller grundsätzlichen Übereinstim-

mung möchte ich Sie fragen, ob es nicht hilfreich wäre– auch im Hinblick darauf, die Akzeptanz der Kernener-gie als Übergangsenergie zu sichern –, sich mit Fragender Reaktorsicherheit aktiv auseinanderzusetzen. Wirkönnen nicht so tun, als gäbe es keine Gefahren, als gäbees keine Störfälle in deutschen Kernkraftwerken. Es istwichtig, dass wir uns mit diesen Fragen seriös auseinan-dersetzen und diese Punkte nicht in diesen Schlagab-tausch einbinden.

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Niemand sagt, dass wir das nicht tun. Wir tun es auch.

Wir haben immer gesagt: Kernenergie muss ein hohesSicherheitsniveau einhalten. Das ist ganz entscheidend.Im Umweltausschuss haben wir zum Beispiel den Aus-stieg aus Euratom abgelehnt – den die Grünen geforderthaben –, weil wir der Meinung sind: Angesichts der Tat-sache, dass sich immer mehr Staaten um uns herum wie-der für die Kernenergie entscheiden, müssen wir das ko-ordinieren. Dass dabei die nationale Sicherheit einThema ist, ist klar. Aber das, was um uns herum passiert,muss uns auch deshalb bewegen – das ist an der Stelleganz wesentlich –, weil wir nicht sagen können:Deutschland ist die Insel der Glückseligen; bei uns istdas Sicherheitsniveau hoch, und was mit einem Kern-kraftwerk auf der anderen Rheinseite ist, ist uns letztend-lich egal.

Das ist auch die Problematik, über die wir hier disku-tieren: Was bringt unter Sicherheitsgesichtspunkten derdeutsche Ausstieg aus der Kernenergie? Gar nichts,meine ich. Wenn um uns herum Kernkraftwerke enmasse existieren und mit einer gewissen Wahrschein-lichkeit auch noch neue gebaut werden, dann wird sichan der Sicherheitslage für die Bürgerinnen und Bürgernichts, aber auch gar nichts ändern.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIELINKE]: Mir reicht es schon! Ich brauchenicht noch eines im Saarland!)

In Deutschland sind nur Anlagen zulässig, von denenkeine Gefahren für Leben und Gesundheit ausgehen.Das ist Atomrecht, das auch schon unter Rot-Grün ge-

golten hat. Damals haben Sie gemeint, dass die existie-renden Anlagen diesem Sicherheitsgrundsatz entspre-chen. In der Opposition sind Sie, liebe Kollegen von denGrünen, offenkundig anderer Meinung. Das gilt entspre-chend für die Linken.

Die Frage ist: Was hat sich seitdem getan? Sie führenjetzt Terrorgefahren an. Der große Terroranschlag in denUSA war am 11. September 2001. Danach haben Sienoch vier Jahre regiert. Da fand sich bei Ihnen kein Satzzu diesem Thema.

Sie sagen: Keiner der heute betriebenen Reaktorenkönnte dem gezielten Angriff mit einem vollgetanktenGroßraumjet standhalten; das bestätigten sogar die Re-aktorbetreiber übereinstimmend.

Mir sagen die Reaktorbetreiber etwas anderes.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sagen die Ihnen denn?)

Abgesehen von der Frage, ob man die an der Stelle alsKronzeugen nehmen soll: Wenn Sie sie als Zeugen an-führen, dann bitte nicht auch noch falsch und nur zu Ih-ren Zwecken!

Bei Ihnen, meine Damen und Herren, gilt der Grund-satz: Der Zweck heiligt die Mittel. Deshalb argumentie-ren Sie mit Störfällen so, wie Sie es brauchen. Das ärgertmich persönlich.

Mich als glühenden Anhänger der erneuerbaren Ener-gien ärgert besonders, dass hier ein Gegensatz konstru-iert wird. Das ist falsch. Herr Bundesumweltminister,wenn Sie sagen, erneuerbare Energien und Kernenergiegingen nicht miteinander, dann verkennen Sie die Reali-tät. Es funktioniert doch. Wir haben die erneuerbarenEnergien ausgebaut, beginnend mit dem Stromeinspeise-gesetz unter der Regierung Kohl über das EEG – ein gro-ßes Verdienst von Rot-Grün; unbestritten – bis hin zudessen aktueller Novellierung. Wir brauchen aber auchgrundlastfähige Kraftwerke. Grundlast liefern nun ein-mal die Kernenergie und die Kohle. Wenn man gegenbeides ist, muss man sagen, wofür man ist.

In nur einem Jahr haben die Bürgerinnen und Bürgerin diesem Land erlebt, wie nacheinander jeweils eineEcke des Zieldreiecks, das wir hier immer beschwören,wichtiger geworden ist: zunächst der Klimaschutz, dannder Preis, als nämlich die Wirtschaft geboomt hat, unddann die Verlässlichkeit, als Russland den Gashahn zu-gedreht hat. Das sensibilisiert die Leute. Wir werden er-leben – davon bin ich überzeugt –, dass ein Umdenkeneinsetzt und zu Umfrageergebnissen führt, die dem Bun-desumweltministerium nicht passen.

Vielen, herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege

Marco Bülow.

(Beifall bei der SPD)

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Marco Bülow (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Her-

ren! Wir brauchen einen nachhaltigen Umbau unseresEnergiesystems. Am Ende muss stehen: Unser Energie-system ist höchst effizient und basiert zu 100 Prozent auferneuerbaren Energien. Ich glaube, das ist die wichtigsteBotschaft; diese sollte man immer wieder an den Anfangsetzen. Alles andere wäre klimaschädlich und umwelt-schädlich. Aber nicht nur das: Es wäre auch wirtschaft-lich und sozial nicht verträglich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir alle wissen ja, dass die fossilen Ressourcen – dasgilt übrigens auch für Uran – endlich sind, sogar sehrendlich, wenn wir in Zukunft mehr davon verbrauchen.Wir wissen auch, dass wir von vielen dieser Ressourcenabhängig sind und eine Abhängigkeit von Ländern, indenen Risikoregierungen herrschen, auch für uns ein Si-cherheitsrisiko darstellt.

Die Frage ist also eher: Wie lange brauchen wir fürden Umstieg auf ein anderes Energiesystem, und auswelchem Energieträger steigen wir zuerst aus? Die So-zialdemokratie beantwortet den zweiten Teil der Fragedamit, dass wir insbesondere aus der hochriskantenAtomtechnologie aussteigen sollten. Ich erinnere daran,dass es sich bei der Vereinbarung zum Atomausstieg,die ja gerade auch von Ihnen, Herr Nüßlein, noch einmaldargestellt worden ist, um einen Kompromiss handelt.Ich gehörte zu denjenigen, die früher aussteigen wollten,und viele in meiner Partei ebenso.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben uns aber zusammengesetzt, weil wir einenfriedlichen Übergang haben wollten, und haben einenKompromiss geschlossen. Wir stehen so lange zu demKompromiss, wie das die Atomindustrie auch tut. Sie istjedoch diejenige, die jeden Monat, fast sogar jede Wochemit Sprüchen und Ankündigungen versucht, einen Bei-trag zur Aufkündigung dieses Kompromisses zu leisten.Wenn sie ihn aufkündigt, werden auch wir ihn aufkündi-gen. Das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Daswerden wir immer wieder deutlich machen.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bin es auch leid, immer wieder dagegen anzure-den, wenn diese falschen Versprechungen, diese Lügen,die von der Atomlobby vorgebracht werden, für bareMünze genommen werden. Herr Minister Gabriel hat jagerade ein gutes Beispiel gebracht. 1990 – so lange istdas ja noch nicht her – hat der Informationskreis Kern-energie verlautbaren lassen, dass ein Anteil der Wind-energie an der Stromerzeugung in Deutschland von mehrals 0,9 Prozent technisch unmöglich sei. Deren Anteilbeträgt jetzt 7 Prozent. Das haben wir in kurzer Zeit ge-schafft. Wir werden noch viel mehr schaffen.

Dann kommt die nächste Lüge gegen die erneuerba-ren Energien, nachdem sie jetzt einen gewissen Anteilhaben und man sie nicht mehr ganz verteufeln kann.

Mittlerweile gibt es ja auch in der Union viele glühendeVerehrer, wie wir vernehmen konnten. Ich hätte mir al-lerdings gewünscht, dass die Zustimmung zum EEGvonseiten der Union schon in der letzten Wahlperiodenoch höher ausgefallen wäre.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)

Es ist aber gut, dass sich da etwas verändert hat.

Nun wird also gegen die Erneuerbaren vorgebracht:Ja, aber der Wind weht nicht immer, die Sonne scheintnicht immer; eine sichere Versorgung bekommen wir nurhin, wenn wir auf Atomenergie zurückgreifen können.Auch das stimmt nicht. Es gibt zum einen viele Kraft-werke auf Basis fossiler Energieträger, die dazu ihrenBeitrag leisten können, und zum anderen – darauf hatnoch kein Redner hingewiesen – gibt es die Möglichkeit,verschiedene Arten erneuerbarer Energien in Kombi-kraftwerken zusammenzuschließen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)

Wenn wir das fördern, werden wir sehen, dass durch dasZusammenwirken verschiedenster erneuerbarer Ener-gien auch der Grundlaststrombedarf abgedeckt werdenkann. Darüber müssen wir eine Diskussion führen; denndabei geht es um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit.

(Beifall bei der SPD)

Ich könnte noch auf viele weitere Geschichten einge-hen. Über Asse ist ja schon viel diskutiert worden. Eshandelt sich natürlich auch um eine typische Atomlüge,wenn gesagt wird, die Asse sei sicher. Diese Reihungkönnte man noch deutlich weiterführen. Aber zur Asseist, wie ich denke, genügend gesagt worden.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Bülow, darf ich Sie unterbrechen? Herr

Kollege Fell hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt.

Marco Bülow (SPD): Bitte schön.

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Bülow, ich fand es sehr bemerkenswert,

wie vehement Sie für erneuerbare Energien sprechenund dass Sie dargestellt haben, dass im Zusammenhangmit erneuerbaren Energien nicht wirklich ein Grundlast-problem besteht. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass mandieses Problem auch innerhalb des Systems der erneuer-baren Energien lösen kann, da deren Wachstumsge-schwindigkeit ja sehr hoch ist.

Ich möchte Sie nun fragen: Warum spricht Ihr Minis-ter Gabriel nicht solche Worte? Er spricht davon, dassder Anteil erneuerbarer Energien bis 2020 maximal20 Prozent betragen könne, obwohl wir wissen, dass de-ren Wachstumsgeschwindigkeit wesentlich höher liegt.Er spricht weiterhin davon, dass man im Rahmen desAusbaus erneuerbarer Energien Kohlekraftwerke, ob-wohl diese das Klima zerstören, zur Abdeckung der

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Hans-Josef Fell

Grundlast bräuchte. Ich bin verwirrt über diese Darstel-lungen vonseiten eines SPD-Ministers. Welcher wirkli-chen Erkenntnis folgt denn nun die SPD?

Marco Bülow (SPD): Die Erkenntnis der SPD und genauso die des Minis-

ters ist, dass wir die Erneuerbaren immer weiter fördernund ausbauen. Ich denke, es ist wichtig, auch das nocheinmal zu erwähnen. Viele von den Grünen haben ja be-fürchtet, dass es unter einer Großen Koalition zu einemAbbruch bei der Entwicklung der Erneuerbaren komme.Genau das ist nicht der Fall. Die Erneuerbaren sind wei-ter ausgebaut worden, und zwar unter Schwarz-Rot, unddieser Ausbau wird fortgeführt.

Wir diskutieren gerade darüber – übrigens zusammenmit dem Ministerium; hier gibt es schon in weiten TeilenEinigkeit –, einen Kombikraftwerkbonus zu installieren,um erstens die Marktintegration der Erneuerbaren zufördern und zweitens dazu beizutragen, dass auf dieseWeise auch Grundlast bereitgestellt wird. Es gibt an die-ser Stelle eine große Einigkeit in der SPD und auch eineAnnährung von SPD und Union. Die Große Koalition istalso auf einem guten Weg, den wir gemeinsam mit demBundesministerium weitergehen werden.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte jetzt auf das Argument „Atomenergie istso billig“ – auch das ist schon angesprochen worden –eingehen. Dieses Argument lässt sich mit einem Satzwegwischen. Ich frage mich: Wenn Atomkraft so billigist, warum haben dann die Bürgerinnen und Bürgernichts davon? Die Atomenergie hat in Baden-Württem-berg den höchsten Anteil an der Stromerzeugung, näm-lich 55 Prozent. Der Strompreis in Baden-Württembergmüsste also besonders günstig sein. Das ist er aber nicht.Das Gleiche lässt sich für Bayern sagen. Daran erkenntman: Atomkraft macht den Strompreis nicht günstiger.Das sollte man als Fakt festhalten.

Als nächsten Fakt sollte man festhalten, dass bis jetzt– die Zahl ist je nach Rechenweise verschieden; gehenwir einmal von der untersten Grenze aus – 45 bis100 Milliarden Euro an Investitionen und Subventionender öffentlichen Hand in die Atomenergie geflossensind. Wenn in anderen Bereichen diese Summe mit solchgeringem Erfolg investiert worden wäre, hätte sich dasbetreffende Thema schnell erledigt.

Es gibt keine Brennstoffsteuer. Für die Atomenergiegibt es die Möglichkeit, steuerfreie Rückstellungen inbeliebiger Höhe zu bilden. Außerdem wird nicht die ei-gentlich notwendige Versicherungssumme abgedeckt.Das sind versteckte Subventionen, die wir einmal offen-legen müssen. Erst dann lassen sich die eigentlichenKosten berechnen.

Lassen wir einmal – das ist auch gefordert worden –die ganze Sicherheitsdiskussion beiseite. Tun wir einmalso, als wäre die Atomenergie supersicher und als würdenie etwas passieren, obwohl Herr Kauch gerade dan-kenswerterweise zugegeben hat, dass dem sicherlichnicht so ist. Seit 50 Jahren wird geforscht, gefördert,subventioniert, lobbyiert und alles dafür getan – inDeutschland sind, wie gesagt, 45 bis 100 Milliarden

Euro in die Atomenergie geflossen; weltweit sind es Bil-lionen –, dass die Atomenergie zu einem großen Erfolgwird. Was ist das Ergebnis nach 50 Jahren? Es gibt435 Atomkraftwerke, die aber nur einen Anteil von2,5 Prozent am Endenergieverbrauch haben.

Das Uran wird knapper. In den letzten Jahren – daszur Renaissance der Atomkraft – sind mehr Atomkraft-werke abgeschaltet als neue gebaut worden. Die Terror-gefahr ist gewachsen. Weltweit werden weiterhin Steuer-gelder bereitgestellt. Diese müssen auch bereitgestelltwerden, weil die Endlagerfrage immer noch nicht gelöstist. Und das alles nach 50 Jahren! Die Atomenergie istfür mich der größte Technikflop der letzten Jahrzehnte.Es ist überfällig, einmal darüber zu sprechen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Atomenergie ist vor allem eines nicht: generatio-nengerecht. Im Zusammenhang mit den Finanzen undmit vielen anderen Themen wird viel über Generationen-gerechtigkeit gesprochen. Ich denke, das ist zum Teil ge-rechtfertigt. Aber was ist generationengerecht daran,wenn wir bestimmen, dass die Atomenergie genutzt wirdund so der strahlende Müll viele kommende Generatio-nen belasten wird? Die Generationen, die zukünftigdurch die Kosten und den Atommüll belastet werden,werden vorher nie die Chance gehabt haben, darüber zuentscheiden, ob sie Atomkraft haben wollen oder nicht.Das ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern die größteUngerechtigkeit, die man den zukünftigen Generationenantun kann.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten lieberüber das diskutieren, worüber es jetzt zumindest Ansätzevon Einigkeit gibt. Wir müssen unsere Effizienz deutlichsteigern. Das ist aber bis jetzt nur ein Lippenbekenntnis,weil wir in diesem Punkt in der Großen Koalition nichtzusammenkommen. Der alte Wirtschaftsminister – ichfürchte, das wird auch beim neuen Wirtschaftsministerso sein – hat uns Energieeffizienzgesetze vorgelegt, dieuns keinen Schritt weiterbringen. Wir brauchen aber eineSteigerung der Energieproduktivität von 3 Prozent proJahr, die wir im Augenblick leider nicht erreichen. Die-ses Potenzial müssen wir stärker ausnutzen.

Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energienvorantreiben. Da sind wir in der Großen Koalition einStück weitergekommen. Wir dürfen an dieser Stellenicht nachlassen. Gerade im Wärmebereich sind die Po-tenziale sehr groß. Wir müssen außerdem dafür sorgen,dass immer mehr Energie eingespart wird, die im Mo-ment noch nutzlos verpulvert wird. Diesen Weg müssenwir weiterverfolgen. Wir müssen effizienter werden,Energie einsparen und die erneuerbaren Energien aus-bauen. Wenn wir das erreichen, haben wir eine sehr guteChance, ein Energiesystem auch ohne Atomenergie zuschaffen, das Sicherheit garantiert und zukunftsfähig ist.Damit können wir weltweit zeigen, dass das der Weg ist,den man beschreiten kann und den auch andere einschla-gen können. Dies sollte der Weg im Hinblick auf einenachhaltige Energiewende sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat Philipp Mißfelder für die Fraktion der

CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU – Martin Burkert [SPD]: Jetzt kommt der Lobbyist!)

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst einmal möchte ich, ähnlich wie esschon andere Redner getan haben, auf den eigentlichenGrund dieser sehr ausführlichen Debatte am heutigenTage eingehen. Sie, Frau Kollegin Höhn, sowie IhreKolleginnen und Kollegen versuchen hier, Ihre Samm-lung von vielen Anträgen, über die wir schon seit Jahrendiskutieren und zu denen Sie und wir schon oft hier imHause gesprochen haben, im Vorwahlkampf zu platzie-ren. Um nichts anderes geht es hier. Es geht Ihnen nichtum die Sache,

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie sehen das so! Sie haben ein Problem! Ge-hen Sie doch mal auf die Argumente ein!)

sondern darum, die schlechten Umfragewerte der Grü-nen dadurch zu konterkarieren, dass Sie zu Ihren Wur-zeln zurückkehren. Deshalb tragen Sie heute diese vielenAnträge vor.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie sich nicht mit denArgumenten auseinandersetzen wollen!)

Am erstaunlichsten finde ich dabei, dass das nicht nurfür uns offensichtlich ist, sondern auch für jeden anderendadurch sichtbar wird, dass nur noch eine sehr erleseneSchar von Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion an-wesend ist. Wenn Ihnen das alles so wichtig ist, wie Siesagen, dann frage ich mich: Wo sind die alle von denGrünen? Warum sind nur so wenige da, wenn ihnen dasThema so am Herzen liegt, wie Sie es die ganze Zeit inIhren Reden behauptet haben und wie es an Ihren Zwi-schenrufen deutlich wird?

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der FDP)

Vielleicht haben sie Besseres zu tun, als an dieser De-batte teilzunehmen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Vielleicht haben Sie keine guten Argumente,weil Sie über diese Dinge reden!)

Das Zweite, was ich im Verlauf dieser Debatte sehrinteressant fand, war die Richtung, in die der Bundesum-weltminister argumentiert hat. Man wusste gar nicht,wohin er wollte. Wohin er in der Sache will, daran habeich keinen Zweifel; das ist bekannt. Man wusste abernicht, welche Richtung er im Hinblick auf die Farben-spiele einschlagen wollte. Es ist nicht überraschend, dasser die CDU/CSU – ich nehme meine liebe KolleginReiche in Schutz, die der Bundesumweltminister in sei-nen Schlussausführungen explizit angesprochen hat –angegriffen hat. Ein bisschen mehr überrascht mich, dass

auch die FDP trotz der Anwerbeversuche der SPD ge-genüber den Liberalen ihr Fett abbekommen hat.

(Angelika Brunkhorst [FDP]: Ich habe sehrbreite Schultern! – Bettina Hagedorn [SPD]:Reden Sie auch noch mal zum Thema heute?)

Sie werden ja ansonsten von der SPD bei jeder sich bie-tenden Gelegenheit umgarnt. Es wurde also der GroßenKoalition eine Absage erteilt, und die Ampel wackelte.

Noch mehr erstaunt hat mich das Feuerwerk, das ge-gen die Positionierung der Grünen abgebrannt wordenist. Das kann nun wirklich nicht auf taktischen Überle-gungen beruhen, sondern nur auf rein sachlichen Überle-gungen.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben Sie eigentlich an Argumenten?)

Dem möchte ich mich anschließen; denn ich bin wie derBundesumweltminister dezidiert der Meinung, dass SiePolemik betrieben und keinen Schritt in Richtung einerstärkeren Versachlichung der Debatte gemacht haben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich möchte auf einiges eingehen, was Sie in Ihren An-trägen dargestellt haben; Sie sind darauf sehr wenig ein-gegangen. Zum Beispiel schlagen Sie anderen Ländernvor, Energie zu sparen, um den Klimawandel abzumil-dern. Dabei nennen Sie explizit auch die osteuropäi-schen Länder. Ich frage Sie ganz konkret: Wie soll dasdenn bitte vonstattengehen? Sie sagen, sie sollten dieKernkraftwerke abschalten. Dadurch würden sie aber inhohem Maße auf ihren erreichten Lebensstandard ver-zichten. Wissen Sie eigentlich, wie sich insbesondere inOsteuropa die wirtschaftliche Situation angesichts derinternationalen Wirtschafts- und Finanzkrise darstellt?Es ist eine Katastrophe, was gerade in diesen Ländernpassiert.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Die Erneuerbaren schaffen Arbeitsplätze imGegensatz zur Atomkraft!)

Sie sagen dann mit der Arroganz des Wohlstands: Das istkein Problem. Das interessiert uns nicht; sollen die dochEnergie sparen. – Dazu muss ich Ihnen ganz ehrlich sa-gen: An dieser Stelle verstehe ich Ihre Argumentationüberhaupt nicht mehr.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was wollen Sie eigentlich sagen?)

Ich möchte den Bogen direkt zur innenpolitischenDebatte in Deutschland schlagen. Sie sagen immer wie-der:

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was sagen Sie eigentlich?)

Wir müssen mehr in erneuerbare Energien investieren. –Das tun wir auch. Das tut die Regierung. Da haben wirsehr viel erreicht, im Übrigen auch im Konsens mit fastallen Fraktionen. Aber es ist trotzdem so, dass dies zu-nehmend auch eine soziale Qualität bekommt; denn esist immer noch nicht geklärt, wer die Kosten dafür letzt-

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Philipp Mißfelder

endlich tragen soll. Wer soll den Ausbau der erneuerba-ren Energien um jeden Preis bezahlen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wer soll die Kosten für die Atomkraft tragen?)

Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich da festbei-ßen und nur in Richtung einer Verteuerung der Energie-preise in Deutschland argumentieren, was besonders dieMenschen in unserem Land treffen würde, die wenigverdienen, aber noch zu viel, um vom Staat alimentiertzu werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Atomkraft ist viel teurer! Sie haben eben nichtzugehört!)

Das kann ich einfach nicht unterstützen. Für mich ist daseine soziale Frage. Wir müssen auch in Zukunft Energie-preise haben, die für Bezieher niedriger Einkommen be-zahlbar sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Von mehreren Rednern wurden hier prominente Ver-treter der grünen Bewegung aus der ganzen Welt ange-führt. Der frühere Greenpeace-Chef ist hier schon mehr-fach zitiert worden; auch ich will das tun.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Greenpeace ist nicht automatisch grün! – Zu-ruf von der SPD: Sie hätten auch Herrn Töpfernennen können!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Mißfelder, wollen Sie vielleicht, bevor Sie das

tun, Frau Bulling-Schröter Gelegenheit zu einer Zwi-schenfrage geben?

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): Ja, sehr gern.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Herr Mißfelder, Sie haben über soziale Energiepreise

gesprochen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema. Da-mit müssen wir uns wesentlich mehr beschäftigen. Esfreut mich, dass Sie das angesprochen haben.

Meine Frage an Sie lautet: Wir haben uns ja schon desÖfteren über Windfall Profits unterhalten. Die Energie-konzerne erhalten 91 Prozent der Zertifikate kostenlos.Sie preisen sie allerdings ein, geben die Preise also wei-ter.

(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Das wird vonseiten der Bundesregierung nicht bestritten.Das sind Sonderprofite. Einen Teil davon könnten wirnutzen, um die sozialen Energiepreise zu gestalten. Vonunserer Seite gab es dazu eine ganze Reihe von Anträ-

gen, die leider nie eine Mehrheit fanden. Jetzt höre ichvon Ihnen, dass Sie sich auch um die ärmeren Menschenin diesem Land kümmern wollen. Wie könnte eine sol-che Regelung Ihrer Meinung nach ausschauen? Sind Siebereit, einen Teil dieser Profite abzuschöpfen, um dieseMenschen zu unterstützen?

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): In den vergangenen Wochen und Monaten mag der

Eindruck entstanden sein, der Staat könne wirklich allesregeln und müsse auch an jeder Stelle eingreifen. Ichaber glaube, Frau Kollegin, dass die Zukunft einer siche-ren, klimafreundlichen und preisgünstigen Energiever-sorgung in Deutschland vor allem davon abhängt, ob wirin Zukunft genügend Investitionen in unserem Land ha-ben. Deshalb glaube ich, dass der Markt in diesem Zu-sammenhang nicht das Schlechteste ist.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja gar kein Markt!)

Ich wünsche mir natürlich mehr Wettbewerb und einenstärkeren Markt, auch im Bereich der Energieversor-gung.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch gar keinen Markt!)

Ich sage aber auch, dass wir Investitionen nicht durcheine falsche Gesetzgebung verhindern dürfen. Es wärefalsch, wenn wir in der Politik die Richtung einschlagenwürden, die Sie fordern. Wir müssen vielmehr für unse-ren Standort werben und dafür sorgen, dass dieser Stand-ort so attraktiv ist und die Investitionshürden so geringsind, dass wir in Deutschland das Bestmögliche und dastechnologisch Wirksamste haben. Wir brauchen tatsäch-lich die beste Technologie im Bereich der Energie.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Sie haben doch keine Ahnung von dem Ener-giebereich!)

Ich glaube, dass das sozialer ist, als eine Umverteilungs-maschinerie in Gang zu setzen. Eine solche Forderungist angesichts der Geschichte Ihrer Partei allerdings nichtverwunderlich. Sie überraschen mich damit kaum.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jetzt möchte ich mich aber doch noch einmal mit demAntragsteller, den Grünen, beschäftigen. Frau Höhn, Siehaben hier gerade aktiv für eine schwarz-grüne Koopera-tion geworben. Anscheinend ist Ihr Herz von dieser ver-meintlichen Option so voll, dass Ihnen das rausgerutschtist. Ich muss Sie aber enttäuschen: Das wird so nichtfunktionieren. Dafür müssten Sie realitätsnäher werden.Sie müssten sagen, wie Sie die Energiepolitik in Zukunftgestalten wollen.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU] – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie verschwenden Ihre Redezeit!)

Ich rate Ihnen, sich in den von Ihnen bevorzugten Ur-laubszielen einmal umzuschauen. Ich meine nicht Siepersönlich. Ich weiß nicht, wohin Sie in Urlaub fahren,und ich will es auch nicht wissen. Sie sollten aber einmal

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Philipp Mißfelder

genau hinschauen, was die bevorzugten Urlaubsdomizileder Grünen sind. Lieblingsurlaubsziele der Grünen sind– die Toskana nenne ich jetzt nicht – Schweden undFinnland.

(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Herr Mißfelder, reden Sie doch mal zumThema! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie eine Umfrage un-ter den Grünen gemacht?)

Schauen Sie sich in diesen Ländern einmal an, was dortpassiert. Dort gibt es eine Renaissance der Kernenergie,weil diese Länder keine Abhängigkeit vom Gas ausRussland wollen, weil sie eine sichere und preisgünstigeEnergieversorgung wollen und weil sie auch in Zukunftgegen den Klimawandel angehen wollen. Das geht nuneinmal nur, wenn Sie die Kernenergie als Option erhal-ten – nicht ausschließlich; aber sie darf nicht vernachläs-sigt werden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.Angelika Brunkhorst [FDP] – Martin Burkert[SPD]: Lobbyist!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aussprache geschlossen.

Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagenauf den Drucksachen 16/12288 und 16/10359 an dieAusschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung auf-geführt sind. – Damit sind Sie offensichtlich einverstan-den. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitzu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz neh-men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/7882, den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6319abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist dieBeschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion und Gegen-stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und derFraktion Die Linke.

Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zudem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitdem Titel „Sicherheit geht vor – Besonders terroranfäl-lige Atomreaktoren abschalten“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache16/8469, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 16/3960 abzulehnen. Wer stimmt fürdie Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – DieEnthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit demgleichen Stimmverhältnis wie die vorherige angenom-men.

Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zudem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem

Titel „Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraftwerkein Osteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/12312, den An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache16/11764 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp-fehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? –Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke haben da-gegen gestimmt. Die Fraktion der FDP hat sich enthalten.

Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-zung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenmit dem Titel „Für eine Schließung des Forschungs-endlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelleRückholung der Abfälle“. Der Ausschuss empfiehlt inseiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12270,den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 16/4771 abzulehnen. Wer stimmt für die Be-schlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthal-tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenom-men bei Zustimmung von SPD, CDU/CSU und FDP undGegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 dund 39 f bis 39 r sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:

39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Direktzahlungen-Verpflichtun-gengesetzes

– Drucksache 16/12117 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zurÄnderung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes

– Drucksache 16/12118 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-bung der Freihäfen Emden und Kiel

– Drucksache 16/12228 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Errichtung einerStiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche In-stitute im Ausland, Bonn

– Drucksache 16/12229 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22761

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Technikfolgenabschätzung (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Kultur und Medien

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Durchführung derGemeinsamen Marktorganisationen und derDirektzahlungen

– Drucksache 16/12231 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän-zung behördlicher Aufgaben und Kompetenzenim Bereich des wirtschaftlichen Verbraucher-schutzes

– Drucksache 16/12232 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Innenausschuss Rechtsausschuss

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung eines Sondervermögens „Vorsorge fürSchlusszahlungen für inflationsindexierte Bun-deswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinanzierungs-gesetz – SchlussFinG)

– Drucksache 16/12233 – Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demZweiten Protokoll vom 26. März 1999 zurHaager Konvention vom 14. Mai 1954 zumSchutz von Kulturgut bei bewaffneten Kon-flikten

– Drucksache 16/12234 – Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Ausschuss für Kultur und Medien

j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demStabilisierungs- und Assoziierungsabkommenzwischen den Europäischen Gemeinschaftenund ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bos-nien und Herzegowina andererseits

– Drucksache 16/12235 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)Innenausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung von Verbrauchsteuergesetzen

– Drucksache 16/12257 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung medizinprodukterechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/12258 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

m)Beratung des Antrags der Abgeordneten PatrickDöring, Horst Friedrich (Bayreuth), JoachimGünther (Plauen), weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Verkehrsschilder reduzieren – Verkehrssicher-heit bewahren

– Drucksache 16/10612 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Tourismus

n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. AntonHofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Sicherheit auf deutschen Straßen – Mas-terplan Vision Zero

– Drucksache 16/11212 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit

o) Beratung des Antrags der Abgeordneten PatrickDöring, Angelika Brunkhorst, Hans-MichaelGoldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Ausbauziele der Offshore-Windenergie nichtgefährden – Raumordnungsplanung des Bun-des überarbeiten

– Drucksache 16/11214 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

p) Beratung des Antrags der Abgeordneten WinfriedHermann, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer

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22762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Bahnstrom auf erneuerbare Energien umstel-len

– Drucksache 16/11930 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

q) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-desrechnungshofes

Rechnung des Bundesrechnungshofes für dasHaushaltsjahr 2008– Einzelplan 20 –

– Drucksache 16/12091 – Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss

r) Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stärkung des europäischen Haischutzes

– Drucksache 16/12290 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f)Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahren(Ergänzung zu TOP 39)

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-lung der Verständigung im Strafverfahren

– Drucksache 16/12310 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Innenausschuss

b) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und derFraktion der FDP

Maßnahmen zur effektiven Regulierung derFinanzmärkte

– Drucksache 16/10876 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

c) Beratung der Unterrichtung durch die DeutscheWelle

Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanungder Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Per-spektiven für 2010 bis 2013

und

Zwischenevaluation 2008

– Drucksache 16/11836 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierung

Bericht der Bundesregierung zur Mitnahme-fähigkeit von beamten- und soldatenrechtli-chen Versorgungsanwartschaften

– Drucksache 16/12036 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss VerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 j sowieZusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussfassun-gen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese-hen ist.

Tagesordnungspunkt 40 a:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Änderung der Strafprozessordnung –Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes beiAbgeordneten

– Drucksache 16/10572 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/12314 –

Berichterstattung:Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)Christine Lambrecht Jörg van Essen Wolfgang Nešković Jerzy Montag

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/12314, den Gesetzent-wurf auf Drucksache 16/10572 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein-stimmig angenommen.

Ich komme zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kollegin-nen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, aufzustehen. – Die Gegenstimmen? – Die Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Bera-tung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 b:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- undAssoziierungsabkommen zwischen den Euro-päischen Gemeinschaften und ihren Mitglied-staaten einerseits und der Republik Montene-gro andererseits

– Drucksache 16/12064 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti-gen Ausschusses (3. Ausschuss)

– Drucksache 16/12305 –

Berichterstattung:Abgeordnete Philipp Mißfelder Uta Zapf Dr. Werner Hoyer Monika Knoche Marieluise Beck (Bremen)

Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 16/12305, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12064anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent-wurf bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, desBündnisses 90/Die Grünen und der FDP und bei Ableh-nung der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu derVerordnung der Bundesregierung

Zweite Verordnung zur Änderung der Alt-fahrzeug-Verordnung

– Drucksachen 16/12106, 16/12181, 16/12313 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michael Brand Gerd Bollmann Horst Meierhofer

Lutz Heilmann Sylvia Kotting-Uhl

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 16/12313, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 16/12106 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Ge-genstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist die Be-schlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen derCDU/CSU, der SPD, der Linken und der FDP und beiEnthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen ohne Gegen-stimmen angenommen.

Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 40 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 536 zu Petitionen

– Drucksache 16/12123 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange-nommen.

Tagesordnungspunkt 40 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 537 zu Petitionen

– Drucksache 16/12124 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmigangenommen.

Tagesordnungspunkt 40 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 538 zu Petitionen

– Drucksache 16/12125 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeohne Gegenstimmen angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 539 zu Petitionen

– Drucksache 16/12126 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derCDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke angenommen.

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22764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Tagesordnungspunkt 40 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 540 zu Petitionen

– Drucksache 16/12127 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen, der Linken und des Bündnisses 90/Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion derFDP angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 541 zu Petitionen

– Drucksache 16/12128 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen und der FDP und bei Gegenstim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak-tion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 40 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 542 zu Petitionen

– Drucksache 16/12129 –

Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen, bei Gegenstimmen der Fraktionender FDP und der Linken und bei Enthaltung des Bünd-nisses 90/Die Grünen angenommen.

Zusatzpunkt 3:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeitzu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun-desregierung

– Drucksache 16/12282 –

Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange-nommen.

Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP

Umsetzung des Beschlusses der EU inDeutschland für einen ermäßigten Mehrwert-steuersatz auf Dienstleistungen

Der Kollege Ernst Burgbacher hat für die FDP-Frak-tion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Ernst Burgbacher (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der letzten Woche haben die Finanzminister der EUbeschlossen, dass bei arbeitsintensiven Dienstleistungenjedes Land selbst den reduzierten Mehrwertsteuersatzeinführen kann. Der Finanzminister der BundesrepublikDeutschland hat dieser potenziellen Steuersenkung aufeuropäischer Ebene zugestimmt, gleichzeitig aber ge-sagt, dass er sie dem eigenen Land vorenthalten will.Das ist für uns ein unglaublicher Vorgang.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Es kann nicht sein, dass ein deutscher Finanzminister aufeuropäischer Ebene so handelt.

(Beifall bei der FDP)

Das ist allerdings genau der Stil des Bundesfinanzmi-nisters: Wenn die Großen etwas wollen, werden sie mitoffenen Armen empfangen. Wenn die kleinen und mit-telständischen Familienbetriebe etwas wollen, wird dieTür zugeschlagen. Exakt das ist hier der Fall. Wenn Sie1 000 Familienbetriebe in Hotellerie und Gastronomiemit durchschnittlich 20 Arbeitskräften pro Betrieb neh-men, kommen Sie auf 20 000 Beschäftigte. Die stehendann auf der Straße, und es kümmert sich niemand. Umdie Großen aber kümmert man sich.

(Beifall bei der FDP)

Ich will mich aufgrund der mir zur Verfügung stehen-den Zeit in der Argumentation auf Hotellerie und Gas-tronomie beschränken und Ihnen an ganz konkreten Bei-spielen aufzeigen, worum es geht. Früher sind vieleDeutsche über den Rhein nach Frankreich, vor allem indas Elsass, gefahren, um dort essen zu gehen. Durchenorme Qualitätssteigerungen in der deutschen Gastro-nomie hat sich das mittlerweile nahezu ausgeglichen.Der Trend geht eher in die andere Richtung. Bisher lagder Mehrwertsteuersatz in Frankreich im Gastronomie-bereich bei 19,6 Prozent. Jetzt wird er, und zwar sehrschnell, auf 5,5 Prozent gesenkt. Deutschland aber bleibtbei 19 Prozent. Das ist unglaublich.

(Beifall bei der FDP)

Was bedeutet das konkret? Wenn eine Familie inDeutschland essen geht und dafür 100 Euro bezahlt,dann bleiben dem deutschen Wirt davon 84 Euro. Wenndieselbe Familie über den Rhein nach Frankreich fährtund dort 100 Euro bezahlt, bleiben dem französischenWirt 94,80 Euro, also knapp 95 Euro. Das sind 11 Euromehr. Für den deutschen Gastronomen bedeutet das,dass er entweder die Preise erhöhen oder die Qualität re-duzieren muss, sei es in der Küche oder beim Service. Erist dann aber nicht mehr wettbewerbsfähig. Genau dasist der Punkt.

In 22 von 27 Ländern der Europäischen Union gilt derreduzierte Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie. In 11von 27 Ländern gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatzfür die Gastronomie. Sie können nach den Ecofin-Be-schlüssen davon ausgehen, dass diese Zahl ebenfalls auf22 steigt. Das heißt, heutzutage ist der reduzierte Mehr-wertsteuersatz in Europa der Normalfall. Der Finanz-minister aber sagt: Mit mir gibt es in Deutschland keine

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Ernst Burgbacher

Änderungen. – Wer so argumentiert, der setzt die Ar-beitsplätze von Hunderttausenden Menschen und auchvon weit über einhunderttausend Auszubildenden aufsSpiel. Er nimmt nicht nur in Kauf, dass keine neuen Ar-beitsplätze geschaffen werden – was durchaus möglichwäre –, sondern auch, dass bestehende Arbeitsplätze ge-fährdet werden. Das alles tut er als Sozialdemokrat.

(Zuruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist schon beeindruckend!)

Die Menschen draußen werden sich sehr gut überle-gen, wie sie das zu bewerten haben.

Angesichts der Wettbewerbssituation in Europa undder Verpflichtung des Gesetzgebers, unseren Unterneh-men durch die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingun-gen zu helfen, fordert die FDP klipp und klar die Einfüh-rung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozentfür Hotellerie und Gastronomie.

(Beifall bei der FDP – Lena Strothmann[CDU/CSU]: Sagt ihr auch, wer das finanzie-ren wird?)

Liebe Freunde von der Union, was Sie hier gerade lie-fern, ist kein wohlschmeckendes Gericht. Der HerrSeehofer kündigt eine Bundesratsinitiative für diese Wo-che an und zieht sie wieder zurück.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)

Der Tourismusbeauftragte reist mit dieser Forderungdurch das Land, hat aber im eigenen Lager noch nichteinmal eine Mehrheit. Der baden-württembergische Fi-nanzminister Stächele spricht sich für den reduziertenMehrwertsteuersatz aus,

(Joachim Poß [SPD]: Der ist noch nicht lange im Amt; der kennt sich noch nicht so aus!)

der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Krichbaumlehnte ihn heute Morgen strikt ab. Wir erwarten jetzt vonIhnen eine Positionierung,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

und wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich den mittel-ständischen und kleinen Familienbetrieben helfen unddass Sie heute klar signalisieren, dass der reduzierteMehrwertsteuersatz eingeführt werden wird!

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Sie müssen das jetzt tun. Ich sage ganz deutlich: Wirwerden es Ihnen nicht durchgehen lassen,

(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Das sind ja Drohungen!)

dass Sie ein paar Leute vorschicken, die sagen dürfen,was sie wollen, und alle anderen zurückgepfiffen wer-den. Es geht um kleine mittelständische Familienunter-nehmen. Es geht um viele Hunderttausend Menschen,die in diesem Bereich Arbeit finden. Sie haben es in derHand, ob in diesem Bereich neue Arbeitsplätze entste-hen oder ob bestehende vernichtet werden.

Für die FDP erkläre ich klipp und klar: Die FDP stehtdazu. Wir wollen die Einführung dieser reduziertenMehrwertsteuersätze, –

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, klipp und klar: Ihre Redezeit ist zu

Ende.

Ernst Burgbacher (FDP): – und zwar möglichst nicht erst nach der Wahl, son-

dern jetzt; denn die Probleme stellen sich nicht erst spä-ter, sondern jetzt.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es spricht der Kollege Eduard Oswald für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eduard Oswald (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Gleich vorweg: Im gemeinsamen Wahlprogramm vonCDU und CSU werden wir für den Bereich der Steuer-politik unter anderem drei Punkte darstellen:

Erstens. Wir werden die Ungereimtheiten im Systemder Mehrwertsteuer beseitigen.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oh! Wann denn?)

Zweitens. Wir werden an der Reform der Lohn- undEinkommensteuer arbeiten, sodass die Bürgerinnen undBürger in unserem Land wieder mehr Geld in der Taschehaben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Wann?)

Drittens. Im Rahmen der Unternehmensteuerreformwerden wir Hemmschwellen beseitigen, die die wirt-schaftliche Entwicklung eines Unternehmens heuteblockieren. Damit werden wir den Standort Deutschlandstärken.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Übrigens, Kollege Burgbacher: Eine Umsetzung indeutsches Recht kann bekanntlich erst im Rahmen einerÄnderung der Mehrwertsteuerrichtlinie erfolgen.

Der Ecofin-Rat ist übrigens dem sehr viel weiter rei-chenden Vorschlag der tschechischen Ratspräsident-schaft nicht gefolgt, den ermäßigten Umsatzsteuersatzgenerell auf Lieferung, Bau, Renovierung, Umbau undInstandhaltung von Wohnungen zur Anwendung zuzu-lassen. Auch dies muss erwähnt werden.

Die Forderung verschiedener Branchen nach einerAktualisierung des Mehrwertsteuerkatalogs – dieser istumfassender, als dies Herr Kollege Burgbacher darge-stellt hat – ist für mich gut nachvollziehbar, da die über-wiegende Zahl der aktuell geltenden Mehrwertsteuerer-

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22766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

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Eduard Oswald

mäßigungen auf das Jahr 1968 zurückgeht undzwischenzeitlich das eine oder andere heute nicht mehrnachvollziehbar ist.

Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir dasThema angehen müssen. Einzelne Beispiele machen diesdeutlich. Dass Pralinen und Gänseleber mit 7 Prozentbesteuert werden, Mineralwasser jedoch mit dem vollenMehrwertsteuersatz, versteht man ebenso wenig wie dieRegelung, dass man auf Futter für Haustiere 7 Prozent,für Babynahrung jedoch 19 Prozent entrichten muss.

(Zuruf von der SPD)

Äpfel zum Essen werden ermäßigt besteuert. DerFruchtsaft – wenn man sie durch die Presse schickt –wird voll besteuert. Für Kaffee gilt Ähnliches. Kaffee-pulver wird mit 7 Prozent versteuert. Handelt es sich umKaffee, dann ist der volle Steuersatz fällig. Weitere Bei-spiele könnte man erwähnen.

Wir brauchen – und dafür steht unsere Fraktion – einefür jeden Bürger verständliche Lösung, ein schlüssigesKonzept, das auch logisch ist. Der Bürger darf nicht erstim Katalog nachschauen müssen, wie nun versteuertwird. Es muss steuersystematisch richtig sein. Es wirddoch wohl zu schaffen sein, dass wir im Steuerrecht et-was hinbekommen, was nicht kompliziert ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Schön wär’s!)

Im Gastronomiebereich zeigen sich heute schon Wett-bewerbsverzerrungen in grenznahen Regionen. Durcheinen Mehrwertsteuersatz von nur 10 Prozent in Öster-reich und einem noch niedrigeren in der Schweiz werdenGaststätten, die gerade in den grenznahen Tourismusre-gionen in einem harten Wettbewerb stehen, unzumutbarbenachteiligt. Das steht außer Frage. Für mich persön-lich gilt auch: Wer es den EU-Nachbarn gestattet, dieMehrwertsteuer zu senken, muss auch für das eigeneLand eine Lösung erarbeiten.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wer ist denn in der Regierung?)

Deshalb ist selbstverständlich auch die Frage nachden Auswirkungen auf den Haushalt zu stellen. Wir ha-ben in dieser Periode vieles geleistet, auch bei der Sanie-rung des Haushaltes. Manches, was heute in der Finanz-und Wirtschaftskrise getan werden muss, wäre ohnediese Sanierung nicht möglich.

Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, zu sagen, dass wirbei einer Absenkung des Steuersatzes im Bereich derGastronomie Steuerausfälle in Höhe von rund 3 Milliar-den Euro zu verzeichnen hätten. Nimmt man den Be-reich Beherbergung dazu, fallen die Steuerausfälle ver-mutlich um 1 Milliarde höher aus. Arzneimittel würdenmit fast 4 Milliarden Euro, Mineralwasser mit 0,3 Milliar-den Euro, Kinderbekleidung und Schuhe mit 1 MilliardeEuro, Kinderspielzeug mit 0,5 Milliarden Euro zu Bucheschlagen. Damit habe ich einige der Felder beschrieben,bei denen von der Politik zu Recht etwas erwartet wird.Die Aufgabe ist also etwas umfassender, als vorhin dar-gestellt wurde.

Ich will, dass eine Mehrwertsteuerermäßigung überPreissenkungen tatsächlich an die Verbraucher weiterge-geben wird. Darum geht es uns.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Problem ist aber, dass dies leider niemand sicher-stellen kann, da die Mehrwertsteuer nur ein Preisbe-standteil von vielen ist.

Wir werden also ein schlüssiges Gesamtkonzept erar-beiten

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann?)

– dabei werden wir sorgfältig vorgehen – und eine trag-fähige und umfassende Lösung entwickeln, durch die dieMenschen überzeugt werden und die zudem auch solidefinanzierbar ist.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann denn?)

In den verbleibenden sieben Sitzungswochen bis zurWahl einen Schnellschuss abzugeben, wäre auch ange-sichts der Herausforderungen, die wir im Rahmen derFinanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen haben, wirk-lich die falsche Antwort.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ihr hättet das ja schon vorher ma-chen können!)

Wir werden das richtig machen, ohne einen Schnell-schuss abzugeben. Hier können Sie uns beim Wort neh-men.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

An Ihren Taten sollt Ihr sie messen. Zum 1. Januar 2007wurde der allgemeine Regelsatz der Mehrwertsteuerdurch SPD und CDU/CSU von 16 Prozent auf 19 Pro-zent erhöht. Das war die größte Steuererhöhung in derGeschichte der Bundesrepublik

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Genau!)

und eine der unsozialsten Maßnahmen. Das sind Ihre Ta-ten.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. GertWinkelmeier [fraktionslos] – Dr. VolkerWissing [FDP]: Das war nicht die FDP!)

Skandalöserweise haben Sie Teile der Mehreinnah-men durch die Steuererhöhung dann auch noch für Steu-ererleichterungen für Vermögende und Unternehmenverwendet. Die Linke sagt: Erhöhungen der Mehrwert-steuer sind sozial ungerecht. Die dadurch verursachteSteuerbelastung ist natürlich umso stärker, je geringerdas Einkommen der Menschen ist.

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Dr. Barbara Höll

Um die unsoziale Wirkung Ihrer Steuererhöhung ab-zumildern, haben wir Ihnen hier bereits Vorschläge un-terbreitet, und zwar nicht für die letzten sieben Sitzungs-wochen, sondern schon vorher. Wir haben Ihnen fürdiese Wahlperiode den Vorschlag unterbreitet, denMehrwertsteuersatz auch für folgende drei Produktgrup-pen bzw. Dienstleistungen zu ermäßigen: Waren undDienstleistungen für Kinder, apothekenpflichtige Medi-kamente und – das haben wir immer gefordert – arbeits-intensive Handwerksdienstleistungen.

Es liegt doch auf der Hand: Eine solch große Senkungdes Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 7 Prozent,die natürlich bei den Menschen auch ankommen muss,stellt gerade für die Bezieherinnen und Bezieher vonTransferleistungen eine Entlastung dar. Sie wissen, dassüber 2 Millionen Kinder und Jugendliche in der Bundes-republik von Hartz IV und Sozialhilfe leben müssen. Fürsie wäre das eine Entlastung.

(Gabriele Frechen [SPD]: Aber nur, wenn das bei ihnen ankommt!)

Es wäre auch gut, die Kosten für arbeitsintensiveHandwerksdienstleistungen zu verringern, um auch vonder Ideologie der Wegwerfgesellschaft wegzukommen,sodass es sich wieder lohnt, Produkte reparieren zu las-sen. Das ist eben arbeitsintensiver als einfach etwaswegzuschmeißen und neu zu kaufen bzw. durch etwasNeues zu ersetzen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos])

Wir haben das auch für die apothekenpflichtigen Me-dikamente gefordert. Wie haben Sie sich verhalten? Ichgreife nur einmal unseren Antrag bezüglich der Produktefür Kinder heraus, über den hier im Februar des vergan-genen Jahres namentlich abgestimmt wurde. Alle hier imHause – bis auf zwei Abgeordnete von der CDU/CSU,die sich enthalten haben – waren nicht unserer Meinungund haben mit Nein gestimmt, und jetzt wird groß ge-tönt.

(Lydia Westrich [SPD]: Wer?)

Um noch einmal darauf zurückzukommen, dass Siesich an Ihren Taten messen lassen sollen: Bereits diePDS war auf diesem Gebiet aktiv.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die war auchnoch woanders aktiv! – Joachim Poß [SPD]:Ach, die PDS!)

Sie werden es nicht glauben, aber lesen Sie das bitte ein-mal nach. Bereits im Jahr 1998 haben wir einen Antragmit dem Titel „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für ar-beitsintensive Leistungen“ in den Bundestag – damalsnoch in Bonn – eingereicht und gefordert, dass der da-malige Finanzminister auf europäischer Ebene aktivwerden sollte. Das haben wir nach der Neuwahl wieder-holt, nämlich gleich zu Beginn der 14. Wahlperiode.

Auf EU-Ebene ist dann etwas geschehen. UnserDruck hier im Land hat leider nicht ausgereicht. AufEU-Ebene wurde aber zumindest ein Modellversuch ge-startet. Im Februar 2000 wurden die Teilnehmerstaaten

festgelegt. Deutschland wollte nie mitmachen. Ich habekeine Stimmen der FDP im Ohr, dass sie damals dafürgewesen ist. Nein, wir haben das gefordert, Sie habendas alles immer abgelehnt.

Schauen wir uns das noch einmal an, um vielleicht einwenig zu illustrieren, wie Sie als FDP argumentiert ha-ben. Ich habe mir einige Zitate herausgesucht, zum Bei-spiel von Frau Frick aus der 13. Legislaturperiode oderauch von Herrn Wissing, der gesagt hat: Wer sich so ver-hält und einen solchen Antrag stellt, der verhält sich chao-tisch und betreibt Flickschusterei.

(Hellmut Königshaus [FDP]: Ja, weil der An-trag schlecht war!)

Schau an, was Sie heute tun! Sie sagten, es sei chao-tisch und eine Flickschusterei. Nein, Sie als FDP verhal-ten sich heute zu dem Thema einfach wie ein Trittbrett-fahrer. Sie haben in den vergangenen Jahren weder alsSie in der Regierung waren noch in der Opposition tat-sächlich in dieser Richtung gehandelt,

(Ernst Burgbacher [FDP]: Aber selbstver-ständlich!)

sondern immer nur nebulös gefordert, man müsse dasGanze noch einmal neu betrachten.

Warten Sie nicht ewig, bis Sie eine Gesamtbetrach-tung vornehmen! Werden Sie jetzt endlich aktiv! Die EUgestattet uns das. Ich finde, wir sind dann auch in derPflicht, tatsächlich zu handeln. Wenn wir uns verständi-gen, dass wir etwas tun wollen, dann können wir unsauch verständigen, was wir tun. Wir haben Ihnen unsereVorschläge unterbreitet. Darin sind auch die arbeitsinten-siven Handwerksdienstleistungen enthalten. Man mussunter den Gegebenheiten, die sich jetzt neu entwickeln,auch diskutieren, wie mit dem Hotel- und Gaststättenwe-sen und der Gastronomie zu verfahren ist. Eine Aufrech-nung von 100 Euro hier gegen 100 Euro da ist mir einbisschen zu platt. Ich glaube, wir müssen in diesem Zu-sammenhang Schwerpunkte setzen.

Am besten wäre es, Sie hätten Ihre große Mehrwert-steuererhöhung gar nicht erst vorgenommen. Dann hät-ten die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einige Pro-bleme weniger.

Ich danke Ihnen.(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. GertWinkelmeier [fraktionslos] – Eduard Oswald[CDU/CSU]: Das Glas bleibt hart!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Lydia Westrich spricht jetzt für die SPD-

Fraktion.(Beifall bei der SPD)

Lydia Westrich (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Frau Höll, ich will nicht drum herumre-den: Die Umsetzung der Mehrwertsteuerermäßigung inDeutschland würde allein für diesen Bereich mehr als6 Milliarden Euro kosten.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Wie viel?)

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Lydia Westrich

Mehr als die Hälfte davon entfällt auf die Restaurantleis-tungen. Herr Burgbacher hat dies bereits angesprochen.

Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass eine Bran-che, die Sie hier so gut vertreten haben, darauf hinweist,dass ihr die Finanzspritze gut täte. Ihr Fraktionsvorsit-zender Westerwelle hat heute früh festgestellt, dass dieErmäßigung auch eine gute Hilfe für den Mittelstand be-deuten würde.

(Zuruf von der FDP: Darum kümmert er sich halt!)

Die Mehrwertsteuer ist aber – vielleicht wissen Sie oderweiß er das nicht – eine Verbrauchsteuer. Ermäßigungensollten dort spürbar werden, wo die Belastungen wirk-lich auftreten, nämlich beim Verbraucher. Als Pfälzerinfahre ich ebenso wie Sie ab und zu über die französischeGrenze, um im Elsass essen zu gehen. Das Essen ist dortaber nicht billiger, im Gegenteil.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Schmeckt es Ihnenbei uns nicht mehr? – Ernst Burgbacher[FDP]: Die haben 19,6 Prozent, FrauWestrich!)

Inzwischen kommen auch viele Franzosen über dieGrenze in unsere pfälzischen Restaurants, um dort her-vorragend und günstig zu essen.

(Zuruf von der FDP: Das ist ja Tourismuswer-bung vom Feinsten!)

Das Beispiel McDonalds mit den gleichen Preisen fürdie mit ermäßigtem Steuersatz belegte Ware außer Hausoder der mit normalem Steuersatz belegten dort verzehr-ten Ware ist bekannt. Sicherlich würde McDonalds auchnoch das Geld einstreichen, das es bei einer Mehrwert-steuerermäßigung für die im Lokal verzehrte Ware zu-sätzlich einnehmen würde. Das Unternehmen hat dieMehrwertsteuerermäßigung bisher nicht an die Kundenweitergegeben. Warum sollte es dies jetzt tun?

(Beifall bei der SPD)

Alle Untersuchungen der Wirkungen ermäßigterMehrwertsteuersätze auf die Wirtschaftsaktivität, die Ih-nen so sehr am Herzen liegt, zeigen, dass dies nicht diewirksamste Maßnahme ist, aber den Staatshaushalt starkbelastet. Die Schaffung eines Arbeitsplatzes – selbst inder Gastronomie – durch die Ermäßigung des Mehrwert-steuersatzes kostet den Steuerzahler sage und schreibe60 000 Euro. Andere Fördermaßnahmen sind da sinn-voller.

Einer Untersuchung zufolge haben zum Beispiel inBelgien bei Reparaturleistungen 87 Prozent der Dienst-leister die Steuerermäßigung als Gewinn einbehalten,statt sie an die Verbraucher weiterzugeben. In Griechen-land ist die Preisentwicklung in den ermäßigten Bran-chen mit der Preisentwicklung in anderen Sektoren Handin Hand gegangen. Die Ermäßigung hat sich nicht aufdie Verbraucherpreise ausgewirkt.

In Spanien sind die Preise für Instandhaltung und Re-paraturen an Wohnungen, die eigentlich sinken sollten,sogar mehr als allgemein gestiegen.

(Joachim Poß [SPD]: Dafür haben die jetzt die Immobilienblase!)

Bei Friseurleistungen ist die Entwicklung im Grundeähnlich verlaufen.

Die Untersuchung der Wirkung ermäßigter Mehr-wertsteuersätze bei häuslichen Pflegeleistungen inFrankreich hat ergeben, dass sie keine oder nur sehr be-grenzte Auswirkungen haben. In diesem Bereich betrugdie Preisdifferenz bei einer Dienstleistung ohnehin zwi-schen 44 und 165 Prozent, sodass selbst eine Mehrwert-steuerermäßigung um 12,5 Prozentpunkte bei der Preis-findung nicht zu Buche geschlagen ist. Bei derInstandhaltung und Reparatur von Wohnungen in Frank-reich sind die Preise im ersten Jahr tatsächlich um5 Prozent gefallen. Im nächsten Jahr sind sie aber wiederum 8 Prozent gestiegen. Das gilt auch für die Nieder-lande und Portugal.

Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. Überall dort,wo eine Mehrwertsteuerermäßigung vorgenommenwurde, kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei handeltes sich nicht um die erste und einzige Untersuchung, diedie Senkung der Mehrwertsteuersätze auf ihre Wirksam-keit überprüft hat. Alle Untersuchungen sind bislangzum gleichen Ergebnis gekommen. Eine Mehrwertsteu-ersenkung ist nicht das am besten geeignete Instrument,um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln – selbst nichtim Restaurantbereich –, Arbeitsplätze zu schaffen unddie Schattenwirtschaft einzudämmen. Dafür verursachtdieses Instrument im Verhältnis zu seiner Wirksamkeithohe Kosten, in diesem Fall 7 Milliarden Euro. Natür-lich wachsen dann die Begehrlichkeiten in anderenBranchen; das hat Herr Oswald schon erklärt.

Finanzminister Steinbrück hat im Interesse Deutsch-lands richtig gehandelt, als er dieses Instrument in Brüs-sel abgelehnt hat.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Er hat es doch nichtabgelehnt! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß[SPD]: Für Deutschland abgelehnt!)

Es handelt sich hier um eine reine Subventionierung be-stimmter Branchen. Das haben Sie auch deutlich gesagt.Das kann man wollen. Auch unsere Tourismuspolitikerliebäugeln hin und wieder mit einer solchen Maßnahme.Aber Sie von der FDP lehnen sonst Subventionen vehe-ment ab. Herr Westerwelle hat das heute erneut lautstarkerklärt. Gleichzeitig hat er aber eine Mehrwertsteuer-ermäßigung, also eine Subventionierung, gefordert. Ent-weder kennt er die Gutachten nicht, die einer Mehrwert-steuerermäßigung negative Auswirkungen bescheinigen,oder diese Wendung in zwei, drei Sätzen – einmal gegenSubventionen und dann wieder dafür – zeigt das ganzeWirrwarr der Lösungsversuche der FDP, wenn es um dieBewältigung der Wirtschaftskrise geht. Ich gehe vonLetzterem aus.

Wir von der Koalition haben für die steuerliche Ab-setzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen gesorgt unddie Möglichkeit eröffnet, Handwerkerrechnungen steuer-mindernd geltend zu machen. Wir haben damit zielge-richtet gehandelt. Den größten Effekt hat die von unsdurchgesetzte Senkung der Arbeitskosten. Ich nenne des

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Lydia Westrich

Weiteren die Umweltprämie und das Konjunkturpro-gramm zur Verbesserung der Infrastruktur. Die haben einVielfaches an Wirkung.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen dringend zum Schluss

kommen.

Lydia Westrich (SPD): Noch einen Satz. – Frau Höll, das Schulbedarfspaket

für finanzschwache Familien, das wir bis zum 13. Schul-jahr gewähren und auf Familien mit Kinderzuschlag aus-weiten, kurbelt den Konsum direkt an. Das hilft den Fa-milien. Das ist der richtige Weg und nicht eineMehrwertsteuerermäßigung; denn man weiß nicht, wemsie zugutekommt.

(Beifall bei der SPD – Dr. Barbara Höll [DIELINKE]: Anhebung der Regelsätze wäre derrichtige Weg! Dann käme ständig etwas!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist interessant, wie Herr Burgbacher Mittelstandspoli-tik definiert. Offensichtlich besteht der deutsche Mittel-stand aus Hotellerie und Handwerk.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Ich habe diese als Beispiele genannt!)

Sie sagen nicht, wie eine Mehrwertsteuerermäßigung ge-genfinanziert werden soll. Das bedeutet dann aber, dassdas aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestrittenwerden muss. Dann müssen viele andere kleine undmittlere Unternehmen die Last tragen. Ihnen geht es nurum die Begünstigung einer kleinen Gruppe. Sie habenkeinen systematischen Ansatz. Wenn ihre Mittelstands-politik so aussieht, dann sollten wir mit Ihnen über Wett-bewerb und Mittelstand noch einmal gründlicher disku-tieren.

(Joachim Poß [SPD]: Klientelismus!)

Vielleicht kann der neue Wirtschaftsminister, der sichals ordnungspolitischer Leuchtturm und Erbe LudwigErhards geriert, etwas zum System der Marktwirtschaftsagen. Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir ver-stehen unter Marktwirtschaft etwas anderes als die Privi-legierung einzelner Gruppen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben imOktober 2006 einen Antrag – Drucksache 16/3013 – ein-gebracht, in dem Sie auf das komplizierte Mehrwert-steuersystem verweisen. Sie stellen darin fest, diesessei laufend verändert und verkompliziert worden. Siefordern den Bundestag auf, eine Vereinfachung desMehrwertsteuersystems zu beschließen. Wunderbar! So

weit Zustimmung. Interessanterweise fordert Ihr Par-teivorsitzender Ostern 2008 die Ermäßigung des Mehr-wertsteuersatzes auf die Energieprodukte, also eine Ver-komplizierung. Nun wollen Sie eine weitere Ermäßigung– und damit eine weitere Verkomplizierung – durchset-zen; denn eine Abgrenzung ist bei Handwerksleistungensehr schwierig. Sie wollen eine weitere Ermäßigung ein-führen, obwohl Sie keinen Gesamtansatz haben. Dashalte ich für ziemlich schwach.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte aus einer Rede zitieren, die der KollegeWissing am 14. Februar des vergangenen Jahres, alsovor gut einem Jahr, gehalten hat. Damals ging es um ei-nen Antrag der Linken. Was war der Vorwurf des Kolle-gen Wissing? Ich zitiere:

Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vor-stellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Sym-bolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch kei-nem … Wie das abgegrenzt und … ausgestaltetwerden soll, sagen Sie aber nicht.

Genau das könnte man heute zu Ihrem Vorschlag sagen.Ich sage Ihnen: Messen Sie sich selber einmal an Ihreneigenen Ansprüchen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein weiterer Punkt ist Europa. Sie haben auf die ande-ren europäischen Länder verwiesen. Entschuldigung, wirerleben doch gerade in der Finanzmarktkrise, dass eshöchst problematisch gewesen ist, in den einzelnenPunkten immer wieder auf die anderen zu hören und ge-nau das nachzumachen, was die anderen machen, auchwenn es schlecht ist. Genau damit sind wir an vielenStellen auf die Nase gefallen. Es wäre doch gut gewesen,wenn unser Finanzmarkt besser reguliert gewesen wäreund wir nicht ständig auf Luxemburg oder Irland verwie-sen hätten.

Das gilt auch für das Steuersystem. Bloß weil andereihr Steuerrecht verkomplizieren, heißt das doch nicht,dass wir das auch machen müssen. Schauen Sie sichdoch bitte noch einmal die Studie von Copenhagen Eco-nomics an. Darin steht sehr deutlich, dass man natürlichin einem Bereich, in dem der Anteil der Schwarzarbeitsehr hoch ist, steuerrechtlich eingreifen kann. In der Stu-die steht aber auch: Prüfen Sie bitte die Alternativen.

Dieser Punkt hat in Ihrer Argumentation wieder völliggefehlt. Ich möchte nur daran erinnern, dass dieses Hausvor ganz kurzer Zeit im Konjunkturpaket I beschlossenhat, dass Handwerkerleistungen in einem größeren Um-fang steuerlich absetzbar sein sollen – diese Forderunghaben wir schon seit längerem erhoben –, damit in die-sem Bereich gerade die energetische Modernisierungstattfinden kann und dies auf legalem Wege erfolgt. Siehaben nichts dazu gesagt, dass genau in diesem Bereichschon etwas gemacht worden ist und was die sonstigenAlternativen wären. Das war eine schwache Leistung.

Eine Frage ist auch: Gibt es eine weiter gehende Per-spektive, die allgemein für die Märkte gilt? Wir Grüneschlagen vor, gezielt im unteren Einkommensbereich die

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Dr. Gerhard Schick

Sozialabgaben zu senken. Das würde nicht nur einer be-stimmten Gruppe, die gerade der FDP auffällt, sondernallgemein der deutschen Wirtschaft eine Verbesserungbringen und die Schwarzarbeit wirksam bekämpfen. Ichwäre dankbar, wenn wir mehr ans Ganze denken würdenund nicht nur Teilbereiche im Blick haben.

Ich würde mich auch freuen – das richtet sich jetzt andie Kollegen der Großen Koalition –, wenn man nichterst nach dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortunganfängt, große Ansagen für die Zukunft zu machen, HerrKollege Oswald, sondern sich einmal fragt, was in dendreieinhalb Jahren gemacht wurde. Wir haben in einemArbeitsprozess angefangen, fraktionsübergreifend anFortschritten zur Änderung der Mehrwertsteuer zu arbei-ten. Dieser Prozess ist leider etwas eingeschlafen. Ichmöchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, daran wei-terzuarbeiten, damit wir zu einer guten Reform des Ge-samtsystems Mehrwertsteuer kommen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Manfred Kolbe spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak-

tion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Manfred Kolbe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Burgbacher, das war eine klassischeLobbyrede,

(Ernst Burgbacher [FDP]: Nein!)

mit der Sie der betroffenen Gruppe wahrscheinlich kei-nen großen Gefallen getan haben, weil dieses Manöverzu durchsichtig war. Sogar der Kollege Wissing, der jetztneben Ihnen sitzt, machte ein etwas gequältes Gesichtund hielt sich auch beim Beifall merklich zurück. Ichhabe das genau beobachtet. Das spricht für dich, VolkerWissing.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was wir brauchen, Herr Burgbacher, ist eine Gesamt-konzeption, statt jedes halbe Jahr – wenn auch vernünf-tige – Einzelanträge zu stellen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Fragen Sie doch mal Herrn Hinsken, was er jeden Tag fordert!)

Ich sage ja nicht, dass Ihr Antrag unvernünftig ist. Es hatauch Anträge der Linken gegeben, den Mehrwertsteuer-satz auf Waren und Dienstleitungen für Kinder sowieArzneimittel zu senken. Auch diese waren im Kern nichtunvernünftig. Mir fallen Dutzende von Dingen ein, beidenen der ermäßigte Mehrwertsteuersatz berechtigtwäre. Aber am Ende müssten wir dann allen den ermä-ßigten Mehrwertsteuersatz mit der Konsequenz gewäh-ren, dass wir diesen dann auf 19 Prozent erhöhen müss-ten. Damit wäre niemandem gedient. Wir brauchen alsoein Gesamtkonzept.

Wir geben zu, dass die bestehende Kasuistik nichtmehr hinnehmbar ist. Ich zitiere nur einmal Nr. 22 dieser20-seitigen Liste der dem ermäßigten Steuersatz unter-liegenden Gegenstände:

Johannisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrock-net, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchtensowie andere pflanzliche Waren (einschließlichnicht gerösteter Zichorienwurzeln der Varietät Ci-chorium intybus sativum) der hauptsächlich zurmenschlichen Ernährung verwendeten Art, … aus-genommen Algen, Tange und Zuckerrohr

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das Manuskript musst du ans Protokoll abgeben!)

Das ist nur ein Auszug aus der Liste der Produkte mit er-mäßigtem Mehrwertsteuersatz.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das musst du jetzt noch einmal für alle wiederholen!)

Es gibt ein Schreiben vom BMF, Frau Kressl, wonachgenießbare getrocknete Schweineohren, auch wenn alsTierfutter verwendet, dem ermäßigten Umsatzsteuersatzunterliegen, während getrocknete Schweineohren, dienicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind,

(Simone Violka [SPD]: Die kann man auch nicht kauen!)

unter den vollen Satz fallen. Das ist eine wahre GlanztatIhres Hauses. Das ist Stoff für Büttenredner im Karne-val. Das müssen wir beenden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]:Auf Karneval wollen wir trotzdem nicht ver-zichten!)

Es bestehen auch gravierende Bewertungswidersprü-che in dieser Liste: Warum werden Musik-CDs niedrigerbesteuert als Babywindeln? Warum wird Tierfutter nied-riger besteuert als Arzneimittel? Warum werden Hum-mer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser?

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ha-ben die Länder 2002 verhindert!)

Dies gibt alles keinen Sinn mehr, und wir sind hier ge-fordert, zumal sich die Problematik laufend verschärft.Jede Mehrwertsteuererhöhung – wir haben eine be-schließen müssen – bedeutet natürlich eine Vergröße-rung des Abstandes zum ermäßigten Mehrwertsteuer-satz.

Herr Burgbacher, nicht neue Ausnahmeregelungensind das Gebot der Stunde, sondern ein einfacheres undleistungsgerechteres Steuersystem und auch Mehrwert-steuersystem.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Da stimme ich zu!)

Darüber müssen wir uns in der Tat ernsthaft Gedankenmachen. Einzelfalllösungen führen uns nicht weiter, soberechtigt sie auch sein mögen. Die Gastwirte haben na-türlich sehr gute Gründe.

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Manfred Kolbe

(Ernst Burgbacher [FDP]: Sie stehen auch im Wettbewerb, Herr Kolbe!)

Aber ich denke nur an die letzte Änderung, die wir hierbeschlossen haben. Seinerzeit haben wir den Mehrwert-steuersatz für Seilbahnen und Skilifte ermäßigt.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das war die Union, die das wollte!)

– Ich darf hier einmal ein Geheimnis ausplaudern: Daswar in der Großen Koalition nicht ganz unumstritten.Aber hat uns dies weitergeführt? Ich glaube nicht, dasswir die Probleme, die unser Mehrwertsteuersystem mitsich bringt, dadurch gelöst haben.

Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer für Gaststätten senk-ten, bekämen wir neue Probleme; dann stünden uns De-batten über den ermäßigten Steuersatz für Luxusrestau-rants im Gegensatz zum vollen Mehrwertsteuersatz beiMedikamenten ins Haus. Dies ergäbe keinen Sinn, HerrBurgbacher, das müssen auch Sie zugeben.

Wir brauchen also eine Gesamtlösung. Es ist aller-dings an der Zeit, dass wir sie angehen. Das muss in dernächsten Legislaturperiode passieren. Als Erstes solltenwir darüber nachdenken, ob ein Katalog noch die rich-tige Lösung ist, Frau Kressl, oder ob es nicht andere Lö-sungen als diesen Katalog gibt. Ich sage Ihnen voraus,dass jeder Katalog Wertungswidersprüche provozierenwird. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch darübernachdenken, ob wir den ermäßigten Steuersatz wieder aufden ursprünglichen Ansatz von 1968 zurückführen, nichtmehr als das Existenzminimum zu privilegieren. Dannkönnten wir vielleicht sogar den allgemeinen Mehrwert-steuersatz senken. Eine konzeptionelle Gesamtlösungmuss in der nächsten Legislaturperiode gefunden wer-den, und dazu wünsche ich allen Fraktionen viel Erfolg.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Lothar Binding [Heidelberg] [SPD) – LotharBinding [Heidelberg] [SPD]: Am besten, wirfangen gleich an!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-

Fraktion das Wort.

(Florian Pronold [SPD]: Ist das jetzt dieselbeRede wie vor einem Jahr? – Zuruf von derSPD: Dieselbe Rede wie immer!)

Dr. Volker Wissing (FDP): Besten Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Die Situation ist etwas anders, als Sie,Herr Schick, sie dargestellt haben. Richtig ist natürlich,dass unser Mehrwertsteuersystem keine Logik hat; dieshaben wir hier schon oft besprochen. Richtig ist auch,dass das Ganze keinem sozialen Sinn mehr folgt. Wir ha-ben schon gehört, dass Babywindeln voll besteuert,Trüffel und Gänsestopfleber aber steuerlich subventio-niert werden. Dies kann niemand ernsthaft wollen, unddie Bürgerinnen und Bürger fragen sich, warum so etwasimmer noch im Gesetz steht.

(Florian Pronold [SPD]: Weil es 2002 voneuch und von der CDU/CSU abgelehnt wor-den ist!)

Herr Schick sagt, es könne nicht sein, dass Liberalejetzt einen Einzelpunkt aufgriffen, wo doch die FDP im-mer gesagt habe, sie wolle eine Gesamtlösung.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Und die nie vorgelegt hat!)

Ich erläutere Ihnen, wie die Situation ist, im Übrigenauch, was es mit der Wettbewerbssituation und derMarktwirtschaft auf sich hat:

Nicht die FDP hat auf europäischer Ebene einen Fi-nanzminister losgeschickt, der sich eines Sachverhaltsannimmt, den die Franzosen als ein Problem ansehen,sondern es war ein sozialdemokratischer Finanzminister.Er hat durch die Absenkung der Mehrwertsteuer für diefranzösischen Gastronomen eine Wettbewerbsverzer-rung geschaffen. Die FDP fragt sich, ob man der deut-schen Gastronomie diese Ungleichbehandlung zumutenmuss.

(Beifall bei der FDP)

Ist es nicht eine patriotische Aufgabe, dafür zu sorgen,dass in der Wirtschaftskrise mittelständische Unterneh-men von solchen Wettbewerbsverzerrungen befreit wer-den? Weil nicht wir, sondern Sie auf europäischer Ebeneverhandeln können – Sie stellen die Bundesregierung –,fordern wir dasselbe Recht für Gastronomen inDeutschland, das Sie auf europäischer Ebene geschaffenhaben. – Dies ist gemeint, Herr Kollege Schick, wennvon fairen Wettbewerbsbedingungen gesprochen wird.

(Beifall bei der FDP)

Sie sagen zu Recht, dass in dieser Legislaturperiodein Sachen Reform des Mehrwertsteuersystems nichtspassiert sei. Das liegt an der Großen Koalition.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ihr Vorschlag steht auch nochaus!)

– Sie wissen, dass dies nicht stimmt. Wir haben im Fi-nanzausschuss darauf gedrängt, dass es eine Selbstbefas-sung geben soll. Allerdings stand sie unter einemschlechten Stern, weil die Koalition gesagt hat, mankönne zwar darüber reden, aber sie werde in dieser Le-gislaturperiode nichts ändern. Das liegt daran, dass Siesich auf nichts verständigen können. Die Wahrheit istdoch, dass Sie auch in diesem Bereich reformunfähigsind, weil Sie sich nicht auf einen gemeinsamen Nennereinigen können. Das muss man doch den Leuten inDeutschland sagen.

(Beifall bei der FDP)

Es tut sich nichts an einer wichtigen Reformbaustelle,weil CDU/CSU und SPD nicht in der Lage sind, zusam-men eine vernünftige Steuer- und Finanzpolitik zu ma-chen. Das ist doch das Problem.

(Lydia Westrich [SPD]: Das ist doch Unfug!)

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Dr. Volker Wissing

– Frau Kollegin Westrich, Sie haben gemeinsam mit Ih-ren SPD-Kollegen Ihr Wahlversprechen gebrochen undder Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunktezugestimmt. Jetzt haben Sie auch noch gesagt, dass Steu-ersenkungen Subventionen seien. Damit entlarven Sieim Grunde genommen Ihre Handlung und sagen, dassSie die Steuererhöhung gerne vorgenommen haben.

(Zuruf von der SPD: Wer hat denn die Arbeits-kosten stabilisiert?)

Die Wahrheit ist doch, dass dieses Mehrwertsteuer-system dringend reformiert werden muss. Man mussdoch ein klares System vorschlagen. Als die Vertreterder Mineralbrunnen seinerzeit zu der Vorgängerin vonFrau Kressl kamen und gefragt haben, warum Mineral-wasser nicht ebenso wie Lebensmittel mit einem vermin-derten Satz besteuert werden könnten, antwortete FrauHendricks damals: Dann sollen die Leute doch Milchtrinken. – Da versteht man, dass den Leuten in Deutsch-land irgendwann die Galle hochkommt; denn so vielMilch verträgt man gar nicht.

(Beifall bei der FDP)

Man muss eine klare Linie haben. Das bedeutet, dassman sich nicht für eine volle Besteuerung der Gastrono-mie in Deutschland ausspricht, aber auf europäischerEbene dafür plädiert, die Gastronomie mit einem ver-minderten Steuersatz zu besteuern.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Da beantragen Sie eine AktuelleStunde, und Sie haben noch nicht einmal eineigenes Konzept!)

Wir fordern: Ein Konzept, das man in Deutschlanddurchhalten will, muss auch auf europäischer Ebene gel-ten. Dieses Mindestmaß an Fairness muss man gegen-über den Menschen wahren. Das müssen sie erwartenkönnen.

Es ist schön, dass die Bundesregierung ihr Herz fürFrankreich entdeckt hat. Das ist ein schönes Land. Mankann aber auch in der Pfalz gut essen, Frau KolleginWestrich, man muss nicht über die Grenze fahren. Aberdie Menschen in Deutschland fragen sich doch, wieso inder Krise durch die Steuer- und Finanzpolitik unserefranzösischen Nachbarn unterstützt werden und nichteine steuerliche Entlastung in der BundesrepublikDeutschland erfolgt. Das können Sie nicht erklären. Dakönnen Sie so tolle Reden halten, wie Sie wollen.

(Simone Violka [SPD]: Frankreich hat dochden Mindestlohn! Sagen Sie mal was zumMindestlohn!)

Wir fordern nichts anderes, als dass die Bundesregierungdie Wohltaten, die sie auf europäischer Ebene an mittel-ständische Betriebe verteilt – der Bundesfinanzministertut das für die französische Wirtschaft und die französi-sche Gastronomie; anscheinend geht er gerne dort essen –,

(Florian Pronold [SPD]: Weil es teurer ist, oder was?)

auch in Deutschland verteilt. Das ist nicht durchzuhal-ten. Wir fordern gleiches Recht für alle. Wir fordern,

dass diese Bundesregierung nicht nur ein Herz für dieeuropäischen Nachbarn, sondern in erster Linie ein Herzfür Deutschland hat und dass sie sich um die Problemedes deutschen Mittelstandes kümmert. Das haben Sieversäumt. Die FDP fordert das ein.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Gabriele Frechen hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Frechen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich verstehe die Debatte über das, was unserFinanzminister im Ecofin gemacht hat, überhaupt nicht.Ob man einer Forderung des Europäischen Rates folgtund den Weg dafür freimacht, dass die Länder selber ent-scheiden können, welchen Weg sie gehen wollen, istdoch etwas anderes, als hier im Inland gezielt eine Maß-nahme zu ergreifen, die man für unsinnig hält. Es kanndoch keiner verlangen, dass ein Finanzminister dasmacht. Auch wir möchten das nicht. Im Ecofin-Ratwurde den Ländern, die es wollen, jetzt die Möglichkeiteingeräumt, die Mehrwertsteuer auf bestimmte Dienst-leistungen und in bestimmten Sektoren zu ermäßigen.Aber kein Land muss jeden Unfug, den andere Länderwollen, mitmachen. Da hat Herr Schick völlig recht. Daskann doch nicht gewünscht sein.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben bereits heute in den 27 Mitgliedstaatenvöllig unterschiedliche Mehrwertsteuersätze, völlig un-terschiedliche ermäßigte Steuersätze und völlig unter-schiedliche Handhabungen der Mehrwertsteuersätze.Das rührt zum Teil aus alter Zeit, weil die Ermäßigungenbzw. die Steuersätze Bestandskraft haben. Zum Teil hatdas eine oder andere Land auch von einer Übergangslö-sung Gebrauch gemacht, die in der Zwischenzeit ange-boten wurde.

Aber bereits 2003 hat die Europäische Kommissionunsere, die deutsche Haltung bestätigt, dass die Weiter-gabe der steuerlichen Ermäßigung an die Verbraucherkeinesfalls gesichert werden kann, eher im Gegenteil.Wie Frau Westrich zu Recht gesagt hat, subventionierenwir damit den Umsatz und entlasten nicht den Verbrau-cher. Von einer positiven Lenkungswirkung ist ebenfallsnicht auszugehen.

Jetzt komme ich auf die hiesige Mehrwertsteuer zusprechen. Nachdem wir eine Debatte darüber geführt ha-ben, ob es sinnvoll ist, die Mehrwertsteuer auf Energie-kosten zu senken, ob sie der Preistreiber in dem ganzenSpiel ist, muss doch gerade die Entwicklung der Ener-giekosten wirklich auch dem letzten denkenden Men-schen klargemacht haben, dass die Mehrwertsteuer dasAllerletzte ist, was bei der Preisbildung eine Rolle spielt.

(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])

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Gabriele Frechen

Es gibt andere Dinge, die deutlich wichtiger sind, näm-lich die Spanne zwischen „Das kann ich noch erzielen“und „Das geht nicht mehr“. Diese Spanne ist bei derPreisbildung wichtig, deutlich wichtiger als der Mehr-wertsteuersatz.

Stichwort „rezeptfreie Medikamente/Arzneimittel“: Eshat sich doch eindeutig gezeigt, dass Ihre Theorie nichtstimmt. An dem Tag, an dem Ministerin Schmidt ange-kündigt hat, dass die preiswertesten Generika künftigvon der Zuzahlung befreit sind, purzelten die Preise; dieAnbieter übertrafen sich gegenseitig. Warum? Weil jedesPharmaunternehmen ein Stück vom Kuchen habenwollte, zur Not unter Inkaufnahme einer geringeren Ge-winnspanne. Was hat das mit der Mehrwertsteuer zu tun?Die Mehrwertsteuer ist bei allen Generika die gleiche.Ich spreche nur von Dingen, die im Inland gehandeltwerden. Für das gleiche Schmerzgel zahlt man zwischen6,41 Euro und 13,48 Euro, und das bei einem gleichenMehrwertsteuersatz.

Wir haben die Handwerksleistungen auf eine ganz an-dere Art und Weise gefördert. Dazu brauchten wir keineMehrwertsteuersenkung. Bei uns können die Kosten fürhandwerkliche und haushaltsnahe Leistungen direkt vonder Steuer abgezogen werden. Finden Sie etwas Ver-gleichbares im europäischen Ausland! Unsere Lösunghat für mich den zusätzlichen Charme, dass sie Schwarz-arbeit verhindert, was durch eine Senkung der Mehr-wertsteuer nicht erreicht wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn der Handwerker die berühmte Frage stellt: „Brau-chen Sie eine Rechnung?“, und der Kunde das verneint,dann merkt er doch nicht, ob ihm 7 Prozent oder 19 Pro-zent Mehrwertsteuer nachgelassen werden. Ich halte un-sere Lösung also für besser. Gegen Vorlage der Rech-nungen einen Steuerabzugsbetrag von maximal 4 000oder 1 200 Euro gewährt zu bekommen, das ist wie baresGeld. Keine Rechnung zu erhalten, ist etwas anderes.

Zu den Restaurants. Wir haben eben spekuliert, obNachmittagsflüge von Berlin nach Frankreich angebotenwerden, weil das Mittagessen dort preiswerter ist, wenndort die Steuern gesenkt werden.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Sie haben doch keine Ahnung!)

– Doch, ich habe Ahnung. Ich komme aus Süddeutsch-land.

(Zuruf von der CDU/CSU)

– Genau, mit gutem Essen kenne ich mich aus. Ichkomme aus Süddeutschland.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wer aus Süd-deutschland kommt, hat recht!)

Sie glauben doch nicht, dass jemand aus dem Reblandzum Essen 100 Kilometer nach Colmar und wieder zu-rück fährt, weil in Colmar der Steuersatz niedriger ist.Ich möchte den Badener sehen, der zum Essen statt insRebland nach Colmar fährt.

(Beifall bei der SPD)

Wegen der Beseitigung von Wettbewerbsnachteilenwollen Sie die Steuerermäßigung zugegebenermaßen ei-gentlich nur für Gastronomen in grenznahen Bereichen.Ich meine, der Gastronom in Mecklenburg-Vorpommernbraucht keine Steuerermäßigung, weil das Essen inStraßburg preiswerter ist.

(Markus Löning [FDP]: Aber das Essen in Stettin ist preiswerter!)

Erzählen Sie mir nichts! Aber was machen wir denn mitder Konkurrenz zwischen Straßburg und Karlsruhe? DieBaden-Badener sind näher an der Grenze als die Karlsru-her. Es könnte also zu einem innerdeutschen Wettbe-werbsnachteil kommen.

Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Hotels sa-gen. Eine Ferienwohnung in Zinnowitz kostet im Fe-bruar 273 Euro und im Dezember 511 Euro. Der Preis-unterschied liegt nicht an der Mehrwertsteuer und auchnicht an den Heizkosten; in Zinnowitz muss im Februarund im Dezember gleichermaßen geheizt werden.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin!

Gabriele Frechen (SPD): Eltern mit schulpflichtigen Kindern wissen, woran es

liegt: Es liegt nicht an der Mehrwertsteuer, sondern ander Gewinnspanne in der jeweiligen Saison; ich habeeben darauf hingewiesen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie hatten Ihre Rede bereits beendet.

Gabriele Frechen (SPD): Entschuldigung, noch einen Satz von Heinz Erhardt

in Richtung FDP:

Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie kei-nen blassen Schimmer haben.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Klaus Brähmig hat das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Im Jahr 2008 hatte der Bundeshaushalt ein Volu-men von 288 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseitestanden 94 Milliarden Euro Mehrwertsteuer; das sindetwa 28 Prozent. In der aktuellen Diskussion wird mirmanchmal schwummerig, wenn ich so höre, was wir al-les auf breiter Front senken wollen, ohne dass einmal of-fen darüber gesprochen wird, dass wir das letztendlichgegenfinanzieren müssen, also entsprechende Einnah-men generieren müssen. Das dürfen wir nicht außer Achtlassen.

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Klaus Brähmig

Das Thema, über das wir heute debattieren – es istnicht das erste Mal; ich bin ganz sicher, dass es für dienächsten Wochen und Monate auch nicht das letzte Malsein wird –, eignet sich nicht für Populismus. Wichtigwird sicherlich sein, dass es nach dem Ende dieser Le-gislaturperiode zu einem Kassensturz kommt und diedann Regierenden eine Bewertung vornehmen.

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in denletzten Jahren immer für den Abbau von Wettbewerbs-verzerrungen eingesetzt, auch von solchen in den Berei-chen Tourismus, Gastronomie und Hotellerie, und sichganz massiv für die Harmonisierung innerhalb Europasengagiert. Ich bin sehr froh darüber, dass im Augenblickdiese Diskussion stattfindet; denn das gibt uns die Mög-lichkeit – es setzt uns natürlich auch unter Druck –, et-was in dieser Richtung zu tun, nicht nur darüber zu spre-chen, sondern auch konstruktive Vorschläge vorzulegenund dann umzusetzen.

Ich kann mich gut daran erinnern, Frau Kressl, dasswir vor nicht allzu langer Zeit mit Frau Faße bei Ihnenim Ministerium waren. Die Branche animiert uns Fach-politiker ja ständig, Vorschläge zu unterbreiten. Ich hättemir gewünscht, dass der Finanzminister, wenn er inBrüssel schon zustimmt – wie uns allen bekannt ist, ist jaEinstimmigkeit notwendig –, für Deutschland vorgibt,wie wir es mit den ausgewählten Branchen halten wol-len. Der Anspruch der Branche, der Hotellerie und Gas-tronomie, ist durchaus berechtigt. Es geht nämlich da-rum, die Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Europas,lieber Ernst Burgbacher, abzubauen

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

und den Standort Deutschland nicht zu benachteiligen.Wir werden uns in der Diskussion und in den Beratun-gen der nächsten Wochen und Monate etwas einfallenlassen müssen. Ich bin sehr sicher, dass wir beide An-sprüche berücksichtigen können.

Man muss wissen, dass die Mehrwertsteuer gerade fürdie Preiskalkulation in der Gastronomie ein ganz wichti-ger Punkt ist. Die Waren werden mit 7 Prozent Mehrwert-steuer eingekauft und mit 19 Prozent Mehrwertsteuerweitergegeben. Deshalb kann man einen Gastronomiebe-trieb fast als kleines Finanzamt ansehen; denn man leistetdort durchaus eine wichtige Arbeit für den Staat.

Da bin ich durchaus bei der Position der FDP. Wir alsTourismuspolitiker haben gemeinsam mit Ernst Hinskenin den letzten Wochen immer wieder vorgebracht, dasswir das vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Ichschließe mich da meinen Vorrednern an. Dieser Katalogbringt Kuriositäten mit sich, und das macht überhauptkeinen Sinn. Das ist einer der ersten Punkte, die soschnell wie möglich in Ordnung gebracht werden müs-sen.

Ich will ergänzend nur noch einige Beispiele anfüh-ren: ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Hausschweine,normaler Mehrwertsteuersatz für Wildschweine; ermä-ßigter Satz für Kartoffeln aller Art, normaler Satz fürSüßkartoffeln; ermäßigter Satz für Tomatenmark undTomatensaft, normaler Satz für Tomatenketchup und To-matensoße. Ein ganz tolles Beispiel ist folgendes: Pilze

und Trüffel, ohne Essig haltbar gemacht: ermäßigterMehrwertsteuersatz; Pilze und Trüffel, mit Essig haltbargemacht: normaler Mehrwertsteuersatz.

(Florian Pronold [SPD]: Gibt es in der Praxis da Preisunterschiede?)

Diese Liste ließe sich unendlich fortführen.

Meine Vorredner haben deutlich gemacht, dass in viel-fältiger Weise dringender Handlungsbedarf besteht undentsprechende politische Maßnahmen getroffen werdenmüssen.

Ich will noch ganz kurz auf Folgendes eingehen: DieRegierungschefs werden ja heute oder morgen in Brüsseleine Entscheidung in die eine oder andere Richtung tref-fen. Ich denke, sie wird derjenigen ähneln, die die Fi-nanzminister getroffen haben. Danach muss von Brüsseldie entsprechende Richtlinie erarbeitet werden. Erstdann beginnt bei uns die Umsetzung im Parlament, so-fern wir die Mehrheiten dafür organisieren.

Ich selber werde mich im Rahmen der ArbeitsgruppeTourismus mit den Branchenvertretern in den nächstenWochen zusammensetzen, damit es – das ist ganz wich-tig – nicht nur dazu kommt, dass wir die Lippen spitzen,sondern auch dazu, dass wir pfeifen.

(Joachim Poß [SPD]: Hat er schon einen De-ckungsvorschlag genannt?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Klaus Brähmig (CDU/CSU): Das Thema muss in die Wahlprogramme der Parteien

aufgenommen werden; nur dann besteht die Chance,dass es Eingang in einen Koalitionsvertrag findet und imJahre 2010 auch in die Praxis umgesetzt werden kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die Bundesregierung erteile ich das Wort der Kol-

legin Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl.

(Beifall bei der SPD)

Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun-desminister der Finanzen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte zuerst kurz auf einige wenige Beiträge ausder bisherigen Debatte eingehen.

Erstens will ich noch einmal ganz deutlich machen,wie dieser Kompromiss zustande gekommen ist: Allekonnten im Dezember nachlesen, dass nach sehr langerDebatte auf europäischer Ebene die Kanzlerin und HerrSarkozy bei einem Treffen der Regierungschefs mitei-nander vereinbart haben, in dieser Frage einen Kompro-miss zu schließen. Wir stehen zu diesem Kompromiss.Ich halte es aber nicht für zulässig, den Anteil daran nur

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Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl

einem Teil der Regierung zuzuordnen, wie es geradeteilweise passiert ist.

Zweitens. Herr Kolbe, Sie haben ja recht, dass es sicheinem, wenn man sich den Inhalt der Schreiben desBMF vor Augen führt, geradezu aufdrängt, dass es zuVeränderungen kommen muss. Sie haben dann weiterhingesagt, das sei eine Glanzleistung unseres Hauses gewe-sen. Hier möchte ich einem Missverständnis vorbeugen:Ich weiß zwar, dass der Begriff „BMF-Schreiben“ im-mer den Eindruck vermittelt, es handle sich um einSchreiben des Bundesfinanzministeriums. Das ist abernicht so. Das wissen Sie wahrscheinlich. Hier geht es umeine Verwaltungsanordnung, die auf der Zustimmung ei-ner Mehrheit der Bundesländer beruht. Ich will das nurnoch einmal deutlich machen, damit nicht falsche Tönein die Debatte kommen. Das bedeutet also nicht, dasswir alles inhaltlich richtig finden,

(Joachim Poß [SPD]: Kommt alles aus Sach-sen und Bayern!)

sondern vielmehr, dass wir uns darum kümmern müssen,hier zu einer noch größeren Vereinheitlichung zu kom-men.

Meine dritte Anmerkung betrifft die Ehrlichkeit indieser Debatte, insbesondere vonseiten der FDP: Wermehr Vereinheitlichung fordert, aber nicht zugleich allesmit dem halben Mehrwertsteuersatz belegen will, darfnicht den Parteien und Fraktionen, die sich für eine ent-sprechende Vereinheitlichung einsetzen, vorwerfen, sieerhöhten die Steuern. Ich ahne, wie Sie im Zweifel denParteien, die sich auf diesen Weg machen, die Worte imMund umdrehen. Die Ehrlichkeit gebietet es, in einerDebatte nicht nur schön über Systematik zu reden, son-dern auch zu sagen, auf was man sich einlässt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]:Das machen wir doch nie! Wir drehen nieman-dem das Wort im Munde um! Wir nehmen dieLeute nur beim Wort!)

Es ist so – wir haben es gehört –, dass das Experiment„ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensiveDienstleistungen“ auf europäischer Ebene für all dieMitgliedstaaten dauerhaft nutzbar wird, die es wollen.Nicht ohne Grund hat sich mittlerweile aber eine zuneh-mende Zahl von Mitgliedstaaten der Protokollerklärungangeschlossen und gesagt, dass sie das Instrument nichtnutzen werden. Das macht, wie ich glaube, auch Sinn.Hier vorschnell zu entscheiden – bei manchen Redebei-trägen hatte ich diesen Eindruck –, wäre unüberlegt. Dabin ich mir sicher.

Die Prüfung der Mitgliedstaaten, ob sie diesen Wegmitgehen, sollte dabei unter dem Motto stehen: Bedenkedie Wirkung! Manche sagen ja, dass die einzige Wir-kung, die in diesem Fall sicher ist, die ist, dass es zuSteuermindereinnahmen kommt. Die Auswertung dereuropäischen Experimente hat doch gezeigt – ich sagedazu in Klammern: das deutet sich ja offensichtlich auchbei den Bergbahnen an –,

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die Bergbahnen-regelung hat doch die bayerische SPD mitbe-schlossen!)

dass die Vorteile von im Laufe der Zeit reduziertenMehrwertsteuersätzen so gut wie nie dauerhaft an dieVerbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wer-den.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – JoachimPoß [SPD]: Das sind die Erfahrungen, HerrBurgbacher! Hören Sie einmal zu!)

Herr Burgbacher und Herr Wissing, bis heute hatteich noch geglaubt, dass auch Sie der Meinung sind, dassdie Einsparung an die Verbraucherinnen und Verbrau-cher weitergegeben werden sollte.

(Gabriele Frechen [SPD]: Aber nein!)

Davon haben Sie aber in keinem Ihrer Redebeiträge ge-sprochen. Sie haben ausschließlich über den Gewinn inder Gastronomie gesprochen. Wir sollten noch einmalgenau nachlesen, was Sie heute hier gesagt haben.

(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing[FDP]: Jetzt drehen Sie aber das Wort imMunde herum!)

Die Aussage, dass noch nie eine Steuerersparnis andie Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegebenworden ist, ist nicht einfach nur dahergesagt. Es gibtmehrere Studien dazu. Ich will nur kurz auf zwei einge-hen. Die Europäische Kommission konnte 2003 in ihrerEvaluierung dieser „Experimente“ weder eine positiveWirkung auf die Arbeitsplätze noch eine Eindämmungder Schwarzarbeit feststellen. In der gleichen Studiewird ergänzt, dass mit einem Einsatz von Haushaltsmit-teln, die beispielsweise zur Senkung von Arbeitskostenverwendet werden, eine deutlich bessere Wirkung aufdie Arbeitsplätze erzielt werden kann als mit reduziertenMehrwertsteuersätzen.

Herr Schick hat es schon erwähnt: 2007 gab es aufeuropäischer Ebene die Studie des Kopenhagener Øko-nomisk Instituts, in der deutlich festgestellt wird, dassermäßigte Mehrwertsteuersätze das am wenigsten geeig-nete Mittel zur Verfolgung von Lenkungs- oder Entlas-tungszielen sind

(Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört!)

und dass eine direkte Förderung in jedem Fall besser ist.

Das lässt mich den Bogen schlagen zu der Tatsache,dass die Bundesregierung und die beiden Koalitionsfrak-tionen genau diesen Weg beispielsweise bei der Absetz-barkeit von Handwerksleistungen von der Steuerschuld– in dieser Legislaturperiode wurde der entsprechendeBetrag verdoppelt – gegangen sind. Dies hat eine dop-pelte zielgenaue Wirkung: Zum einen bekommen dieHandwerker mehr Aufträge – alle Beteiligten haben ge-sagt, dass diese Maßnahme zu einer Verbesserung derAuftragslage geführt hat –, und zum anderen werden dieMenschen nachvollziehbar und von uns überprüfbar ent-lastet. Das wäre bei den ermäßigten Mehrwertsteuersät-zen völlig anders.

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Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl

Lassen Sie mich noch kurz auf die Steuerminderein-nahmen eingehen, die sich mit Sicherheit ergeben wür-den. Sie würden im Bereich der kleinen Reparaturleis-tungen 230 Millionen Euro betragen, 640 Millionen Eurobei Friseurdienstleistungen und geschätzte 3,7 Milliar-den Euro im Bereich der Restaurantdienstleistungen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Da müssen Sie noch anderes mit einrechnen!)

In einem ersten logischen Denkschritt können wir davonausgehen, dass die Steuerersparnis nicht weitergegebenwird. In einem zweiten logischen Denkschritt könnenwir erwarten, dass es Steuermindereinnahmen gibt. Diesführt uns zu einem dritten logischen Denkschritt, näm-lich dass wir diese Mindereinnahmen an anderer Stellekompensieren müssen. Das belastet aber auch die Men-schen, die nicht entlastet worden sind.

(Joachim Poß [SPD]: So ist es!)

Das ist eine doppelte Bestrafung und somit nicht derrichtige Weg.

(Beifall bei der SPD – Ernst Burgbacher[FDP]: Denken Sie mal an die Arbeitsplatzent-wicklung in diesem Bereich!)

Ich will ganz deutlich sagen: Die Erkenntnis, dassbranchenbezogene Ausnahmen nicht der richtige Wegsind – auch die Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht,dass sie es für falsch hält, in dieser Legislaturperiodenoch ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen –,hat sich in der Bundesregierung durchgesetzt. Diese Ein-sicht ist aber nicht nur in der Bundesregierung vorhan-den. Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Indus-trie- und Handelskammertag eine differenzierteStellungnahme dazu abgegeben hat. Er ist der Meinung,dass dies kein Weg ist, den man wirklich gehen sollte.

Ich bin der Überzeugung: Wenn man auf Schnell-schüsse verzichtet, ehrlich ist und die von mir vorhin er-wähnten logischen Denkschritte geht, dann kommen wiram Ende der Debatten sicherlich zu dem Ergebnis, dassder von Ihnen vorgeschlagene Weg zur Entlastung desMittelstandes und der Verbraucher, die wir wollen,falsch ist.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Eckhardt Rehberg spricht jetzt für die

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-

ordneten! Wenn man ernst nimmt, was die EuropäischeUnion zum Thema Mehrwertsteuer beschlossen hat,dann stellen sich neue Fragen: Was sind kleinere Repara-turdienstleistungen an Fahrrädern? Was umfasst die Re-novierung von und Reparaturen in Privatwohnungen mitAusnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil

des Wertes der Dienstleistung ausmachen? Herr KollegeBurgbacher, schaffen wir hier das nächste Problem? HerrKollege Burgbacher, wenn Sie die Gastronomiee imBlick haben, dürfen Sie das Beherbergungsgewerbenicht vergessen.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Für Hotels gilt es doch schon längst!)

Wir schaffen damit für weitere Bereiche Bedingungen,wie es sie heute zum Beispiel im Fleischerfachgeschäft,im Bäckerladen oder bei McDonald’s gibt. Derjenige,der bei McDonald’s mit dem Auto vorfährt, zahlt eineMehrwertsteuer von 7 Prozent, derjenige, der innen isst,eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent. Ich weiß nicht, woan dieser Stelle die Differenz von 12 Prozent bleibt.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist doch ein Un-sinn!)

Wenn wir uns diesem Thema ernsthaft widmen wollen,eine Regelung das Hotel- und Gaststättengewerbe um-fassen soll und keine neue Bürokratie aufgebaut werdensoll, dann muss man an dieser Stelle beides ohne Wennund Aber zusammenpacken.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Machen wir ja! Für Hotels gilt es doch schon!)

Herr Kollege Burgbacher, Sie haben sehr stark auf dieeuropäische Gastronomie abgehoben. Im Süden gibt es– das gebe ich zu – ein ungeheueres Problem. Ich möchteaber nicht, dass in Mecklenburg-Vorpommern, Schles-wig-Holstein und Niedersachsen der gleiche Mehrwert-steuersatz wie in Dänemark und Schweden gilt. Dieserliegt nämlich in diesem Bereich bei 25 Prozent. Wennwir uns dieses Themas annehmen – das ist meine klarePosition als Wirtschaftspolitiker –, dann müssen wir dasgesamtheitlich und ohne Schnellschüsse regeln.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Aber mit Fakten!)

Wir müssen insbesondere die Dummheiten, die es beimThema Mehrwertsteuer gibt – ich habe einige beschrie-ben; man könnte weitere beschreiben –, beseitigen. DasGrundprinzip muss sein: weniger Bürokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Frau Staatssekretärin, ich bin völlig Ihrer Meinung: Eswird eine spannende Debatte geben, zum Beispiel zumStichwort „Tierfutter“. Was machen wir mit den dortgeltenden 7 Prozent, wenn wir ein Gesamtkonzept ange-hen?

Ich will aber die Baustellen des Mittelstandes be-schreiben, die den Mittelstand im Augenblick besondersbedrücken. Das ist das Thema Zinsschranke.

(Zurufe von der FDP: Ja!)

Das ist die Anrechnung der Kosten für Mieten, Leasingund Pachten bei der Gewerbesteuer.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Das ist das Thema Verlustvorträge. Hier kann ich an dieKolleginnen und Kollegen der SPD nur appellieren, ihreBlockadehaltung aufzugeben; denn das sind gerade in

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Eckhardt Rehberg

dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit Baustellen für denMittelstand.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Sie haben dem doch zugestimmt!)

Diese Baustellen müssen wir beheben. Die eine oder an-dere Unwucht, die es bei der Unternehmensteuerreformgegeben hat, müssen wir noch vor der Sommerpause be-heben;

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wirschon mehrfach beantragt, und Sie haben dasabgelehnt! Absurd!)

denn wir werden danach keine Zeit mehr haben. Ich sageIhnen voraus – jetzt komme ich wieder zum Gastrono-mie- und Hotelbereich –: Gerade die Anrechnung derKosten für Mieten, Leasing und Pachten im Gewerbe-steuerbereich ist ein wesentliches Problem, auch für denEinzelhandel.

(Ernst Burgbacher [FDP]: Völlig richtig!)

Die Herabsetzung auf eine Anrechnung von 65 Prozentbei Immobilien ist nicht ausreichend. Da müssen wirdeutlich unter 50 Prozent gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher[FDP]: Jetzt weichen Sie aber dem Problemnicht aus!)

Für die Zukunft ist auch die Frage berechtigt, was dieAnsatzpunkte sind, um Nachfrage zu generieren. Wir ha-ben in dieser Legislaturperiode einiges getan, geradebeim Konjunkturpaket II. Ich möchte an die Aufsto-ckung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von handwerkli-chen Leistungen, aber auch von haushaltsnahen Dienst-leistungen und Kinderbetreuungskosten erinnern. Icherinnere an die degressive AfA. Wenn man dies alles be-trachtet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass wireine Menge getan haben, um den Mittelstand zu stärken.Wir alle sollten uns darüber klar sein – dies möchte ichbetonen –, dass all dies Steuermindereinnahmen bewirkt.Aber volkswirtschaftlich gesehen rechnet es sich lang-fristig.

Ich bin sehr dafür – ich sage das für die Wirtschafts-politiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion –:

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Gibt es die noch?)

– Die gibt es schon. – Wir brauchen ein Gesamtkonzept,was die Mehrwertsteuer betrifft. Wir brauchen insbeson-dere weniger Bürokratie. Wir brauchen eine Vereinfa-chung. Ich sage ausdrücklich: Arbeitsintensive Dienst-leistungen dürfen nicht mit einem ermäßigtenMehrwertsteuersatz belegt werden, während möglicher-weise auf der Gegenseite die steuerliche Abzugsfähig-keit von handwerklichen Dienstleistungen wegfällt. Wirmüssen uns sehr gut überlegen, was wir machen.

Wir sollten uns vor Schnellschüssen, vor Aktionismushüten. Herr Kollege Burgbacher, es wird nicht auf frucht-baren Boden fallen, wenn man nur eine Branche – unddann noch selektiv die Gaststätten und nicht die Hotels –im Blick hat.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die

Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Simone Violka (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Manchmal staunt man ja: Die FDP hat endlichdie richtungsweisende Kompetenz Europas entdeckt! Ichhätte mir gewünscht, dass die FDP genauso vehementfür die Einführung der Antidiskriminierungsrichtlinie inDeutschland eingetreten wäre. Auch das war eine euro-päische Entscheidung. Damals hat die FDP aber mit Ve-hemenz dafür geworben, dass man sie nicht umsetzt. Siehat gesagt: Man sollte das nicht machen. Man sollte sichein Hintertürchen offen lassen.

Nun hat die FDP plötzlich die richtungsweisendeKompetenz von Europa entdeckt. Dabei stimmt das andieser Stelle noch nicht einmal. Es geht lediglich darum,einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen jedes Mit-gliedsland nach eigenem Ermessen entscheiden kann,was es umsetzen will und was nicht. Aber es müssenRahmenbedingungen gesetzt werden. Dann darf manauch keine Rosinenpickerei betreiben, wie es die FDPtut.

Ich nehme Frankreich einmal als Beispiel. Natürlichmuss man fragen, ob die Höhe der Mehrwertsteuersätzezukünftig der einzige Unterschied zu Deutschland seinsoll oder ob auch andere Rahmenbedingungen zu beach-ten sind. Ich würde mir wünschen, dass die FDP sagt:Frankreich hat den Mindestlohn. Lasst ihn uns inDeutschland einführen, damit alle die gleichen Möglich-keiten haben. – Das sehe ich noch nicht.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Verhalten passt zur FDP. Im Landtag vonSachsen hat die FDP in der letzten Woche noch vehe-ment dafür geworben, den Schülerverkehr kostenlos an-zubieten. In dieser Woche hat die FDP im Kreistag vonZwickau aber selbst dagegen gestimmt.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Hier sind wir aber im Bundestag!)

Das war ein SPD-Antrag. Wenn die FDP das möchte,dann muss sie das auf allen Ebenen durchhalten, dannkann sie nicht da, wo sie in der Opposition ist, Forderun-gen aufstellen, und sich dort, wo sie die Möglichkeit hat,etwas zu entscheiden, zurückziehen, weil das Geld kos-tet. So kann man doch keine Politik machen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sollten die Rede lieber im Kreistag von Zwickau halten!)

Herr Wissing, Sie haben recht: Das Steuersystem istnicht logisch. Aber woran liegt das denn? Als es einge-führt wurde, hatte es noch eine gewisse Logik. Dank desLobbyismus ist es in vielen Jahren und Jahrzehnten zudem geworden, was es heute ist: eine recht unlogische

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Simone Violka

Geschichte, die an vielen Stellen hinkt. Die FDP warviele Jahre lang an der Regierung beteiligt und ist dahermit dafür verantwortlich, dass Lobbyisten ihre Vorstel-lungen durchsetzen konnten.

(Beifall bei der SPD)

Das darf man doch nicht vergessen.

Natürlich entwickelt sich die Welt weiter, auchDeutschland. Als man die Regelungen eingeführt hat,gab es verschiedene Dinge noch nicht. Deshalb konntensie nicht aufgeführt werden. Mein Lieblingsbeispiel indiesem Zusammenhang ist der Vergleich zwischen Hör-buch und Buch. Als der ermäßigte Mehrwertsteuersatzbei Büchern eingeführt wurde, gab es noch keine Hörbü-cher. Ich gebe Ihnen recht: Das sollte man auf den Prüf-stand stellen und vergleichen, was vergleichbar ist. Da-bei kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dassman einiges ändern muss. Zum Beispiel kann man zu derErkenntnis kommen, dass Hörbücher wie Bücher besteu-ert werden sollen. Dafür bin ich offen.

Eine Harmonisierung bedeutet aber, dass es Plus undMinus gibt. Man darf also nicht sagen, dass alles, wasvon Lobbyisten bisher erkämpft worden ist, sozusageneine Eule auf der Stirn trägt und nicht angefasst werdendarf, dass also nur neue Sachverhalte aufgenommenwerden dürfen. Dann muss ich vielmehr auch bereit sein,die Eulen abzunehmen und die Dinge neutral zu betrach-ten.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Richtig!)

Als das versucht worden ist, war es aber die FDP, diehier lautstark von Steuererhöhungen gesprochen hat.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Da wollten Sie ja nur erhöhen!)

– Nein, das ist nicht richtig. Es ging darum, zu schauen,ob die Regelung im Sinne des Gesetzgebers ist.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das Gesetz war ein einziges Überraschungsei!)

– Nein, das war kein Überraschungsei. Dabei ging es umviele Punkte. – Damals hat uns die FDP als erste vorge-halten, der Staat wolle durch die Hintertür Steuererhö-hungen durchsetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: So war es ja auch!)

Sie können doch nicht sagen: Wir wollen Harmonisie-rung – aber nur dann, wenn der Steuersatz nach untengeht.

Wenn man so etwas vorhat – diesbezüglich bin ichmit vielen Kolleginnen und Kollegen d’accord –, mussauch die eine oder andere politische Entscheidung ge-troffen werden. Viele meiner ostdeutschen Kolleginnenund Kollegen aus der SPD zum Beispiel haben gesagt:Jawohl, wir möchten, dass bei der Schulspeisung der er-mäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt, weil dieSchulspeisung eben nicht in Konkurrenz zu den Gast-stätten steht, sondern eher zu der Streuselschnecke vomBäcker, für die der ermäßigte Steuersatz gilt. Wenn wirfür unsere Kinder und Jugendlichen etwas machen wol-

len, dann gehört dazu, dass wir ein bezahlbares, gesun-des und möglichst abwechslungsreiches Mittagessen an-bieten. Ich glaube, das ist eine wichtige Forderung.

Da Sie so extrem auf den Einfluss der Mehrwertsteuerauf die Preisfindung im Gaststättenbereich abstellen,muss ich fragen, warum es in Berlin bei einer Tasse Kaf-fee eine Preisspanne von etwa 1 Euro bis 2,70 Euro – derPreis kann auch etwas darunter oder darüber liegen –gibt. Mir ist nicht bekannt, dass es in Berlin nach Bezir-ken geordnet verschiedene Mehrwertsteuersätze gäbe.Diese Preisspanne hängt vielmehr mit Verdienst, mitMiete, mit Nebenkosten und mit dem Standort zusam-men und erst an letzter Stelle mit der Mehrwertsteuer,zumal dann, wenn der Rahmen vergleichbar ist.

Man kann nicht einfach nur auf Frankreich verwei-sen; der Kollege hat es gesagt. Schauen wir einmal, wiees in den skandinavischen Ländern gehandhabt wird. –Diese Beispiele nennen Sie komischerweise nicht; dielassen Sie außen vor.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Weil wir uns umdie Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirt-schaft kümmern!)

Ich glaube, dass wir alle uns zusammensetzen und völligemotionslos und unabhängig von Lobbyismus oder sonstetwas darüber reden müssen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir javersucht! – Ernst Burgbacher [FDP]: Da habenSie nicht mitgemacht!)

Wenn man ein vernünftiges System einführen möchte,sollte dies ohne Lobbyismus und vor allen Dingen ohneeine Gewinnoptimierung auf Staatskosten, wie Sie esheute eingefordert haben, geschehen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbes-serten steuerlichen Berücksichtigung von Vor-sorgeaufwendungen (BürgerentlastungsgesetzKrankenversicherung)

– Drucksache 16/12254 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für GesundheitHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debat-tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derParlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl.

(Beifall der Abg. Gabriele Frechen [SPD])

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Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun-desminister der Finanzen:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2008 ent-schieden, dass Beiträge zu privaten Kranken- und Pfle-geversicherungen bei der Einkommensteuer berücksich-tigt werden müssen. Das ist heute noch nicht der Fall.Die Bundesregierung legt daher den Entwurf eines Bür-gerentlastungsgesetzes vor. Durch die Neuregelung wer-den die Menschen in unserem Land ab 2010 um knapp9,5 Milliarden Euro zusätzlich steuerlich entlastet. Diehiermit freigesetzte Kaufkraft wird unsere Wirtschaft ne-ben den beiden bereits verabschiedeten Konjunkturpake-ten zusätzlich stimulieren können.

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass alle Aufwendungendes Steuerpflichtigen für eine normale Kranken- undPflegepflichtversicherung künftig steuerlich berücksich-tigt werden. Angesetzt werden allerdings nur diejenigenKrankenversicherungsbeiträge, die für eine medizini-sche Grundversorgung mit modernen und wissenschaft-lich anerkannten Behandlungs- und Heilmethoden ge-zahlt werden. Diese Beitragsanteile sind künftigunbegrenzt abziehbar.

Die Beitragsanteile für eine Komfort- oder Luxusver-sorgung hingegen können nicht steuerlich berücksichtigtwerden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht ge-fordert, und wir haben ausdrücklich entschieden, dasswir das aus gutem Grunde nicht tun. Denn es liegt aufder Hand, dass der Allgemeinheit der Steuerzahlerinnenund Steuerzahler nicht zugemutet werden darf, für teure,medizinisch nicht notwendige Zusatzleistungen in dengemeinsamen Steuertopf einzahlen zu müssen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Von dieser finanzwirtschaftlichen Sichtweise einmal ab-gesehen wäre es auch sehr ungerecht; denn begünstigtwürden nur diejenigen, die sich die zum Teil sehr hohenBeiträge für solche Tarife leisten können. Das will dieBundesregierung nicht. Daher sieht der Gesetzentwurfvor, dass eine Aufteilung der Beiträge erfolgen muss.

Auch wenn der Beschluss des Bundesverfassungsge-richts sich ausschließlich auf die Beiträge eines privatVersicherten bezogen hat, gelten diese Neuregelungengleichermaßen für gesetzlich wie privat Kranken- undPflegeversicherte. Es war eine für uns selbstverständli-che politische Entscheidung, zu sagen, dass auch dieBeiträge zu gesetzlichen Krankenversicherungen steuer-lich entsprechend berücksichtigt werden.

Wir wollen ausdrücklich, dass auch die Beiträge desSteuerpflichtigen für seinen in der gesetzlichen Kran-kenversicherung mitversicherten Ehegatten bzw. seineneingetragenen Lebenspartner und seine Kinder erfasstwerden. Insoweit sieht der Gesetzentwurf keine Begren-zung der Beiträge vor. Damit wird dem Umstand Rech-nung getragen, dass gerade Familien für ihre Absiche-rung oft höhere Beiträge leisten müssen. Wie bei derBerücksichtigung von Beiträgen zum Aufbau einer Ba-sisversorgung im Alter werden nur die vom Steuer-pflichtigen tatsächlich geleisteten Beiträge angesetzt.Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich

hohe Belastungen auch durch entsprechend hohe Ab-zugsbeträge auswirken müssen.

Damit es im Vergleich zum geltenden Recht in Ein-zelfällen nicht zu Benachteiligungen kommt, ist im Ge-setzentwurf bis zum Jahr 2019 eine Günstigerprüfungvorgesehen. Insgesamt ist für den Steuerpflichtigen min-destens der Betrag als Vorsorgeaufwendungen absetzbar,der auch nach geltender Rechtslage angesetzt werdenkann.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Durch die Günstigerprüfung wird das bisherigeRecht, vereinfacht gesprochen, konserviert. Es wird injedem Einzelfall geprüft, ob für den Steuerpflichtigendie Anwendung des bisherigen oder des neuen Rechtsgünstiger ist. Diese Prüfungen nimmt das Finanzamt vonAmts wegen vor. Der Steuerpflichtige muss in seinerEinkommensteuererklärung lediglich die Höhe der vonihm geleisteten Vorsorgeaufwendungen angeben.

Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich wird dieseNeuregelung auch im Lohnsteuerverfahren berücksich-tigt. So können entsprechende Beiträge ab dem 1. Januar2010 bei der Ermittlung der Lohnsteuer angesetzt wer-den. Die Lohnsteuerpflichtigen werden also sofort steu-erlich entlastet.

Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Bürger-entlastungsgesetz zu Entlastungen der Bürgerinnen undBürger in einem Umfang von rund 9,5 Milliarden Euroführt. Begünstigt werden zu einem großen Teil Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer; das Volumen ihrer Ent-lastung beträgt rund 7,2 Milliarden Euro. Das ist, wie ichfinde, ein wichtiger Hinweis, weil oft der Eindruck ent-standen ist – er ist falsch –, als würde dieses Gesetz nurzu Entlastungen beispielsweise für Selbstständige füh-ren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch Beamte und Selbstständige werden deutlichentlastet, Beamte im einem Umfang von 0,5 MilliardenEuro, Selbstständige um rund 1,6 Milliarden Euro. Soviel weniger Steuern müssen sie in Zukunft zahlen bzw.so viel mehr Geld haben sie dann zur Verfügung. Ichhoffe, dass wir nach den Beratungen im Parlament, nachdem parlamentarischen Verfahren und nach der Anhö-rung in der zweiten und dritten Lesung zu einer großenMehrheit für diese Entlastungen für die Menschen imLand kommen werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

Carl-Ludwig Thiele (FDP): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz trägt das Wort

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Carl-Ludwig Thiele

„Entlastung“ in seinem Titel. Es führt aber nicht für alleBürger zu der vom Bundesverfassungsgericht geforder-ten Entlastung. Aus meiner Sicht ist es ein Steuererhö-hungsgesetz zulasten Vorsorge treibender Bürger.

(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Ach was!)

Karlsruhe hat Entlastungen gefordert. Diese Entlastun-gen werden aber nur unzureichend gewährt; auf die Ein-zelheiten gehe ich gleich ein.

Aus meiner Sicht setzt die Große Koalition mit die-sem Gesetz ihre Steuererhöhungspolitik fort, allerdingsklammheimlich. Insofern kann ich nur sagen: Die GroßeKoalition ist wieder einmal Weltmeister in SachenSprachschöpfung. Warum sie von einem „Bürgerentlas-tungsgesetz“ spricht, obwohl dieses Gesetz unter ande-rem vorsieht, dass Arbeitslosenversicherungsbeiträge inZukunft nicht mehr steuerlich berücksichtigt werdenkönnen, ist ihr großes Geheimnis.

Die Anforderungen, die Karlsruhe an die Entlastungder Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge gestellthat, sind klar. Die Antwort der Großen Koalition lautet:Wenn wir auf der einen Seite entlasten müssen, dannmüssen wir auf der anderen Seite streichen. Streichenbedeutet in diesem Fall konkret: Steuererhöhungen fürandere.

(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Nein! Günsti-gerprüfung! – Antje Tillmann [CDU/CSU]:Eben nicht!)

– Eine Günstigerprüfung hat das Bundesverfassungsge-richt in seinem Urteil überhaupt nicht vorgesehen, HerrKollege Krüger.

(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Aber im Ge-setzentwurf ist sie vorgesehen!)

Daran, dass Sie eine Günstigerprüfung vorsehen, wirdaus meiner Sicht eines deutlich: Bislang konnten Kran-kenversicherungsbeiträge nicht steuerlich berücksichtigtwerden. Auf Basis des geltenden Rechts hätte man sieallerdings zusätzlich berücksichtigen müssen. Das ist imGrunde genommen das, worum es geht.

Um einige Grundsätze klarzustellen: Das Existenzmi-nimum muss steuerfrei sein. Es gibt einen weiteren ver-fassungsrechtlichen Grundsatz: Die erwerbsnotwendi-gen Aufwendungen, die Kosten zur Einnahmeerzielung,müssen steuerlich abgesetzt werden; das objektiveNettoprinzip muss also durchgesetzt werden.

Es gibt einen weiteren Grundsatz: das subjektive Net-toprinzip. Er besagt, dass existenznotwendige Ausgabensteuerlich berücksichtigt werden müssen. Das sind Aus-gaben, denen ein Steuerpflichtiger nicht ausweichenkann.

Jetzt möchte ich dem Hohen Hause und der Öffent-lichkeit erklären, was alles durch dieses Gesetz gestri-chen wird:

Erstens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zurArbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenversicherungist eine notwendige Vorsorge für die Arbeitslosigkeit. Esist eine Zwangsabgabe, die entrichtet werden muss. Des-

halb können sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer dieser Abgabe überhaupt nicht entziehen. Die Be-gründung für die Streichung des Sonderausgabenabzugs– wenn man Arbeitslosengeld beziehe, sei dies steuerfreiund unterliege nur dem Progressionsvorbehalt – ist dochhanebüchen; denn zum Glück wird nicht jeder Arbeit-nehmer und jede Arbeitnehmerin in unserem Land ar-beitslos. Das heißt, die Großzahl derjenigen, die Arbeits-losenversicherungsbeiträge leisten, erhält nie einen Centaus der Arbeitslosenversicherung.

(Beifall bei der FDP)

Diese Kosten können in Zukunft nicht einmal steuer-lich berücksichtigt werden; daran ändert das Vergleichs-verfahren überhaupt nichts.

Zweitens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zurErwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherung.Was heißt das denn? Jeder, der erwerbstätig wird – ichsage das auch meinen Kindern –, muss sich gegen Be-rufsunfähigkeit versichern, schon aus Verantwortung fürsich, aber umso mehr – wenn man eine Familie hat –, umdas Einkommen der Familie zu sichern.

Drittens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zurUnfallversicherung. Gerade junge Familien brauchenaber eine Unfallversicherung, weil sie es sich nicht leis-ten können, dass nach einem Unfall kein Einkommenmehr zur Verfügung steht.

Viertens: der Sonderausgabenabzug der Prämien zurHaftpflichtversicherung. Jeder verantwortungsvolle Menschmuss sich doch gegen Missgeschicke, die jedem passie-ren können, absichern; denn die finanziellen Folgen ei-nes Missgeschicks können sehr groß sein – sowohl fürden Schädiger als auch für den Geschädigten.

Fünftens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge derRisikoversicherung für den Todesfall. Wenn Bürgerinnenund Bürger in unserem Land Eigentum bilden wollen,das aber nur schaffen, wenn sie am Anfang Schulden auf-nehmen, dann müssen im Laufe des Erwerbslebens na-türlich Kreditzinsen gezahlt und die Schulden getilgtwerden. Wenn dann aber eine Berufsunfähigkeit eintrittoder ein Erwerbstätiger verstirbt, dann muss doch sicher-gestellt sein, dass die Familie nicht mit Schulden belastetwird, die sie gar nicht mehr tragen kann, weil das Ein-kommen nicht mehr vorhanden ist. Auch dieser Sonder-ausgabenabzug wird durch den Gesetzentwurf gestri-chen.

Auf der einen Seite wird gesagt: Sorgt vor! Auf deranderen Seite wird gesagt: Wenn ihr vorsorgt, dannmüsst ihr das aus dem versteuerten Einkommen finan-zieren. Das kann doch überhaupt nicht richtig sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Das regt mich wirklich auf.

Bei der Krankenversicherung soll der Sonderausga-benabzug der Beitragsanteile der Krankenversicherungs-prämien, die das Krankengeld absichern, gestrichen wer-den. Wer erhält denn Krankengeld? Das bekommt mandoch nur, weil man krank ist und keine Einkünfte mehr

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Carl-Ludwig Thiele

erzielt. Auch dort wird der Sonderausgabenabzug gestri-chen.

Ich weiß gar nicht, ob das allen Mitgliedern diesesHohen Hauses bekannt ist. Was die Arbeitslosenversi-cherung anbelangt, gehe ich angesichts der verblüfftenGesichter der SPD-Fraktion davon aus, dass die meistendavon gar nichts wissen. Auch die anderen Punkte sindhier nicht bekannt.

Frau Staatssekretärin, ich habe noch nie in einem Ge-setzentwurf so ein ärmliches Finanztableau gesehen wiein diesem. Sie weisen nur aus, wo entlastet wird. Sieweisen mit keinem Cent aus, wo gestrichen wird, wo ge-genfinanziert wird, wo Bürger belastet werden, die Vor-sorge betreiben. Das ist unsäglich. Das muss diskutiertwerden. Ich hoffe, dass im Rahmen der Diskussion vieleerkennen, dass hier bei den Krankenversicherungs- undPflegeversicherungsbeiträgen zwar Vorgaben des Verfas-sungsgerichts umgesetzt werden, das Gesetz aber inKombination mit dem, was gestrichen wird, für vieleschlecht ist und die nächsten verfassungsrechtlichen Pro-bleme hervorruft.

Natürlich muss man sich gegen Arbeitslosigkeit ver-sichern. Warum das zukünftig aus versteuertem Einkom-men erfolgen muss, ist überhaupt nicht einzusehen. Dasmuss grundlegend überarbeitet werden. So kann dasüberhaupt nicht bleiben.

(Beifall bei der FDP – Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Keiner wird schlechter gestellt!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Thiele, ich schätze Sie als Kollegen sehr.Was Sie aber hier abgeliefert haben, ging weit an derWirklichkeit vorbei. Sie haben sehr überzogen.

Hier wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem dieBürger ab dem 1. Januar 2010 um 9,3 Milliarden Euroentlastet werden. Sie aber reden von Steuererhöhungen.Das kann wirklich nicht wahr sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –Joachim Poß [SPD]: Steuermindereinnahmenvon 10 Milliarden! Das sind Steuererhöhungenbei Thiele!)

Mit diesem Bürgerentlastungsgesetz werden wir dieMenschen mit 9,3 Milliarden Euro bezuschussen, damitsie wieder mehr Geld in der Tasche haben und mehr dieKonjunktur ankurbeln können.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Bezuschus-sen nicht!)

Das ist ein Impuls für die Wirtschaft. Das passt genau indie jetzige Lage.

Im vergangenen Jahr hat es ein Urteil des Bundesver-fassungsgerichts gegeben. Danach muss das Existenzmi-nimum neu definiert werden.

(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Es ist also kein Zuschuss!)

Derzeit liegt das Existenzminimum bei 7 834 Euro.Hinzu kommen steuerfreie Pauschalen wie die Wer-bungskostenpauschale, der Altersentlastungsbetrag undder Sparerpauschbetrag.

Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch dieBeiträge für eine Krankenversicherung müssen steuer-frei gestellt werden, sofern diese Beträge das sozialhilfe-gleiche Niveau erreichen. – Das machen wir mit diesemGesetz. Weil wir dies machen, kommen 9,3 MilliardenEuro mehr bei den Bürgern an.

Heute sieht die Situation so aus, Herr Thiele: Derzeitkönnen Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeits-losenversicherung, für eine Berufsunfähigkeitsversiche-rung, für eine Haftpflichtversicherung und für eine Risi-kolebensversicherung in einer Größenordnung von1 500 Euro im Jahr geltend gemacht werden. Wenn dieVorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetztwerden, wird dies anders sein.

Nehmen Sie beispielsweise einen Arbeitnehmer, derim Monat 3 675 Euro und somit 44 100 Euro im Jahrverdient. Dies entspricht einem Einkommen in der Höheder Beitragsbemessungsgrenze. Heute kann dieser Ar-beitnehmer 1 500 Euro absetzen. Ab dem nächsten Jahrwird er 4 024 Euro absetzen können. Er wird also2 524 Euro mehr absetzen können. Das bedeutet, dass eretwa 1 000 Euro netto mehr in der Tasche hat. Somitwerden die Bürger durch unseren Gesetzentwurf entlas-tet.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Dies ist auch kein Steuergeschenk, wie ich verschie-dentlich gehört habe. Vielmehr wird deutlich festgehal-ten, dass einige zu viel Steuern zahlen. Das ist also et-was, was wir den Bürgern zurückgeben, aber keinSteuergeschenk.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unter-scheiden zwischen dem Bereich der gesetzlichen Kran-kenversicherung und dem Bereich der privaten Kranken-versicherung. Die gesetzliche Krankenversicherungerhebt Beiträge nach dem Einkommen der Versicherten.Außerdem gibt es eine Mitversicherung für Ehepartner,für Kinder und für Lebenspartner. In der privaten Kran-kenversicherung ist das anders. Für jedes versicherteMitglied muss ein eigener Beitrag gezahlt werden, dersich nach dem Alter, nach dem Gesundheitszustand undnach dem Geschlecht richtet.

Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Es müssenin Zukunft alle Beiträge, die Beiträge der gesetzlich Ver-sicherten, aber auch die Beiträge der privat Versicherten,anerkannt werden. Auch für die private Krankenversi-cherung gilt, dass ein sozialhilfegleiches Niveau der Ver-sorgung sichergestellt sein muss.

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Klaus-Peter Flosbach

Besonders begrüße ich an diesem Gesetzentwurf, dassdamit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ge-folgt wird, dass Familien mit Kindern, die privat versi-chert sind, die Beiträge für ihre Kinder absetzen könnenmüssen. Das war bisher nicht der Fall. Das heißt, geradeFamilien mit vielen Kindern werden eine deutliche Ent-lastung erfahren.

Wir haben hier also eine neue Kinderkomponente, diebisher nicht vorhanden war. Bisher konnten nur in dergesetzlichen Krankenversicherung Kinder ohne einen ei-genen Beitrag mitversichert werden. An dieser Stelle er-folgt also eine Kompensation der privat Versicherten.

Zudem ist in der privaten Krankenversicherung vonBedeutung, dass der sogenannte Basistarif abgesetztwerden kann. Das ist der Tarif, der den Leistungen dergesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Es gibtaber natürlich viele, die sich nicht für den Basistarif,sondern für eine private Vollversicherung entschiedenhaben. Hierbei gibt es in Deutschland über Zehntausendverschiedene Tarife. Es gab Überlegungen, nicht nur fürjeden Tarif, sondern für jeden einzelnen Versicherten he-rauszurechnen, was dem sozialhilfegleichen Niveau ent-spricht und was Zusatzversicherung ist.

Ich glaube, hier wurde in dem Gesetzentwurf einesehr gute Lösung gefunden. Wir unterstützen es seitensder Union ausdrücklich, dass bei den Privatversichertenein pauschaler Abzug für alle vorgenommen wird. Sokönnen wir nämlich eindeutig Bürokratie verhindern.Ansonsten hätte dieser Gesetzentwurf eine Bürokratieohne Grenzen geschaffen. Das konnten wir Gott seiDank verhindern.

Insgesamt müssen wir zunächst einfach einmal fest-halten, dass 60 Prozent der Bürger durch diesen Gesetz-entwurf um 9,33 Milliarden Euro entlastet werden. Dassind Menschen, die bisher zu viele Steuern für ihreKrankenversicherungsbeiträge gezahlt haben.

Eines gefällt mir allerdings nicht – das will ich nocheinmal ausdrücklich erwähnen –, dass nämlich der bis-herige Abzugsbetrag für die Haftpflichtversicherung, dieUnfallversicherung und die Berufsunfähigkeitsversiche-rung gar keine Berücksichtigung mehr finden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Wir müssen bedenken, dass gerade die Haftpflichtversi-cherung – so sagen es übrigens alle Verbraucherschützer,Verbraucherzentralen und auch die unabhängigen Bera-ter im Versicherungsbereich – eine der wichtigsten Ver-sicherungen ist,

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!)

weil zum einen der Schädiger geschützt wird, damit erdie Leistung überhaupt erbringen kann, und weil zumanderen vor allem auch der Geschädigte geschützt wird;denn wenn der Schädiger keine Versicherung hat, dannkann der Geschädigte seinen Anspruch auf Leistungnicht geltend machen – es sei denn, der Staat tritt ein.Deswegen gibt es in solchen Fällen Folgekosten für denStaat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])

Das Zweite ist die Berufsunfähigkeitsversicherung.Sie wird als die wichtigste individuelle Versicherung an-gesehen. Warum ist das so? – In Deutschland beträgt dasdiesbezügliche Durchschnittsniveau etwa 700 Euro.Wenn ein junger Mensch berufsunfähig wird, dann musslebenslang eine Leistung für ihn erbracht werden. Hat ereine private Versicherung, so kann er dies kompensieren.

Gerade der Abzugsbetrag von bisher nur 1 500 Eurokam insbesondere Geringverdienern zugute. Sie konntenauch noch Teile – teilweise natürlich auch nur mit demEingangssteuersatz – absetzen. Für sie war es einfachwichtig, dass sie gerade in jungen Jahren – insbesondereauch Ledige – diesen Betrag absetzen konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])

Bisher gibt es die Möglichkeit der Berücksichtigung die-ser Versicherung nur im Rahmen der Riester- bzw.Rürup-Rente, wenn man eine Altersversorgung einbe-zieht. Das können junge Leute normalerweise nicht, unddas können vor allen Dingen diejenigen mit einem nied-rigen Einkommen nicht.

Deshalb sollten wir dieses Thema im Rahmen der Be-ratungen noch einmal aufgreifen und prüfen, ob wir ge-rade hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, derBerufsunfähigkeitsversicherung und der Unfallversiche-rung hier nicht doch noch eine neue Lösung finden kön-nen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])

Es ist natürlich nicht unproblematisch, dass die recht-lichen Grundlagen für die Altersversorgung und für dieKrankenversicherung mit diesem Gesetzentwurf zumdritten Mal in den letzten fünf Jahren geändert werden.Sie wissen, dass es dann ab 2010 ein neues Recht gebenwird. Mit dem Alterseinkünftegesetz haben wir ein spe-zielles Recht, und es besteht auch noch das alte Rechtvon 2004, weil es beispielsweise im Bereich der Kran-kenversicherung und vor allen Dingen im Bereich derAltersversorgung langfristige Verträge gibt.

Wir begrüßen es seitens der Union ausdrücklich, dasshier die sogenannte Günstigerprüfung eingeführt wird,das heißt, dass diese Gesetzesänderungen nicht zu einemNachteil des Steuerpflichtigen führen dürfen. Deshalbgibt es automatische Prüfungen seitens des Finanzamtes,und für den einzelnen Steuerpflichtigen wird genau aus-gerechnet, welcher Weg für ihn der günstigste ist. Wirbegrüßen das außerordentlich.

Diese Entlastung um 9,33 Milliarden Euro wird durchein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben.Ich glaube, das passt gut in die aktuelle konjunkturelleSituation. Auch bei den anderen Konjunkturpaketen ha-ben wir über dieses Thema diskutiert. Dieser Gesetzent-wurf ist ein wichtiger Baustein, um den Menschen zuzeigen, dass sie nicht nur belastet, sondern auch entlastetwerden.

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Wir unterstützen die Bundesregierung seitens derUnion, damit diese Entlastung zum 1. Januar 2010 wirk-sam wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vomFebruar vergangenen Jahres das Grundprinzip bestätigt,dass alle Aufwendungen, die die Menschen zur Sicher-stellung ihres Existenzminimums brauchen, nicht be-steuert werden dürfen, also steuerfrei zu stellen sind.

(Zuruf von der FDP: Richtig!)

Dazu gehören auch die Aufwendungen für die privateKrankenversicherung und Pflegeversicherung. Aller-dings – das wurde schon betont – schließt das nicht alleAufwendungen ein, sondern nur die Leistungen, die demKatalog der gesetzlichen Krankenkassen zur Erlangungdes sozialhilferechtlich gleichen Lebensstandards ent-sprechen. Chefarztbehandlung und Einzelzimmer gehö-ren also nicht dazu. Zum Glück folgt die Bundesregie-rung in ihrem Gesetzentwurf genau dieser Logik.Gleichzeitig zeigen sich aber die Schattenseiten des ge-setzlichen Leistungskatalogs und damit die unsozialeGesundheitspolitik von rot-grüner und Großer Koalition:Die Menschen müssen Brillen komplett selbst bezahlen;sie sind nicht mehr im Leistungskatalog enthalten. Hör-hilfen und Zahnersatz müssen zu großen Teilen selbstbezahlt werden und sind nicht einmal voll steuerlich ab-setzbar.

Wir als Linke begrüßen ausdrücklich, dass die Bei-träge zur gesetzlichen Krankenversicherung in vollemUmfang steuerlich berücksichtigt werden. Allerdings– damit komme ich zum Knackpunkt, um den Sie he-rumgeredet haben – wird die Neuregelung zu erhebli-chen Steuerausfällen in Höhe von 9 Milliarden Euro proJahr führen. Sie brüsten sich bereits damit. Aber ichfrage mich, wie das gegenfinanziert werden soll. Dazusagen Sie bisher sehr wenig.

In einer Pressemitteilung des Finanzministeriumsvom 16. Juli vergangenen Jahres heißt es:

Daher werden wir prüfen, welche Instrumente unszur Verfügung stehen und wo Handlungsspielräumebestehen, um eine gerechte Finanzierung zu ge-währleisten. Dies führt dazu, dass die Entlastung imBereich der höheren Einkommensbezieher kleinerausfällt, während sie bei den unteren und mittlerenEinkommen wenn möglich nicht von der Gegenfi-nanzierung betroffen werden soll.

Wo ist das geblieben? Es ist nicht mehr zu finden. ImGegenteil: Herr Steinbrück sprach auch mal davon, dass

nur 6 Milliarden Euro Steuerausfälle zu erwarten wären.Sie haben keine einzige Maßnahme zur Gegenfinanzie-rung zulasten der Bezieherinnen und Bezieher höhererEinkommen vorgeschlagen. Diese Gruppe profitiert na-türlich stärker von der Neuregelung; denn wer höhereBeiträge zahlt, kann auch höhere Beiträge steuerlich gel-tend machen, und durch die Progression fällt die Entlas-tung deutlich höher aus.

Hinzu kommt das Problem, das sowohl Herr Thieleals auch Herr Flosbach angesprochen haben. Sie habendurch Ihre Formulierung im Gesetzentwurf versucht, dasstill und heimlich zu kaschieren. Es wird darauf verwie-sen, dass § 10 des Einkommensteuergesetzes geändertwird. Der bisherige Sonderausgabenabzug gelte jetzteben nur noch für Krankheit und Pflege. Die Bürgerin-nen und Bürger achten in der Regel nicht darauf, woraufer sich vorher bezogen hat. Man muss auch erst einmalblättern, bis man die Beiträge zur Arbeitslosenversiche-rung und zur Berufsunfähigkeitsversicherung vermisst.Ich meine, vor Jahren gab es noch eine Berufsunfähig-keitsrente für gesetzlich Rentenversicherte. Auch diesegibt es nicht mehr.

Insofern ist man gezwungen, privat vorzusorgen. AlsArbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist man gezwungen,in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen.

Die von Ihnen vorgesehene Regelung führt konkretdazu, dass in einzelnen Fällen die Bezieherinnen undBezieher von niedrigen Einkommen gar nichts oder nurwenig steuerlich geltend machen können; denn wir ha-ben in Deutschland leider keinen Mindestlohn, und dieLöhne sind – insbesondere für Frauen – sehr niedrig.Bisher konnten sie einen Betrag von bis zu 1 500 Eurosteuerlich geltend machen. In Zukunft gilt das nur nochfür die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung;der Rest fällt weg. Sie können deshalb nur noch einengeringeren Betrag geltend machen und werden real stär-ker belastet. Das geht nicht. Ich bin gespannt, wie sichdie CDU/CSU für diesen Punkt starkmachen wird.

Das alles zeigt, dass eine stärkere Entlastung der Bes-serverdienenden erfolgt und dass Ihr gesamtes Gesund-heitssystem krankt. Wir fordern in einem ersten Schrittdie sofortige Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist doch wohl machbar; dem steht nichts im Wege.Wir fordern die Rückkehr zur paritätischen Finanzierungund zu einem umfassenden Leistungskatalog, in demauch die notwendige Sehhilfe enthalten ist. Man darfauch nicht an den Zähnen erkennen, ob jemand viel oderwenig Geld hat.

Wir fordern einen Weg hin zu einer solidarischenBürgerversicherung; das ist die Anforderung unsererZeit. Eine steuerliche Neuregelung muss sich auf alleFälle hieran orientieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel,

Bündnis 90/Die Grünen.

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Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesverfassungsgericht fordert den Gesetzgeber– man muss sagen: leider – wieder auf, etwas Sinnvollesfür die Bürgerinnen und Bürger zu tun. Es ist im Hin-blick auf die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lageabsurd, dass die Große Koalition das Ganze als Bestand-teil des Konjunkturpakets verkauft.

Zum Inhalt: Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt,werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsumgesetzt. Wir begrüßen viele Stellen dieses Gesetzent-wurfs, vor allem die Steuerfreiheit der Beiträge zurKranken- und Pflegeversicherung. Wir meinen, dass daseine gerechte Lösung ist, weil nur das Einkommen be-steuert wird, das tatsächlich zur Verfügung steht. Das istauch in steuersystematischer Hinsicht eine gute Lösung,weil das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichenLeistungsfähigkeit berücksichtigt wird. Wir, Grüne undSPD, hatten schon im Zusammenhang mit der Renten-versicherung an eine Steuerfreiheit gedacht. Wir Grünehaben immer eine Gleichbehandlung von Privatver-sicherten und gesetzlich Versicherten bei der steuerli-chen Abzugsfähigkeit gefordert. Dabei muss man sichauf das Niveau der Sozialhilfe und die geleisteten Bei-träge beziehen. Das wird nun umgesetzt.

Die Vorrednerinnen und Vorredner haben aber bereitsdeutlich gemacht, dass man nun für die Menschen eineschwierigere Situation schafft, wenn es um die Haft-pflichtversicherung, die Berufsunfähigkeitsversiche-rung und die Unfallversicherung geht; das muss man se-hen. Wenn man das umsetzt, was vorgeschlagen ist, wirdes sehr teuer. Der Regierungsentwurf sieht ein Steuerent-lastungsvolumen von 9,5 Milliarden Euro vor. Ich hoffesehr, dass wir uns in den Ausschussberatungen genau an-schauen, wie sich das im Kontext mit den angesproche-nen Versicherungen verhält, die – da hat KolleginDr. Höll recht – in der heutigen Zeit notwendig sind.Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen,inwieweit diese Versicherungsbeiträge steuerlich absetz-bar gemacht werden können. Darüber müssen wir ge-meinsam diskutieren. Ich habe vernommen, dass sich dieUnion hier durchaus bewegt.

Ein solches Gesetz kann aber kein Ersatz für eine ver-nünftige Gesundheitspolitik sein.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es handelt sich hier um eine rein steuerliche Regelung.Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren aufgrund einerverfehlten Gesundheitspolitik – Stichwort „Gesundheits-fonds“ – erst einmal eine höhere Belastung. Die vorgese-hene steuerliche Entlastung kompensiert die höhere Be-lastung durch den Gesundheitsfonds zum Teil überhauptnicht. Das heißt, einige, die höhere Beiträge aufgrunddes Gesundheitsfonds zahlen müssen, werden trotz steu-erlicher Entlastung unter dem Strich höher belastet. Manmuss das gesamte System berücksichtigen und darf nichtisoliert die Steuerfrage betrachten.

Das Bundesfinanzministerium selbst schätzt, dass nur57 Prozent der Steuerpflichtigen, also jeder Zweite, in

nennenswerter Weise durch das Gesetz entlastet werden.Wer gut verdient, spart viele Steuern. Wer wenig ver-dient, spart wenig oder gar nichts. Das ist die praktischeKonsequenz. Dies hängt mit unserer Steuersystematikund unserem Sozialversicherungsrecht zusammen. Para-doxerweise verhält es sich bei der Belastung der Bürge-rinnen und Bürger mit Sozialversicherungsbeiträgen ge-nau andersherum: Bei einem Bruttoeinkommen vonbeispielsweise 1 700 Euro machen die Beiträge zurKrankenversicherung und Pflegeversicherung 9 Prozentaus; bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise6 700 Euro machen diese Beiträge aber nur noch5 Prozent aus. In absoluten Zahlen heißt das: Wer20 000 Euro brutto verdient, wird um 100 Euro entlastet.Wer 60 000 Euro brutto verdient, wird um 1 000 Euroentlastet.

Aus diesem Grund ist es für uns Grüne immer wichtiggewesen, die Sozialversicherungsbeiträge für Beziehervon geringen Einkommen ganz gezielt zu senken. Damitsoll der von mir genannte Effekt vermieden werden. Be-zieher niedriger Einkommen sollen nicht in die Situationkommen, dass die Sozialversicherungsbeiträge wie einFallbeil zuschlagen, sondern sie sollen langsam und stu-fenlos ansteigen, so wie wir das auch im Steuerrecht ha-ben. Das wäre eine vernünftige Lösung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir nennen diese Lösung Progressivmodell. Sie ist sehrgut und würde diese Problematik an der Wurzel bekämp-fen. Darüber werden wir im Ausschuss weiter diskutie-ren können.

Danke schön.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Gabriele Frechen (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! So manche Rede hier kommt mir so vor, alssei sie nach dem Motto „Was ich schon immer einmalsagen wollte“ gehalten worden. Viele dachten wohl:Jetzt rede ich nicht zum Bürgerentlastungsgesetz, son-dern mauschel irgendetwas vor mich hin, was vielleichtbesser ankommt und was sich hier gut verkaufen lässt.

Frau Dr. Höll, durch die Günstigerprüfung wird si-chergestellt, dass genau das nicht passiert, was Sie be-schrieben haben. Wenn jemand aufgrund seines geringenEinkommens nur geringe Beiträge zur Krankenversiche-rung zahlt und daher nach neuem Recht weniger steuer-lich geltend machen kann, dann wird geprüft, ob die Re-gelung nach altem Recht für ihn steuerlich günstigerausfällt, und diese angewandt. Niemand wird nach demneuen Recht schlechter gestellt.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Viele werden besser gestellt, aber niemand schlechter.Das möchte ich als Kernbotschaft festhalten.

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Gabriele Frechen

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Flosbach, wenn ich auf das Schmierentheatervon Herrn Thiele hätte eingehen müssen, dann wäremeine Reaktion sicherlich nicht halb so moderat ausge-fallen wie Ihre. Dafür möchte ich mich herzlich bedan-ken.

Herr Thiele hat sich hier hingestellt und alle Versiche-rungen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, auf-gezählt und so getan, als ob irgendjemand alle dieseVersicherungen gleichzeitig steuerlich geltend gemachthätte.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein! Jetzt reicht es mir aber!)

Er hat darüber hinaus so getan, als ob bisher alle dieseVersicherungen unbegrenzt abzugsfähig gewesen wären.Das stimmt doch gar nicht. Die meisten haben die Bei-träge für ihre Versicherungen treu und brav jedes Jahr inihr Steuererklärungsformular eingetragen.

(Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Richtig!)

Diese Beiträge hatten aber überhaupt keine Auswirkun-gen, weil die Krankenkassenbeiträge ausgereicht haben,um den Höchstbetrag der steuerlichen Absetzbarkeitauszuschöpfen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Herr Kollege Thiele möchte gerne eine

Zwischenfrage stellen.

Gabriele Frechen (SPD): Klar.

Carl-Ludwig Thiele (FDP): Frau Kollegin Frechen, mich überrascht schon, dass

Sie sagen, alles Mögliche könne geltend gemacht wer-den. Nach der derzeitigen Rechtslage kann nicht allesMögliche geltend gemacht werden. Aber der Arbeitslo-senversicherungsbeitrag kann geltend gemacht werden,ebenso die Beiträge für die Erwerbsunfähigkeits- undBerufsunfähigkeitsversicherung, die Unfallversicherungund die Haftpflichtversicherung. Das ist doch nicht „al-les Mögliche“.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat demGesetzgeber mit keinem Wort vorgegeben, diese Rege-lung zu streichen. Das Bundesverfassungsgericht hatdem Gesetzgeber nur vorgegeben, dass die Einschrän-kung bei der Berücksichtigung von Krankenversiche-rungsbeiträgen, wie es das geltende Gesetz vorsieht,nicht erfolgen darf. Warum verschwiegen wird, dass alldas gestrichen wird, was ich vorgetragen habe, könnenSie mir als Antwort auf meine erste Frage erklären. Wa-rum Sie diese zu berücksichtigenden Ausgaben nicht ku-mulativ behandeln, sondern ausschließen wollen, kön-nen Sie mir als Antwort auf meine zweite Frage sagen.

Gabriele Frechen (SPD): Bei Ihrer Zwischenfrage habe ich erst einmal auf die

Uhr geschaut, um zu wissen, warum Sie das Gleiche fra-gen, was Sie vorhin gesagt haben.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie haben gesagt: alles Mögliche!)

Aber vielleicht hat sich in der Zwischenzeit das Publi-kum geändert. Auch die neuen Besucher müssen all dieVersicherungen kennen, die Sie vorhin genannt haben.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir hatten eineandere Präsidentin, aber das war nicht der ein-zige Grund!)

– Auch das kann sein. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sieauch die Präsidentin ins Bild setzen. Wir führen heutedie erste Lesung durch.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!)

Herr Flosbach, haben Sie verschwiegen, dass die sonsti-gen Vorsorgeleistungen gekürzt werden?

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Vor mir hat nurdie Staatssekretärin dazu gesprochen! Die hatnichts dazu gesagt, kein Wort!)

Herr Thiele hat gerade gesagt, Sie hätten das verschwie-gen. Ich habe das gehört.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, er hat nach mir gesprochen!)

– Aber warum stellen Sie jetzt die Frage mit demselbenTenor noch einmal?

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Weil es an Siegeht und Sie sagen, alles Mögliche solle gestri-chen werden!)

– Er hat es nicht verschwiegen, wir werden es nicht ver-schweigen, und auch ich werde es sagen.

Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgerichtnicht gesagt, dass irgendetwas gestrichen werden müsse.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha, herzlichenDank! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß[SPD]: Das hat auch niemand von uns behaup-tet!)

So etwas macht das Verfassungsgericht auch nicht. Aberwir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass bei Menschen,die nach dem neuen Gesetz schlechter gestellt würden,die alte Regelung mit den anderen Versicherungsleistun-gen wieder auflebt. Ich weiß jetzt nicht, wo Sie mir et-was – –

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich freue michschon auf die Antwort des DGB in der Anhö-rung!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Thiele, die Rednerin beantwortet Ihre

Frage. Es wäre schön, wenn Sie zuhörten.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich habe nur eine Zwischenfrage gestellt!)

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Gabriele Frechen (SPD): Solange die Uhr angehalten ist, dürfen Sie fragen,

was Sie wollen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungs-gericht festgestellt hat, dass die steuerliche Behandlungder Krankenversicherungsbeiträge von Privat-Versicher-ten mit Kindern nicht verfassungsgemäß war. Dies wirdmit diesem Gesetz geändert. Das Urteil bezog sich imEinzelfall auf Beiträge für Privat-Versicherte. Dass dieUmsetzung in gleicher Weise für gesetzlich Versichertegilt, ist selbstverständlich. Eine wie auch immer gearteteeinseitige Regelung ist mit uns natürlich nicht zu ma-chen.

Die Neuregelung wird zu Steuermindereinnahmen inHöhe von 9,3 Milliarden Euro führen. Dies bedeutet, un-technisch gesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürgerab dem kommenden Jahr diese Summe zusätzlich imGeldbeutel haben werden. Wie Herr Thiele daraufkommt, dass es Steuererhöhungen sein sollen, bleibt seinGeheimnis. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass erdie FDP immer als Steuersenkungspartei bezeichnet. InWirklichkeit ist die FDP nichts weiter als eine Steuersen-kungsankündigungspartei.

(Beifall bei der SPD)

Immer dann, wenn sie in der Opposition ist, fordert sieSteuersenkungen. In den vielen Jahren, in denen sie ander Regierung beteiligt war, ist nicht einmal eine Steuergesenkt worden. Schwups, kaum in der Opposition, for-dert sie schon wieder Steuersenkungen.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Frau Frechen,Frau Frechen, wir haben keine Gewerbekapi-talsteuer mehr, wir haben das Kindergeld er-höht!)

Das war jetzt nur ein kleiner Ausflug in die Historie vonHerrn Thiele.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war unzutref-fend, absolut unzutreffend!)

– Doch, das war genau zutreffend. Ich fertige einmal einBuch mit allen Steuersenkungen an, die die FDP in derZeit ihrer Regierungsbeteiligung mitbeschlossen hat. Dawerden wir sehr viel Papier sparen, weil in diesem Buchkein einziges Blatt sein wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das hätten Sie gern,aber das ist an der Realität vorbei!)

– Nein, das ist nicht an der Realität vorbei. Aber ichhabe vorausgesehen, dass Sie auch bei diesem Gesetzwieder ein Haar in der Suppe finden und es ganz genüss-lich spalten werden. Sie haben mich nicht enttäuscht,was für mich natürlich auch eine Genugtuung ist.

Fakt ist, dass 80,2 Prozent der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer von diesem Gesetz profitieren. Alleinsie bekommen 7,2 Milliarden Euro zurück. Bei denSelbstständigen sind es 1,6 Milliarden Euro, bei den Be-amten 560 Millionen Euro. Die Arbeitnehmerinnen und

Arbeitnehmer sind damit die großen Gewinner der Re-form.

Für mich sind alle Menschen Leistungsträger, die sichaktiv am erfolgreichen Miteinander unserer Gesellschaftbeteiligen, egal ob sie – –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Herr Kollege Spieth möchte gerne eine

Zwischenfrage stellen.

Gabriele Frechen (SPD): Bitte.

Frank Spieth (DIE LINKE): Sie sprachen davon, dass 80 Prozent der Arbeitneh-

merinnen und Arbeitnehmer entlastet würden. Das ist,steuerrechtlich betrachtet, möglicherweise richtig; ichwill dies gar nicht kritisieren. Mit der steuerlichen Ab-setzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen entstehtaber ein verteilungspolitisches Problem bei der Beitrags-finanzierung. Als Bundestagsabgeordnete zahlen wir ei-nen Arbeitnehmeranteil von 8,2 Prozent in die Kranken-versicherung. Das sind 301 Euro, der Höchstbetrag biszur Beitragsbemessungsgrenze. Unser volles Einkom-men wird nicht verbeitragt, was dazu führt, dass wir realnur 3,93 Prozent unseres Einkommens zahlen. Wenn unsrelativ gut Verdienenden nun noch eine steuerliche Ent-lastung in Höhe von rund 120 Euro entsteht, zahlen wirBundestagsabgeordneten nur noch 2,36 Prozent. Einverheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder, der 1 500 Euroverdient, zahlt den vollen Krankenversicherungsbeitrag,also 8,2 Prozent seines Einkommens.

Ihre Fraktion hat zu Beginn dieser Debatte gesagt, wirmüssten dieses Problem lösen. Meine Kollegin Höll hatvorgeschlagen, deshalb die Beitragsbemessungsgrenzeentfallen zu lassen, weil diese – quasi wie eine Guillo-tine wirkend – genau diesen Effekt erziele. Sind Sie be-reit, in den weiteren Beratungen genau dieses Thema zuproblematisieren? Im steuerlichen Teil liegen Sie richtig;was die beitragspolitische Seite betrifft, liegen Sie nachmeiner Auffassung daneben, wenn Sie das nicht tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Gabriele Frechen (SPD): Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Spieth. Frau

Höll hat das Thema in ihrem Redebeitrag schon ange-sprochen. Ich weiß nicht, ob Sie da noch nicht anwesendwaren.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Doch! Ich habesehr gut zugehört! Ich möchte von Ihnen eineAntwort!)

Das ist die erste Lesung zum Bürgerentlastungsge-setz. Es geht um die steuerliche Behandlung der Kran-kenversicherungsbeiträge, egal ob die Leute gesetzlichoder privat krankenversichert sind, egal ob sie viel oderwenig Gehalt beziehen. Die Frage, die Sie gerade ge-stellt haben, geht knapp am Thema vorbei.

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Gabriele Frechen

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das schmeckt euch nicht als Sozialdemokraten!)

– Es geht um die steuerliche Behandlung von Kranken-versicherungsbeiträgen. Sie haben doch gesagt, in steu-erlicher Hinsicht hätte ich recht. Somit bin ich für denMoment zumindest zufrieden.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie haben meine Frage nicht verstanden!)

– Ich glaube, Sie haben meine Antwort nicht verstanden,oder Sie wollten sie nicht verstehen. Wir sollten etwashöflicher miteinander umgehen.

(Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

– Ich kann Ihnen vielleicht nicht folgen, verstehen kannich Sie schon. Also das können Sie mir schon zutrauen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle-

gin Höll, Frau Kollegin?

Gabriele Frechen (SPD): Ja.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Liebe Frau Kollegin Frechen, das hat schon alles et-

was mit unserem Problem zu tun; denn es geht auch umdie Frage der Gegenfinanzierung und zugleich um die ei-ner sozial gerechten Verteilung von Be- und Entlastung.Auf die Frage der sozial gerechten Verteilung der Belas-tung konnten oder wollten Sie nicht antworten. Ichmöchte Sie fragen, welche Vorstellungen überhaupt zurGegenfinanzierung dieses Steuerentlastungspakets vor-handen sind; denn bei anderen Diskussionen, die wir inden vergangenen Jahren hatten, wurde uns erklärt, dasszum Beispiel weder eine Erhöhung des Kindergeldsatzesauf 200 Euro noch eine Anhebung der Hartz-IV-Regel-sätze auf mindestens 435 Euro möglich ist, weil dafürdas Geld fehlt. Jetzt beschließen wir ein Gesetz mit ei-nem Entlastungsvolumen von 9 Milliarden Euro, undplötzlich ist das Geld da. Das verwundert mich etwas.Darauf hätte ich gerne eine Antwort.

Gabriele Frechen (SPD): Liebe Frau Kollegin Höll, wir haben von Anfang an

gesagt, dass eine Gegenfinanzierung nicht vorgenom-men wird. Es war vielleicht kein von uns forciertes undauch nicht ein von uns gewünschtes Konjunkturpaket,aber in der jetzigen Situation halten ich, die Bundes-regierung und die Kolleginnen und Kollegen in derFraktion es für sinnvoll, für 2010 dieses von uns nichtpropagierte, aber jetzt von uns umzusetzende Konjunk-turprogramm wirken zu lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Im Einzelnen heißt das: Ein verheirateter Alleinver-diener mit zwei Kindern und einem Einkommen von70 000 Euro, der 3 950 Euro für sich und seine Familiebezahlt, erhält eine Entlastung von 274 Euro. Gehenbeide Ehegatten arbeiten, zahlen sie bei gleichem Ein-

kommen 6 213 Euro Krankenversicherung, und sie wer-den mit 996 Euro entlastet. Das ist ein Zeichen dafür,dass wirklich die mittleren Einkommen mit diesem Ge-setz entlastet werden. Der ledige Arbeitnehmer mit ei-nem Einkommen von 40 000 Euro wird mit 722 Euroentlastet.

Jetzt komme ich zu dem Problem, das von allen schonangesprochen worden ist: Der Selbstständige mit glei-chem Einkommen wird mit dieser Änderung nicht ent-lastet. Er bezahlt einen Krankenversicherungsbeitrag inHöhe von 4 360 Euro. Das hängt natürlich damit zusam-men, dass die sonstigen Vorsorgeaufwendungen nichtoder nicht mehr in gleicher Höhe wie zuvor zum Abzugzugelassen werden. Das ist die geringe Gegenfinanzie-rung, die ich eben angesprochen habe. Deshalb gibt esdie Günstigerprüfung. Ich sage aber ganz offen: Darüber,inwieweit diese Vorsorgeaufwendungen gestrichen odergekürzt werden, werden wir selbstverständlich in denanstehenden Beratungen sprechen müssen. Es gilt dasStruck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt so aus demBundestag heraus, wie es hineingekommen ist. Ich weißalso gar nicht, was die ganze Aufregung hier soll.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stehen Sie nicht zu dem Gesetz?)

– Das muss ich noch gar nicht. Es ist nämlich ein Regie-rungsentwurf, Herr Thiele. Aus ganz grauer Vorzeit wis-sen Sie vielleicht noch, was das bedeutet.

(Jörg van Essen [FDP]: Mit der Regierung ha-ben Sie nichts zu tun? – Carl-Ludwig Thiele[FDP]: Haben Sie sich damit noch gar nichtbefasst? Ich hatte den Eindruck, Sie vertretendas hier!)

Ich möchte jetzt gern einen ganz anderen Punkt ver-treten – er liegt mir sehr am Herzen –: Wir werden ge-meinsam – das steht noch nicht im Regierungsentwurf –das Schulstarterpaket ausweiten, und zwar auf die Zeitvom 11. bis zum 13. Schuljahr.

(Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele[FDP]: Ach nein! Das haben Sie noch vor kur-zem im Bundestag abgelehnt!)

– Ja, ich konnte Sie überraschen. Das freut mich jetzt. –Für uns war nie verständlich, warum dieses Paket nur biszum 10. Schuljahr angeboten wurde.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Für uns auchnicht! – Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIELINKE])

– Frau Höll, Sie sehen doch: Steter Tropfen höhlt denStein. Man kommt auch dann zum Ziel, wenn man nichtso laut brüllt.

Wir weiten dieses Paket jetzt aus.

(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es gibt noch Er-kenntnisgewinn!)

– Genau. – Durch dieses Gesetz werden auch die Kindervon Geringverdienern, die die Schulklassen 11 bis 13 be-suchen, mit dem Schulstarterpaket ausgestattet.

(Beifall bei der SPD)

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Gabriele Frechen

Darüber bin ich sehr erfreut. Das sind immerhin 250 000Schülerinnen und Schüler. Der Kreis der Empfangsbe-rechtigten wird auf die sogenannten Aufstocker ausgewei-tet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag zur sozialenGerechtigkeit geleistet. Ich freue mich auf konstruktiveBeratungen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Antje Tillmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Mitmachen statt Miesmachen“ heißt das Motto unsererJugendorganisation. Die heutige Debatte zeigt wieder,dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo-sition, das Miesmachen für Ihr politisches Programmhalten.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gar nicht! – Jerzy Montag [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht wahr!)

Das finde ich bedauerlich. Das wird uns aber nicht daranhindern, diesen Gesetzentwurf als gute Grundlage in dieDebatte einzubringen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Herr Thiele hält Steuersenkungen in Höhe von9,5 Milliarden Euro für ein Steuererhöhungsprogramm.Die Linken haben den üblichen Beißreflex. Dass Leute,die höhere Beiträge zahlen, auch höher entlastet werden,kann aus ihrer Sicht natürlich nur unsozial und ungerechtsein. Ich bin froh, dass die Grünen ihre Position sehrausgewogen dargestellt haben, Frau Kollegin Scheel.Aus unserer Sicht ist dieser Gesetzentwurf eine sehr guteDiskussionsgrundlage.

Wir beginnen heute mit der Beratung hier im Parla-ment; allerdings hat sich auf dem Weg vom Referenten-entwurf zum Gesetzentwurf schon einiges getan: Wirhaben den Kreis derjenigen, deren Krankenversiche-rungsbeiträge begünstigt werden können, ausgeweitet.Neben den Ehepartnern und den Kindern sind jetzt auchdie Lebenspartner aufgenommen. Für Geschiedene kön-nen Krankenversicherungsbeiträge künftig über den Un-terhaltsfreibetrag hinaus geltend gemacht werden. Ichdanke dem Ministerium dafür, dass dieses Ergebnis einerBeratung zum Referentenentwurf so schnell in den Ge-setzentwurf aufgenommen wurde.

Liebe Kollegen von der Linken, wir haben uns in die-ser Legislaturperiode sehr ausführlich mit den Beziehernvon kleineren und mittleren Einkommen beschäftigt.Wir haben den Kinderbonus eingeführt. Wir haben dasKindergeld erhöht. Wir haben den Grundfreibetrag er-höht. Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt. Wirhaben die Regelleistungen für 6- bis 13-Jährige erhöht.

Von der Rentenerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres wer-den 7,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger profitieren,die Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alterbzw. Sozialhilfe erhalten. Wir haben für die Bürgerinnenund Bürger mit kleinen und niedrigen Einkommen Be-träge ausgegeben, die viel höher sind als diejenigen, dieheute zur Debatte stehen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Heute diskutieren wir ein Gesetz, das denjenigen zu-gute kommt, die all diese Sozialleistungen durch ihreSteuern finanzieren: die Steuerzahler, die wir in dieserLegislaturperiode bisher nicht entlastet haben, jedenfallsbei weitem nicht in dem Umfang, in dem wir die sozialSchwächeren entlastet haben. Das zum Anlass für eineUngerechtigkeitsdebatte zu nehmen, ist schon weit her-geholt.

Ich will Ihnen an zwei Beispielen erklären, warumdieses Gesetz überhaupt nicht ungerecht ist. Erstens. EinSelbstständiger mit mittlerem Einkommen und zweiKindern zahlt über seine Steuern die Zuschüsse zur ge-setzlichen Krankenversicherung mit, um die beitrags-freie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichenKrankenversicherung zu sichern.

Sie erinnern sich: Der Steuerzuschuss zur gesetzli-chen Krankenversicherung wird mit Blick auf die bei-tragsfreie Mitversicherung in ebendieser Versicherungvon 3,2 Milliarden Euro in 2009 bis 2014 auf14 Milliarden Euro aufgestockt.

Dieser mittelverdienende Selbstständige, der das allesüber seine Steuern mitfinanziert, bekommt weder zu denBeiträgen für seine beiden Kinder in der privaten Kran-kenversicherung einen Zuschuss, noch kann er die Bei-träge steuerlich geltend machen. Es kann doch auch ausIhrer Sicht nicht gerecht sein, dass bei demjenigen, dermit seinen Steuern andere unterstützt, die Beiträge fürdie eigenen Kinder steuerlich gar nicht berücksichtigtwerden können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Das wird in diesem Gesetzentwurf geändert. Das findenwir richtig und gerecht.

Zweites Beispiel. Ein besserverdienender Angestell-ter zahlt nur deshalb so hohe Krankenversicherungsbei-träge, weil er mit seinen Beiträgen diejenigen unter-stützt, die sich aufgrund niedrigen Einkommens dieBeiträge nicht leisten können. Das ist richtig. Das ist so-lidarisch. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dassSie meinen: Weil er hohe Krankenversicherungsbeiträgezahlt – in Klammern: aus solidarischer Gesinnung undweil wir es gesetzlich so vorgesehen haben –, soll er sienicht steuerlich geltend machen dürfen. Wir könnennicht erst Solidarität einfordern und dann denjenigen,von dem wir die Solidarität einfordern, im Regen stehenlassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

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Antje Tillmann

Das wird durch diesen Gesetzentwurf geändert. Das istgerecht und solidarisch. Es ist auch nicht zu beanstan-den, dass jemand, der hohe Beiträge zahlt, diese Beiträgein voller Höhe steuerlich geltend machen kann.

Frau Kollegin Frechen hat darauf hingewiesen, dasswir den vorliegenden Gesetzentwurf nutzen werden, umauch in einem anderen Fall, in dem es um finanziellschwächere Familien geht, nachzubessern, nämlich beimSchulstarterpaket. Ja, es ist so: Wir haben dafür längergebraucht. Wir wollten das auch für diejenigen vernünf-tig regeln, die nicht unter die Hartz-IV-Regelungen fal-len. Wir wollten das Schulstarterpaket auch den Fami-lien zugutekommen lassen, die ein bisschen mehr alsHartz IV haben, nämlich denjenigen, die den Kinderzu-schlag bekommen. Wir werden das mit diesem Gesetzumsetzen. Auch damit werden wir wieder diejenigenfördern, die keine Steuern oder nur ganz geringe Steuernzahlen.

In diesem Gleichgewicht von Sozialleistungen – sol-che haben wir in dieser Legislaturperiode schon in hin-reichendem Maße auf den Weg gebracht – und Entlas-tung derjenigen, die unseren Sozialstaat finanzieren,steht der Gesetzentwurf. Wir werden ihn in den kom-menden Wochen beraten und natürlich darüber sprechen– Herr Kollege Flosbach hat es gesagt –, ob wir nicht ander einen oder anderen Stelle auch bei anderen Versiche-rungsbeiträgen, die jetzt nicht begünstigt werden, nach-bessern müssen.

Dem Grunde nach stehen wir zu diesem Gesetzent-wurf. Wir finden, dass hier Gerechtigkeit hergestelltwird. Bisher – so sagt das Verfassungsgericht – bestehtsie ganz offensichtlich nicht.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/12254 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesDritten Gesetzes zur Änderung des Opferent-schädigungsgesetzes

– Drucksache 16/12273 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)Auswärtiger AusschussInnenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Klaus Brandner.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Arbeit und Soziales:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Das Opferentschädigungsgesetzregelt eine Einstandspflicht des Staates für unschuldigeOpfer von vorsätzlichen Gewalttaten, die der Staat mitseinen Polizeiorganen vor einer solchen Tat nicht schüt-zen konnte. Juristen sprechen hier vom sogenanntenAufopferungstatbestand.

Da ich vermute, dass nicht jedem hier im Hause dieMaterie dieses Gesetzes in gleicher Weise vertraut ist,will ich hier in aller Kürze die wesentlichen Punkte derbisherigen Rechtslage konkretisieren:

Ziel des Opferentschädigungsgesetzes – kurz „OEG“genannt – ist seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1976 eineeigenständige staatliche Entschädigung der Betroffenen,das heißt eine Entschädigung über die allgemeinen sozia-len Sicherungssysteme und die Sozialhilfe hinaus. An-spruch auf Entschädigung haben Opfer eines Überfallsoder einer Vergewaltigung genauso wie die Betroffeneneines Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldigePassanten getötet oder schwer verletzt worden sind. DieVoraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen au-ßerdem vor, wenn es sich um einen tätlichen Angriffauf Leib und Leben der Betroffenen handelt und derTäter – unabhängig von seiner Motivation – zumindestmit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Umfang und Höheder zu erbringenden Entschädigungsleistungen richtensich nach dem Bundesversorgungsgesetz.

An den Prinzipien und der Intention des OEG hat sichseit seinem Inkrafttreten nichts geändert. Gewandelt ha-ben sich aber die Anforderungen, die im Zuge gesell-schaftlicher Veränderungen an eine möglichst umfas-sende Opferentschädigung gestellt werden. Bereitsmehrfach ist deshalb das OEG in der Vergangenheit er-weitert und den Verhältnissen angepasst worden.

So ist zum Beispiel der Schutz ausländischer Mitbür-gerinnen und Mitbürger in Deutschland vor allem durchdie Gesetzesnovelle im Jahre 1993 erheblich verbessertworden. Nach den furchtbaren Anschlägen von Solingenund Mölln wurde bereits damals auch darüber diskutiert,den Kreis der im Inland geschützten Personen weiter zufassen, als es schließlich geschehen ist.

Fraktionsübergreifend erörtert wird seit der letztenLegislaturperiode darüber hinaus die Überlegung, denAnwendungsbereich des OEG auf Auslandstaten auszu-dehnen. Trauriger Anlass dieser Überlegung sind die lei-der vermehrt aufgetretenen Fälle, dass deutsche Touris-ten und Geschäftsreisende im Ausland Opfer einerGewalttat geworden sind. Ich erinnere hier nur an denentsetzlichen Anschlag in Djerba 2002. Bislang konnten

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Parl. Staatssekretär Klaus Brandner

in solchen Fällen Entschädigungen häufig nur über einenHärtefonds, gewissermaßen als Notlösung, geregelt wer-den. Es ist deshalb gut, dass sich die Koalitionsfraktio-nen nach intensiven Beratungen und zahlreichen inter-fraktionellen Gesprächen nun auf einen Gesetzentwurfverständigt haben, der den erwähnten und anderen Er-weiterungsvorschlägen in angemessener Weise Rech-nung trägt: quasi von einer Notlösung zu einer transpa-renten gesetzlichen Lösung.

Besonders herausstellen möchte ich dabei, dass be-sonders dann, wenn Opfer zu beklagen sind – das wissenwir ja alle –, schnelle Hilfe nottut. Schnelle Hilfe hilftdoppelt, heißt es ja. Insofern wollen wir mit diesem Ge-setzentwurf Rechtsklarheit in einer Situation schaffen, inder schnelle Hilfe angesagt ist.

Die Kernpunkte des Dritten OEG-Änderungsgeset-zes, bei dem das Bundesministerium für Arbeit und So-ziales Formulierungshilfe geleistet hat, möchte ich hierdeshalb kurz vorstellen.

Der Gesetzentwurf sieht erstens vor, bei Inlandstatenden Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländischeVerwandte dritten Grades zu erweitern, die eine Personohne deutsche Staatsangehörigkeit besuchen, die sich inDeutschland rechtmäßig und nicht nur vorübergehendaufhält. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozialesbegrüßt diese Neuregelung, zumal weiterhin eine Ab-grenzung zu Touristen und Geschäftsreisenden ohnedeutsche Staatsangehörigkeit getroffen wird, die auchzukünftig nur von einer Härteregelung erfasst werdenkönnen.

Weiterhin sieht der Gesetzentwurf die Einbeziehunggeschädigter ausländischer Lebenspartner vor. Diese er-folgt mittelbar über eine Gesetzesverweisung auf dasBundesversorgungsgesetz. Diese Ergänzung ist nicht nurdirekt aus dem OEG heraus erforderlich, sondern auchaus europa- und verfassungsrechtlichen Gründen zwin-gend.

Der zweite Schwerpunkt des Änderungsgesetzes istdie Ausdehnung des Geltungsbereichs des OEG auf Ge-walttaten im Ausland. Über diesen Punkt ist in den frak-tionsübergreifenden Gesprächen lange diskutiert wor-den, aber nicht über das Ob, sondern über das Wie. Dervorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, auch bei Ge-walttaten im Ausland sogenannte Regelleistungen zu er-möglichen. Sie werden wissen: Die Bundesregierung hatin den Beratungen hierzu anfänglich durchaus Bedenkengeäußert.

Da es bei Gewalttaten im Ausland an dem eingangserwähnten Aufopferungstatbestand fehlt, können dieseTaten aus rechtssystematischen Gründen nicht ohneWeiteres mit Inlandstaten gleichgesetzt werden; denngrundsätzlich kann der Staat wirksamen Opferschutz nurfür sein Hoheitsgebiet garantieren. Die jetzt vorliegen-den Regelungen sind aus Sicht der Bundesregierung je-doch durchaus vertretbar und zustimmungsfähig. Durchdie im Gesetzentwurf vorgesehenen Einmalzahlungensowie die Anrechnungs- und Ausschlusstatbestände wirdhinreichend deutlich, dass die Rechtsgrundlage für dieEntschädigung bei Auslandstaten nur in staatlicher Für-

sorge, nicht aber in einem Aufopferungstatbestand lie-gen kann.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Fazitziehen. Ziel des Opferentschädigungsgesetzes ist undbleibt es, den Opfern tätlicher Gewalt einen möglichstumfassenden Schutz in Form staatlicher Entschädigungzu gewähren. Ob und wie dieses Ziel erreicht werdenkann, muss sich, geeicht an einer sich veränderndenWirklichkeit, immer wieder neu erweisen. Ich bin über-zeugt, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf genaudas getan und in angemessener Weise nachgesteuertwurde. Deshalb würde ich mich freuen, wenn dieser Ge-setzentwurf nicht nur bei den Regierungsfraktionen, son-dern fraktionsübergreifend verdientermaßen eine breiteMehrheit finden könnte.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort Jörg van

Essen.

Jörg van Essen (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich will am Anfang das aufgreifen, was Sie, Herr Staats-sekretär, soeben gesagt haben. Ich war eigentlich davonausgegangen, dass wir diesen Gesetzentwurf quer durchalle Fraktionen voranbringen. Ich erinnere mich an einBerichterstattergespräch – ich glaube, es war Ende2007 –, in dem wir eigentlich so verblieben waren, dassdieses Vorhaben in den Koalitionsfraktionen wie auch inden Oppositionsfraktionen vorangetrieben werden sollte.Deswegen war ich überrascht, dass dieser Kontakt nichtgesucht worden ist. Wir von der FDP – das will ich ganzdeutlich sagen – wären gerne bei den einbringendenFraktionen dabei gewesen, weil wir die Zielsetzungen,die Sie, Herr Staatssekretär, vorgetragen haben, aus-drücklich teilen.

(Beifall bei der FDP)

Ich will am Anfang jedoch ein paar kritische Bemer-kungen machen. Im Jahre 2002 hat die FDP-Bundestags-fraktion zum ersten Mal auf die Problematik mit Blickauf die Opfer von Terroranschlägen im Ausland hinge-wiesen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis ein entspre-chender Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Wie dringlicher ist, hat der Anschlag in Bombay gezeigt, bei dem auchdeutsche Staatsangehörige zu Schaden gekommen sind.Dass wir hier dringend eine Regelung schaffen müssen,ist für jedermann offenkundig. Ich spreche die Hoffnungaus, dass wir bis zur Bundestagswahl zu einem Ergebniskommen. Für die FDP-Bundestagsfraktion signalisiereich, dass wir dazu beitragen werden, dass es dazukommt.

Die zweite Bemerkung, die ich gerne vorweg machenmöchte: Es fällt mir auf, wie viele Anstrengungen unter-nommen werden, den Begriff der Lebenspartnerschaftim Gesetzestext nicht zu erwähnen. Ich ahne, wer dafürverantwortlich ist. Meine Gefühl ist, dass Sie, meine

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Jörg van Essen

Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es nicht sind.Liege ich da richtig?

(Elke Ferner [SPD]: Das bestätigen wir gerne!)

Wir sollten auch da der gesellschaftlichen WirklichkeitRechnung tragen und eine klare Gesetzessprache ver-wenden. All diejenigen, die gemeint sind, sollten auchtatsächlich benannt werden und nicht etwa durch einenVerweis auf das Bundesversorgungsgesetz erfasst wer-den. Das müsste in den Beratungen, die vor uns liegen,eigentlich möglich sein.

Was den Inhalt anbelangt, teile ich beide Zielrichtun-gen, die von Staatssekretär Brandner hier vorgestelltworden sind. Es hat sich spätestens in Mölln gezeigt,dass es sinnvoll ist, dass Personen, die in Deutschland zuBesuch sind und hier Opfer eines Terroranschlags wer-den, wie es beispielsweise bei einer türkischen Familieder Fall war, von den Bestimmungen erfasst werden.Dieses Ziel wird von uns ausdrücklich unterstützt.

(Beifall bei der FDP)

Anschläge werden in einigen Urlaubsregionen verübt,weil sie dort aufgrund der geringeren Sicherheitsvorkeh-rungen leichter durchgeführt werden können. Das war inDjerba, auf Bali und zuletzt in Bombay der Fall. Wenndeutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Opfer einessolchen Anschlages werden, dann handelt es sich umeine Art Aufopferung, auch wenn es rechtlich gesehennicht der Fall ist. Deshalb haben wir die Pflicht – schonin unserem Antrag aus dem Jahr 2002 haben wir diesesAnliegen geäußert –, uns um diese Menschen zu küm-mern.

Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gehabt, dassnach einer Härtefallregelung vorgegangen wurde unddass es keinen tatsächlichen Rechtsanspruch gab. VieleOpfer hatten das Gefühl, dass sie ein zweites Mal zumOpfer wurden, weil sie auf staatliche Nachsicht ange-wiesen waren und keinen wirklich begründeten Rechts-anspruch hatten.

Herr Staatssekretär, Sie haben natürlich zu Recht da-rauf hingewiesen, dass es komplizierte Fragestellungendurchaus auch an Stellen gibt, wo, wie ich finde, derStaat nicht eintreten muss. Wir alle erinnern uns – diemeisten sind ja in einem Alter, dass man sich daran nocherinnern kann –, dass ein sehr bekannter bayerischer Po-litiker bei einem Besuch im New Yorker Nachtleben zuSchaden gekommen ist.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Der hat das immer bestritten!)

Es ist ganz selbstverständlich, dass die BundesrepublikDeutschland nicht einzustehen hat, wenn man sich ineine solche gefahrengeneigte Situation begibt, wie dasdamals der Fall war. Wie dem auch sei, es ist vollkom-men klar: Der deutsche Steuerzahler kann nicht in An-spruch genommen werden, wenn sich jemand selbst inGefahr begibt und dann dabei Schaden erleidet.

(Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwen-ningen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwi-schenfrage)

– Bitte sehr, Herr Kollege, wenn die Frau Präsidentin esgestattet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gestatte es, Herr van Essen.

Jörg van Essen (FDP): Herr Kollege Kauder, ich weiß, Sie müssen immer

eine Zwischenfrage stellen. Deshalb sage ich sofort im-mer Ja.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Kauder, Sie reden ja danach und könn-

ten in Ihrer Rede auf Herrn van Essen eingehen.

Jörg van Essen (FDP): Zumal er frei redet.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich lasse die Zwischenfrage trotzdem zu.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Das wäre dann aus dem Zusammenhang gerissen. Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf eini-

gen, dass auch bei Inlandstaten Ausschlusstatbeständefür denjenigen gegeben sind, der sich in Gefahr bringt?Bei der Auslandstat, die wir jetzt in das OEG einbezie-hen, gilt also nichts anderes.

Jörg van Essen (FDP): So ist es. Sie haben es richtig dargestellt. Aber, wie

gesagt, Sie hätten dies auch in Ihrer Rede tun können.Ich weiß ja, wie gerne Sie Zwischenfragen stellen, wennich rede. Deshalb wollen wir es bei dieser Traditiongerne belassen.

Es ist gut, dass wir jetzt einen Rechtsanspruch in dasOpferentschädigungsgesetz aufnehmen. Das findet un-sere Unterstützung. Wir sollten uns – das ist meinWunsch – in den Beratungen insbesondere darüber Ge-danken machen, wie wir das Ganze lesbarer ausgestal-ten. Aber, wie gesagt, die Zielrichtung des Gesetzent-wurfes ist richtig. Das ist ein erneutes Beispiel dafür,dass im Bundestag nicht nur gestritten wird, sonderndass man auch an einem Strang ziehen kann, wenn diesfür die Menschen gut ist. Gerade wer Opfer einer Straftatoder Opfer eines Terroranschlages geworden ist, hat An-spruch darauf, dass wir uns gemeinsam Gedanken ma-chen, zu guten Lösungen zu kommen.

Vielen Dank.(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/

CSU-Fraktion.(Beifall bei der CDU/CSU)

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Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Jahr für Jahr werden inder Bundesrepublik Deutschland etwa 700 000 Men-schen Opfer schwerer Straftaten, Opfer von Attentaten,Opfer von Vergewaltigungen, Opfer von Körperverlet-zungen, Opfer von Freiheitsberaubungen und, wie wir esam 11. März 2009 in Winnenden erlebt haben, Opfer vonAmokläufen. Diese Menschen sind schwer traumatisiert.Das gilt auch für die Hinterbliebenen der Opfer vonStraftaten. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Unterstüt-zung, die sie – darüber sind wir sehr dankbar – teilweisevon ehrenamtlichen Helfern, von Institutionen wie derdes Weißen Ringes bekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das allein reicht aber nicht aus. Auch der Staat ist inder Pflicht. So wie bei der heute anstehenden Änderungwar es schon in den 70er-Jahren. Die Diskussion, ob derStaat eine staatliche Entschädigung an Opfer zahlensollte, entbrannte im Jahr 1971 und dauerte bis zum Jahr1976. Die Diskussion war durchaus kontrovers. Nochimmer geistert das Dogma durch die Diskussion, dasOpferentschädigungsgesetz sei geprägt von dem Gedan-ken, dass der Staat dann einzustehen habe, wenn es ihmnicht gelinge, innere Sicherheit zu gewährleisten, undwenn deshalb, weil das Gewaltmonopol nicht ziehe, einBürger Opfer einer Straftat werde. Dieses Dogma gab esnie. Wenn man in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus dem Jahr 1971 nachliest, kannman schon in den ersten einleitenden Sätzen feststellen,dass die Intention des Opferentschädigungsgesetzes derUmstand war, dass man Menschen, die durch eine Straf-tat in eine Notlage geraten sind, helfen solle. Deswegenist es auch kein Paradigmenwechsel, wenn wir heute sa-gen, wir wollen auch die Auslandstat einbeziehen.

Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Lückeschließen, die man schon 1976 beim Erlass des OEGhätte schließen können. Es ist eine etwas paradoxe Situa-tion, über die wir zu diskutieren haben: Eine deutscheFrau, die in Spanien vergewaltigt wird, bekommt nachdeutschem Opferentschädigungsrecht keine Opferrente.Wird aber eine spanische Frau zum Beispiel von einemItaliener in Deutschland vergewaltigt, bekommt diesespanische Frau in Deutschland wegen des europaweitgeltenden Diskriminierungsverbotes eine Opferentschä-digung. Das heißt, die deutsche Frau, das deutsche Opfersteht im Ausland schlechter da, als das ausländische Op-fer im Inland. Wir sind aufgerufen, dieses Problem zu lö-sen, diese Lücke zu schließen. Genau dazu ist dieser Ge-setzentwurf vorgesehen.

Herr Kollege van Essen, ich verhehle nicht, dass ichgerne alle Fraktionen bei diesem Entwurf eingebundenhätte. Aber es gab – Sie haben das schon angesprochen –gewisse Friktionen, die ich nicht wieder entstehen lassenwollte, weil uns die Zeit davonläuft. Bis zum Ende derLegislaturperiode haben wir nur noch wenige Sitzungs-wochen. Deswegen mussten wir handeln. Ich bitte, dasnicht als Affront zu verstehen. Alle Fraktionen des Deut-

schen Bundestages sind eingeladen, sich in den Aus-schussberatungen einzubringen. Ich freue mich, wenndieser Gesetzentwurf einen breiten Konsens im Deut-schen Bundestag herbeiführen wird; denn – das sage ichgerne – das Thema Opferschutz gehört keiner Fraktionund keinem Abgeordneten, Opferschutz ist vielmehreine Aufgabe, die das gesamte Parlament verantwor-tungsvoll wahrnehmen sollte. Es nimmt diese Aufgabeerkennbar wahr.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDPund dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowiebei Abgeordneten der LINKEN)

Für uns war es außerordentlich wichtig, im Bereichder Entschädigung bei Auslandstaten etwas Beispielhaf-tes einzuführen, über das wir genauer nachdenken müs-sen: Ein Opfer, das traumatisiert ist, braucht sofort Hilfe.Es braucht eine psychotherapeutische Begleitung. DasOpfer muss wissen, wer diese psychotherapeutische Be-gleitung bezahlt. Es gibt Fälle, in denen ein traumatisier-tes Opfer für den Weg durch alle Instanzen sieben Jahrebrauchte, ehe über die Entschädigung befunden wurde.Das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen müssen wirdazu beitragen, dass die Verfahren unbürokratischerwerden und schneller abgewickelt werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir haben in diesem Gesetzentwurf daher vorgesehen,dass es bei Auslandstaten als Entschädigung Pauschalbe-träge gibt. Das Opfer kann ins Gesetz schauen und fest-stellen: Dieser Betrag steht mir zu. Auf diesen Betraghabe ich einen Anspruch. Wir hoffen, dass dies zu einerdeutlich schnelleren Abwicklung führen wird.

Wenn wir diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritterLesung verabschiedet haben, erleben wir eine Stern-stunde des Opferschutzes. Das finde ich gut. Es kommtnicht von ungefähr, dass wir gerade heute in erster Le-sung über dieses Gesetz beraten. In wenigen Tagen, am22. März 2009, findet, wie jedes Jahr, der Tag des Krimi-nalitätsopfers statt. An diesem Tag sind wir aufgerufen,darüber nachzudenken, was wir für die Opfer von Straf-taten noch zu tun haben. Mit der Entscheidung über dasOEG ist die Debatte über Hilfen, die wir den Opfern an-gedeihen lassen müssen, noch lange nicht abgeschlos-sen. Opferschutz ist immer in Bewegung. Wir werdenuns weiterhin Gedanken darüber machen müssen, wieman die Privatsphäre eines Opfers in der Gerichtsver-handlung und gegenüber der Presse besser schützenkann. Wir werden uns auch Gedanken darüber machenmüssen, wie man die Videografie verbessern kann. Esgibt also viele Felder des Opferschutzes, auf denen wiruns betätigen können.

Ich bin froh, dass die Politik den Blick viel stärker alsin früheren Jahren auf das Opfer richtet. Wir sind auf ei-nem guten Weg.

(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)

Alle sind eingeladen, mitzumachen.

Vielen Dank.

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Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen,

Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Mit dem Entwurf der Koalitions-fraktionen ereilt das Hohe Haus in dieser Legislaturperiodedie dritte Vorlage zur Änderung des Opferentschädi-gungsgesetzes. Doch die Linke findet, es hat sich bishernichts Substanzielles geändert. Die Opferinteressen la-gen bislang anscheinend außerhalb des großkoalitionä-ren Blickfeldes. Nichts anderes bleibt mir als Schlussfol-gerung übrig, vor allen Dingen in Anbetracht derTatsache – das hat mein Vorredner deutlich gemacht –,dass man kurz vor Toresschluss einen Rumpfvorschlageinbringt, der vor allen Dingen auf der betagten Initia-tive von Bündnis 90/Die Grünen basiert.

Die Linke hat Initiativen zur Fortentwicklung derEntschädigung von Opfern von Gewaltstraftaten jedesMal ausdrücklich begrüßt. Jedes Mal haben wir aber– das kann man nachlesen – die gleichen Lücken fest-stellen und beklagen müssen. Die Opfer bzw. deren Hin-terbliebene warten bis heute vergeblich auf eine substan-zielle Regelung.

Was bringt der vorliegende Entwurf? Er enthält de-taillierte Regelungen zur Entschädigung unschuldigerOpfer vorsätzlicher Angriffe im Ausland sowie etwaigerHinterbliebener. Das mag in der Sache ein Fortschrittsein, allerdings wohl eher motiviert durch die Erkennt-nis, dass deutsches Engagement im Kampf gegen densogenannten internationalen Terrorismus auch zu einemerhöhten Risiko für deutsche Staatsangehörige im Aus-land führt. Der richtige Grundgedanke dabei ist: Wennder Staat durch sein Tun die Bevölkerung gefährdet, soller für das erhöhte Risiko einstehen.

Aber für nichtdeutsche Gewaltopfer, die sich nur vo-rübergehend in Deutschland aufhalten, bleibt alles beimAlten. Der Vorschlag wächst nicht über den Entwurf derGrünen hinaus. Zum Beispiel wird die Ungleichbehand-lung von Opfern in Ost und West aufrechterhalten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Hinsichtlich der Einbeziehung von Lebenspartnern – daswurde auch schon vom Kollegen van Essen beklagt –fällt der Entwurf durch beredtes Schweigen hinter denEntwurf der Grünen zurück.

(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Aber er löst das Problem!)

Die Linke lehnt diese beschränkte Sicht auf die Opferab.

Lassen Sie mich dazu einige Anmerkungen machen.

Ungleichbehandlung ausländischer Gewaltopfer: Au-ßerhalb des privilegierten Kreises derjenigen, die bis

zum dritten Grad mit einem Deutschen verwandt sind,erhalten diese keinen Anspruch oder nur unter den sehrverschraubten Voraussetzungen des bestehenden Geset-zes. Das führt dazu, dass vor allen Dingen Opfer rassisti-scher Gewalt, die ohnehin schon mit einem diskriminie-renden und überkommenen Ausländer- und Asylrecht zukämpfen haben, als Opfer zweiter Klasse behandelt wer-den und ohne einen Anspruch dastehen.

Die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost undWest: Rund 20 Jahre nach dem Fall der Mauer werdenOpfer von Gewalttaten aus den fünf ostdeutschen Bun-desländern bei der Höhe der Entschädigungsleistung im-mer noch benachteiligt. Das ist für die Linke eine unge-rechtfertige Ungleichbehandlung.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Opferleid Ost ist nicht geringer zu schätzen als dasOpferleid West. Eine ökonomisch begründete Differen-zierung findet auch nicht beim Verhältnis Stadt und Landoder im Hinblick auf Einkommensunterschiede zwi-schen einzelnen Regionen der alten Bundesländer statt.

Gleiches gilt für die Lebenspartnerschaften. Die Situa-tion von Lebenspartnern als Opfer von tätlichen Angrif-fen unterscheidet sich doch nicht von der von Eheleuten.Auch dies ist eine Ungleichbehandlung, die abgeschafftwerden muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Linke fordert deshalb eine klarstellende diskrimi-nierungsfreie Regelung, die – nebenbei gesagt – auchzur Entbürokratisierung beitragen könnte.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kauder?

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Ja.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU):

Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,dass die Lebenspartnerschaft bei Inlandstaten durch dieVerweisung auf das BVG ohnehin schon immer einbezo-gen war und dass der Gesetzentwurf, über den wir jetztdiskutieren, auch bei Auslandstaten die Verweisung aufdas BVG enthält? Ihr Problem ist gelöst. Sie haben esnur nicht erkannt.

(Andrea Nahles [SPD]: Richtig!)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Das sagen Sie, Herr Kollege Kauder. Das Problem ist

noch nicht gelöst, weil es keine richtige Klarstellung fürOpfer von tätlichen Angriffen gibt. Sonst hätte das hiergerade erwähnt werden können.

(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Sie verstehen es nicht!)

Ich komme zum Schluss meiner Rede. Jeder, der inDeutschland Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wird,

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muss den gleichen Anspruch auf Entschädigung haben.Die Ungleichbehandlung bei der Opferentschädigung– nach Staatsangehörigkeit und vor allen Dingen nachWohnsitz – muss beendet werden. Denn der Schutzan-spruch gegenüber dem Staat ist meines Erachtens unteil-bar. Der Anspruch auf Fürsorge bei Staatsversagen musses auch sein; auch er gilt als unteilbar.

(Beifall bei der LINKEN – Siegfried Kauder[Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Mansollte nur zu etwas reden, wenn man es ver-standen hat!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort dem

Kollegen Jerzy Montag.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Danke sehr, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Am 29. Mai 1993 haben feige Mordbrenner inSolingen ein Haus angezündet. Bei diesem Brandan-schlag, der zu einem Mordanschlag wurde, sind GürsünInce, 27 Jahre alt, Hatice Genç, 18 Jahre alt, HülyaGenç, 9 Jahre alt, Saime Genç, 4 Jahre alt, und GülüstanOztürk, 12 Jahre alt, verbrannt. Der damalige Bundes-kanzler Kohl hat sich geweigert, die Überlebenden inSolingen zu besuchen, und hat stattdessen den Außenmi-nister hingeschickt. Denn es waren Ausländer; sie hattenmit Deutschland scheinbar nichts zu tun.

Was hat das mit dem Opferentschädigungsgesetz zutun? Sehr viel. Denn die Hinterbliebenen dieser Frauen,Mädchen und Kinder haben Anträge nach dem Opferent-schädigungsgesetz gestellt. Das oberste deutsche Gerichthat diese Anträge abgewiesen, mit der Begründung, dassdas Opferentschädigungsgesetz für diese Personen nichteinschlägig ist.

Herr Staatssekretär Brandner, ich bin etwas andererAuffassung als mein Kollege Kauder. Ich glaube, demAufopferungsanspruch liegt die Überlegung zugrunde,dass der Staat das Gewaltmonopol hat und zumindest imInland für den Schutz der Menschen einzustehen hat;denn er ist die letzte Instanz. Die Tatsache, dass er für denSchutz aller Menschen – ich betone: aller Menschen –, diesich in Deutschland befinden, zuständig ist, würde es ei-gentlich erforderlich machen, dass wir mit dieser Kas-kade der Ausschlüsse im OEG endlich Schluss machen.Wir sollten mit einem einfachen Satz erklären: Der Staatzahlt Opferentschädigungsansprüche unter den Voraus-setzungen des OEG an alle, die Opfer einer Straftat inDeutschland geworden sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dass die Koalitionsfraktionen nur einen ersten Schrittmachen, haben sie in ihrem Gesetzentwurf mit fiskali-schen Argumenten – das steht dort ausdrücklich so drin –,also mit Haushaltsargumenten, begründet. Ich gestehe:Auch wir Grüne haben mit unserem Gesetzentwurf nureinen ersten Schritt gemacht und das Gesetz so weit aus-geweitet, dass der Fall von Solingen davon umfasst wird.Wir wollen nämlich den Erfolg dieses Gesetzes.

Herr Kollege Kauder, in Zukunft müssen wir nichtnur über die Aspekte des Opferschutzes, die Sie ange-sprochen haben, diskutieren, sondern auch über dieFrage, ob das Opferentschädigungsgesetz nicht für alleMenschen, die in Deutschland Opfer einer Straftat wer-den, gelten muss.

Vor fast genau 13 Jahren, am 4. September 1996, hatein deutscher Röntgenarzt seine beiden deutschen Kin-der, seine achtjährige Tochter und seinen sechsjährigenSohn, auf Mallorca getötet. Die Mutter hat Ansprüchenach dem Opferentschädigungsgesetz geltend gemacht.Das höchste deutsche Gericht hat diese Anträge in letzterInstanz zurückgewiesen. Auch hier besteht seit nunmehr13 Jahren Nachbesserungsbedarf. Dabei geht es nichtnur um die Opfer terroristischer Gewalttaten, zum Bei-spiel um die Opfer der Anschläge in Mumbai oderDjerba, sondern auch um Fälle, die sich quasi im zivilen,privaten Bereich abspielen, die sich aber nur auf deut-sche Staatsangehörige beziehen. Das Opferentschädi-gungsgesetz muss auf Gewalttaten im Ausland ausge-weitet werden.

An dieser Stelle will ich deutlich machen: Frau Kolle-gin Dağdelen, es ist absurd, zu sagen, aufgrund seinerAußenpolitik sei es die Schuld des deutschen Staates,dass deutsche Staatsangehörige im Ausland gefährdetwerden. Diese Aussage war erkennbar neben der Sache.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, derSPD und der FDP)

Zum Schluss will ich noch eines erwähnen: Es gibt ei-nen Gesetzentwurf mit identischem Inhalt: den Gesetz-entwurf der Grünen vom 28. März 2006. Die Koalitionhat viel Gehirnschmalz darauf verwendet, aus der in un-serem Gesetzentwurf vorgesehenen Formulierung von§ 10 b OEG in ihrem Gesetzentwurf einen § 3 a zu for-mulieren und den Schutz der Lebenspartner hinter einerKaskadenverweisung zu verstecken.

Herr Kollege Kauder, Sie haben recht: Die Lebens-partner sind nach Ihrem Gesetzentwurf so geschützt wieVerheiratete. Sie sind nur nicht erwähnt. Das ist ein biss-chen beschämend und kleinlich, ebenso wie ihr Vorge-hen, den Gesetzentwurf alleine und nicht mit unsgemeinsam einzubringen, obwohl unser grüner Gesetz-entwurf schon seit drei Jahren auf dem Tisch liegt.

(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Unserer ist von 2002!)

Wenn es der Wahrheitsfindung dient: Wir werden IhremGesetzentwurf zustimmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der

CDU/CSU und der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Gregor Amann,

SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])

(B)

Sevim DaðdelenSevim Dağdelen

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Gregor Amann (SPD): Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Am vergangenen Wochenende hat die Interna-tionale Tourismus-Börse in Berlin geschlossen. DieDeutschen reisen gerne und viel, und das ist auch gut so.Reisen bildet. 99 Prozent aller Deutschen, die privatoder beruflich ins Ausland fahren, kehren wohlbehaltennach Deutschland zurück, reicher an Erfahrung und Er-kenntnissen, vielleicht auch mit neuen Freundschaften.Das Fernweh der Deutschen ist einer der Gründe für dieNovellierung des Opferentschädigungsgesetzes. Ichmöchte vorweg sagen: Ich halte den vorliegenden Ge-setzentwurf für notwendig, aber auch für gut und sinn-voll.

Ein beliebtes Ziel deutscher Touristen ist die tunesi-sche Insel Djerba. Es gibt dort Sonne, Strand und Meer,und man kann die berühmte Al-Ghriba-Synagoge be-sichtigen. Am 11. April 2002 jagte ein Selbstmordatten-täter der Terrororganisation Al-Qaida einen mit Gas be-ladenen Tankwagen vor dieser Synagoge in die Luft.21 Menschen, darunter 14 Deutsche, wurden getötet.17 Menschen erlitten schwere Verbrennungen.

In unserer heutigen Medienwelt jagt eine Sensationdie andere. Schon wenige Tage nach einem solchen An-schlag gehen die Medien auf die Suche nach neuen Sen-sationen. Ein grausamer Anschlag wie der in Djerba hin-terlässt aber auch Opfer sowie die Hinterbliebenen undAngehörigen, deren Leben sich durch ein solches Ereig-nis für immer verändert. Die Überlebenden sowie dieHinterbliebenen und Angehörigen sind dann meist fürden Rest ihres Lebens durch physische und psychischeVerletzungen gekennzeichnet. Sie brauchen Fürsorgeund Hilfe, auch vonseiten des Staates.

Die deutschen Opfer von Djerba bzw. ihre Hinterblie-benen und Angehörigen hatten keinen Anspruch auf Ent-schädigung, der über die normalen Leistungen unserersozialen Sicherungssysteme hinausgeht. Das Opferent-schädigungsgesetz – Staatssekretär Brandner hat es be-reits erläutert – regelt die eigenständige staatliche Ent-schädigungspflicht für Opfer von Gewaltdelikten, dieder Staat nicht vor dieser Tat schützen konnte. Insoweitist das Opferentschädigungsgesetz ein wichtiges Sozial-staatselement, auf das wir stolz sein können.

Das bisherige Gesetz basiert allerdings auf dem Terri-torialprinzip. Das heißt, es gilt bisher nur in Fällen, indenen eine Gewalttat auf deutschem Staatsgebiet verübtwurde. Es gewährt auch keinen Schutz für Personen, diesich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten undnicht mit Deutschen oder hier dauerhaft lebenden Aus-ländern verheiratet oder unmittelbar verwandt sind.

Nach dem Attentat in Djerba, dem 11. September2001 in New York, aber auch den beschämenden auslän-derfeindlichen Anschlägen in Mölln und Solingen – HerrMontag, Sie haben es schon erwähnt – ist endgültig klar:Auch bei Gewalt und Verbrechen hat eine Globalisie-rung stattgefunden. Wir müssen hier über nationaleGrenzen hinaus denken. Terrorismus ist international.Deutsche können weltweit zu Zielen von Terrorismusund Verbrechen werden. Leider können auch in Deutsch-

land internationale Gäste, die beispielsweise ihre hier le-benden Verwandten besuchen, zu Opfern von Gewalt-taten werden.

Deshalb legen die Koalitionsfraktionen heute einenGesetzentwurf vor, der eine Regelung für die deutschenOpfer von Gewalttaten außerhalb des deutschen Staats-gebietes und eine Ausweitung des Kreises der An-spruchsberechtigten vorsieht. Ich glaube, das ist sinn-voll, gut und notwendig; das sagte ich schon am Anfang.Die Debatte zeigt, dass der Entwurf eine große Mehrheitim Haus finden wird.

Wir hätten das eigentlich schon vor einem Jahr be-schließen können. Denn — der Kollege von der FDPsagte es — bereits vor 14 Monaten haben sich SPD,CDU/CSU, FDP und Grüne auf einen entsprechendenEntwurf des BMAS geeinigt. Dass wir diesen Entwurferst heute in erster Lesung vorlegen, liegt in der Tat da-ran – liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ichkann Ihnen das nicht ersparen –, dass wir bei der Anpas-sung des Opferentschädigungsgesetzes an heutige Reali-täten neben den Ehepartnern als Anspruchsberechtigteauch Betroffene, die in einer eingetragenen Lebenspart-nerschaft leben, einbeziehen wollten. Das ist heuteselbstverständlich – dachte ich zumindest.

Dennoch hat genau das zu einer über einjährigen Ver-zögerung geführt. Denn unser Koalitionspartner – zu-mindest einzelne davon – weigerte sich, die Einbezie-hung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in dieOpferentschädigung aufzunehmen. Ich finde das sehrtraurig. Herr Montag nannte es beschämend und klein-lich. Dem kann ich nur zustimmen. Ich bin davon ent-täuscht. Aber am Ende haben wir einen Kompromiss ge-funden, und es wurde mir gesagt, dass Sie, Herr Kauder,entscheidend dazu beigetragen haben, dass es zu diesemKompromiss kommen konnte.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ist es!)

Die eingetragenen Lebenspartnerschaften sind im Ge-setz nicht wörtlich erwähnt, aber über den Bezug auf dasBundesversorgungsgesetz sind sie doch einbezogen. Wirhaben bei der Gleichstellung von Schwulen und Lesbenin den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht,was die Pflichten angeht. Wir sind aber noch nicht sehrgut, was die Rechte angeht.

Wir Sozialdemokraten glauben, dass alle Menschenunabhängig von ihrer sexuellen Orientierung die glei-chen Rechte haben sollten. Das muss auch für die Opfer-entschädigung gelten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist auf der Höhe derZeit. Das Opferentschädigungsgesetz wird zu einem Ge-setz, das Ansprüche von Opfern und Hinterbliebenenvernünftig regelt, und zwar in dem Umfang, der heuteerforderlich ist. Hoffen wir, dass wir es möglichst weniganwenden müssen.

(Beifall bei der SPD)

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Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul

Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen

und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf der Tribüneund an den Fernsehgeräten! Heute Morgen auf dem Wegin mein Büro bin ich an einem großflächigen Plakat vomWeißen Ring vorbeigekommen, das an einer S-Bahn-Station hing und auf dem sinngemäß stand: Wenn alleden Täter verfolgen, wer kümmert sich dann um das Op-fer? – Genau um dieses Thema geht es heute in der De-batte über das Opferentschädigungsgesetz, das wir refor-mieren wollen.

Zunächst ein paar Richtigstellungen, Herr KollegeAmann, Herr Kollege Montag. Bei Ihnen kann ich esverstehen, Herr Kollege Amann. Sie gehören ähnlichwie ich in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal die-sem Hohen Hause an. Herr Montag, Sie aber müsstendoch wissen, dass wir bereits in der bisherigen Form desOpferentschädigungsgesetzes den Verweis auf das BVGhaben, wo genau diese Frage der Lebenspartnerschaftenbereits mit Verweis geregelt ist.

(Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-frage)

– Frau Präsidentin, er hat vorhin selber gesprochen.Wenn Sie Wert auf seine Frage legen, würde ich sie zu-lassen. Aus meiner Sicht ist dies aber nicht erforderlich.Wir sind eh schon genug im Verzug.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich frage Sie trotzdem: Lassen Sie die Zwischenfrage

des Kollegen Montag zu?

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich bin nett und lasse sie zu, weil er gesagt hat, dass er

bei dem Gesetz mitmacht.

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin und Herr

Kollege Lehrieder. – Ich möchte Sie fragen, ob Sie dieZeit finden und die Lust haben, sich mit mir nach dieserDebatte für 15 Minuten zusammenzusetzen, damit ichIhnen erklären kann, dass es an einer Stelle im Opferent-schädigungsgesetz einen Verweis auf das Bundesversor-gungsgesetz gibt, dass aber die Bezugnahme, die wirzurzeit haben, genau die beiden Fälle bisher nicht abge-deckt hat, in denen Lebenspartner nicht wie Verheiratetebehandelt worden sind, und dass deswegen eine weitereBezugnahme an zwei Stellen notwendig ist, die in die-sem Gesetzentwurf zusätzlich hinzugekommen ist, da-mit es eine volle Angleichung gibt?

Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen das nocheinmal privatissime erkläre?

Paul Lehrieder (CDU/CSU): Selbstverständlich, Herr Kollege Montag. Erstens bin

ich ein netter Kerl. Zweitens habe ich ein geringesQuäntchen Hoffnung, dass es meiner Wissensmehrungdienen könnte, mit Ihnen noch einmal darüber zu spre-chen. Wir machen das.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den Ausführungen der Vorredner ist bereits sehrdeutlich geworden, dass uns allen gemeinsam ist, denOpfern von Gewalttaten auch dann zu helfen, wenn esnach der bisherigen Form des Opferentschädigungsge-setzes nur unzureichend möglich war.

Wie bereits gehört, gilt das Opferentschädigungs-gesetz nicht für Menschen, die im Ausland Opfer vonGewalttaten wurden. Auch für die Personen, die sich nurvorübergehend in Deutschland aufhalten und weder mitDeutschen noch mit dauerhaft hier lebenden Personenverheiratet oder in gerader Linie verwandt sind, bietetdas bisherige Opferentschädigungsgesetz keinen ausrei-chenden Schutz. Daraus ergeben sich zwingend folgendeFragen:

Erstens. Ist es gerade vor dem Hintergrund der verän-derten weltpolitischen Rahmenbedingungen noch rich-tig, dass das Opferentschädigungsgesetz im Hinblick aufsein Territorialprinzip diese Opfer ausklammert?

Zweitens. Ist es richtig, dass Opfer nur auf die bisherschon möglichen Härtefallleistungen verwiesen werden?

Drittens. Muss die staatliche Opferentschädigung hiernicht weiterentwickelt werden?

Gerade die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in denvergangenen Jahren im Sinne der Opfer nach Antwortenauf diese Fragen gesucht und tragfähige Lösungen ange-boten. Umso mehr freut es mich, dass wir nun gemein-sam mit unserem Koalitionspartner – wie ich gehörthabe, auch mit der FDP und mit den Grünen – ein Gesetzauf den Weg bringen können, das die bisherige Lücke imOpferentschädigungsgesetz schließen wird.

Ich möchte kurz die Regelungen im Einzelnen be-leuchten. Zunächst zu den Deutschen, die im AuslandOpfer von Straftaten wurden. Bei den zu erbringendenLeistungen steht die schnelle medizinische Hilfe zusam-men mit der psychotherapeutischen Betreuung im Vor-dergrund. Bei den vorgesehenen Geldzahlungen handeltes sich um Einmalzahlungen.

Die Höhe der Einmalzahlung ist nach dem Grad derSchädigungsfolgen gestaffelt. Bei einem Grad der Schä-digungsfolgen von 30 Prozent bis 40 Prozent entsprichtsie beispielsweise dem Jahresbetrag der bei Inlandstatenbei gleichem Schädigungsgrad gezahlten Grundrente,also 1 428 Euro. Bei einem Grad der Schädigungsfolgenvon 50 Prozent bis 60 Prozent beträgt die Einmalzahlung5 256 Euro. Es geht hoch bis zu einem Schädigungsgradvon 100 Prozent, bei dem die Einmalzahlung 14 976 Eurobeträgt.

In § 3 a des Gesetzentwurfs zur Änderung des Opfer-entschädigungsgesetzes werden die Leistungen für Hin-

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Paul Lehrieder

terbliebene geregelt. Hinterbliebene – einschließlich derEltern, deren minderjährige Kinder an den Folgen einerGewalttat im Ausland verstorben sind – sollen einen An-spruch auf notwendige psychotherapeutische Maßnah-men haben. Davon abgesehen haben sie Anspruch aufeine Einmalzahlung von bis zu 4 488 Euro. Auch dasmuss gesagt werden: Zu den Beerdigungs- und Überfüh-rungskosten wird ein Zuschuss von bis zu 1 506 Eurogewährt. Leistungsansprüche aus anderen öffentlichenund privaten Versorgungssystemen sind auf die Leistun-gen nach Abs. 2 und 3 anzurechnen.

Nun zu den Menschen, die sich nur vorübergehend inDeutschland aufhalten. Von meinen Vorrednern wurdebereits auf den Fall Solingen hingewiesen. Der Schutz-bereich in § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzeswird vor allem auf Verwandte bis zum dritten Grad aus-gedehnt, die ihre dauerhaft in Deutschland lebendenAngehörigen besuchen. Bislang konnten diese Gruppenlediglich einen Härtefallausgleich nach § 10 b des Opfer-entschädigungsgesetzes erhalten. Es war zwar schon da-mals möglich, eine Entschädigung zu erhalten, aller-dings gab es keinen Rechtsanspruch darauf. Herr Kol-lege Montag, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen.

Jetzt ist sichergestellt, dass Geschädigte bei der Ver-sorgung gegenüber Hinterbliebenen nicht schlechter ge-stellt werden. Allerdings soll der Schutzbereich desOpferentschädigungsgesetzes aus Gründen der Finan-zierbarkeit gerade nicht generell für alle Touristen undGeschäftsreisenden gelten. Gerade der letztgenanntePersonenkreis dürfte oft schon anderweitig, zum Bei-spiel durch eine private Versicherung, abgesichert sein.

Ich freue mich, dass die Gesetzesberatungen in denAusschüssen, die nach dieser heutigen ersten Lesung er-folgen werden, offensichtlich von der großen Mehrheitder Oppositionsfraktionen mitgetragen werden. Von zweiFraktionen habe ich schon Zustimmung signalisiert be-kommen, bei der dritten Oppositionsfraktion habe ichnoch meine Zweifel. Man wird sich überraschen lassen,ob Sie auch zustimmen können, liebe Freunde von denLinken.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Freunde?)

Ich wünsche uns gute Beratungen und hoffe, dass wirnoch in dieser Legislaturperiode das Gesetz auf den Wegbringen können.

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-neten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/12273 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielBahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. KonradSchily, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDP

Moratorium für die elektronische Gesund-heitskarte

– Drucksache 16/11245 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgittBender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. HaraldTerpe, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung bei der Einführung der elektronischenGesundheitskarte gewährleisten

– Drucksache 16/12289 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDaniel Bahr, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Eingangs dieser Debatte will ich ausdrücklich festhalten,dass die FDP die Chancen, die im Einsatz der Informa-tionstechnologie für das Gesundheitswesen liegen, aus-drücklich begrüßt.

Grundsätzlich eröffnet die Telematik im Gesundheits-wesen gute Perspektiven für eine bessere Versorgungund bessere Abläufe. Jedem hier im Hause ist doch völ-lig klar, dass die moderne Informationstechnologie auchEingang ins Gesundheitswesen erhalten muss, wodurchder Ablauf und die Zusammenarbeit verbessert werdenkönnen, weil nicht mehr nur auf Papier und alten Wegengearbeitet wird.

Gerade im Gesundheitswesen müssen wir aber beson-ders die Risiken berücksichtigen, die nun einmal damitverbunden sind, erst recht wenn es sich um solch sen-sible Daten wie die Gesundheitsdaten handelt. Dabeidarf man die Risiken nicht außer Acht lassen.

Im Rahmen der damaligen Gesundheitsreform Seehofer/Schmidt haben CDU/CSU, SPD und Grüne mit einerganz großen Koalition und gegen die Bedenken der FDPbereis 2003 im Gesundheitsmodernisierungsgesetz dieEinführung der elektronischen Gesundheitskarte be-schlossen. Die Realisierung, die mehrfach angekündigtwurde, lässt noch auf sich warten, da ein solch umfas-

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Daniel Bahr (Münster)

sendes System der elektronischen Gesundheitskarte al-lein technisch, aber auch aus Datenschutzgründen ebennicht so einfach einzuführen ist.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Gründlichkeit vor Schnelligkeit!)

Wenn es um die Speicherung von Gesundheitsdatengeht, sollte besondere Vorsicht gelten. Ich will nieman-dem im Hause in Abrede stellen, dass damit keine gutenZiele verfolgt werden. Man stelle sich nur einmal vor,der Arbeitgeber bekäme Kenntnis über die Gesundheitseiner Mitarbeiter oder wüsste von der Erkrankung einesBewerbers, die potenziell dessen Leistungsfähigkeit ein-schränkt. Es ist wohl klar, dass Bürger nicht wollen, dassUnbefugte Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten erhalten.

Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. AlsUnion und SPD den Behörden unter bestimmten Bedin-gungen den Zugriff auf die Computer der Bürger ermög-lichten, war der Aufschrei in der Bevölkerung zu Rechtgroß. Die Möglichkeit des Einblicks in intimste Datender Gesundheit eines Menschen ohne dessen Wissen undEinwilligung dürfte noch eine Steigerung darstellen.

Deshalb muss man bei einem so umfassenden Systemder elektronischen Gesundheitskarte besonders aufmerk-sam und skeptisch werden, wenn ich auch weiß, dass derDatenschutzbeauftragte bisher die hohen Kriterien desDatenschutzes immer wieder angesprochen hat und auchin die Umsetzung eingebunden ist.

Für uns als Liberale ist das Ziel: Wir wollen keinengläsernen Patienten.

(Beifall bei der FDP)

Für die FDP ist Voraussetzung, dass der Versicherte stetsHerr über seine eigenen Daten ist und bleibt. Er soll da-rüber entscheiden, wer welche seiner Gesundheitsdatenzu welchem Zweck nutzen darf. Die Speicherung derNotfalldaten sowie in weiteren Ausbauschritten die elek-tronische Arzneimitteldokumentation und die elektroni-sche Patientenakte müssen dabei auf Freiwilligkeit beru-hen. Der Versicherte kann, muss aber nicht entsprechendeDaten zu diesen Zwecken speichern lassen.

Ich sage Ihnen eines voraus: Ohne die Freiwilligkeitwird dieses Projekt wohl kaum die zum Gelingen erfor-derliche breite Akzeptanz finden. Das sehen wir an demUnmut, der bei den Leistungserbringern und Patientenderzeit bei der Umsetzung der elektronischen Patienten-akte in Deutschland festzustellen ist.

Studien haben aber gezeigt, dass sich das gesamteProjekt um die elektronische Gesundheitskarte erst dannrechnet, wenn diese freiwilligen Zusatzanwendungenauch genutzt werden. Ansonsten übersteigen nämlich dieKosten des Aufbaus einer geeigneten Infrastruktur denaus dem Projekt entstehenden Nutzen, wie die Studiendarlegen.

Schon häufig konnte man in anderen Bereichen erle-ben, wie hohe Datenschutzstandards aufgeweicht wur-den. Freiwillige Anwendungen können schnell zu Pflicht-anwendungen werden, wenn damit in einem finanziellstets auf Kante genähten Gesundheitssystem Kosten ein-

gespart werden sollen. Genau das ist unsere Sorge. Versi-cherten und Behandlern könnten mehr oder wenigerzwingende Anreize gesetzt werden, sich entsprechend zubeteiligen. In einem Gesundheitswesen, das immer stär-kere zentralistische und dirigistische Züge aufweist, darfder nächste Schritt jedoch nicht darin bestehen, denSchutz sensibelster und intimster Daten gegen vermeint-liche finanzielle Vorteile auszuspielen. Es ist kaum vor-stellbar, dass die Versicherten vor die Wahl zwischenfinanziellem Vorteil und Wahrung ihrer eigenen Persön-lichkeitsrechte gestellt werden. Dann wäre es in der Tatnicht mehr weit zum gläsernen und vor allem staatlichsteuerbaren Patienten.

Die bisherigen Tests haben mehr Fragen aufgeworfenals Antworten gegeben. Ich möchte einige Problemenennen. In Schleswig-Holstein bzw. in Flensburg, woTests durchgeführt wurden, gab es Probleme mit der Ge-heimnummer, der sechsstelligen PIN. Sobald die Pro-bleme zutage traten, kam der Vorschlag vonseiten derPolitik, der Exekutive und vieler anderer Bereiche, aufdie Eingabe der Geheimnummer zu verzichten. Daszeigt, wie schnell es dazu kommt und wie gefährlich esist, dass hohe Datenschutzstandards, die ursprünglichvorgegeben worden sind, in der praktischen Umsetzungsehr schnell aufgeweicht werden können.

Die hohen Datenschutzstandards müssen auch weiter-hin gewährleistet werden. Große Mengen sensibelsterDaten quasi in einer Hand zu bündeln, birgt ohne Zwei-fel Gefahren. Deswegen meinen wir: Nach dem gläser-nen Bankkunden und dem gläsernen Internet-User darfjetzt nicht auch noch der gläserne Patient drohen.

(Beifall bei der FDP)

Es wurde angesprochen, dass das Vorhaben nicht zuzusätzlicher Bürokratie führen soll. Das Ausstellen einesRezepts dauert nach Aussage eines am Test teilnehmen-den Internisten nun dreimal und das Einlesen der Karteviermal so lange wie bisher.

Was wir derzeit als Umsetzung erleben, betrifft beiweitem noch nicht die elektronische Gesundheitskarte,auch wenn das wahrscheinlich gleich wieder so verkauftwird, sondern es ist, wenn überhaupt, nur eine Vorstufedessen, was noch alles kommen soll. Schon hierbei wer-den Probleme deutlich. Die AOK Rheinland will, wie siejetzt in der Öffentlichkeit kundgegeben hat, die Kartenerst dann ausgeben, wenn sichergestellt ist, dass dieÄrzte zur Teilnahme am Onlinebetrieb verpflichtet sind.

Die privaten Krankenversicherungen – das war vor-gestern zu lesen – steigen mittlerweile aus dem Projektaus. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassensich in Zeitungen ohne Namen mit der Feststellung zitie-ren, die elektronische Gesundheitskarte sei politisch tot.

Für uns ist deshalb eines ganz wichtig: Wir wollen dasPrinzip der Freiwilligkeit für Versicherte, Ärzte undKrankenhäuser bei der Nutzung der Gesundheitskartegewährleistet haben. Wir wollen nicht, dass ein Druckzur schnellen Umsetzung dieses umfassenden Konzeptsder elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immernoch viele Fragen und Sorgen aufwirft. Deswegen habenwir von der FDP einen Antrag eingebracht, der ein Mora-

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Daniel Bahr (Münster)

torium für die elektronische Gesundheitskarte vorsieht.Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, biswirklich sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen derDatensicherheit erfüllt sind. Das ist aus unserer Sichtnoch nicht gegeben. Deswegen darf hier nicht mit Druckan der Umsetzung gearbeitet werden. Wir sollten unsvielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alleoffenen Fragen geklärt sind.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Koschorrek,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ein-

führung der elektronischen Gesundheitskarte, vomVolksmund kurz als E-Card bezeichnet, gilt sicherlichweltweit als eines der anspruchsvollsten Vorhaben derInformationstechnik im Gesundheitswesen, jedenfallswas die Größe der betroffenen Population angeht. Es be-steht nun offenbar bei der FDP-Fraktion die Sorge, dassdie E-Card zu schnell – in Ihrem Antrag heißt es: über-eilt – eingeführt wird.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Die begründete Sorge!)

Die Fraktion der Grünen nutzt die Gelegenheit, kurzfris-tig einen Antrag zur elektronischen Gesundheitskartenachzuschieben. Im Wesentlichen wird darin gefordert,was bereits in dem von Ihnen geforderten Sinne geregeltbzw. selbstverständlich ist. Nur ein Beispiel: Sie findenlobende und anerkennende Worte für die Vorkehrung zurDatensicherheit bei der E-Karte. Sie fügen hinzu: Somuss es bleiben. – Neu ist allerdings die absolut unrea-listische Forderung, dass es den Leistungserbringern,den Arztpraxen, freigestellt sein soll, an der Nutzung derE-Card teilzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass das sonicht funktionieren kann.

Die zentrale Forderung der FDP lautet, die Einfüh-rung der E-Card auf Eis zu legen, weil – so befürchtenSie – die Erfüllung zentraler Anforderungen wie die Da-tensicherheit, die Freiwilligkeit und die Gewährleistungeines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses nichtgarantiert sei. Ich kann Ihnen versichern, dass die Uniondie in Ihrem Antrag geäußerten Anliegen und Sorgensehr ernst nimmt. Für uns, die CDU/CSU, haben die Da-tensicherheit bei der Einführung der elektronischen Ge-sundheitskarte und die Selbstbestimmung des Patientenüber seine Daten absolut oberste Priorität.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist auch für uns eine Selbstverständlichkeit, dassdie Alltagstauglichkeit der E-Card eine unverzichtbareVoraussetzung für die Einführung in die ärztliche Praxisist. Wir wissen aber auch und sollten es ehrlich eingeste-hen, dass anspruchsvolle und hochkomplexe technischeNeuerungen nur selten von heute auf morgen perfekt

funktionieren. Es liegt in der Natur eines so hochkompli-zierten und anspruchsvollen technischen Projektes wieder E-Card, dass sie immer weiterentwickelt, verbessertund an neue, zusätzliche Anforderungen angepasst wird.Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,dass auch bei Toll Collect die Startschwierigkeiten ex-trem waren. Heute haben wir ein – unstrittig – im inter-nationalen Vergleich einmalig gut funktionierendes Sys-tem implementiert.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber derWunsch, auf die Daten zuzugreifen, ist gefähr-lich! Schlechtes Beispiel, Herr Kollege! –Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist ein Beispieldafür, dass alles anfangs in die Hose ging!)

– Das ist ein gutes Beispiel, das auch durch Zwischen-rufe nicht schlecht gemacht werden kann.

Der Vorwurf einer übereilten und unbedachten Ein-führung mutet in dieser Situation nahezu absurd an. Esist Ihnen doch bekannt – falls nicht, möchte ich es nocheinmal in Erinnerung rufen –, dass die bundesweiten Or-ganisationen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesenbereits seit Ende der 90er-Jahre als Aktionsforum „Tele-matik im Gesundheitswesen“ mit dem Thema der elek-tronischen Gesundheitskarte und den möglichen Inhaltentelematischer Anwendungen befasst sind. Schon vorfünf Jahren, im Jahre 2004, wurde bereits die rechtlicheGrundlage für die E-Card mit dem Gesetz zur Moderni-sierung der gesetzlichen Krankenversicherung gelegt.Die Anforderungen an die Datensicherheit und die Funk-tionen der E-Card sind im SGB V verankert. Die ur-sprünglich für das Jahr 2006 geplante flächendeckendeEinführung der E-Card wurde verschoben. Die Test-ergebnisse zeigten damals noch viele Unzulänglichkei-ten, die zwischenzeitlich behoben sind.

Die flächendeckende Einführung erfolgt jetzt schritt-weise, über einen längeren Zeitraum gestreckt. Im erstenQuartal 2009 hat der sogenannte Roll-out der elektroni-schen Gesundheitskarte in der KV-Region Nordrheinbegonnen. Die Einführung der E-Card wird sich in meh-reren Etappen vollziehen. Die verschiedenen Karten-funktionen werden in verschiedenen Ausbaustufen erstnach und nach zum Einsatz kommen. Die letzte Stufewird die umfassende elektronische Patientenakte sein.Bei allen Stufen vorher geht es überhaupt nicht darum,dass sensible Patientenakten öffentlich verfügbar ge-macht werden. Es ist sichergestellt, dass die Patientenselber und in eigener Verantwortung darüber entschei-den, in welchem Umfang Daten gespeichert oder ge-löscht werden sollen und wem sie diese Daten zugäng-lich machen wollen.

(Zuruf von der FDP: Eben nicht!)

Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Jeder Versichertemuss wissen, dass es allein seine persönliche und frei-willige Entscheidung ist, welche Daten gespeichert wer-den und wer sie lesen kann. Es besteht kein Anlass, dieVersicherten und Patienten zu verunsichern; denn dieverpflichtend auf der E-Card hinterlegten Daten stim-men im Wesentlichen mit den Informationen überein, die

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Dr. Rolf Koschorrek

auf der bisherigen Krankenversichertenkarte gespeichertsind:

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)

Name, Geburtsdatum, Geschlecht, Anschrift und Kran-kenversicherungsnummer. Als zusätzliche verpflich-tende Funktion kommt das elektronische Rezept hinzu.

Darüber hinaus können die Versicherten und Patien-ten freiwillig persönliche Gesundheitsdaten speichernlassen. Es ist sichergestellt, dass für diesen freiwilligenBereich strenge Datenschutzregeln gelten. Der Zugriffauf die Daten ist nur mit der Kombination aus persönli-cher Geheimnummer des Patienten und elektronischemHeilberufeausweis möglich, der zentraler Bestandteildes Sicherheitskonzepts der E-Card ist. Nur mit dieserLegitimation ist es möglich, Daten von der Gesundheits-karte zu lesen oder elektronische Rezepte und medizini-sche Daten zu speichern bzw. zu lesen.

Wer trotz aller Vorkehrungen und Maßnahmen zumSchutz der Daten gleichwohl Bedenken hat, wird in eineSpeicherung seiner Gesundheitsdaten sicherlich nichteinwilligen. Für diejenigen bleibt hinsichtlich der Kom-munikation, Dokumentation, Bereitstellung und Nut-zung ihrer Gesundheitsdaten alles wie bisher. Das Prin-zip der Freiwilligkeit ist in diesem System elementar; eswird auch künftig nicht infrage gestellt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Carola Reimann [SPD])

Für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswe-sens, für die Patienten und Leistungserbringer bringt dieVernetzung von Gesundheitsdaten, wie sie mit der Ein-führung der elektronischen Gesundheitskarte möglichist, eine ganze Reihe von Vorteilen. Belastende und teureMehrfachuntersuchungen wie doppeltes Röntgen oderdoppelte Laboruntersuchungen können vermieden wer-den. Ärzte und Patienten haben einen schnelleren undbesseren, vollständigen Überblick über den Gesund-heitsstatus, zum Beispiel hinsichtlich Grunderkrankun-gen, Impfungen, Allergien, Vorsorgeuntersuchungen,des Verlaufs chronischer Erkrankungen und individuel-ler Risiken des Patienten. Das mühsame und zeitaufwen-dige Dokumentieren bzw. Suchen von Vorbefunden ent-fällt. Die Behandlungsqualität kann verbessert werden,wenn die Behandlungen besser aufeinander abgestimmtwerden und sich sinnvoll ergänzen. Mit der Arzneimit-teldokumentation werden Kontraindikationen und Dop-pelverordnungen vermieden. Im Notfall sind wichtigeDaten deutlich schneller verfügbar.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So muss es sein!)

Wir sind als Politiker dafür verantwortlich, dass dieneuen technischen Möglichkeiten mit all ihren Vorteilenfür die Bürger genutzt werden. Zugleich setzen wir unsfür größtmögliche Datensicherheit ein und verfolgenkonstruktiv und kritisch die Aktivitäten der gemeinsa-men Selbstverwaltung, die in der Gesellschaft Gematikgebündelt sind. Weil wir die Kritik und die Sorgen hin-sichtlich der Datensicherheit ernst nehmen, tun wir alles

dafür, dass der Schutz und die technische Sicherheit dersensiblen Gesundheitsdaten höchsten Anforderungenentsprechen.

Die E-Card wurde in enger Abstimmung mit demBundesbeauftragten für den Datenschutz entwickelt; erwird auch die weitere Entwicklung und Anwendung derelektronischen Gesundheitskarte beeinflussen, sie unter-stützen und kritisch begleiten. Datensicherheit und Da-tenschutz sind im Rahmen unserer gesetzlichen Mög-lichkeiten voll gewährleistet.

Die Nutzung der E-Card ist nicht zuletzt auch eineBasis dafür, dass die Nutzung der Telematik im Gesund-heitswesen in breitere Bevölkerungskreise Einzug hält.Ich bin sicher, dass es bald eine Selbstverständlichkeitsein wird, die Vorteile der Telematik zu nutzen.

Gestatten Sie mir zum Schluss einige ganz persönli-che Gedanken zur Telematik, nicht aus Sicht des Politi-kers, sondern des Versicherten und Patienten. In einemLand wie der Bundesrepublik Deutschland, einem High-techland, erwarte ich im Jahr 2009 vom Gesundheitswe-sen eine Plattform, bei der ich, egal wo ich in Deutsch-land einen Arzt oder eine Klinik aufsuche, mit meinerEinwilligung, meinem Schlüssel, zusammen mit meinemBehandler Zugang zu meinen vollständigen medizini-schen Daten, zu Dokumenten, Bildern, Untersuchungs-ergebnissen und Befunden habe, egal von wem, wannund wo sie erhoben worden sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich weiß – verschiedene neue Umfragen belegen dieseindeutig –, dass diese Erwartung von einer überwiegen-den Mehrheit unserer Bürger und vor allem der Patientengeteilt wird. Dieses Thema ist zu wichtig für die Men-schen, als dass man es um den Preis einer Schlagzeilemit populistischen Phrasen wie „Angst vor dem gläser-nen Patienten“ belegen sollte. Lassen Sie uns die Einfüh-rung neuer Technologien zum Wohle der Patienten kon-struktiv gestalten!

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Frak-

tion die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Frank Spieth (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Die Ziele, die HerrKoschorrek eben erneut formuliert hat, kann man in derTat zum großen Teil unterstreichen. Die gemeinsameSelbstverwaltung hat es nach Einbringung des Gesetzesnicht geschafft hat, die datenschutzrechtlichen Voraus-setzungen für die Einführung der Gesundheitskarte zuerfüllen. Daher musste das Bundesgesundheitsministe-rium im Oktober 2006 eine Verordnung erlassen, in derfestgelegt wurde, dass die Gesundheitskarte vor ihrerEinführung einem vierstufigen Testverfahren unterzogenwerden muss. Dieses Verfahren ist jetzt geltendes Recht

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Frank Spieth

und unbedingt einzuhalten. Offenkundig wird sich aberdie Betreibergesellschaft Gematik nicht daran halten.Der 100 000er-Test soll offenbar nicht durchgeführt wer-den. Dennoch wird schon jetzt mit der flächendeckendenAusgabe der Karten in Nordrhein begonnen. Das istrechtswidrig. Wenn die Bundesregierung ihre eigeneVerordnung ernst nimmt, müsste sie eingreifen. Tut Siees nicht, macht sie einen schweren Fehler.

Nicht nur rechtlich, sondern auch fachlich kritisierenwir dieses Vorgehen. Die einzige Technik, die überhauptgetestet wurde, waren zentrale Onlinespeicherserver, dieüber Internet erreichbar sind.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Keine Alterna-tive!)

Überall, wo auf zentralen Servern viele sensible Datengespeichert sind, wachsen natürlich Begehrlichkeiten.Durch die Onlinevariante wird es bei allem Datenschutzmöglich, darauf zuzugreifen. Der Schlüssel dazu wirdbei der Ausgabe der Karte von der Krankenkasse erzeugtund an den Kartenhersteller ausgeliefert. Er wird zudemfür den Fall des Verlustes der Karte bei einem soge-nannten Treuhänderdienst hinterlegt. An diesen dreiStellen – Kassen, Kartenhersteller und Treuhänder-dienst – finden sich Angriffspunkte für Interessenten anden Daten. Aber zumindest Krankenkassen, Arbeitge-bern und Versicherungen darf man durchaus ein gewis-ses wirtschaftliches Interesse an diesen Daten unterstel-len.

Am Horizont sehe ich auch schon Herrn Schäubleauftauchen, der diese Daten möglicherweise zur Terror-bekämpfung haben möchte.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist billigster Populismus!)

Mit dem jetzt vorhandenen Gesetz ist nach meiner Auf-fassung nicht gewährleistet, dies zu verhindern. Die Vor-ratsdatenspeicherung der Telefon- und E-Mail-Verbin-dungsdaten zeigt schon jetzt, wie einfach es ist, Daten,die zunächst für Rechnungszwecke gespeichert wurden,nun zur Bekämpfung von Kriminalität heranzuziehen.

Wenn man an der Onlinevariante der Gesundheits-karte festhält, dann muss nach meiner Auffassung we-nigstens der Schutz der Daten Verfassungsrang haben.Dieses Problem könnte mit einer dezentralen Offlineva-riante der Karte, zum Beispiel einem USB-Stick, gelöstwerden. Die Firma Gematik hat im Oktober 2008 derÄrzteschaft zugesagt, diese dezentrale Speichermöglich-keit zu erproben. Das ist bislang nicht geschehen. Ichvermute, dass eine ernsthafte Prüfung auch nicht mehrstattfinden wird; andernfalls schaffte man in Nordrheinkeine vollendeten Tatsachen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ablenkung!)

Für die gesetzlich vorgesehenen Funktionen der Kartebenötigt man keine zentralen Onlineserver. Aber manwill sie durchsetzen, weil man sie für die sogenanntenMehrwertdienste nutzen will. Dahinter verbergen sichviele Anwendungen, mit denen private Firmen Gewinnerzielen können. Ob diese Anwendungen der Gesundheitnutzen, ist nach meiner Auffassung sehr fraglich.

Die Linke fordert deshalb: Die geltenden Daten-schutzregelungen müssen ohne Wenn und Aber einge-halten werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die informationelle Selbstbestimmung der Patientenmuss gewahrt werden. Die Gesundheitskarte, die vonden Beitragszahlern mit Milliarden vorfinanziert wird,darf nicht zur privaten Profiterzielung nutzbar gemachtwerden. Der staatliche Zugriff auf Gesundheitsdatenmuss kategorisch ausgeschlossen werden. Die100 000er-Tests müssen durchgeführt werden.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer fordert denn etwas anderes?)

Außerdem muss die dezentrale Offlinelösung tatsächlichgetestet werden. Erst danach darf über eine flächende-ckende Ausgabe der Gesundheitskarte verhandelt wer-den.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Addicks[FDP]: Gar nicht so schlecht! – Daniel Bahr[Münster] [FDP]: Das heißt, Sie stimmen un-serem Antrag zu?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staats-

sekretärin Marion Caspers-Merk.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich muss schon ein bisschen über die Einlassungen stau-nen, die vonseiten der FDP und vonseiten Herrn Spiethsfür die Linke vorgetragen wurden. Wir haben doch überJahre hinweg darüber diskutiert, dass die Missbrauchs-möglichkeiten der jetzigen Karte enorm sind. Gerade imFachausschuss wurde immer wieder kritisiert, dass dieDatenunsicherheit der jetzigen Krankenversicherten-karte, die nicht spezifisch gesichert ist, groß ist

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Kein Wider-spruch!)

und dass wir aus diesem Grunde eine neue elektronischeGesundheitskarte brauchen, die einen deutlichen Mehr-wert hat. Darin waren wir uns einig.

Interessant ist doch, dass selbst die Dinge, die imFachausschuss klar waren – der Datenschutzbeauftragtewar doch bei uns –, von Ihnen überhaupt nicht mehr dar-gestellt werden. Ich zitiere Ihnen gerne aus dem jüngstenBrief des Datenschutzbeauftragten an Frau Pfeiffer vomSpitzenverband Bund der Krankenkassen, in dem erschreibt:

Im Zusammenhang mit der Roll-out-Planung sindin den letzten Wochen einige Fragen mit erhebli-cher datenschutzrechtlicher Brisanz diskutiert wor-den. Vor allem die Frage der Verbesserung desSchutzniveaus der Versichertendaten durch dieelektronische Gesundheitskarte war Gegenstandzahlreicher Schreiben. Dabei habe ich deutlich ge-macht, dass mein Anliegen die schnellstmögliche

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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk

Beseitigung des technologisch begrenzten Schutz-niveaus der derzeitigen Krankenversichertenkarteist. Ich sehe durch die Einführung der elektroni-schen Gesundheitskarte sowohl in diesem konkre-ten Fall als auch in anderen Fällen eine großeChance, eine generelle Verbesserung des Daten-schutzniveaus zu erreichen.

Das rückt die Dinge doch wieder zurecht.

Die neue Karte hat ein höheres Schutzniveau, und sielöst die alte Karte mit einem niedrigeren Schutzniveauab. Was will die FDP? Sie will ein innovations- und fort-schrittsfeindliches Moratorium. Sie springen von einemfahrenden Zug ab, nur um sich Überschriften zu sichern.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Nein!)

Das kann von uns auf keinen Fall gutgeheißen werden.

(Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster][FDP]: Die PKV steigt aus, die AOK Rhein-land gibt die Karte nicht aus!)

Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann muss manFolgendes feststellen: Sie haben auf der einen Seite – –

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wenn man begrün-dete Zweifel hat, sollte man sie äußern!)

– Herr Bahr, Sie können gerne eine Zwischenfrage stel-len. Das verlängert meine Redezeit. Ich bin dazu bereit.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Bahr, überwiegend hat in einer Debatte

die Rednerin das Wort. Wenn Sie etwas sagen wollen,dann stellen Sie eine Zwischenfrage.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das mache ich jetzt!)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Gerne.

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Frau Staatssekretärin, Sie erwecken den Eindruck, als

ob alles fantastisch läuft. Ich möchte nur einmal an dieNachrichten der letzten Tage erinnern. Der Verband derprivaten Krankenversicherung hat öffentlich gesagt, dasser aussteigt. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassenlassen sich mit der Aussage in den Zeitungen zitieren,das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte sei poli-tisch tot. Die AOK Rheinland weigert sich, in Nord-rhein, wo die erste Umsetzung dieses Projektes stattfin-den soll, die Karten weiter auszugeben, weil wesentlicheFragen aus Sicht der AOK Rheinland noch nicht geklärtsind. Sie tun so, als ob alles funktioniert und die FDP nureinen Schauantrag stellt. Das entspricht doch überhauptnicht der Nachrichtenlage der letzten Tage.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Herr Kollege Bahr, das, was Sie sagen, ist falsch. Ers-tens. Die AOK Rheinland ist nicht gegen die Ausgabeder Versichertenkarte; sie möchte vielmehr weitere Prü-fungen, was die Fragen der Onlinenutzung und des Roll-outs angeht. Aber die Karten werden planmäßig ausge-teilt.

Zweitens. Die privaten Krankenversicherungen möch-ten gerne mitmachen, sie möchten aber eine klare Basis,um auf dieser Grundlage ihre Entscheidung weiterhinvertreten zu können.

Drittens. Wenn Sie sich die Geschichte der elektroni-schen Gesundheitskarte anschauen, dann stellen Sie fest,dass wir immer dafür sorgen mussten, dass diese Innova-tion überhaupt voranging, und dass immer wieder ein-mal Sperrfeuer von Einzelnen kam, die sich vor derTransparenz fürchten, die die neue Karte bietet. Das istder eigentliche Grund. Die Kreise, die das verhindernwollen, bedienen Sie noch mit Ihrem Antrag.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Aber die AOKRheinland ist derzeit nicht bereit, die Karteauszugeben!)

Überhaupt nicht begreifen kann ich, dass Sie dasThema PIN noch einmal problematisieren. Gerade diePIN und der doppelte Schutz durch die beiden Zugangs-schlüssel war der Grund, warum der Datenschutzbeauf-tragte von einem hohen Schutzniveau sprach. Jetzt pro-blematisieren Sie die PIN, die sich eigentlich überallbewährt hat. Ich kann Sie da nicht ganz verstehen. Waswollen Sie denn nun: ein höheres oder ein niedrigeresSchutzniveau?

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: In den Test-regionen wird das problematisiert!)

Frau Kollegin Bender, Sie haben nach mir die Gele-genheit, uns den Gesinnungswandel der Grünen ausführ-lich zu erläutern.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Gerne!)

Ich muss mich schon sehr wundern: Die einen sagen, wirbrauchen ein Moratorium, weil noch gar nicht klar ist, zuwie vielen Anwendungen es wirklich kommt und ob essich rechnet, und Sie sagen jetzt, die Anwendungen sindbei den Leistungserbringern freiwillig. Bei Freiwilligkeitder Nutzung der Versichertendaten sind die Kosten destechnologischen Projektes überhaupt nicht effizient zuberechnen. Was ist das für eine Haltung?

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das erkläre ich Ihnen gleich!)

Schließlich haben Sie an der Einführung mitgewirkt.Man staunt schon über die verschiedenen Roll-backs, diewir bei der elektronischen Gesundheitskarte zu verzeich-nen haben.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Grünen sind halt schlauer geworden!)

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Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk

Ich bleibe dabei: Das ist ein wichtiges Projekt, das mitInnovationen für Patientinnen und Patienten verbundenist. Wir können nicht zurück in die technologische Stein-zeit, sondern wir müssen dahin kommen, dass der Pa-tient und die Patientin letztlich darüber entscheiden, wieihre Daten verwendet werden. Sie müssen in die Lageversetzt werden, zum Beispiel ihre elektronische Patien-tenakte einzusehen oder dafür zu sorgen, dass die Infor-mationen zwischen den einzelnen Arztgruppen fließen.Dieser Mehrwert für die Patientinnen und Patienten kanneinfach nicht hoch genug angesetzt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich muss Sie jetzt fragen, ob der Kollege Spieth noch

eine Zwischenfrage stellen darf?

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Ich habe meine Redezeit schon überschritten.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nein, Sie sind noch in Ihrer Redezeit; sonst würde ich

die Zwischenfrage nicht zulassen.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Dann gerne.

Frank Spieth (DIE LINKE): Herzlichen Dank für die Zulassung meiner Zwischen-

frage.

Frau Staatssekretärin, zwei konkrete Fragen. Erstens.Das BMG hat 2006 ein vierstufiges Testverfahren fest-gelegt, das vor der flächendeckenden Einführung derGesundheitskarte zu realisieren ist. Der letzte Test, ge-nauer: drei Tests mit 100 000 Versicherten, die in dreiRegionen in Deutschland durchgeführt werden sollten,werden offenkundig nicht mehr durchgeführt. Ist dasrichtig oder falsch?

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben wir auch schon mehrfach gefragt!)

Zweitens. Ist die Zusage der Selbstverwaltung gegen-über der deutschen Ärzteschaft, dass eine USB-Stick-Lösung, also eine Lösung, die eine dezentrale Speiche-rung vorsieht, gefunden werden soll, eine Zusage, dievor einer flächendeckenden Ausrollung der Gesund-heitskarte eingehalten werden muss und wird, ja odernein?

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Herr Kollege Spieth, gerne beantworte ich Ihnendiese Fragen. Sie hatten bereits Gelegenheit, mit derFachabteilung unseres Hauses genau diese beiden Fra-gen zu erörtern. Vor 14 Tagen fand dazu ein Treffen mitdem zuständigen Referatsleiter statt.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Sagen Sie es hier ru-hig noch einmal!)

Ich beantworte diese Fragen aber gern noch einmal imPlenum.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Genau, öffent-lich!)

Zur ersten Frage. Wir haben Ihnen schon damals er-läutert, dass die 100 000er Testphase durchgeführt undin die Roll-out-Phase integriert wird.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!)

Deswegen liegt unseres Erachtens kein Rechtsverstoßvor.

Zur zweiten Frage. Das Thema USB-Stick wird be-wertet werden. Es gibt grundsätzliche Bedenken hin-sichtlich der Datensicherheit. Deshalb ist die Frage derAnwendung anders als die Frage der Bewertung vonChancen und Risiken. Eine solche Bewertung wirdselbstverständlich vorgenommen. Auch das habe ich Ih-nen bereits vor 14 Tagen erläutert.

Schönen Dank.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, mir liegt ein weiterer Wunsch nach ei-

ner Zwischenfrage vor, und zwar des Kollegen Ströbele.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Gerne.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, dass ich noch dieGelegenheit zu dieser Frage bekomme.

Ich bestreite nicht, dass es Überlegungen gibt, die da-für sprechen, eine solche Gesundheitskarte einzuführen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben ja seinerzeit zugestimmt, Herr Ströbele!)

Was sagen Sie zu dem sogenannten Mautdateien-Argu-ment – es spielt in der öffentlichen Diskussion eine ganzerhebliche Rolle, gerade bei den Datenschützern, bei be-sorgten Initiativen –, dass dann, wenn Daten in einer Da-tei gespeichert und verfügbar sind, immer wieder Be-gehrlichkeiten geäußert werden, diese Daten für allemöglichen anderen Zwecke zu nutzen,

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Maut!)

und dass das Vertrauen der Bevölkerung darauf, dass einsolcher Missbrauch, also eine Nutzung dieser Daten füranderweitige Zwecke, durch ein Gesetz ausdrücklichausgeschlossen ist, zutiefst erschüttert ist, seitdem derUmgang der Bundesregierung mit der Mautdatei be-kannt geworden ist?

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Zum Beispiel!)

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Hans-Christian Ströbele

Nachdem der entsprechende Gesetzentwurf verabschie-det und diese Datei angelegt worden war, hat die Bun-desregierung das Gesetz geändert, um die zu einem ganzanderen Zweck – zum Erheben von Gebühren – erhobe-nen Daten anderen Zwecken zuführen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer hat denndie elektronische Karte beschlossen, HerrStröbele? Das waren doch die Grünen! Sie ha-ben überall mitgemacht!)

Seitdem ist nicht mehr das nötige Vertrauen in die Poli-tik und in den Gesetzgeber vorhanden, dass einmal ange-legte Dateien sicher sind. Was sagen Sie dazu?

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, das gibt mir Ge-legenheit, Ihnen noch einmal zu erläutern, dass seit 2004ein Zugriffsverbot gesetzlich geregelt ist.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht im Mautgesetz auch!)

Dieses Verbot kann nicht umgangen werden. Wer illega-lerweise auf Daten zugreift, macht sich strafbar. Weil essich um sensible Patientendaten handelt, haben wir dasim Gesetzgebungsverfahren mit einem hohen Sicher-heitsniveau verankert. Ich bin Ihnen für die Frage wirk-lich sehr dankbar. Mit dieser Patientendatenstruktur ha-ben wir ein hohes Schutzniveau sichergestellt. Manbraucht zwei Schlüssel, um an die Daten heranzukom-men, nämlich vom Patienten und vom Leistungserbrin-ger, der den elektronischen Heilberufsausweis hat. Mitder PIN gibt es einen zusätzlichen Schutz. Wir haben imGesetzgebungsverfahren geregelt, dass die Daten nichtfür andere Zwecke an Dritte, weder an Arbeitgeber nochan staatliche Stellen, weitergegeben werden dürfen. Da-mit haben wir sehr frühzeitig und in enger Kooperationmit dem Bundesdatenschutzbeauftragten für ein hohesDatensicherheitsniveau gesorgt.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Damit haben wir keinen Schutzgegenüber dem Gesetzgeber!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Ströbele, das geht jetzt nicht mehr.

(Dr. Karl Addicks [FDP]: Wir sind hier nicht in der Fragestunde, Herr Kollege!)

Das Wort hat die Staatssekretärin Caspers-Merk. Odersind Sie mit Ihrer Rede am Ende?

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei derBundesministerin für Gesundheit:

Ja. Das war eigentlich keine Zwischenfrage, sonderneine Frage am Ende meiner Rede. Ich habe natürlichsehr gern die Gelegenheit genutzt, die Redezeit zu ver-längern. Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender,

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie

man die elektronische Gesundheitskarte gegen die Wandfahren kann, hat vor wenigen Wochen der Vorstandsvor-sitzende einer großen westdeutschen Krankenkasse vor-geführt; davon war schon die Rede. Wenn man sagt, wirmachen das mit der Karte nur, wenn Ärztinnen undÄrzte verpflichtet werden, am späteren Onlinebetriebder Karte teilzunehmen, dann wird man die Karte gegendie Wand fahren.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!)

Es scheint noch nicht bei allen Beteiligten angekom-men zu sein – Frau Staatssekretärin, das ist auch eineMahnung an Sie –, dass es sich nicht um ein herkömmli-ches Großprojekt handelt, bei dem man vielleicht hoffenkann, es einfach so durchdrücken zu können. Bei derelektronischen Gesundheitskarte ist klar: Sie ist auf dieAkzeptanz ihrer potenziellen Anwenderinnen und An-wender angewiesen; denn die Funktionen, die über dieSpeicherung der Verwaltungsdaten und das elektroni-sche Rezept hinausgehen, lassen sich – richtigerweise –nur mit Zustimmung der Patienten und Patientinnen akti-vieren. Wenn Sie sie dafür nicht gewinnen, dann wirddie E-Card nichts anderes bleiben als eine Krankenver-sicherungskarte mit Foto. Eine solche hätte man deutlichschneller und billiger haben können.

Ob sich Patienten und Patientinnen für oder gegen dieGesundheitskarte entscheiden, wird auch davon abhän-gen, wie sich die sie behandelnden Ärzte und Ärztinnensowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe dazu ver-halten. Wie sie sich aufstellen werden, wenn sie zurOnlineanwendung der Karte gezwungen werden, kannman sich vorstellen, wenn man daran denkt, was Ärztin-nen und Ärzte sonst so tun, wenn sie Kritik vorzubringenhaben. Das Freiwilligkeitsprinzip muss also auch für siegelten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt für die E-Card viele gute Argumente. Sieschafft die informationstechnische Grundlage für mehrZusammenarbeit im Gesundheitswesen. Sie kann fürmehr informationelle Selbstbestimmung der Patientin-nen und Patienten sorgen. Sie kann insbesondere zumPatientenschutz beitragen, indem sie einen Damm gegendie drohende Kommerzialisierung elektronischer Patien-tenakten errichten hilft.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es! Genau das ist der Punkt!)

Angebote privater Firmen, die durch ihre Anbindung andas Internet höchst unsicher sind und keine Gewähr da-für bieten, dass die Patientendaten nicht kommerziellweiterverwendet werden, wollen wir nicht. Im Vergleichdazu sind die Regelungen für die E-Card unter daten-schutzrechtlichen Aspekten nahezu vorbildlich.

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Birgitt Bender

(Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Das ändert aber nichts daran – daran kann man politischnicht vorbeigehen –, dass es in Teilen der Ärzteschaftund auch unter Bürgerrechtlern Befürchtungen im Hin-blick auf den Datenschutz gibt.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Berechtigte!)

Die notwendige Akzeptanz für die Karte wird deshalbnur zu erreichen sein, wenn die Bundesregierung wirk-lich glaubhaft machen kann, dass die gesetzlichen Ga-rantien für den Datenschutz strikt eingehalten werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])

In diesem Zusammenhang, lieber Herr KollegeKoschorrek, war Ihr Vergleich mit dem Mautgesetz nichtpassend. Da war es doch genau so, dass der liebe HerrSchäuble, kaum dass die Datei existierte, schon Zugriffauf die Daten nehmen wollte.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Genau, richtig! Das geht nach hinten los!)

Für die Gesundheitsdaten muss daher gelten: Sie müssenfür alle Zeiten vor der Datenkrake Schäuble sicher sein.Dafür werden wir kämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN)

Datenschutz ist eben keine unzulässige Zumutung ge-genüber dem reibungslosen Betrieb der Informa-tionstechnik, sondern ein Grundrecht der Bürgerinnenund Bürger.

In der Diskussion um diese Karte dominieren bishertechnische, gesundheitspolitische, auch industriepoliti-sche Aspekte. Wenn die Gesundheitskarte aber tatsäch-lich das halten soll, was sich viele von ihr versprechen,muss für ihre weitere Ausgestaltung die Patientenper-spektive zu einem entscheidenden Kriterium werden.Dann müssen sich auch verschiedene Gruppen von Pa-tientinnen und Patienten darin wiederfinden können,nicht nur der junge IT-Freak, der mit einer solchen Kartesicherlich gut zurechtkommt, sondern auch ältere oderbehinderte Menschen. Vor diesem Hintergrund mussauch der Grundsatz der Barrierefreiheit beachtet werden.

Probleme mit der praktischen Handhabbarkeit derKarte, die wir bereits erlebt haben, müssen vor der Onli-neschaltung der Karte ausgeräumt werden. Die Patien-tinnen und Patienten müssen Beratungsangebote erhal-ten. Die Patientenverbände müssen einbezogen werden.Kurzum, hier wird ein dialogischer Prozess mit den be-troffenen Gruppen stattfinden müssen. Diese meine Auf-fassung unterscheidet sich allerdings deutlich, Herr Kol-lege Bahr –

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Bender.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – vorletzter Satz –, von Ihrer. Sie vertrauen offenbar

darauf, dass es dann, wenn man den Prozess jetzt einfachstoppt und Experten beauftragt, sich damit zu beschäfti-gen, besser wird.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie lassen es weiterlaufen!)

Gerade so sehen wir das nicht. Wir wollen, dass es unterEinbeziehung der betroffenen Gruppen weitergeht, da-mit aus der E-Card etwas Gutes wird, was den Patientennützt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie lassen esweiterlaufen!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eike

Hovermann, SPD-Fraktion.

Eike Hovermann (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich möchte mich zuerst an die wenden, die dieDatensicherheit beklagen. Als einer der größten Kennerin puncto Datensicherheit weiß ich, wie viele Millionenund Milliarden Daten ungeschützt vagabundieren oderauf Datenfriedhöfen liegen. Das gilt insbesondere auchfür das alte System. Wenn nun ein Kollege beklagt, dasses Interesse daran gibt, auf die Daten des neuen Systemszuzugreifen, hat er offensichtlich in seiner jahrelangenparlamentarischen Arbeit nicht begriffen, dass das bishe-rige System – ich wiederhole es – so löchrig war wie einSchweizer Käse und bisher im Grunde genommen allenmöglichen Interessen offengestanden hat.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Da hat er recht! –Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was ist das fürein Argument?)

Zweite Bemerkung zu diesem Thema: Wir sollteneine möglichst produktive Diskussion führen. Ich habeaber das Gefühl – es wäre schön, wenn mich an dieserStelle mein Gefühl trügen würde –, dass sie mittlerweileschon in den Strudel des Wahlkampfes der Wahl im Sep-tember 2009 gerät.

Dritte Anmerkung: Die Datensicherheit im neuenSystem wird dank der Chipkarte und der anderen Instru-mente, die hier schon geschildert worden sind, um einVielfaches höher liegen als früher; aber man kann natür-lich nicht sagen, dass es überhaupt nicht anfällig ist.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Noch viel mehr Daten!)

Es wird immer entsprechende Interessen geben. In An-hörungen wurde uns ja von Verbänden mitgeteilt, dassHackerklubs, zum Beispiel in Dortmund, bisher fast je-des System geknackt haben. Es besteht natürlich auchjetzt ein hohes Interesse, dieses System mit seinen vielenDaten zu knacken.

Im Rahmen der Diskussion ist etwas Wertvolles ge-schehen: Wir haben mit den Patientenbeauftragten, den

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Eike Hovermann

Datenschützern – ein Vertreter eines Hackerklubs warübrigens auch dabei – und Vertretern von verschiedenenSpitzenorganisationen die Frage diskutiert, wie wir dieDaten in einem sich immer weiter verbessernden Prozessso schützen können, dass der Zugriff auf diese nicht sofürchterlich leicht möglich ist, wie es bisher der Fallwar; ich könnte dafür mehrere Beispiele bringen.

Herr Bahr, Sie lesen die Welt sicherlich mehr als ich.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Woher wollen Sie das wissen?)

– Diese Zeitung ist Ihnen geneigter als vielleicht die taz. –Ich will auf die Anzeige eingehen, die dort in der Aus-gabe vom Montag dieser Woche abgedruckt war. LesenSie sie einmal nach. Der Spitzenverband Bund vergrö-ßert die Abteilung, die sich mit diesem Thema befasst,extensiv, und zwar in dem Wissen, dass in Richtung Mo-dellverträge und Strukturverträge – beides wollen Sie –und im Hinblick auf § 140 a SGB V, Integrierte Versor-gung, diese Chipkarte ein unverzichtbares Instrument ist,um das Ziel, die Segmentierung in ambulant und statio-när zu überwinden – auch das wollen Sie –, auch nur an-nähernd zu erreichen.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Chipkarte nicht!)

– Da haben Herr Hess, die Vertreter des Spitzenverban-des Bund und der Deutschen Krankenhausgesellschaftwohl unrecht. Herr Bahr, wir nehmen Ihre Meinung zurKenntnis.

Frau Kollegin Bender, Sie haben vorhin die Finanzie-rung angesprochen und das Schlagwort vom „gläsernenPatienten“ benutzt.

(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie mich wohl verwechselt!)

– Dann war es Herr Bahr.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das war Herr Koschorrek!)

– Irgendeiner hat es mit „gläsernem Arzt“ verwechselt.Aber lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen,weil ich nicht mehr so viel Redezeit habe.

Die Diskussion außerhalb der Verbände zeigt sehrdeutlich, dass im Zuge einer E-Card Behandlungspfadeverfolgt werden können und nachgewiesen werden kann,was im Rahmen einer Behandlung vielleicht falsch ge-laufen ist. Das haben manche Ärzte nicht so gerne undwollen dies verhindern, indem sie – aus Angst vor dem„gläsernen Arzt“ – vor dem „gläsernen Patienten“ war-nen, also die Argumentation verdrehen.

Die anderen Argumente gegen die E-Card haben ei-nen etwas tieferen Hintergrund. Sie betreffen nämlichdie Frage der Finanzierung. Es ist wohl richtig, dass imambulanten Bereich ein übergroßer Anteil der Finanzie-rung von den Ärzten in den einzelnen Praxen aufge-bracht werden muss. Dagegen wird im stationären Be-reich – wir sollten offen darüber reden; es sei denn, Sielegen darauf keinen Wert – ein Großteil des Equipments

über andere Quellen – Stichwort: duale Finanzierung –finanziert.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Eike Hovermann (SPD): Dadurch entsteht an dieser Stelle die Angst, dass es

eine ungleiche Belastung für die freien Berufe gibt, fürdie Sie ständig auf allen möglichen Podiumsdiskussio-nen eintreten.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege!

Eike Hovermann (SPD): Bin ich schon fertig?

(Heiterkeit)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ziemlich.

Eike Hovermann (SPD): Ich halte es daher für wünschenswert, weiter nach Lö-

sungen zu suchen, auch im Hinblick auf die Entwicklungeiner europäischen Chipkarte. Mit Blick auf die Sicher-heit der Patienten nicht nur in unserem Land wäre ich Ih-nen sehr verbunden, wenn Sie ab Oktober – dann hatsich die Koalition wieder gebildet – mit uns an einemStrang ziehen würden.

Zur PKV nur noch dies:

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich bin jetzt auch fertig.

Eike Hovermann (SPD): Die PKV ist nicht ausgestiegen. Der Verband hat ge-

sagt, dass Einzelne so weitermachen. Ich sage Ihnen:Diese werden alle in die elektronische Gesundheitskarteinvestieren.

Vielen Dank für die Geduld.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/11245 und 16/12289 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –Offenbar sind Sie damit einverstanden. Dann ist das sobeschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspau-schale

– Drucksache 16/12099 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 16/12299 –

Berichterstattung:Abgeordnete Leo Dautzenberg Florian Pronold

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 16/12302 –

Berichterstattung:Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider (Erfurt)Otto Fricke Roland Claus Alexander Bonde

Hierbei ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist auchdas so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Florian Pronold (SPD): Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau

Präsidentin! Nicht zum ersten Mal, sondern zum wieder-holten Mal – vielleicht aber abschließend für dieseWahlperiode – steht uns eine spannende Debatte zurPendlerpauschale ins Haus. Wir haben sie schon des Öf-teren geführt. Es gibt zwar nicht mehr viel Neues, wasman dazu sagen kann. Aber man kann bestimmte Dingedurchaus noch einmal herausstreichen.

Wenn man sich mit der Geschichte der Pendlerpau-schale beschäftigt und antizipiert, welche Positionenmeine nachfolgenden Rednerinnen und Redner vertretenwerden, muss man sich vergegenwärtigen: Was war2005? Was war die Ausgangslage?

Die CDU und die CSU haben ein gemeinsames Wahl-programm vorgelegt. Darin stand die deutliche Kürzungder Pendlerpauschale. Ein gewisser Erwin Huber hat andiesem Wahlprogramm wesentlich mitgewirkt.

Die FDP redet immer von „Steuersenkungen“ und hat„tolle steuerpolitische Konzepte“; die Anführungszei-chen und die Ironie bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sind aber unangebracht!)

– Überhaupt nicht. – Mit dem Stichwort der Steuerver-einfachung ist die Absicht verbunden, den kleinen Leu-ten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – sei esbei der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nachtschichtenund für Sonntagsarbeit, sei es bei der Pendlerpauschale –an den Geldbeutel zu gehen.

(Jan Mücke [FDP]: Die SPD hatte im Wahl-programm, dass sie die Mehrwertsteuer nichterhöhen will!)

Als Sozialdemokraten haben wir in dieser Frage eineklare Position gehabt. Wir waren für die Beibehaltungder Pendlerpauschale in der bisherigen Form.

(Jan Mücke [FDP]: Bei der Beibehaltung von 16 Prozent!)

Die Grünen haben zur Pendlerpauschale die Vorstel-lung entwickelt, sie um die Hälfte zu reduzieren. Auchdies war verfassungswidrig, weil diese die tatsächlichenKosten nicht mehr abgedeckt hätte. Dieser Grundsatz istjedoch bei der Gewährung einer Pauschale einzuhalten.

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung sinddann die letzten Bundestagswahlen bestritten worden.

In der Koalitionsverhandlung zwischen CDU/CSUund SPD haben sich die Sozialdemokraten an verschie-denen Punkten durchgesetzt. Bei der Pendlerpauschalehat sich überwiegend die CDU/CSU durchgesetzt.

(Lachen des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach[CDU/CSU] – Dr. Dagmar Enkelmann [DIELINKE]: Na, na, na!)

– Das kann jeder nachlesen.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Keine Geschichtsklitterung!)

– Sie kennen offenbar die Geschichte nicht. Man brauchtsie nicht zu klittern, sondern muss sie einfach so erzäh-len, wie sie ist.

Dann hatten wir im Finanzausschuss des DeutschenBundestages eine Anhörung,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Die war spannend!)

in der kein Einziger der dort anwesenden Fachleute sichfür die Lösung ausgesprochen hat, die die CDU/CSU inder Koalition durchgesetzt hat. Dann haben wir von derSPD den Versuch unternommen, die geplante Regelungzu ändern. Dies ist vehement abgelehnt worden, insbe-sondere von der CSU. Dann haben wir die Lösung derCDU/CSU in Treue zur Koalitionsverabredung in dasGesetz übernommen.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wer stellt denn eigentlich den Minis-ter?)

– Sie wissen schon, wer der Gesetzgeber ist, Frau Kolle-gin Scheel.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Das weiß ich schon! Ich weiß aberauch, wer die Vorlage gemacht!)

Die Verantwortung müssen natürlich wir als Gesetzgeberauf uns nehmen. Das haben wir in diesem Fall gemacht.Trotz großer Bedenken haben wir diese Lösung dann indas Gesetz geschrieben.

Dann gab es die ersten Urteile der Finanzgerichte. Siewaren unterschiedlich. Seitens der sozialdemokratischen

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Florian Pronold

Fraktion haben wir dann noch einmal einen Anlauf un-ternommen und gesagt: Lasst uns nicht das Bundesver-fassungsgerichtsurteil dazu abwarten, sondern lasst unsdie Regelung gleich ändern. Das alles ist dokumentiert;das kann man nachlesen.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Der sozialdemo-kratische Minister war dagegen!)

Dann ist es leider wieder an unserem Koalitionspartnergescheitert.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: An Ihrem Minister ist es gescheitert!)

– Nein, an ihm ist es nicht gescheitert. Das steht alles inder Zeitung. An anderer Stelle können Sie die Fakten,die Sie brauchen, immer sehr gut herausfinden. Viel-leicht lesen Sie auch einmal das, was Ihnen nicht in denKram passt und was die Wahrheit ist. In diesem Fall istdas alles sehr gut dokumentiert. In den Veröffentlichun-gen vom November 2007 kann man das alles nachlesen.

Nach der bayerischen Kommunalwahl wurde es aufeinmal spannend. Derselbe Erwin Huber, der vorher derTotengräber der Pendlerpauschale war,

(Lachen des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU])

hat sich als Voodoo-Priester geriert und wollte sie wiederzum Leben erwecken. Das war ein durchaus spannenderund erhellender Moment.

(Jan Mücke [FDP]: Wie sprechen Sie dennüber Ihren Koalitionspartner? Voodoo in derGroßen Koalition!)

Aber es war wiederum die Führung der CDU/CSU-Frak-tion, die das Ansinnen der Sozialdemokraten, die Rege-lung sofort zu ändern und das Bundesverfassungs-gerichtsurteil nicht mehr abzuwarten, abgelehnt hat.

(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ihr habt unseren Antrag abgelehnt!)

Als das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorlag, wardie spannende Frage: Was machen wir jetzt? Greifen wirdas Thema auf und regeln es sozusagen für die Vergan-genheit, um absolute Rechtssicherheit zu schaffen, oderschaffen wir diese Rechtssicherheit im Zuge der Neu-regelung einer Pendlerpauschale, die angesichts der un-terschiedlichen Ansichten in diesem Haus und innerhalbder Koalition im Hinblick auf die Zukunft nicht hinzube-kommen ist? Wir Sozialdemokraten haben dazu gesagt:Lasst nicht zu, dass die Steuerbescheide vorläufig erge-hen. Dazu hieß es wiederum: Das ist alles ganz klar; dieRückwirkung brauchen wir nicht zu regeln; lasst uns einEilgesetz machen; wenn wir das für die Zukunft regeln,dann lasst uns das auch für die Vergangenheit regeln; dieLeute bekommen ihr Geld. – Dieselben Kollegen vonder CSU, die es in der Finanz-AG abgelehnt haben, dieseSache zu regeln, haben über Herrn Seehofer eine Bun-desratsinitiative eingebracht, um Rechtssicherheit zuschaffen.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wirhaben heute doch keine Märchenstunde! Dasist ja unglaublich!)

Obwohl die Kollegen es in der Finanz-AG abgelehnt ha-ben, das so zu regeln, wie wir das wollten, hat HerrSeehofer einen gleichlautenden Antrag eingebracht.

Die entscheidende Frage ist eigentlich nicht: Pendler-pauschale – ja oder nein?, sondern: Wer hat den Schwar-zen Peter? In diesem Fall gibt der Name einen Hinweisdarauf, wo er hingehört. Wer sich die Entwicklung an-schaut – angefangen beim Wahlprogramm –, stellt fest,dass der Schwarze Peter bei den Schwarzen ist.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Nur, wer ist Peter bei denen?)

Heute beenden wir diese Debatte und schaffenRechtssicherheit.

(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])

Wir sorgen dafür, dass die Menschen, die lange Wegeauf sich nehmen, um zum Arbeitsplatz zu kommen, wie-der die Pendlerpauschale erhalten. Debatte hin, Debatteher, das ist ein gutes Ende, über das sich alle freuen kön-nen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD – Dr. Martina Krogmann[CDU/CSU]: Ganz schwache Rede! –Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]:Aber Applaus verlangst du jetzt keinen vonuns, oder?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Volker Wissing hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Volker Wissing (FDP): Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. – Liebe Kollegin-

nen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was wir unsvon der Großen Koalition bieten lassen müssen.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr!)

Die einen behaupten, die CDU/CSU hätte die Pendler-pauschale abgeschafft; gleich werden wir von den ande-ren hören, dass die SPD die Pendlerpauschale abge-schafft hat.

(Iris Gleicke [SPD]: Das wäre dann aber geschwindelt!)

Sie waren das beide! Sie haben beide zugestimmt. Siewaren beide anwesend, als alle Sachverständigen imFinanzausschuss unisono – auch die, die Sie benannt ha-ben – erklärt haben, dass Ihre Regelung mit dem Grund-gesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbarist, dass sie keinen Bestand haben kann.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So war es!)

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Dr. Volker Wissing

Wenn man die Sachverständigen der Koalition gefragthat, ob das verfassungskonform ist – ich erinnere michnoch genau daran –, dann lautete die Antwort: Natürlichnicht! Es gab nur einen in Deutschland, der wieder ein-mal alles besser wusste, und das war der sozialdemokra-tische Finanzminister, der darauf bestanden hat, dass dieRegelung verfassungskonform sei, und sie durchgesetzthat, und zwar auch mit den Stimmen der SPD, HerrPronold. Sich jetzt hier hinzustellen und so zu tun, alshabe man das gar nicht gewollt, das finde ich schon sehrscheinheilig.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Übrigens mit Roland Koch im Bundes-rat!)

– Dieser Einwand ist richtig. Roland Koch hat mitge-macht. Auch die CSU hat mitgemacht. Es ist doch so:Ohne die CSU hätte es die Kürzung der Pendlerpau-schale nie gegeben. Die Wiedereinführung der vollenPendlerpauschale erfolgt jetzt allerdings ohne die CSU,nämlich auf dem Umweg über das Bundesverfassungs-gericht. Das finde ich äußerst bedauerlich, meine liebenKolleginnen und Kollegen.

Diese Regierung ist eine Regierung der Superlative.Nach der größten Steuererhöhung in der Geschichte un-seres Landes kommt jetzt der größte Schuldenberg. Wirberaten heute den größten anzunehmenden Unfug, einenSuper-GAU dieser Großen Koalition.

In der Öffentlichkeit ist bekannt, dass unser Bundes-finanzminister eine Vorliebe für Nashörner hat. So be-treibt er auch Finanzpolitik: Kopf runter und losstürmenstatt innehalten und nachdenken. Wir haben umfangrei-che Sachverständigenanhörungen durchgeführt und ge-hört, dass das nicht verfassungskonform ist. Ich meine,das war relativ leicht nachzuvollziehen. Aber nein, Siewollten das unbedingt. Diese Nashornfinanzpolitik magja unterhaltsam sein; im Interesse der Bürgerinnen undBürger unseres Landes ist sie aber nicht. Während derBundesfinanzminister seinen Egotrip locker fortgesetzthat, haben die Finanzgerichte – eines nach dem anderen –die Regelung nicht angewandt. Sie haben Vorlage-beschlüsse gefasst und erklärt, dass das auf dem Bodendes Grundgesetzes so nicht machbar sei. Auch wir habenIhnen das vorher gesagt.

Diese Politik ist äußerst bedauerlich. Wenn wir heuteschon darüber reden, will ich dieses schöne Beispiel nut-zen, um zu zeigen, wo wir am Ende dieser Legislatur-periode der Großen Koalition stehen: Diese Koalition,diese Regierung hat unser Land nicht einen Millimetervorangebracht. Wir führen jetzt genau das wieder ein,was wir hatten, bevor wir Sie hatten.

(Beifall bei der FDP)

Wir erleben in diesen Tagen auch auf internationalerEbene Steinbrück’sche Nashornpolitik. Die Schweiz be-kommt es diesmal ab. Dort werden die siebte Kavallerievon Yuma oder die Peitsche angedroht. Ich finde das,ehrlich gesagt, peinlich.

(Florian Pronold [SPD]: Also, Sie sind für Steuerhinterziehung?)

– Nein. Ihr Zwischenruf, Herr Kollege Pronold, ist auchpeinlich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich finde diese Wortwahl des Bundesfinanzministers fürdie Bundesrepublik peinlich, und ich finde auch IhrenZwischenruf peinlich.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Ina Lenke [FDP], an denAbg. Florian Pronold [SPD] gewandt: Genau!Das war eine Unverschämtheit von Ihnen!)

Denn man kann auch gegen Steuerhinterziehung seinund sich auf internationalem Parkett wie ein normalerMitteleuropäer benehmen und nicht wie ein Nashorn,das anderen Ländern Vorwürfe unter Niveau macht.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]:Steinbrück hat übrigens nicht von der Schweizgesprochen!)

Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland diese Bra-chialrhetorik des Finanzministers langsam leid sind.

(Iris Gleicke [SPD]: Ich habe da einen anderenEindruck! Sie sind es leid, dass Steuern hinter-zogen werden!)

Man kann sie auch nicht gutheißen.

Das Hickhack um die Entfernungspauschale war ge-nauso peinlich wie unnötig, aber auch lehrreich. DieBürgerinnen und Bürger konnten erfahren, wie schnellaus einer Regierungspartei in Berlin eine Oppositions-partei in München werden kann. Die CSU hat sich hiernicht mit Ruhm bekleckert. Ich erinnere mich noch, dassSie im Wahlkampf in Bayern Unterschriften gesammelthaben mit dem Hinweis: Unterschreiben Sie gegen dieKürzung der Pendlerpauschale, sie ist verfassungswid-rig! Kurze Zeit davor hatten Sie im Deutschen Bundes-tag die Hand für die Kürzung gehoben. Das ist eine pein-liche Veranstaltung, die heute beendet wird.

(Zuruf von der SPD)

– Ja, es ist für Sie vielleicht unangenehm, das zu hören.

Sie stehen da wie begossen. Das muss man einmal se-hen.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Hier scheint die Sonne, Herr Kollege!)

Sie führen jetzt das wieder ein, vor dessen Abschaffungwir immer gewarnt haben. Erst schaffen Sie etwas ab,dann führen Sie es wieder ein. Am Ende dieser Legisla-turperiode kommen wir zurück auf den Anfang. Schade,denn es ist vertane Zeit für dieses Land. Wir haben hierim Deutschen Bundestag unnötige Debatten geführt.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Heute auch!)

Sie haben ohne Grund die Finanzverwaltung belastet.Sie hatten unrecht. Genauso haben Sie auch in den ande-ren finanzpolitischen Positionen, die der Bundesfinanz-minister mit Vehemenz und der ihm eigenen Selbstgefäl-ligkeit vertritt, schlicht und einfach unrecht.

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Dr. Volker Wissing

(Florian Pronold [SPD]: Selbstgefälligkeit isteine sehr schöne Überschrift für Ihren Auf-tritt!)

Wir werden noch vieles abwickeln müssen, was Sie alsGroße Koalition auf den Weg gebracht haben. Schön,dass wir heute einen Schritt weiter sind. Wir sind da, wowir ohne Sie schon einmal waren.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Und tschüss!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat als Nächster der Kollege Olav Gutting

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Olav Gutting (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und

Kollegen! Seit das Bundesverfassungsgericht über dieVerfassungswidrigkeit der gekürzten Pendlerpauschaleentschieden hat, ist ungefähr ein gutes Vierteljahr ver-gangen. In dieser Zeit hat es bei den über 15 MillionenPendlerinnen und Pendlern immer wieder viel unnötigeVerwirrung und Aufregung gegeben.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja!)

Dies lag vor allem an dem Vorläufigkeitsvermerk, derin den geänderten Steuerbescheiden gedruckt war.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! –Ina Lenke [FDP]: Es war gut, dass der da drinwar! – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg[CDU/CSU]: Eben nicht!)

Rein formal ist dieser Vermerk nicht zu beanstanden.Man muss dazu sagen, dass in den Bescheiden versuchtwurde, die Vorläufigkeit zu erklären. Die Ursachen derVorläufigkeit waren abgedruckt. Trotzdem hat dieserVermerk bei vielen Menschen die Angst geweckt, dassdie Finanzämter die mit den neuen Steuerbescheidenausgezahlten Steuererstattungen später wieder eintreibenkönnten. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zuRecht, dass der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet,welches die vor dem 1. Januar 2007 bestehende Rege-lung aufgreift und formal Rechtssicherheit schafft.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die punktgenaue und unbefristete Wiederherstellungder alten Entfernungspauschale ist nach dem Urteil desBundesverfassungsgerichts der richtige und konsequenteSchritt. Es war die Große Koalition – es waren die SPDund die Union; es war der SPD-Finanzminister –, die vordem Bundesverfassungsgericht verloren hat. Ich meine,das sollten wir akzeptieren. Ich bedaure wirklich, dassdie SPD jetzt versucht, sich davonzuschleichen.

(Florian Pronold [SPD]: Wenn jemand ver-sucht, sich davonzuschleichen, ist es dieCSU!)

Erlauben Sie mir den Hinweis, dass die im Jahr 2006beschlossene unpopuläre Änderung der Pendlerpau-

schale niemandem aus meiner Fraktion leichtgefallen ist.Das will ich auch der SPD unterstellen. Aber aus damali-ger Sicht waren diese Änderungen dringend notwendig;

(Ina Lenke [FDP]: Wieso?)

denn wir mussten den Bundeshaushalt, den wir von Rot-Grün geerbt hatten, sanieren.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU] – Ina Lenke [FDP]: Aha! Sehr interes-sant! Daran sieht man: Rot-Grün rächt sich!)

Das strukturelle Defizit betrug damals fast 60 Mil-liarden Euro.

Manch einer wirft uns jetzt eine gewisse Einfallslo-sigkeit vor: Wie langweilig und unspektakulär, dass wireinfach die alte Rechtslage wiederherstellen; wir drü-cken sozusagen auf den Reset-Knopf. Das ist aber genaudas, was die Menschen wollen. Genau das halten wir indieser Situation für richtig. Denn die Wahrheit ist: Wir,die Union, haben bereits kurz nach der Urteilsverkün-dung die Wiederherstellung der alten gesetzlichen Rege-lung verlangt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es geht darum, die vorläufige Regelungslage zur Ent-fernungspauschale in Anbetracht des Urteils des Bun-desverfassungsgerichts durch eine gesetzlich klar festge-legte Regelung zu ersetzen. Das erwarten die Menschenin diesem Land. Sie erwarten von der Politik zu Recht,dass sie für Rechtssicherheit und Planbarkeit sorgt. Jedeandersgeartete Neugestaltung der Pendlerpauschale hättevor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfas-sungsgerichts nur für noch mehr Verwirrung und Unsi-cherheit gesorgt.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)

Von einer isolierten Überarbeitung der Pendlerpau-schale halte ich sowieso nichts. Was wir brauchen, istkein weiteres Herumbasteln und Herumdoktern am be-stehenden System, sondern ein einfaches, transparentesund damit gerechteres Einkommensteuerrecht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das ist auch die Vorgabe des Bundesverfassungsge-richts:

Einen zulässigen Systemwechsel kann es ohne einMindestmaß an neuer Systemorientierung nicht ge-ben.

So äußerte sich das Bundesverfassungsgericht wörtlich.Außerdem stellte das Gericht fest, dass eine Änderungder Einbettung in ein Grundkonzept bedarf.

Die Union will in der nächsten Legislaturperiode eineReform der Einkommensteuer durchführen. Sie soll ein-facher, transparenter, gerechter und damit unter demStrich auch niedriger werden.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hört sich ja anwie ein echter FDP-Antrag! – Ina Lenke[FDP]: Das ist gut!)

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Olav Gutting

Es ist gut, dass wir bis zur Wiederherstellung der altenRegelung zumindest diejenigen entlasten bzw. denjeni-gen etwas zurückgeben, die jeden Morgen früh aufste-hen, um teilweise weite Strecken zu ihrer Arbeitsstätteauf sich zu nehmen, und die mit der Lohnsteuer, die siezahlen, einen entscheidenden Beitrag zur Finanzierungunseres Gemeinwesens leisten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesfinanz-minister, SPD, im Dezember letzten Jahres die Levitengelesen: Die 2006 beschlossene Abschaffung der altenPendlerpauschale ist verfassungswidrig. Das war eineschallende Ohrfeige für den Mann, der versucht hat, einbestätigtes Steuerprinzip, wonach alle beruflich beding-ten Kosten vom Einkommen der Steuerpflichtigen abzu-ziehen sind, zu untergraben. Nicht zu vergessen ist auchdas Hickhack in der Großen Koalition im Hinblick aufdie Pendlerpauschale: Keiner wollte und will für ihreAbschaffung verantwortlich sein, die SPD nicht, dieCDU nicht und die CSU erst recht nicht. Alles in allemist das ein Armutszeugnis für die Große Koalition.

(Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: So ist es!)

Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtshalten sich die Koalitionsparteien offen, die Pendlerpau-schale nach der nächsten Bundestagswahl abzuschaffenoder zu kürzen. Noch am Tag der Urteilsverkündungstellte der Bundesfinanzminister sofort klar:

Wir werden uns das Geld nicht an anderer Stelle zu-rückholen. Das verträgt die derzeitige Konjunktur-lage nicht.

Was heißt das für die Zukunft? Dass zu Beginn desJahres nur vorläufige Bescheide erlassen wurden, sprichteine deutliche Sprache.

(Florian Pronold [SPD]: Ach! Das ist jetzt kompletter Blödsinn!)

Am 6. Februar dieses Jahres verlautbarte das Bundes-finanzministerium:

… eine gesetzliche Neuregelung … ist auch fürdiese Legislaturperiode nicht vorgesehen … Wieeine künftige endgültige Regelung der Pendlerpau-schale aussieht, hängt von den Entscheidungen desnächsten Bundestages ab.

Damit wären die Steuerzahlerinnen und Steuerzahlerrechtlich weiterhin im Unklaren gelassen worden – alsob die Menschen aufgrund der dramatischen Wirt-schafts- und Finanzkrise nicht ohnehin verunsichert ge-nug wären.

(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)

Immerhin haben Sie die alte Pendlerpauschale jetztauf öffentlichen Druck hin wieder eingeführt. Damit er-füllen Sie eine alte Forderung der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Pronold, Sie haben vorhin die Position der ande-ren Fraktionen aufgezählt. Uns haben Sie beschämen-derweise weggelassen.

(Florian Pronold [SPD]: Das war nicht persön-lich gemeint! Ich entschuldige mich, dass ichdie Linke nicht genannt habe!)

Seit Juni 2006 haben wir Ihnen in diesem Hause dreimaldie Möglichkeit gegeben, gegen die verfassungswidrigeund ungerechte Abschaffung zu stimmen. Wir haben dasdreimal gefordert, auch in namentlicher Abstimmung.Obwohl die CSU vorher so laut getönt hat, hat sie imvergangenen Jahr gegen ihre eigene Unterschriften-sammlung gestimmt. Auch Sie von der SPD sind demKoalitionsduktus gefolgt.

Jetzt bestünde die Chance für eine gerechte und ver-fassungsmäßige Neuregelung. Von der alten Pendlerpau-schale profitieren besonders Steuerpflichtige mit hohemEinkommen. Das ist bei der Progression nun einmal so.Ich stelle dies anhand eines Beispieles dar: Ein alleinste-hender Maurer hatte 2008 einen Weg von 40 Kilometernzur Arbeit zurückzulegen. Er arbeitete an 220 Tagen imJahr. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von20 000 Euro erhält er eine Erstattung von 736 Euro.

(Florian Pronold [SPD]: Weil der Arbeitneh-merfreibetrag noch drin ist!)

Wäre er Journalist mit einem Jahreseinkommen von60 000 Euro, würde er 1 108 Euro sparen.

An diesem Beispiel sehen wir, dass die Entlastungnicht gleichmäßig ist. Wer so wenig verdient, dass er garkeine Steuern zahlt, hat sowieso nichts von der Pendler-pauschale. Die Besserverdienenden wären hiermit bevor-zugt. Deshalb schlagen wir Ihnen eine andere Regelungvor, und zwar den direkten Abzug von der Steuerschuld.

(Florian Pronold [SPD]: Sollen wir dann einendegressiven Steuerverlauf machen, damit dieReichen weniger profitieren?)

Damit bekäme jeder Steuerpflichtige, unabhängig vonseinem Einkommen, den gleichen Betrag pro Kilometererstattet.

(Florian Pronold [SPD]: Wie hoch wäre der dann?)

Für eine wirklich gerechte Lösung wäre das ein ersterSchritt.

Aber eines ist klar: Ohne eine Neuregelung, die dafürsorgt, dass die Menschen für die Arbeit, die sie leisten,ordentlich bezahlt werden, ohne einen Mindestlohn– wir fordern einen Mindestlohn von 8,71 Euro –,

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Heute stand im Ticker, es wären

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Dr. Barbara Höll

10 Euro! – Florian Pronold [SPD]: Es waren10 Euro!)

vernünftige Löhne und ordentliche Lohnsteigerungenwird es an den notwendigen Stellen keine Entlastung ge-ben. Die Pendlerpauschale ist kein Ruhmesblatt der Gro-ßen Koalition, besonders nicht des Bundesfinanzminis-ters. Wir sind aber froh, dass heute wenigstens in diesemPunkt eine gewisse Klarheit erzielt wird.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht die Kollegin Christine Scheel für Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Es ist schon bedauerlich, dass es innerhalb der GroßenKoalition ein monatelanges Schauspiel gegeben hat,dass es Schuldzuweisungen bei der Frage gab, wer denndas eine oder das andere fordert – Herr Pronold hat ge-rade wieder ein Beispiel dafür gegeben –, und dass dieseganze Auseinandersetzung dazu geführt hat, dass dasVertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine ernsthaftePolitik ziemlich erschüttert wurde. Die Leute haben diepermanenten Schuldzuweisungen einfach satt. Sie wol-len eine Politik, die verfassungskonform ist, die keineverfassungswidrigen Entscheidungen trifft, und sie wol-len auch nicht, dass man sich gegenseitig den SchwarzenPeter zuschiebt. Die Bürger sehen das Ganze eher alspeinlich an.

Dieses Schauspiel ist am Ende so ausgegangen – dashaben wir gerade gehört –, dass das Bundesverfassungs-gericht einschreiten musste, obwohl viele der Beteiligtensehr wohl wussten, dass diese Regelung verfassungswid-rig ist. Es ist schlimm, wenn man immer wieder abwar-ten muss, bis das Verfassungsgericht die Anweisunggibt, wie denn zu handeln ist, nur weil in der Großen Ko-alition keine Einigung herrscht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist heute schon der zweite Tagesordnungspunkt, aufden das zutrifft. Ich finde, das ist nicht gerade ein gutesZeugnis für die politische Arbeit dieser Großen Koali-tion.

Die Bürgerinnen und Bürger haben jetzt Rechtssi-cherheit; das begrüßen wir. Wir sehen auch, dass dasChaos, das Sie an den Finanzämtern angerichtet haben,endlich beendet ist. Auch die Verunsicherung von Milli-onen von Berufspendlern ist jetzt beendet. Sie habenaber in der Konsequenz im Hinblick auf die Haushalts-lage etwas ausgelöst, was sich für die gesamte Politik alssehr schwierig gestaltet. Wir haben nämlich im Jahr2009 ungeplante Steuerausfälle für Bund, Länder undGemeinden in einer Größenordnung von bis zu6 Milliarden Euro. Dies war in der gesamten Finanzpla-nung so nicht vorgesehen. Das heißt, dass aufgrund Ihrerchaotischen Politik die Neuverschuldung in diesem Jahrnoch einmal ansteigt. Das ist eine Belastung für die

nächsten Generationen, die Sie mit zu verantworten ha-ben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben immer wieder darüber diskutiert, welcheverfassungskonforme Lösung es geben könnte. Es gibtviele Vorschläge. Der Spielraum, den das Bundesverfas-sungsgericht uns als politisch Verantwortliche einge-räumt hat, ist relativ groß. Wir hätten es als Fraktionrichtig gefunden, wenn Sie nicht erst im WahlkampfVorschläge unterbreitet hätten. Herr Kollege Gutting hatgesagt, eine Reform der Einkommensteuer stehe an. Essolle alles sozialer, gerechter und einfacher werden. DieUnion hatte einmal vorgeschlagen, die Pendlerpauschaleganz abzuschaffen. Das war Herr Professor Kirchhof mitseinem einfachen Steuerrecht. Die FDP hat vorgeschla-gen, die Pendlerpauschale ganz abzuschaffen. Die SPDhat aktuell vorgeschlagen, die Pendlerbelastungen vonder Steuerschuld abzuziehen. Die Linken haben sichjetzt auch dazu geäußert. Bei uns wird über ein Mobili-tätsgeld diskutiert.

Ich hätte es für richtig gehalten, dass die Große Koali-tion nicht nur dafür sorgt, dass der alte Rechtszustandwiederhergestellt wird, was unausweichlich ist, sonderndass Sie jetzt auch sagen, was denn danach passiert. Dassollte nicht wieder auf die lange Bank geschoben wer-den. Wir fordern mehr Ehrlichkeit in der Sache ein. DieKoalitionsfraktionen sollten sich klar dazu bekennen,welche Regelungen sie anstreben, und zwar jede Frak-tion für sich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weiler den Bürgerinnen und Bürgern eine zukunftsfähige Re-gelung vorenthält und wir dieses politische Spiel nachdem Motto „Im Wahlkampf wird alles Mögliche ver-sprochen“ nicht unterstützen wollen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Als nächstes hat der Kollege Dr. Hans Michelbach fürdie CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute

ist ein guter Tag für unsere Pendler und für unsere leis-tungsbewussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Ich freue mich, dass die Gesetzeslage von 2006 hinsicht-lich der Entfernungspauschale wieder gilt. Das ist einrichtiger Weg. Ich betone, dass die CSU für die Wieder-einführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome-ter geworben hat.

(Heiterkeit des Abg. Florian Pronold [SPD] – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Wir haben auch dafür gekämpft. Nach Inkrafttreten desGesetzes wurden anhand vieler Beispiele die Benachtei-

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Dr. h. c. Hans Michelbach

ligung und der Verlust der Leistungsgerechtigkeit fürPendler deutlich. Es war in der Tat ein Fehler, die Pend-lerpauschale derart zu gestalten.

(Florian Pronold [SPD]: Habt ihr im Wahlpro-gramm die Kürzung stehen gehabt, ja odernein?)

– Herr Pronold, es gehört zur politischen Kultur, zuge-ben zu können, dass man einen Fehler begangen hat. Esnützt Ihnen deshalb nichts, Ablenkungsmanöver, Ge-schichtsklitterung und Märchenstunden zu veranstalten.

(Iris Gleicke [SPD]: Haben Sie Ihr eigenes Parteiprogramm nicht gelesen?)

Tatsache ist, dass jetzt eine Lösung gefunden wurde.Bundesfinanzminister Steinbrück, der dafür zuständigist, hat damals gesagt: Ich halte das Werkstorprinzip fürdie einzig richtige Bewertung. – Die Betrachtung desHaustürprinzips ist richtig.

(Daniel Bahr [FDP]: Aha!)

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom9. Dezember vergangenen Jahres, das die Neuregelungder Pendlerpauschale ab 2007 für verfassungswidrig er-klärt hat, war gesetzgeberisches Handeln noch in dieserLegislaturperiode geboten.

(Florian Pronold [SPD]: Haben Sie Ihr Wahl-programm von 2005 nicht dabei?)

Ich muss ganz deutlich sagen: Wir hatten der Argu-mentation des Bundesfinanzministers Glauben ge-schenkt, dass die Veränderung der Pendlerpauschale ver-fassungsgemäß sei. Alle Bedenken wurden imFinanzausschuss immer wieder vom Tisch gewischt.

(Florian Pronold [SPD]: Von euch!)

Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht.

(Florian Pronold [SPD]: Märchenstunde hoch drei!)

Mit der gesetzlichen Wiederherstellung der altenPendlerpauschale wird heute ein unnötig lange andau-ernder Unsicherheitsfaktor beseitigt. Wir schaffen heuteRechtssicherheit für die vielen Berufspendler in unseremLand. Der wesentliche Punkt ist, dass wir hier wieder aneinem Grundprinzip festhalten.

(Florian Pronold [SPD]: Die Steigerung: Pinocchio, Münchhausen, Michelbach!)

Dieses Grundprinzip ist für uns gerade in der Steuer- undFinanzpolitik unabdingbar und muss immer lauten: Leis-tung muss sich lohnen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Simone Violka [SPD]: Deshalb wollen wir denMindestlohn! – Dr. Barbara Höll [DIELINKE]: Weshalb sind Sie dann gegen denMindestlohn?)

Wir haben hier leistungswillige Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer nicht leistungsgerecht behandelt. Das

ist eine Tatsache. Deswegen sollten wir jetzt gemeinsamerkennen, dass es einen besseren Weg gibt, nämlich den,über den wir heute entscheiden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als Gebot der Stunde muss natürlich noch ein weite-res Grundprinzip realisiert werden: mehr Netto vomBrutto.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig! Danach sehnen sich die Menschen!)

Wir müssen hinsichtlich der Einkommen- und der Lohn-steuer eine weitere Reform auf den Weg bringen, weil esnicht sein kann, dass man nach einer Lohnerhöhung um1 Prozent 2 Prozent mehr Steuern zahlen muss. Ichglaube, dass wir mit der Pendlerpauschale auf einem gu-ten Weg hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit sind.

(Florian Pronold [SPD]: Warum haben Sie das im Wahlprogramm 2005 anders geschrieben?)

Wir alle müssen jetzt dafür arbeiten, dass zwingendmehr Netto vom Brutto übrig bleibt, damit die Leis-tungsträger in unserem Land motiviert anpacken undVertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen. Dasist die entscheidende Frage.

Die Menschen wollen jetzt keinen Wahlkampf. Siehaben einen Anspruch auf Sacharbeit und erfolgreichesKrisenmanagement. Das ist der entscheidende Punkt.Krisenmanagement jetzt erfolgreich gestalten: Dazu ge-hört die Entlastung bei Steuern und Abgaben. Das ist derrichtige Weg. Deswegen sollten wir stolz auf die heutigeEntwicklung sein.

Meinen herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU – Iris Gleicke[SPD]: Du sollst nicht falsch Zeugnis redenwider deinen Nächsten! – Christine Scheel[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr seid auchnoch stolz darauf! Also Hans, weißt du: Das istdoch das Letzte! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Alle machen Wahlkampf, nur wirnicht!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachtenGesetzentwurf zur Fortführung der Gesetzeslage 2006bei der Entfernungspauschale.

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/12299, den Gesetzent-wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD aufDrucksache 16/12099 anzunehmen. Wer stimmt für die-sen Gesetzentwurf? – Die Gegenstimmen? – Die Enthal-tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera-tung bei Zustimmung der Großen Koalition, der FDPund der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf ist,der möge sich bitte erheben. – Die Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritterBeratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorherangenommen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend (13. Ausschuss)

– zu dem Antrag der Abgeordneten IrmingardSchewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), BrittaHaßelmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Durchsetzung der Entgeltgleichheit vonFrauen und Männern – Gleicher Lohn fürgleichwertige Arbeit

– zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke,Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der FDP

Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit –Für eine tatsächliche Chancengleichheit vonFrauen und Männern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. BarbaraHöll, Dr. Kirsten Tackmann, Klaus Ernst, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKE

Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech-tern wirksam durchsetzen

– Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192,16/12265 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michaela NollCaren MarksSibylle LaurischkJörn WunderlichIrmingard Schewe-Gerigk

Es ist vorgesehen, hierüber eine halbe Stunde zudebattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist dieKollegin Dr. Eva Möllring für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dr. Eva Möllring (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Woran liegt es, dass Frauenin Deutschland so viel weniger verdienen als Männer?Ich sage Ihnen erst einmal, woran es nicht liegt, nämlichnicht daran, dass Frauen weniger arbeiten als Männer.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die arbeiten sogar mehr!)

Ich finde es nicht in Ordnung, dass manche Damenund Herren von den Sozialdemokraten und auch von den

Grünen in trauter Übereinstimmung mit Wirtschaftsver-tretern immer wieder sagen: Wenn die Frauen nur halb-tags arbeiten, dann sind sie selbst daran schuld. Sollensie doch Vollzeit arbeiten!

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ein Quatsch! Als ob wir so etwas sa-gen würden!)

Das ist unredlich.

(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So ein Unsinn! Glauben Sie, wir sindblöd? – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie unsschon richtig zitieren!)

– Hören Sie zu! Das scheint ja zu sitzen.

(Iris Gleicke [SPD]: Die Steigerung von Michelbach ist Möllring!)

Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Män-nern von 23 Prozent bezieht sich auf den Vergleich vonVollzeitstellen und steigt beim Stundenlohn noch an.Deswegen ist es eine Unverschämtheit, was Sie erklären.Neulich bin ich bei einem Interview mit einer Kolleginvon Ihnen zusammengetroffen, Frau Scheel, die genaudas gesagt hat. Ich nenne jetzt ihren Namen nicht, aberspäter kann ich das gerne tun.

Es ist eine Unverschämtheit, den Frauen zu sagen:„Jetzt arbeitet mal ordentlich! Dann verdient ihr auch or-dentlich Geld.“ Die Gründe liegen woanders. Ich nennedrei entscheidende Punkte.

Erstens die Berufswahl von Frauen einerseits undMännern andererseits.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie fan-gen am besten noch einmal richtig an!)

– Hören Sie einfach einen Moment zu! Das kann Ihnennicht schaden.

(Zuruf von der SPD: Das fällt uns schwer!)

Gerade im Bereich der Berufswahl von Frauen und Män-nern ist in letzter Zeit Erhebliches erreicht worden.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Märchenstunde!)

Denn wer sich damit befasst, was in den Kommunen inden Kindertagesstätten, in der frühkindliche Erziehung,in den Schulen, bei der Expo und der CeBIT dafür getanwird, um Frauen für technische Berufe zu begeistern, dersieht, dass wir erhebliche Fortschritte gemacht haben.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die CDU muss erst einmalVorbildarbeit leisten!)

Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der CDU-Bun-desbildungsministerin, Frau Schavan, die diese Maßnah-men finanziell und ideell sehr stark unterstützt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Zweitens die Arbeitsbewertung. Dabei sind die Ge-werkschaften gefragt. Es ist eine erhebliche Herausfor-

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Dr. Eva Möllring

derung, zu einem gerechten Bewertungssystem zu kom-men, weil auch in den Gewerkschaften sehr wenigeFrauen an der Spitze sind.

Drittens Frauen in Führungspositionen. Rollenkli-schees sind durch das Elterngeld und die Partnermonategebrochen worden. Das ist ein hervorragender Ansatzvon unserer Ministerin von der Leyen, der in der nächs-ten Wahlperiode noch verstärkt werden muss.

(Kerstin Griese [SPD]: Das Elterngeld war ur-sprünglich eine sozialdemokratische Idee!)

– Genau. Sie haben mitgestimmt.

Auch das Vergaberecht richtet sich an der Förderungvon Frauen aus. Die entscheidende Baustelle ist noch dieFörderung von Führungspositionen in Teilzeit. Dafürmuss einiges getan werden. Der Arbeitgeber muss in diePflicht genommen werden, mit den Teilzeit arbeitendenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Gespräche zuführen, um zu testen, wie man Frauen noch besser inVerantwortung bringen und vor allem nach Auszeitenwieder in den Beruf und in verantwortliche Positionenhineinbringen kann.

Ihre Lösungen scheinen dagegen nicht weiterzufüh-ren. Dazu zählt erstens die Quote. Über die Quote vonAufsichtsräten können wir gerne diskutieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber was hilft es der Frau am Schreibtisch, die nicht dieChance hat, in einem Aufsichtsrat zu landen, sondern dieselber nur eine Position höher kommen will?

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch viele Männer wollennicht in Aufsichtsräte!)

Ihr zweiter Lösungsansatz ist der Mindestlohn. DasLand in Europa, in dem die geringsten Einkommensun-terschiede zwischen Frauen und Männern bestehen – erbeträgt 4,4 Prozent –, ist Italien. Italien hat keinen Min-destlohn. An zweiter Stelle steht Malta, das imJanuar 2009 einen Mindestlohn von 3,67 Euro festge-setzt hat. Das dritte Land ist Polen. Polen hat im Januardieses Jahres einen Mindestlohn von 2,10 Euro festge-setzt.

Nun können Sie selber die Frage beantworten, ob derMindestlohn Frauen in Führungspositionen bringt.

(Zuruf von der SPD: Das ist ja peinlich!)

– Also wirklich, Sie können überhaupt nicht mehr zuhö-ren.

(Iris Gleicke [SPD]: Es lohnt sich ja nicht, zu-zuhören!)

Ihre dritte Lösung betrifft das Verbandsklagerecht.Das Problem bei den Klagen um einen besseren Lohn istnicht die Tatsache, dass die Frauen keine juristischenMöglichkeiten haben, sondern dass ihr persönlicher Falloffenkundig wird und sie dann im Arbeitsverhältnisgroße Schwierigkeiten bekommen werden. Dieses Pro-blem werden Sie auch nicht durch das Verbandsklage-

recht lösen, weil auch bei einem Verbandsklageverfah-ren immer der Einzelfall deutlich gemacht werden muss.

Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber Siemussten es sich jetzt anhören.

Ich danke für Ihre große Aufmerksamkeit. VielenDank für Ihr Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Ina Lenke ist die nächste Rednerin für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Ina Lenke (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Kol-

lege hat zu mir gesagt: Wenn die Damen doch wenigerstreiten und mehr regieren würden! – Ein bisschenWahrheit steckt darin.

(Beifall bei der FDP)

Ich will nun zu unserem Thema kommen. Sehr geehr-ter Herr Rix, gleiche Leistung, weniger Lohn: Wie wiralle wissen, verdienen Frauen im Durchschnitt circa25 Prozent weniger als Männer. Studien der OECD, derEU und des Statistischen Bundesamtes belegen das sehrdeutlich. Es ist traurig – das muss uns alle ärgern –, dassDeutschland im europäischen Vergleich beim Entgelt-unterschied zwischen Männern und Frauen auf demviertletzten Platz liegt. Ein Bankkaufmann erhält durch-schnittlich 4 125 Euro, während eine Bankkauffrau3 049 Euro verdient. Ähnliche Unterschiede gibt es auchzwischen Verkäuferinnen und Verkäufern, Büroleiterin-nen und Büroleitern. Überall werden Frauen schlechterbezahlt als Männer und verdienen durchschnittlich25 Prozent weniger.

Warum ist das so? Ich möchte gerne auf Ihren Vor-schlag zu sprechen kommen, meine Damen und Herrenvon SPD und Grünen. Sie wollen ein Gleichstellungsge-setz für die Wirtschaft. Nach Meinung der FDP ist dasnicht die Lösung. Auch das Bundesgleichstellungsgesetzfür die Bundesverwaltung und die Gerichte des Bundeshat nicht immer, wie wir alle wissen, zu gleicher Bezah-lung geführt; darüber gibt es Berichte. Hier wurde zumBeispiel die Möglichkeit der Teilzeitarbeit erweitert, umauch Vätern Teilzeitarbeit schmackhaft zu machen. Ge-nutzt haben diese Möglichkeit im Ergebnis nur weibli-che Angestellte. Die Teilzeitrate stieg bei ihnen stetig an.Wenn die Quote von 92 auf 93 Prozent steigt, dann frageich mich, ob ein solches Gesetz der richtige Weg ist.

Wir alle wissen, dass die Lohnungleichheit inDeutschland viele Ursachen hat. Frau Möllring hat rich-tigerweise das fehlende Angebot der Kleinkindbetreu-ung in Krippen und das mangelnde Angebot an Ganz-tagsbetreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährigegenannt. Wenn Kinder 70 Arbeitstage Schulferien ha-ben, während die Arbeitnehmer nur 30 Tage Urlaub ha-ben, dann führt das in der Regel dazu, dass die Ehepart-ner nie zur gleichen Zeit Urlaub machen können. Inmeinem Wahlkreisbüro hat eine Dame 14 Tage unbe-

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Ina Lenke

zahlten Urlaub genommen, damit sie einmal drei Wo-chen zusammen mit ihren Kindern Urlaub machen kann.Das muss man sich einmal vorstellen! Besonders für Al-leinerziehende ist das ein Jobkiller. Karrieren sind dannnatürlich ausgeschlossen.

Ich möchte noch etwas anderes wiederholen, wasFrau Möllring gesagt hat, weil das für die Öffentlichkeitwirklich wichtig ist. Junge Frauen sehen für sich nur einenges Berufsspektrum: Arzthelferinnen, Friseurinnen,Verkäuferinnen, Büroangestellte. Hier lassen jungeFrauen sehr oft außer Acht, dass das Gehalt in diesenBerufen niedrig ist und die Aufstiegsmöglichkeitengleich null sind. Information und Aufklärung in Schuleund Elternhaus sind daher – wir kennen keine andere Lö-sung – sehr wichtig. Das müssen wir vonseiten der Poli-tik unterstützen.

Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Teilzeitfalle. Je-mand, der Teilzeit arbeitet, hat wenige Aufstiegschan-cen. In diesem Zusammenhang ist auch das veralteteLohnsteuerklassensystem zu sehen. Liebe Kolleginnenund Kollegen, egal welcher Couleur, in der nächsten Le-gislaturperiode muss die Steuerklasse V abgeschafftwerden.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: In-dividualbesteuerung!)

Wer auch immer von der SPD gleich redet, kann gerneetwas gegen meine Argumente sagen. Aber ich finde, essoll jetzt endlich etwas passieren.

Ein weiterer Punkt ist die fehlende Familienfreund-lichkeit in den Betrieben. Flexible Arbeitszeiten sindwichtig. Elterngeld und Elternzeit muss es auch fürjunge Väter geben. Die Steuer- und Sozialversicherungs-freiheit bei den Kinderbetreuungskosten muss auch fürden öffentlichen Dienst gelten; das ist bisher nicht derFall. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertaghat in einer Broschüre super Vorschläge gemacht.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die können tolle Broschürenmachen, stellen aber keine Frauen ein!)

Diese können umgesetzt werden, Frau Schewe-Gerigk.Oft ohne finanziellen Mehraufwand können die Betriebefür die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Dortwerden wirklich gute Beispiele genannt, die einfach sindund die jeder versteht.

Die Baustellen in Deutschland bei der Schaffung ech-ter Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern sindvon den Tarifparteien, insbesondere von der Politik undder Wirtschaft sowie manches Mal – das will ich deut-lich sagen – von den Frauen selbst zu beseitigen. Heutehat die Familienministerin einen Vorschlag aus derSchweiz übernommen und zum Einsatz des Selbsttest-instruments Logib in Deutschland aufgefordert.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein freiwillig nutzbaresComputerprogramm!)

Mit diesem Selbsttest können die Unternehmen dieLohnschere zwischen den Geschlechtern überprüfen. Ichhoffe, dass sich dadurch einiges ändern wird.

Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss. DieFDP fordert die Bundesregierung unter anderem auf,sich mit den Unternehmen und Sozialpartnern sowie imöffentlichen Dienst für eine Dienststrukturerhebung undÜberprüfung von Stellenbeschreibungen einzusetzen,um auf dieser Grundlage Lohnfindungssysteme und ge-gebenenfalls unterschiedliche Verfahren bei der Arbeits-bewertung auch im Hinblick auf die Entgeltgleichheit zuüberprüfen, das Steuerrecht auf Geschlechtergerechtig-keit abzuklopfen, das Elterngeldgesetz zu überarbeitenusw. Ich kann das leider nicht weiter ausführen; denn ichhabe meine Redezeit um eine Minute überzogen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Genau.

Ina Lenke (FDP): Ich hoffe, wir finden andere Beispiele dafür, wie wir

uns im Bundestag dafür einsetzen können, mehr Ge-schlechtergleichheit im Arbeitsleben herzustellen.

Danke.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Gradistanac

für die Fraktion der SPD.

(Beifall bei der SPD)

Renate Gradistanac (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! DerSchauspieler Mario Adorf sagte:

Ein erfolgreicher Mann ist ein Mann, der mehr ver-dient, als seine Frau ausgeben kann. Eine erfolgrei-che Frau ist eine, die so einen Mann findet.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Man sollte meinen, dass solch eine verstaubte Äuße-rung als schlechter Witz belächelt wird, aber von wegen!Die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Fraktion, Frau Fischbach, meinte kürzlich:

Die männlichen Kollegen sehen sich eher in der Er-nährerrolle und können nicht alles mittragen.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist jetzt aber sehr verkürzt!)

Frau Fischbach, es wird Zeit, dass Sie und Ihre Kolle-gen von der CDU/CSU die verstaubten Rollenbilder mo-dernisieren. Frauen wollen keine Anhängsel ihrer Män-ner sein; Frauen wollen ihren Lebensunterhalt selbstverdienen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

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Renate Gradistanac

Frau Möllring und ich haben ein Dreivierteljahr lang– ich wiederhole: ein Dreivierteljahr – intensiv über ei-nen Antrag zum Thema Entgeltgleichheit verhandelt.Dann wurde nicht einmal ein minimaler Konsens gefun-den. Ihre Rede heute war natürlich auch für die Katz.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!)

– Da hätte ich schon mehr erwartet, nachdem wir uns inTeilen einig waren.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Bis jetzt haben Sie nur geschwätzt! Nichts Konkretes!)

Herr Singhammer, Sie waren als frauenpolitischerSprecher der CDU/CSU nicht bereit, für diesen Antragzu kämpfen, und haben kläglich versagt. Ich bin da auchpersönlich sehr enttäuscht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ihr Versagen zeigt sich auch in Ihrem Fraktionsbeschlusszur Bekämpfung der Entgeltungleichheit. Appelle undfreiwillige Vereinbarungen – das haben wir jetzt wirklichgelernt – führen nicht zum Erfolg.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das neue Computerpro-gramm wird es richten!)

Bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Natio-nen in New York haben wir über die für Männer undFrauen unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- undWirtschaftskrise gesprochen. Die Internationale Arbeits-organisation, ILO, geht davon aus, dass Frauen gegen-über Männern eine schwächere Position haben, wenn esdarum geht, sich der Finanz- und Wirtschaftskrise zu wi-dersetzen. Ursachen hierfür sind die geringe Erwerbs-quote von Frauen, ihre schwächere Kontrolle über Ei-gentum und Ressourcen und die Konzentration vonFrauen in informeller und gefährdeter Beschäftigung mitgeringeren Verdiensten und geringerem sozialemSchutz.

Für den sozialdemokratischen EU-Kommissar Spidlaist die Angleichung der Löhne von Frauen und Männernnicht nur in der Krise ein moralisches und ökonomischesGebot. Deshalb brauchen wir verbindliche Regelungenund Gesetze. Zu dieser Ansicht kommt übrigens auchder CEDAW-Ausschuss.

(Beifall bei der SPD)

Nur durch eine aktive Gleichstellungspolitik könnenwir die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern end-lich schließen. Es gibt genügend Berichte und Analysenzu den Ursachen des Unterschiedes von circa 23 Pro-zent. Deswegen bekommen Frauen übrigens auch deut-lich weniger Rente als Männer und haben im Alter einhöheres Armutsrisiko.

Wir von der SPD-Fraktion fordern deshalb erstens dieVeränderung von Strukturen mit den Instrumenten Gen-der Mainstreaming und Gender Budgeting.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Jetzt kommt es endlich! Sie haben bisher nur geschwatzt!)

– Wenn Sie die Verhandlungen zwischen Frau Möllringund mir verfolgt hätten, wüssten Sie, wo ich stehe. Lei-der sind Gender Mainstreaming und Gender Budgetingfür viele immer noch Fremdwörter.

Zweitens fordern wir einen flächendeckenden gesetz-lichen Mindestlohn, drittens ein Gleichstellungsgesetzfür die Privatwirtschaft und viertens eine Quote von40 Prozent für die Besetzung von Aufsichtsräten.

(Beifall bei der SPD – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wassagt denn Herr Schröder dazu?)

Um gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeitdurchzusetzen, fordern wir fünftens einen Diskriminie-rungscheck für Lohnverträge

(Beifall bei der SPD)

und sechstens – dies wird Sie jetzt nicht verwundern –ein schärferes Antidiskriminierungsgesetz.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Angesichts des morgigen Equal Pay Days, bei demdie Frauenministerin ihren großen Auftritt hat, gebe ichIhnen ein Zitat von Abraham Lincoln mit auf den Weg– dies ist besonders an Sie gerichtet, meine Damen undHerren von der CDU/CSU –:

Wenn du nur das tust, was du immer getan hast,wirst du auch nur das bekommen, was du schon im-mer bekommen hast.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Dass Frauen im Jahr 2009 in unserem Land imDurchschnitt fast ein Viertel weniger verdienen als Män-ner, ist eine Schande.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN und der Abg. Ina Lenke [FDP])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat nun das Wort für

die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und

Herren! Bis zum Jahr 1957, in dem ich geboren wurde,mussten sich Frauen in der Bundesrepublik Deutschlandihren Arbeitsvertrag von ihrem Ehemann genehmigenlassen. Bis zum Jahr 1977 waren Frauen verpflichtet,sich um das Hauswesen zu kümmern. Heim und Herdwaren eine Domäne der Frau, Arbeit war eine Domänedes Mannes. So war das Familien- und Ehebild in derBundesrepublik: eine heterosexuelle Idylle unter demRegime des Mannes. Schön, nicht, Herr Singhammer?Sie nicken so.

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Dr. Barbara Höll

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie wares denn im real existierenden Sozialismus?Wie viele weibliche Mitglieder des Politbürosgab es denn?)

1957 besann man sich zum Glück auf den Gleichstel-lungsauftrag des Grundgesetzes. Die Bundesrepublikverpflichtete sich in jenem Jahr zur Entgeltgleichheitvon Mann und Frau. Man kann es kaum glauben:52 Jahre später sind wir von diesem Ziel weit entfernt.Konkret heißt dies beispielsweise, dass in die Bewertungder Arbeit einer Altenpflegerin ihre körperliche Belas-tung nicht mit einfließt, in die Bewertung der Arbeit ei-nes Hausmeisters sehr wohl; er erhält mehr Entgelt. Tä-tigkeiten, die zumeist selbstverständlich von Frauenausgeübt werden, werden nicht in gleicher Weise bewer-tet und damit auch nicht in gleicher Weise entlohnt wiedie Tätigkeiten ihrer männlichen Kollegen. Im Jahr 2009ist dies immer noch die bittere Wahrheit.

Fakt ist, die Lohnschere zwischen Frauen und Män-nern ist in den letzten Jahren sogar noch weiter auseinan-dergegangen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:Viele Frauen arbeiten in ungesicherten Beschäftigungs-verhältnissen, viele Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, vieleFrauen werden in ihrer Karriere benachteiligt, und vieleFrauen arbeiten im Niedriglohnsektor.

Meine Damen und Herren von der Großen Koalition– dies gilt auch für die Vorgängerregierung, die rot-grüneKoalition –, Sie sind an dieser Entwicklung mitschuldig:

(Beifall bei der LINKEN)

Ihre Arbeits- und Sozialpolitik führte zum Ausbau desNiedriglohnsektors. Ihre Einführung von Hartz IV hatdas Lohnniveau in den unteren Beschäftigungsverhält-nissen nach unten gedrückt.

(Ina Lenke [FDP]: In der ehemaligen DDR hatten alle Niedriglöhne!)

Ihre Politik hat zu einer Umgehung des Kündigungs-schutzes und zu einem Ausbau ungesicherter Arbeitsver-hältnisse geführt. Ihre Sozialpolitik ging und geht zulas-ten von Frauen. Sie haben die Lohnschere weitergeöffnet.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau Möllring, Sie haben sich heute nicht einmalmehr die Mühe gemacht, irgendwelche Ansätze zu for-mulieren. Ich habe darauf gewartet, dass Sie Appelle andie Wirtschaft richten, freiwillige Vereinbarungen abzu-schließen, oder Ähnliches. Nichts.

(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!)

Ihre Bundesregierung hat sich im Vorjahr zur nationalenNachhaltigkeitsstrategie und dazu verpflichtet, den Ent-geltabstand bis zum Jahr 2010 auf 15 Prozent zu verrin-gern. Bis zum Jahr 2015 soll er nur noch 10 Prozent be-tragen. Wie denn, bitte schön? Antworten gehören aufden Tisch.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohnvon mindestens 8,71 Euro,

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oskar wollte doch 10 Euro!)

der bald auf 10 Euro angehoben werden muss. Wir brau-chen ein sogenanntes proaktives Gesetz, das die Tarif-parteien zu einer diskriminierungsfreien Entgeltbewer-tung verpflichtet. Die Tätigkeiten müssen tatsächlichdiskriminierungsfrei bewertet werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen ein Verbandsklagerecht im AllgemeinenGleichbehandlungsgesetz, damit das AGG nicht weiterein zahnloser Tiger bleibt. Wir benötigen eine Antidis-kriminierungsstelle, die vom Familienministerium abge-koppelt wird und ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsenist.

(Beifall bei der LINKEN)

Heute liegen drei Anträge der Opposition vor. DieSPD hat verkündet, was sie will. Ich frage Sie: Mit wemwollen Sie das umsetzen? Dieser Frage müssen Sie sichstellen. In den letzten Jahren sind Sie hier Antwortenschuldig geblieben. Sie haben es in Ihrer Koalition nichtgeschafft, etwas durchzusetzen, im Gegenteil. Heute hät-ten Sie die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen.Das wäre ein wesentlicher Schritt in die richtige Rich-tung.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt spricht Irmingard Schewe-Gerigk für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Frau Ministerin ist nicht da, sie will dieser wichtigenDebatte fernbleiben.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der Staatssekretär ist da!)

Anlässlich des Equal-Pay-Day demonstrieren morgenFrauen mit roten Taschen gegen rote Zahlen und dage-gen, dass Frauen im 21. Jahrhundert immer noch 23 Pro-zent weniger Geld bekommen als Männer. Mit demMotto „Wer etwas ändern will, muss auch handeln“ sindwir angesprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aberganz besonders die Regierung. Das Regierungshandelnbeschränkt sich auf das Schreiben von Pressemitteilun-gen und auf das Erstellen von Computerprogrammen. Esist gut, dass die Grünen nicht mehr die Einzigen sind, diedas Thema Entgeltgleichheit immer wieder auf die Ta-gesordnung bringen.

(Zurufe von der LINKEN)

Auch EU-Arbeitskommissar Spidla wiederholt es gera-dezu gebetsmühlenartig: Die Lohnunterschiede zwi-schen Frauen und Männern liegen in der EU bei

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Irmingard Schewe-Gerigk

17 Prozent. Deutschland schafft es auf einen der hinters-ten Plätze mit 23 Prozent. Jetzt endlich will die EU ge-setzliche Regelungen prüfen. Überfällig, kann ich da nursagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auf Initiative der Grünen hatten wir im Januar eineAusschussanhörung zu unserem Antrag zur Entgelt-gleichheit. Dabei wurde deutlich, dass die extremenLohnunterschiede in Deutschland nicht nur eine Ursachehaben. Darum brauchen wir eine Vielzahl von Maßnah-men. Aber klar ist: Ohne gesetzliche Regelungen, wiewir sie fordern, wird es nicht gehen. Darum muss dieBundesregierung endlich aktiv werden. Wir Grünen for-dern, die Eingruppierungskriterien in den Tarifverträgenauf Diskriminierung zu prüfen.

(Ina Lenke [FDP]: Ist doch in Ordnung!)

Hier muss der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktionübernehmen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ina Lenke [FDP])

Wir stehen zur Tarifautonomie, aber so kann es nichtweitergehen. Arbeitgeber wie Gewerkschaften müssendiese Aufgabe endlich ernst nehmen. Gleichstellung aufdem Arbeitsmarkt kann nur durch die Zusammenarbeitaller Verantwortlichen erreicht werden. Da muss ich einetraurige Bilanz in diesem Hause ziehen: Die letzten vierJahren waren frauenpolitisch eine verlorene Zeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gab nicht ein Gesetz zum Thema Frauenrechte, Siehaben nicht einen Gesetzentwurf vorgelegt. Unsere An-träge haben Sie ständig abgelehnt. Ein gesetzlicher Min-destlohn wäre ein sinnvoller Schritt zur Verringerung desLohngefälles. Immerhin würde davon jede vierte Frauprofitieren. Das heißt, jede vierte Frau verdient wenigerals 7,50 Euro. Wir brauchen aber auch ein Verbandskla-gerecht, damit Arbeitnehmerinnen gegen kollektiveLohndiskriminierungen nicht immer nur individuell kla-gen müssen. All diese Forderungen haben Sie am Mitt-woch im Ausschuss abgelehnt. Von Ihnen kam nicht eineinziger Vorschlag.

Es gibt noch einen anderen Ursprung der Schieflage:Bei uns hapert es schlicht und einfach an der Verände-rung der Geschlechterrollen. Auch im Jahr 2009 ist dieForderung nach einer gerechten Aufteilung von Haus-und Familienarbeit zwischen Frauen und Männern so ak-tuell wie eh und je. Der europäische Mann arbeitet imSchnitt sechs Stunden im Haushalt, die Frau 25 Stunden.Deutschland hat einen extrem hohen Anteil von Frauen,die Teilzeit arbeiten. Warum? Weil unsere Kinderbetreu-ung, unser Schulsystem und selbst unsere Versorgungder alten Menschen darauf basieren, dass Frauen ein-springen.

In diesem Zusammenhang werde ich bei einem Blickin die USA ganz neidisch. Das erste Gesetz, das Präsi-dent Obama nach seinem Amtsantritt unterzeichnete, derFair Pay Act, soll dort eine faire Bezahlung sicherstellen.

Es wäre schön, wenn so etwas auch bei uns zustandekäme.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD – JohannesSinghammer [CDU/CSU]: Sie waren doch sie-ben Jahre an der Regierung!)

In unserem Land scheint das Thema Geschlechterge-rechtigkeit nur in Zeiten des Wahlkampfs auf derAgenda zu stehen. Ich muss jetzt die Kollegin von derSPD ansehen: Dass Franz Müntefering im Wahlkampf-getöse fordert, dass die Entgeltgleichheit sogar insGrundgesetz geschrieben wird, ist bestenfalls scheinhei-lig. Dass morgen der SPD-Generalsekretär vor demBrandenburger Tor gegen ungleiche Löhne demonstrie-ren wird, das halte ich nun wirklich für eine Dreistigkeit.Demonstriert er eigentlich gegen sich selbst? Sie sind inder Regierung, Sie hätten etwas machen können, undjetzt demonstrieren Sie da.

Die Ministerin hat heute ein Computerprogramm vor-gestellt, das die Firmen freiwillig anwenden können. Ichglaube, mit diesem Computerprogramm werden wirnicht für Lohngerechtigkeit sorgen können. Wir sehenkein konkretes Handeln. So kann es nicht weitergehen.Regieren via Pressemitteilung ist zu wenig. Tun Sie end-lich Ihre Arbeit!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die Fraktion

der CDU/CSU.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ich jetzt am Fernseher oder hier oben auf der Be-suchertribüne sitzen würde, würde ich mich fragen: Wasist das eigentlich für eine Debatte?

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

Es geht um Frauen, es geht um berechtigte Anliegender Frauen, und bis jetzt habe ich nur Gezank und Geze-ter gehört.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg.Ina Lenke [FDP])

– Ich werde es jetzt präzisieren, Frau Lenke. FrauGradistanac, Ihre Rede bestand aus nichts anderem alsGezeter und einer 50-sekündigen Aufzählung. Da Siesich erlaubt haben, sich zur Rede der Kollegin zu äußern,darf ich das ebenfalls, obwohl ich das eigentlich nichtgut finde, und deswegen beende ich das jetzt auch.

Mich hat gewundert, dass Sie so genau wissen – FrauSchewe-Gerigk hat gerade in das gleiche Horn gesto-ßen –, was alles richtig und was falsch war. Als Sie zu-sammen in der Regierung waren, hätten Sie etwas tunkönnen. Ich muss mich fragen: Haben Sie es damals

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Ingrid Fischbach

nicht ernst gemeint, oder haben Sie heute neue Erkennt-nisse? Das würde bedeuten, dass man erst einmalschauen muss, was woanders passiert, und dass man da-raus Lehren für das eigene Handeln ziehen muss.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind an der Regierung!Sie sind unbelehrbar!)

– Wir sind an der Regierung, und deshalb werden wir,Frau Schewe-Gerigk, uns dazu äußern; wir haben es be-reits getan.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: „Äußern“!)

Die heutige Debatte findet auch aufgrund des Equal PayDays, den wir eingeführt haben, statt.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Ihr Antrag?)

– Wenn Sie eine Frage haben, dann melden Sie sich zueiner Zwischenfrage. Ich kann dann ein bisschen längerreden. Bis jetzt muss ich meine Redezeit auf vier Minu-ten beschränken.

Ihre Antwort, „Ein Gleichstellungsgesetz wird esbringen“, bringt es nicht auf den Punkt; denn die Ursa-chen sind vielfältig. Das haben Sie alle gesagt. Wir wis-sen, dass es in der finanziellen Bewertung der Arbeitganz unterschiedliche Ansätze gibt. Angesichts dessenmuss das uns und vor allen Dingen den Tarifparteien einAnliegen sein. Hier spreche ich die Gewerkschaften an,die sich immer für Arbeitnehmerinteressen einsetzen;wahrscheinlich tun sie es nur für Arbeitnehmerinteressenund nicht für Arbeitnehmerinneninteressen. Es ist an derZeit, dass auch in ihrer Spitze mehr Frauen sind, die sichdafür einsetzen, dass das Gefälle bei den Löhnen derFrauen beseitigt wird. Das wäre wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Warum wird die Pflege schlechter bezahlt als einekörperliche Tätigkeit auf dem Bau? Das kann ich über-haupt nicht nachvollziehen. Wenn dieser Unterschied be-seitigt wird, dann hätten wir schon einmal eine zentraleBaustelle weniger.

Sie haben gerade das Computersystem Logib lächer-lich gemacht. Wenn Sie sich in anderen Ländern ein we-nig umhören – das haben Sie auch bei der Quote getan;Sie nehmen Norwegen als Beispiel –, dann erfahren Sie,dass die Schweiz freiwillige Lohntests eingeführt hat.Diese Tests haben sehr gut eingeschlagen.

Das heißt, die Unternehmen haben sich beteiligt. Die-jenigen, die sich da noch nicht beteiligt haben, kamen sounter Druck, dass sie es tun mussten. Das ist ein Weg,den auch wir einschlagen müssen. Das ist richtig undwichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen an zwei weiteren Punkten ansetzen. Ers-tens geht es um den Fall, dass junge Frauen ihre Er-werbstätigkeit unterbrechen, weil sie Kinder bekommen.Ich war erstaunt, dass Sie, Frau Gradistanac, wissen, wasdie Frauen alles wollen. Ich erfahre bei meinen Reisen

durchs Land – sie sind sehr vielfältig –, dass die jungenFrauen sehr wohl arbeiten wollen, aber in den ersten Jah-ren nach der Geburt in Teilzeit. Warum fangen wir nichtan, einmal die Diskrepanzen aufzulisten? Warum wirdTeilzeit unterbewertet? Warum ist Teilzeit in unseremLand für die Frauen auch heute noch ein Schritt zurückauf der Karriereleiter? Warum können wir Unternehmennicht dazu bringen, dass Teilzeitarbeit höher bewertetwird, sodass sie keinen Karriereknick bedeutet?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Der zweite Aspekt, der hier eine Rolle spielt, ist dasPotenzial der Frauen, die um die 30 oder 40 sind und diebisher ein anderes Lebensmodell hatten. Wie schaffenwir es, dieses Potenzial zu aktivieren, das heißt, ihnenden Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen?Frauen in dem Alter haben noch 20 bis 25 Jahre vor sich,in denen sie aktiv arbeiten können. Deshalb ist das Mi-nisterium sehr gut aufgestellt gewesen, als es das Pro-gramm für Frauen zum Wiedereinstieg in den Beruf aufden Weg gebracht hat.

Das sind zwei Punkte, bei denen wir ansetzen müs-sen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich möchte einen Satz zur Quote sagen. Wir von derCDU/CSU-Fraktion sind sehr dafür – das wird auch un-sere Forderung sein, die wir in der nächsten Zeit nochthematisieren werden –, dass in den Corporate-Gover-nance-Kodex eine Bestimmung aufgenommen wird, diediese „Aufsichtsratsquote“ beinhaltet.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätten Sie in der letztenSitzungswoche doch unserem Antrag zustim-men können!)

– Anders als Sie, Frau Schewe-Gerigk – Sie bölken im-mer dazwischen –, werden wir uns die Anwendung die-ses Kodexes anschauen, wenn dieser Punkt aufgenom-men ist.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Den Antrag hatten wir doch!)

Wir werden zur gegebenen Zeit reagieren; wir werdennicht Jahre warten wie Sie, um etwas zu verändern.Wenn die Zahl der Frauen nicht entsprechend erhöhtwird, werden wir sicherlich ganz schnell andere Rege-lungen treffen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Liebe Frau Fischbach, ich bin mir nicht ganz sicher,

dass das Wort „dazwischenbölken“ ein parlamentari-scher Ausdruck ist. Ich nehme einmal an, Sie wollten soetwas wie „rufen“ oder „brüllen“ zum Ausdruck brin-gen.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Im Ruhrgebietsagen wir „bölken“! Aber ich nehme es zu-rück!)

– Gut.

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Ich erteile das Wort dem Kollegen Sönke Rix für dieSPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Sönke Rix (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe FrauLenke, weil Sie mich vorhin so nett gleich als Erstes an-gesprochen haben, mache ich das jetzt umgekehrt auch.Frau Lenke, Sie haben betont, Ihre Redezeit sei zu kurz;sonst wären die Antworten auf die Frage, die auch ichIhnen jetzt stellen muss, gekommen.

(Ina Lenke [FDP]: Wir haben einen Antrag dazu!)

– Ich weiß. Ich habe ihn auch gelesen. Darin sind sehrviele Appelle und sehr viele Maßnahmen, die auf Frei-willigkeit der Arbeitgeber und der Tarifparteien setzen.Das haben wir seit Jahren gefordert. Das haben wir seitJahren praktiziert. Trotzdem sind wir im EU-Vergleichimmer noch auf einem der letzten Plätze.

(Ina Lenke [FDP]: Aber das hat doch andere Ursachen!)

Deshalb glaube ich, dass freiwillige Lösungen nichtmehr tragen.

(Beifall bei der SPD)

Sehr geehrte Frau Höll, Sie haben gesagt, dass dieSPD keine Lösungen vorgeschlagen hat, bzw. gefragt,warum wir das, was wir vorgeschlagen haben, nicht ma-chen. Ich muss dazu sagen: Es gibt Zeiten, da sind Ge-meinsamkeiten in einer Koalition aufgebraucht. Das ha-ben wir bei der Debatte heute deutlich gemerkt. Die SPDhat klar Position bezogen. Sie haben gefragt, wann wirdas machen wollen. Wir machen das nach der nächstenBundestagswahl, wenn wir mit den Grünen – da habenwir nämlich viele Gemeinsamkeiten – die Mehrheit ha-ben.

(Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Sie wissen, dass das nicht reicht! Mitwem denn noch? Sagen Sie das einmal!)

Wir haben schon in der vergangenen Legislatur-periode ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichenDienst auf den Weg gebracht.

(Ina Lenke [FDP]: Das hat doch nichts ge-bracht, Herr Rix!)

Ich glaube, dass es tatsächlich nicht an allen Stellen et-was gebracht hat, aber für die freie Wirtschaft wäre einsolches Gesetz ein kleiner, aber wichtiger Schritt, umauch hier Lohngleichheit und mehr Gleichberechtigungzu erreichen.

(Beifall bei der SPD)

Frau Fischbach, Sie haben gesagt, dass meine Kolle-gin Gradistanac keine Punkte genannt hat. Sie hat angeb-lich nur – ich will diesen Begriff jetzt nicht noch einmalgebrauchen – irgendwie negativ gerufen; so will ich es

einmal bezeichnen. Tatsächlich wurden sechs Punkteaufgezählt.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ich habe ge-sagt, dass sie die aufgezählt hat!)

Die habe ich in Ihrer Rede vermisst. Sie haben zwar dieVorredner kritisiert und zwei Punkte angeführt. Bei die-sen setzen Sie jedoch auch wieder auf Freiwilligkeit. Ichfrage mich da, was das soll. Wir sind hier das Parlamentund dazu da, Gesetze zu verabschieden.

(Ina Lenke [FDP]: Aber Gesetze helfen nicht immer!)

Deshalb wäre es ganz sinnvoll, nicht nur Appelle zu ver-breiten, weil morgen ein besonderer Tag ist, und für dieentsprechenden Aktionen zu werben, sondern auch dieVerantwortung als Gesetzgeber deutlich wahrzunehmenund entsprechende Maßnahmen umzusetzen.

(Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Dazu hatten Sie doch schon lange ge-nug Zeit!)

Wir sollten bei all dem, was wir schon gemeinsam aufden Weg gebracht haben, liebe Kolleginnen und Kolle-gen aus der Koalition, unser Licht nicht unter den Schef-fel stellen. Frau Möllring hat zwar das Elterngeld er-wähnt, aber die Initiative hierzu Frau von der Leyenzugeschrieben. Ich will jetzt nicht noch einmal diesesFass aufmachen, sondern halte nur fest: Die Idee dazukam eigentlich von der Sozialdemokratin RenateSchmidt. Ich bin ja ganz dankbar, dass die Union diesenAnsatz trotz Widerstandes aus den eigenen Reihen mit-getragen hat. Auch der gemeinsam auf den Weg ge-brachte Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wichtigerPunkt. Von daher sollten wir angesichts der Maßnahmen,die wir gemeinsam ergriffen haben, unser Licht nicht un-ter den Scheffel stellen. Ich würde mir wünschen, wirwürden noch mehr Dinge gemeinsam umsetzen, aber ichglaube, das ist in dieser Legislaturperiode nicht mehrmöglich.

(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Doch! Wir ha-ben bis September noch Zeit! – Weitere Zurufevon der CDU/CSU)

So bleibt aber wenigstens ein bisschen Vorfreude auf dienächste Legislaturperiode.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hiermit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufDrucksache 16/12265. Der Ausschuss empfiehlt unterNr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/8784 mit dem Titel: „Durchsetzung der Ent-geltgleichheit von Frauen und Männern – Gleicher Lohnfür gleichwertige Arbeit“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt

Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen und der FDP, Gegenstimmen in derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.

Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung desAntrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11175mit dem Titel: „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit –Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen undMännern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange-nommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei-ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11192 mitdem Titel: „Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech-tern wirksam durchsetzen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung derKoalitionsfraktionen, der FDP und Bündnis 90/Die Grü-nen und Ablehnung der Fraktion Die Linke angenom-men.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 cauf:

a) Erste Beratung des von den AbgeordnetenDr. Carola Reimann, Detlef Parr, Frank Spiethund weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur diamorphingestütztenSubstitutionsbehandlung

– Drucksache 16/11515 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes über die diamorphin-gestützte Substitutionsbehandlung

– Drucksache 16/7249 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten JensSpahn, Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faustund weiterer Abgeordneter

Ausstiegsorientierte Drogenpolitik fortführen –Künftige Optionen durch ein neues Modell-projekt zur heroingestützten Substitutionsbe-handlung Opiatabhängiger evaluieren

– Drucksache 16/12238 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Verabredung ist vorge-sehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazusehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion.

Dr. Carola Reimann (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzent-wurfes zur diamorphingestützten Substitutionsbehand-lung machen wir einen wichtigen Schritt hin zu einerdauerhaften und auch langfristig tragfähigen Regelungfür Schwerstopiatabhängige. Hinter diesem Entwurf, dersich inhaltlich eng an die Bundesratsinitiative anlehnt,stehen zahlreiche Abgeordnete von SPD, FDP, den Lin-ken und Bündnis 90/Die Grünen. Das freut mich, weildurch die breite Unterstützung aus fast allen Fraktionenhoffentlich zügig eine ausreichende gesetzliche Grund-lage für die diamorphingestützte Substitutionsbehand-lung geschaffen werden kann.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP)

Darauf warten die betroffenen Schwerstabhängigen unddiejenigen, die sich in den Projekten engagieren undgute Arbeit leisten. Es wird deshalb höchste Zeit, dassein solches Gesetz kommt.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Modellprojekte und die damit verbundene klini-sche Studie haben klar nachgewiesen, dass die Diamor-phinbehandlung den Gesundheitszustand und die Le-bensumstände von Schwerstopiatabhängigen verbessert,und zwar mit signifikant besseren Ergebnissen als beider Methadonbehandlung. Bei den Betroffenen – daswill ich an dieser Stelle sagen – handelt es sich um lang-jährig schwerstabhängige Menschen in äußerst kriti-schem Gesundheitszustand. Durch die jahrelange Heroin-abhängigkeit ist ihr Körper schwer gezeichnet. Für sie istdie Behandlung mit Diamorphin die letzte Therapieop-tion, eine allerletzte Chance, in ein geregeltes Leben zu-rückzukehren. Es besteht kein Zweifel: Durch die Mo-dellprojekte haben Schwerstabhängige wieder zurück insLeben gefunden.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen jetzt eine gesetzliche Grundlage, damitdiese Versorgung auch fortgesetzt werden kann. Mit demGesetzentwurf wollen wir die rechtlichen Voraussetzun-gen dafür schaffen, dass Diamorphin, also künstlichesHeroin, im Falle seiner Zulassung als Arzneimittel zurBehandlung von Schwerstopiatabhängigen eingesetztwerden kann. Dazu ist es notwendig, dass erstens Dia-morphin als verschreibungsfähiges Betäubungsmitteleingestuft wird und zweitens strenge Kriterien für dieVerwendung von Diamorphin zur Substitution einge-führt werden.

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Dr. Carola Reimann

Uns ist völlig klar, dass es sich hier um eine beson-dere Substanz und Behandlungsmethode handelt. Des-halb befinden sich im Entwurf für die kontrollierte Ab-gabe auch strikte Vorgaben zum Personenkreis:

(Detlef Parr [FDP]: Sehr notwendig!)

Die Diamorphinbehandlung kommt nur für Schwerst-opiatabhängige infrage. Das heißt, eine Abhängigkeitmuss seit mindestens fünf Jahren bestehen, verbundenmit schwerwiegenden körperlichen und psychischenStörungen. Vor Beginn einer solchen Behandlung müs-sen mindestens zwei andere Therapien versucht wordensein, die erfolglos waren. Außerdem muss der Patientmindestens 23 Jahre alt sein. Die an den Projekten Betei-ligten sind häufig sehr viel älter. Hinzu kommt, dass dieBehandlung nur in bestimmten Einrichtungen und Zen-tren vorgenommen werden darf, die besondere Anforde-rungen erfüllen müssen, insbesondere im Hinblick aufdie Sicherheit. Weitere Maßnahmen sind ein Sonderver-triebsweg und eine entsprechende Qualifikation derÄrzte.

Der Gesetzentwurf trägt also den Bedürfnissen derSchwerstabhängigen Rechnung und enthält zugleich dienotwendigen strengen Sonderregelungen, die wir beimUmgang mit dieser besonderen Substanz brauchen.

(Beifall bei der SPD, der FDP und der LIN-KEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSUund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, kann ich nicht nachvollziehen, warum Sie sich sovehement gegen diesen Gesetzentwurf sträuben.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Weil es viele offene Fragen gibt!)

Ihr Antrag, den Sie nach langem Zögern – besser gesagt:nach langem Verzögern – vorgelegt haben, wiederholtalte und unzutreffende Zweifel an den Studienergebnis-sen

(Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!)

und erweckt in unverantwortlicher Art und Weise denEindruck, dass künftig Zehntausende von Abhängigenfür die Substitutionsbehandlung Schlange stehen wer-den. Das ist nicht wahr. Er belässt außerdem Betroffenewie auch Mitarbeiter in den Projekten in unsicheren Pro-visorien.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser halbherzige und unzureichende Antrag ver-stärkt bei mir den Eindruck, dass Ihre Ablehnung nichtaus fachlichen, sondern aus rein ideologischen Gründenerfolgt.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Spieth[DIE LINKE]: Sehr bedauerlich!)

Überzeugende und stichhaltige Argumente, die gegenunseren Gesetzentwurf sprechen, kann ich in Ihrem An-trag nicht entdecken. Stattdessen sprechen Sie blumigvon offenen Fragen, die noch geklärt werden müssen.

Nach jahrelangen Modellprojekten, mehrjährigen Stu-dien, positiven Ergebnissen auch aus anderen Ländernund guten Erfahrungen mit den Projekten hier vor Ortsind alle Fragen, die zu klären waren, geklärt.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)

Jetzt ist es Zeit, dass wir endlich eine sichere gesetzlicheGrundlage zur Weiterführung der Projekte schaffen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Gesetzentwurf wird durch eine breite Unterstüt-zung interfraktionell getragen. Er wird von zahlreichenExperten, Verbänden und Politikern vor Ort – im Übri-gen auch von CDU-Kollegen – unterstützt. Er wirdebenfalls unterstützt von Praktikern und Fachleuten inden Einrichtungen vor Ort, ja mehr noch: seit vielen Wo-chen und Monaten gefordert. Deshalb werbe ich dafür,den Gesetzentwurf nun zügig zu beraten, damit wir nochin diesem Frühjahr eine sichere gesetzliche Grundlagezur Weiterführung dieser Versorgung schaffen.

Danke.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. StephanEisel [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn zu denZweifeln der Experten?)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Detlef Parr für

die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Detlef Parr (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jobcenter gestern: Union gegen Union; Hilfe fürSchwerstabhängige heute: Union gegen Union. DieCDU/CSU ist dabei, nur noch Eigentore zu schießen.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg.Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Lassen Sie mich kurz erklären, warum. Wir beratenheute unter anderem einen Gesetzentwurf, der auf An-trag der Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen, desSaarlandes und des Landes Nordrhein-Westfalen imBundesrat beschlossen wurde. Ich brauche Ihnen nichtzu sagen, wer in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen mit der FDP regiert. Die Zusammenarbeitzwischen den Ländern und dem Bund funktioniert offen-bar nicht mehr.

Die CDU/CSU setzt noch einen obendrauf, nämlicheinen eigenen Antrag, der die guten und richtigen Vor-schläge sowohl im Gesetzentwurf des Bundesrates alsauch in unserem interfraktionellen Gesetzentwurf, end-lich die schon lange fälligen Regelungen für die Auf-nahme der diamorphingestützten Substitutionsbehand-lungen in die gesundheitliche Regelversorgung zuschaffen, konterkariert. In einigen Städten und Ländern,

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Detlef Parr

zum Beispiel in Karlsruhe, hat die CDU dagegen bewie-sen, dass sie aus den dort seit 2002 durchgeführten Mo-dellprojekten die richtige Schlussfolgerung gezogen hat,den therapeutischen Weg für eine Diamorphinbehand-lung für Schwerstabhängige freizumachen.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht nicht darum – wie uns die Union im Bundes-tag glauben machen möchte –, großflächig Manna anDrogenabhängige zu verteilen. Vielmehr geht es darum,einer kleinen Gruppe von Menschen – sie wird nicht insUnermessliche wachsen, weil wir eine vernünftigeSucht- und Drogenpolitik machen, die, Frau Drogenbe-auftragte, natürlich noch ein bisschen verbessert werdenkönnte; wir haben viele Gemeinsamkeiten in diesem Be-reich –, die heroinabhängig ist und die mit den bisheri-gen Hilfsangeboten nicht erreicht werden konnte, zu hel-fen, in den Alltag des Lebens zurückzufinden.

Der Bundesrat hat bereits am 21. September 2007 fürden Gesetzentwurf gestimmt. Weil die CDU/CSU diesenblockiert hat, befassen wir uns erst heute, eineinhalbJahre später, mit dieser Initiative. Das ist eine lange Zeit,die ungenutzt verstrichen ist und die die Betroffenen ingroße Unsicherheit versetzt hat.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Leider verweigert sich die CDU/CSU-Bundestags-fraktion nach wie vor der uneingeschränkten Unterstüt-zung von Menschen, bei denen eine herkömmliche Sub-stitutionsbehandlung nicht erfolgreich verläuft oder dievon anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nichtmehr erreicht werden

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Bleiben Sie doch mal sachlich!)

– Entschuldigung, Herr Kollege, das alles sind Fakten –,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

von Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahrehöher ist als das eines durchschnittlichen Drogenabhän-gigen in Deutschland, und von Schwerstbetroffenen, fürdie es oft nur noch ums nackte Überleben geht.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Was sagen Siezu den unterschiedlichen Meinungen derÄrzte?)

Sie wollen die gesicherten Ergebnisse nicht zur Kenntnisnehmen, wie die deutliche Verbesserung des gesundheit-lichen Zustands der Patienten.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht! Die Ärzte sind unterschiedli-cher Meinung!)

– Je lauter Sie rufen, umso weniger überzeugend sindIhre Argumente, Herr Kollege.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD, der LINKEN und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie wollen den Rückgang des illegalen Drogenkonsums,die sinkende Quote der Beschaffungskriminalität, dieAbnahme der Prostitution, die von 11 Prozent auf27 Prozent gestiegene Zahl der regelmäßig Arbeitenden,die Delinquenzrate, die sich innerhalb eines Jahres von70 Prozent auf 27 Prozent zurückentwickelt hat, nichtzur Kenntnis nehmen. Diese Haltung, die Sie nach wievor gegenüber den Modellprojekten und diesen Ergeb-nissen einnehmen, ist nicht nachvollziehbar.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb bin ich der SPD dankbar, liebe FrauReimann, dass wir einen Gruppengesetzentwurf auf denWeg bringen konnten, der interfraktionell großen Zu-spruch fand und noch immer findet. Wer ihn genau liest,stößt immer wieder auf Brücken, die wir der Union ge-baut haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LIN-KEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Es sind zahlreiche Sonderregelungen vorgesehen. Sodarf Diamorphin ausschließlich zur Substitutionsbe-handlung verschrieben werden und nicht zur Schmerzbe-handlung. Der Vorwurf, es gebe Heroin auf Kranken-schein, läuft also ins Leere.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN)

Die Behandlung darf nur in bestimmten Einrichtungenvorgenommen werden, die einer Erlaubnis der Landes-behörde bedürfen und die eine besondere personelle undsächliche Ausstattung vorweisen müssen. Auch die Si-cherheitsbedingungen sind sehr hoch angesetzt. Das be-nötigte Diamorphin darf nur auf einem Sondervertriebs-weg geliefert werden; um einige Beispiele zu nennen.

Die Bundesärztekammer, liebe Kolleginnen und Kol-legen der Union, hat so viel Vertrauen in diese Behand-lungsmethode, dass sie sie in ihre Substitutionsrichtli-nien und ihr Fortbildungsprogramm einarbeiten will.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Bedenkenträger bleibt allein die CDU/CSU. Sie kannsich nur zu einer müden Fortführung des Modellprojektsdurchringen. Damit spielt sie weiter auf Zeit und lässtschwerstabhängige Menschen im Stich. Das Gewissenwird scheinbar beruhigt, aber die Probleme bleiben un-gelöst.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordnetender SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Das wollen wir nicht mitmachen. Wir brauchen dieAufnahme in die Regelversorgung jetzt. Das duldet kei-nen Aufschub mehr.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Elke Ferner [SPD])

250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurfbis heute unterschrieben.

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Detlef Parr

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Nur ein Drit-tel der FDP!)

Es fehlen nicht mehr viele bis zur Mehrheit. Machen Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dieÜberlebenshilfe auch zu Ihrer Sache! Folgen Sie Ihrerinneren sozialen Stimme

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Christlich!)

und lassen Sie endlich einmal Fraktionszwang Frak-tionszwang sein!

Danke.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowiebei Abgeordneten der SPD – Frank Spieth[DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt:Eine Gewissensentscheidung müssen Sie tref-fen!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat Maria Eichhorn das Wort für die Fraktion der

CDU/CSU.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach dieser Rede ist es schwer, sachlich zu bleiben. Ichwerde mich trotzdem darum bemühen, auch wenn Siediese Sachlichkeit haben vermissen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Was?)

In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise140 000 Opiatabhängige. Das sind 140 000 Menschen,die nicht mehr von der Droge loskommen und daher un-serer Hilfe bedürfen. Von den 140 000 Abhängigen be-finden sich 60 000 in Behandlung, 90 Prozent davon inSubstitutionsprogrammen. Das ist kein schlechter Wert,wenn man das mit der Versorgungslage bei anderen Ab-hängigkeiten vergleicht. Studien belegen zum Beispiel,dass nur 5 bis 10 Prozent der Alkoholabhängigen behan-delt werden.

1998 vereinbarte die rot-grüne Bundesregierung imKoalitionsvertrag einen Modellversuch zur heroinge-stützten Behandlung Opiatabhängiger. Dadurch sollteüberprüft werden, ob sich der Gesundheitszustand derPatienten verbessert, wenn ihnen Heroin statt Methadonverabreicht wird. Auch die Auswirkung der Heroinsub-stitution auf den Konsum von Straßenheroin war Unter-suchungsgegenstand.

Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um dieKollegen Reimann, Parr und andere sowie im Gesetzent-wurf des Bundesrates wird nun gefordert, im Zuge die-ses Modellprojekts die Diamorphinbehandlung in dieRegelversorgung zu überführen. Die Bundestagsfraktionder CDU/CSU hat sich mit Beschluss vom 26. Novem-ber 2007 aus guten Gründen dagegen ausgesprochen.Stattdessen haben wir vorgeschlagen, die Heroinbehand-lung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit demZiel weiterzuführen, die offenen Fragen zu klären. VieleFachleute unterstützen uns in dieser Haltung.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die SPD und das Bundesgesundheitsministerium habenunseren Vorschlag aus nicht nachvollziehbaren Gründenabgelehnt.

(Elke Ferner [SPD]: Ich hätte Ihnen mehr Ver-stand zugetraut!)

Für die Entscheidung der Union waren schwerwie-gende fachliche Argumente gegen die Heroinsubstitu-tion ausschlaggebend.

(Elke Ferner [SPD]: Das wäre ja etwas Neues, Frau Eichhorn!)

Diese wurden von Sachverständigen der Wissenschaft,der Ärzte und der Krankenversicherungen – Sie warenselbst dabei – im September 2007 in einer Anhörung imDeutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht. Für vieleExperten lassen die Ergebnisse der Studie keinen siche-ren Schluss auf eine Überlegenheit von Heroin gegen-über Methadon bei Schwerstabhängigen zu. Bei der Ver-besserung des Gesundheitszustandes der Patienten unddem Rückgang des illegalen Drogenkonsums ergabensich zwar statistisch signifikante Unterschiede zugunstender Heroinsubstitution; diese sind jedoch so gering, dasssie nach Meinung der Experten

(Detlef Parr [FDP]: Welcher Experten? –Frank Spieth [DIE LINKE]: Das sieht derBundesrat ja offenkundig ganz anders!)

für die Praxis kaum von Bedeutung sind und eine erheb-liche Zunahme der Heroinsubstitution zulasten der Me-thadonsubstitution nicht rechtfertigen.

(Zuruf der Abg. Sabine Bätzing [SPD])

– Ich komme darauf noch zu sprechen.

Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer un-terschiedlichen Erwartungshaltung bei den Patienten.Erfahrene Substitutionsärzte weisen darauf hin, dass Pa-tienten oft bereits in Erwartung der Behandlung von ei-nem besseren Gesundheitszustand berichten, wennBehandlungsmethode und Behandlungsziel ihren Wün-schen entsprechen.

Vergessen werden darf auch nicht, dass die starkeGiftwirkung des Heroins zu einer erheblichen Kompli-kationsrate führt, die es bei Methadon nicht gibt. Atem-depressionen sind die häufigste Todesursache beiOpiatsüchtigen. Sie traten im Modellprojekt bei 23 He-roinpatienten und nur bei einem Patienten der Metha-dongruppe auf. Krampfanfälle gab es bei 63 Heroin-,aber nur bei einem Methadonpatienten. Die Liste ließesich fortsetzen.

Auch der Beikonsum illegaler Drogen wie Kokain hatsich im Vergleich zur Methadonsubstitution nicht we-sentlich verändert. So stellt sich die Frage, warum jederdritte Heroinpatient weiterhin illegal Drogen konsu-mierte, obwohl ihm Heroin legal zur Verfügung gestelltwurde. Dies geschieht – zugespitzt gesagt – ganz nachdem Motto: Eine Ration vom Staat und eine Ration vomDealer.

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Maria Eichhorn

(Detlef Parr [FDP]: Wo bleibt denn da dieSachlichkeit? – Weiterer Zuruf von der SPD:Unerhört!)

– Herr Parr, da Sie ständig unsachlich waren, darf auchich einmal einen etwas emotionaleren Satz sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Detlef Parr [FDP]: Dann dürfen Sie uns nichtangreifen! Wenn Sie unsachlich sind, darf ichmir das auch erlauben!)

Damit bleibt – entgegen den Behauptungen der Ver-treter des Modellprojektes – trotz Heroinsubstitution eingroßer Teil der Patienten in der Drogenszene.

Darüber hinaus sind weitere Aspekte ungeklärt. Fach-leute weisen darauf hin, dass die Kriterien für die Auf-nahme der Diamorphinbehandlung zu ungenau sind. Diemeisten der heute in Behandlung befindlichen Metha-donpatienten würden die vorgegebenen Kriterien zurHeroinbehandlung erfüllen.

Die Zahlen gehen weit auseinander. Wer sich für dieHeroinsubstitution ausspricht, redet die Zahl möglichstklein. In der Anhörung dagegen haben die Krankenkas-sen – Sie haben es selbst gehört – von einer Zahl von biszu 80 000 Personen gesprochen.

(Lachen der Abg. Sabine Bätzing [SPD])

Damit bestünde nicht nur die Gefahr einer unsachgemä-ßen Ausweitung der Behandlung mit Heroin, sondernauch die Kosten für die Krankenkassen würden in einefür die Beitragszahler nicht zumutbare Größenordnungsteigen.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Umgekehrt wird ein Schuh draus!)

Eine Heroinbehandlung kostet dreimal so viel wie eineBehandlung mit Methadon. Die Möglichkeiten, die weit-aus günstigere Methadonbehandlung auszubauen, sindlängst nicht ausgeschöpft.

(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist schwer zu ertragen!)

So werden in der Schweiz zwei Drittel der Heroinabhän-gigen mit Methadon behandelt, bei uns nur ein Drittelbis zur Hälfte. Das ist Tatsache.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Eichhorn.

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Sofort. – Deswegen fordern wir in unserem Antrag

eine klare Definition der Aufnahmekriterien, damit dieBehandlung mit Diamorphin tatsächlich nur als UltimaRatio durchgeführt wird. – Bitte sehr.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Nouripour würde gerne eine Zwischen-

frage stellen. – Bitte schön.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Kollegin, wären Sie bereit, mit mir in meinen

Wahlkreis nach Frankfurt zu kommen und ein Gesprächmit der Dezernentin für Gesundheit in der Stadt, FrauRottmann,

(Elke Ferner [SPD]: Nein!)

und vor allem mit der Oberbürgermeisterin der Stadt,Frau Petra Roth – meines Wissens

(Frank Spieth [DIE LINKE]: CDU!)

CDU-Mitglied –, zu suchen, um sich darüber zu erkundi-gen, ob das, was Sie hier berichten, irgendetwas mit derRealität zu tun hat?

(Detlef Parr [FDP]: Gute Frage!)

Wären Sie, wenn es zwischen Ihrer Rede und der Situa-tion vor Ort tatsächlich eine Differenz geben sollte, be-reit, sich überzeugen zu lassen, dass wir vor Ort tatsäch-lich andere Argumente gelten lassen müssen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derFDP und der LINKEN)

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich

meine Arbeit so verstehe, dass ich mich vor Ort, dort, wodie Praxis die Tagesordnung bestimmt, immer infor-miere. So habe ich mich zum Beispiel in München, woein Heroinsubstitutionsmodellprojekt betrieben wird, er-kundigt und mit den Abhängigen gesprochen. Ich habeaber auch erfolgreiche Einrichtungen zur Methadonsub-stitution besucht.

(Detlef Parr [FDP]: Sicher gibt es die!)

Ich habe festgestellt – das ist klar –: Derjenige, der He-roin bekommt, will es weiterhin haben. Ich habe auchfestgestellt, Herr Kollege, dass diejenigen, die vom He-roin losgekommen sind und es geschafft haben, wiederein eigenständiges Leben zu führen, darüber todfroh wa-ren.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: „Todfroh“!)

Ich gestehe Ihnen zu, dass mich das sehr bewegt hat.

(Mechthild Rawert [SPD]: Fahren Sie nun nach Frankfurt?)

Ich habe die Entscheidung meiner Fraktion nicht auf dieleichte Schulter genommen. Es geht darum, den Men-schen zu helfen, ein Leben ohne Heroin führen zu kön-nen; die meisten wollen das auch. Das können wir auchdurch eine gute Methadonbehandlung erreichen. Hiersind viele Möglichkeiten noch nicht vollständig ausge-schöpft.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Dr. Carola Reimann [SPD]: Unglaublich! –Frank Spieth [DIE LINKE]: Dagegen ist dochkeiner!)

Oberstes Ziel jeder Drogentherapie ist und bleibt– das ist nicht nur die Auffassung unserer Fraktion – der

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Maria Eichhorn

Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Jeder Heroinabhän-gige wird Ihnen, wenn sie ihn fragen, bestätigen, dass ervon der Droge loskommen will. Nach § 5 Betäubungs-mittel-Verschreibungsverordnung dient die Substitu-tionsbehandlung dem Ziel der schrittweisen Wiederher-stellung der Abstinenz einschließlich der Besserung undStabilisierung des Gesundheitszustands.

Durch die Diamorphinvergabe im Rahmen des Mo-dellprojekts konnten nur 8 Prozent der teilnehmendenDrogenabhängigen in eine Abstinenztherapie überführtwerden. Daher fordern wir, dass eine neue Studie durch-geführt wird, in der es auch um die Frage geht, inwie-weit sich die Gabe von Diamorphin mit dem Ziel desAusstiegs aus der Sucht vereinbaren lässt.

Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um FrauReimann wird behauptet, es gebe zur Diamorphinbe-handlung keine Alternative. Dies sehen viele Expertenund die CDU/CSU-Bundestagsfraktion anders. VieleSachverständige vertreten die Meinung, dass mit psy-chosozialer Betreuung bei der Methadonsubstitutionähnlich gute Erfolge erzielt werden können wie mit derHeroinsubstitution; davon habe ich mich vor Ort über-zeugt. Daher fordern wir den Ausbau der Methadonbe-handlung und der psychosozialen Betreuung, und zwarim gleichen Umfang, wie sie im Rahmen der Studie beider heroingestützten Behandlung erfolgt ist.

Meine Damen und Herren, für übereilte Entscheidun-gen besteht keine Veranlassung.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weite-

ren Zwischenfrage, diesmal von Frau Caspers-Merk.

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Bitte.

Marion Caspers-Merk (SPD): Liebe Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu

nehmen, dass im Rahmen des Modellprojekts, das eineklare Überlegenheit im Hinblick auf die Überlebensrate

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Falsch!)

und im Hinblick auf die gesundheitliche Struktur derAbhängigen zum Ergebnis hatte,

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Auch falsch!)

je zur Hälfte klassische Methadonsubstitution und Dia-morphinsubstitution durchgeführt wurde

(Detlef Parr [FDP]: So ist es!)

und dass in beiden Fällen dieselbe psychosoziale Be-handlung stattgefunden hat,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und derLINKEN sowie des Abg. Omid Nouripour[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

sodass Ihre Forderung, die Methadonbehandlung mit ei-ner verbesserten psychosozialen Behandlung zu kombi-nieren, unsinnig ist?

Das Interessante ist doch, dass es sich um eine klini-sche Studie handelt, bei der die gleichen Randbedingun-gen vorherrschten und die so angelegt war, dass wir, fallses sich hier um die Zulassung eines Medikaments gehan-delt hätte, ein solches nach unseren Regelungen hättenzulassen müssen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN –Beatrix Philipp [CDU/CSU]: So ein Quatsch!Das stimmt doch gar nicht!)

Das war einer der Gründe, warum diese Studie zu diesenErgebnissen führte. Das können auch Sie nicht kleinre-den.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist dochumstritten! Die Experten haben doch unter-schiedliche Meinungen!)

Maria Eichhorn (CDU/CSU):Frau Abgeordnete, natürlich weiß ich, dass die Me-

thadon- und die Heroinsubstitution unter gleichen Be-dingungen durchgeführt wurden. Wie ich bereits darge-legt habe, waren die Unterschiede aber nicht so groß,dass es gerechtfertigt wäre, die Diamorphinbehandlungin die Regelversorgung zu überführen;

(Sabine Bätzing [SPD]: Wissen Sie auch, warum diese Ergebnisse herausgekommen sind?)

das ist der erste Aspekt. Hier setzen wir an.

Der zweite Punkt, den ich betonen will, ist, dass beider Methadonsubstitution in der heutigen Praxis in denmeisten Fällen keine psychosoziale Betreuung stattfin-det. Aus diesem Grunde kommen viele Betroffene ineine schwierige Lage. In diesem Fall verlangen sie eineHeroinsubstitution, obwohl ihnen schon vorher mit einerguten Methadonbehandlung hätte geholfen werden kön-nen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlas-sung. Auch ohne Mitfinanzierung durch den Bund ist dieVersorgung der bisherigen Heroinpatienten durch dieStädte gesichert; auch das Bundesgesundheitsministe-rium hat dies bestätigt.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das Ministerium ist gar nicht vertreten!)

Die Patienten werden seit dem 1. Januar 2007 und auchweiterhin auf der Basis einer Ausnahmeerlaubnis mitDiamorphin behandelt. Kein einziger Patient musste aufseine Behandlung verzichten.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben sogar Genehmi-

gungen für die Aufnahme neuer Patienten erhalten. Des-wegen ist es ungeheuerlich, wenn gesagt wird, dass aus

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Maria Eichhorn

christlicher und moralischer Perspektive die Haltung derUnion nicht vertretbar sei.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Maria Eichhorn (CDU/CSU): Wir wollen in erster Linie den Ausstieg aus der

Droge. Das ist die beste Hilfe für die Heroinsüchtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Frank Spieth hat jetzt für die Fraktion

Die Linke das Wort.

(Beifall bei der LINKEN)

Frank Spieth (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über

250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurfzur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung un-terstützt und unterschrieben. Zugegebenermaßen hat ereinen sperrigen Titel, der sich nicht ohne Weiteres er-schließt. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Da-men und Herren hier und die Zuschauer neben den takti-schen Geschichten, die hier im Plenum deutlich werden,nachvollziehen können, um was es geht.

Ich möchte anhand eines ganz konkreten Falles versu-chen, dem Ganzen ein Gesicht zu geben: Der 48-jährigeHerbert S. wurde von den Mitarbeitern der Studienam-bulanz in der Grünen Straße in Frankfurt am Main buch-stäblich von der Straße aufgelesen. 20 Jahre lang war erheroinsüchtig und die letzten fünf Jahre obdachlos. Er ist1,81 Meter groß, wog aber zu Beginn der Therapie nur41 Kilogramm. Sein Gesundheitszustand war miserabel.

Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigte sich, dass erseine Schuhe nicht mehr ausziehen konnte. Das hatte ei-nen Grund: Er trug mehrere Socken übereinander; dieFüße waren voller Wunden, und das unterste Paar So-cken klebte an diesen Wunden fest. Herbert S. war äu-ßerst kontaktscheu, ein typischer Einzelgänger, von derStraße gezeichnet. Bisher hatte er aus Angst vor demEntzug jede Therapie abgelehnt.

Eine Methadontherapie, die den Entzug lindern kann,kam für ihn nie infrage. Denn er hatte sich auf demSchwarzmarkt bereits illegal Methadon beschafft undwusste, wie es wirkt. Unter Methadon fühlte er sichschlecht, antriebslos und depressiv. Methadon führte beiihm dazu, dass er immer wieder maßlos Schnaps undWein trank. Da aber die Kombination Alkohol und Me-thadon die Atmung lähmen kann – dies wird von denmeisten Therapeuten bestätigt –, kommt es beim Betrof-fenen zu problematischen Folgen: Die mit Heroinkon-sum verbundenen Entzugserscheinungen haben solcheAuswirkungen, dass er letztendlich aus der Entzugsmaß-nahme aussteigt und in der letzten Konsequenz wiederan der Nadel hängt. Es handelt sich also um einen Teu-felskreis.

Für den schwerstabhängigen Herbert S., der ohne dieHilfe der Studienambulanz wahrscheinlich nicht mehrleben würde, war die Diamorphinbehandlung der einzigeAusweg. Die Aussicht auf eine Therapie ohne Entzugs-erscheinungen machte ihn neugierig, und er stimmte zu.Zunächst kümmerten sich die Mitarbeiter der Studienam-bulanz um ein Obdach. Als das gefunden war, beganndie psychische Behandlung.

Ein großer Unterschied zwischen Diamorphin undMethadon ist die Halbwertszeit im Körper. Sie beträgtbei Methadon 24 Stunden, während Diamorphin schonnach drei Stunden zur Hälfte abgebaut ist. Daher mussHerbert S. die Studienambulanz auch morgens, mittagsund abends aufsuchen. Diese Regelmäßigkeit hilft ihm,seinen Tag zu strukturieren. Den Therapeuten gibt diesdie Möglichkeit, regelmäßig mit ihm zu sprechen. Mitt-lerweise wiegt er 64 Kilogramm. Die Wunden habenzwar ihre Narben hinterlassen, sind aber geheilt.

Vor vier Monaten hat dieser ehemals todgeweihteMann sogar eine Arbeit gefunden. Es ist zwar nur ein1-Euro-Job, aber er freut sich, wieder gebraucht zu wer-den. Nun geht er dreimal die Woche für die Stadt Frank-furt in die Parks und sammelt Müll auf. Er freut sichüber diese Arbeit; denn durch sie hat er sein Einzelgän-gerdasein überwunden und ein stabilisierendes sozialesUmfeld gefunden. Herbert S. ist nicht der einzige Ab-hängige, dem die Diamorphintherapie geholfen hat. Wirkönnten dies durch zahlreiche weitere Beispiele belegen.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von derCDU/CSU, meine ich, dass die Erkenntnisse aus den Un-tersuchungen und die konkreten praktischen Erfahrungeneine andere Behandlung für diesen begrenzten Kreis vonPersonen – im Sinne einer Ultima Ratio – überhauptnicht mehr zulassen. Dem muss endlich gefolgt werden.

Ich unterstelle Ihnen überhaupt nichts. Ich weiß, dasssehr viele von Ihnen sehr starke christliche und sozialeWurzeln haben. An dieser Stelle habe ich aber erhebli-che Zweifel; denn die Forderungen, die Sie hier aufstel-len, sind in sich nicht schlüssig. Ihr Antrag ist im Kernnichts anderes als ein taktisches Reagieren auf diesenGesetzentwurf. Das finde ich nicht erträglich.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie müssten jetzt bitte zum Ende kommen.

Frank Spieth (DIE LINKE): Ich bin sofort fertig.

Ich kann mich insofern nur meinen Vorrednerinnenund Vorrednern anschließen. Heben Sie den Fraktions-zwang auf und machen Sie diese Entscheidung zur Ge-wissensentscheidung!

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat nun Dr. Harald Terpe für Bündnis 90/

Die Grünen.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Chancen stehen gut, dass wir endlich zu einergesetzlichen Regelung die Diamorphinbehandlung fürschwerkranke Opiatabhängige betreffend kommen. Be-troffene Patientinnen und Patienten werden dankbar da-für sein und aufatmen, genauso wie die Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter in den Drogenambulanzen der betroffe-nen Kommunen.

Mit unserem breit unterstützten Gesetzesvorschlagwerden im Gegensatz zum Antrag der Union die richti-gen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen des Mo-dellprojektes gezogen. Ich will die Ergebnisse nicht inallen Einzelheiten wiederholen. Der Gesundheitsaus-schuss hat sich mit gebotener Gründlichkeit mit den wis-senschaftlichen Ergebnissen beschäftigt.

Ich will einen kleinen Ausflug in die Wissenschaftmachen. In der Argumentation von Frau Eichhorn habenwir immer wieder von den vielen Experten gehört. Ichkenne aus dem Kinderreim: Eins, zwei, viele. Wenn esaber darum geht, signifikante Ergebnisse anzuerkennen,ist bei Ihnen offenbar Fehlanzeige.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

„Signifikanz“ ist ein Begriff aus der Wissenschaft.Deshalb kann man nicht einfach argumentieren, dies seikein Ergebnis. Das ist ein signifikantes Ergebnis.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das werden Sie beider Anhörung wieder anders hören, HerrTerpe!)

Die Ergebnisse der Studie sind durchweg positiv undsprechen eindeutig dafür, dass die Behandlung in die Re-gelversorgung für den kleinen Kreis schwer Opiatabhän-giger übernommen werden muss.

Wenn man den vorliegenden Antrag der Unionsabge-ordneten liest, bekommt man das Gefühl, als hätten dieAutoren dieses Antrags eine völlig andere Studie gelesenoder an einer anderen Anhörung teilgenommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Obwohl die Studienergebnisse eindeutig sind, be-zweifeln oder leugnen die Unionsabgeordneten in ihremAntrag die Vorteile der Diamorphinbehandlung. Sie be-haupten auch, dass es einen Ansturm von 80 000 Abhän-gigen auf die neue Behandlungsform geben werde, ob-wohl in der Anhörung nahezu alle Sachverständigengerade das ausgeschlossen haben.

Es muss noch einmal festgehalten werden: 80 Prozentder Patientinnen und Patienten haben sich in ihrer ge-sundheitlichen Situation verbessert. Bei 70 Prozent derPatientinnen und Patienten wurde der illegale Drogen-konsum verringert. Die Diamorphinbehandlung soll im

Übrigen keine der bestehenden Therapieoptionen erset-zen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN und des Abg. Detlef Parr [FDP])

Sie führt auch nicht zur Abstinenz, aber sie schafft es,die zwingenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, dassdie Patientinnen und Patienten für eine weiterführendeSubstitutions- und Abstinenztherapie erreichbar wer-den, nämlich die gesundheitliche und soziale Stabilisie-rung – das hat Herr Kollege Spieth sehr eindrucksvollanhand eines Patientenfalls geschildert – und die Loslö-sung aus der Drogenszene.

Allein in der Stadt Frankfurt wechselten 50 Prozentder Studienteilnehmer in eine weitergehende Substitu-tions- oder gar Abstinenztherapie.

Nun fordern die Unionsabgeordneten in ihrem Antragein weiteres Modellprojekt. Dabei gehört die Diamor-phinbehandlung national wie international zu den ambesten untersuchten Therapien in der Suchtmedizin. Ne-ben der deutschen Studie kommen vier große Studienzur Diamorphinbehandlung in der Schweiz, in den Nie-derlanden, in Spanien und in Großbritannien ebenfallszu durchweg positiven Ergebnissen. Ich wäre froh, wennes für alle Teile des Leistungskatalogs der gesetzlichenKrankenkassen gelingen würde, eine derart gute Evidenznachzuweisen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg.Detlef Parr [FDP])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, obwohl die Redezeit fast abgelaufen

ist, haben Sie die einmalige Chance, eine Zwischenfragevon Herrn Dr. Eisel zuzulassen.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Ja, gern.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön.

Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU): Herr Kollege, gerade weil ich aus einer der betroffe-

nen Städte komme, nämlich aus Bonn, stelle ich Ihnendie Frage, ob Sie nicht bereit sind, anzuerkennen, dass essowohl von den Experten bei dem Expertenhearing alsauch von Ärzten – übrigens auch von Ärzten aus mei-nem Wahlkreis in Bonn – unterschiedliche Bewertungender Ergebnisse dieser Studie gab bzw. gibt.

Akzeptieren Sie nicht, dass es vor diesem Hinter-grund auch eine verantwortliche Haltung sein kann, zu-nächst die unbeantworteten Fragen durch eine weitereStudie beantworten zu lassen, bevor man eine umstrit-tene Behandlungsmethode zur Regelbehandlungsme-thode macht, und dafür zu sorgen, dass, wenn diese wei-tere Studie stattfindet, all diejenigen, die sich jetzt in der

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Dr. Stephan Eisel

Behandlung befinden, auch künftig in der Behandlungverbleiben können?

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, ich muss darauf Folgendes antworten:

Mir ist durchaus bekannt, dass die Ergebnisse wissen-schaftlicher, evidenzbasierter Studien häufig in Zweifelgezogen werden, und zwar meistens von den Leuten, diebeispielsweise den Begriff „Signifikanz“ nicht anerken-nen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derLINKEN)

Es ist also kein ausreichendes Argument, dass es Leutegibt, die das nicht so sehen.

(Zurufe von der CDU/CSU)

– Solche gibt es auch unter den Ärzten.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Herr Doktor, erklä-ren Sie bitte einmal die Signifikanz! – Gegen-ruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um Gottes willen!)

– Herr Spahn, wir sind hier jetzt nicht in der Schule underklären uns nicht den Begriff „Signifikanz“.

(Frank Spieth [DIE LINKE]: Das kann er ja anschließend noch einmal fragen!)

Das ist meine Antwort darauf: Es gibt immer wiederLeute, die wider besseres Wissen Studienergebnisse inZweifel ziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-KEN)

Ich glaube, der wesentliche Irrtum der Unionsabge-ordneten besteht darin, dass sie die Opiatabhängigkeit inerster Linie noch immer als moralische Angelegenheitund nicht als eine schwere chronische Erkrankung be-trachten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENsowie bei Abgeordneten der SPD und derLINKEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist eine Unterstellung, die wir zu-rückweisen!)

Genau genommen verwundert mich die Haltung derUnion auch nicht mehr sonderlich; denn seit Mitte der90er-Jahre, seitdem der Bundesrat erstmalig ein Modell-projekt für die Diamorphinbehandlung gefordert hat,laufen Sie Sturm gegen diese Diamorphinbehandlung,und zwar mit allen Kräften, aber auch, wie man eben vonIhnen gehört hat, mit schlechten Argumenten.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie haben doch meine Frage gar nicht beantwortet!)

Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Mehrheit des Bun-destages davon nicht beirren lässt und die Chance zurEinführung der Diamorphinbehandlung nutzt; denn nichtsspricht ernsthaft dagegen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sabine Bätzing (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lassen Sie mich als letzte Rednerin der De-batte noch einmal zusammenfassen, um was es bei die-sem Gesetzentwurf eigentlich geht. Es geht um das Le-ben von schwerstkranken Menschen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr.Stephan Eisel [CDU/CSU]: Darum geht es unsallen!)

Es geht um langjährig Heroinabhängige, die trotz viel-fältiger Versuche keinen Ausstieg aus dem Teufelskreisder Sucht geschafft haben – weder durch drogenfreieTherapien noch durch eine Methadonbehandlung.

Was sind das für Menschen? Es handelt sich um Men-schen, die über 20 Jahre heroinabhängig sind, zahlreicheBegleiterscheinungen aufweisen und zum Teil mitHepatitis C oder HIV infiziert sind. Viele haben post-traumatische Gewalterfahrungen gemacht oder habenmehrfache psychische Erkrankungen.

Bei dieser Gruppe von Schwerstabhängigen schlagendie gängigen Substitutionsmedikamente nicht an, odersie haben das Hilfesystem bislang überhaupt noch nichtin Anspruch genommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetender FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN)

Genau für diese Patienten werden durch die Diamor-phinbehandlung eindeutig wissenschaftlich-signifikantbessere Ergebnisse erzielt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP,der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]:Sagt einer! Und die anderen?)

Den Menschen werden dadurch wieder Perspektiven ge-geben. Durch die Diamorphinbehandlung wird dasÜberleben dieser Menschen gesichert.

An die Kolleginnen und Kollegen von der Union:Auch wenn es um die Abstinenz geht, kann die Diamor-phinbehandlung sehr gute Ergebnisse vorweisen.

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hat sie aber nicht!)

Von allen Patienten, die nach vier Jahren die diamor-phingestützte Behandlung beendet haben, wechselterund ein Drittel in eine andere Substitutionsbehandlung.Weitere 13 Prozent dieser Patienten, die wir früher nichterreicht haben, haben eine abstinenzgestützte Behand-lung aufgenommen.

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Sabine Bätzing

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN-KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ich habevon 8 Prozent gelesen! Nicht 13 Prozent!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Bätzing, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Frau Widmann-Mauz zulassen?

Sabine Bätzing (SPD): Ja, gerne, Frau Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Kollegin Bätzing, Sie haben uns gerade erklärt,

dass die Schwerstabhängigen nicht durch gängige Me-thadonbehandlungen und -substitution erreichbar gewe-sen seien. Wie erklären Sie es sich dann, dass in derKontrollgruppe zu den mit Diamorphin Behandelten imModellvorhaben – nämlich der Kontrollgruppe, die mitMethadon weiterbehandelt wurde – zu 75 Prozent die-selben Erfolge erreicht wurden wie mit Heroin? Kann esnicht daran liegen, dass nicht der Stoff – in dem Fall He-roin – den Erfolg bringt, sondern mehr die psychosozialeBetreuung, die in diesem Modellvorhaben so elementargut ist, dass es dann auch mit Methadon zu den entspre-chenden Erfolgen kommt? Wenn Ihre Grundannahmerichtig wäre, hätte doch in der Methadonkontrollgruppekein Erfolg mehr erzielt werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sabine Bätzing (SPD): Nein, liebe Kollegin Widmann-Mauz, das kann nicht

daran liegen. Frau Caspers-Merk hat das vorhin sehrdeutlich gemacht. Die psychosoziale Begleitung war inbeiden Gruppen gleich. Wir können selbstverständlichdie Methadonbehandlung verbessern,

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

– das schließt ja nicht aus, dass wir das tun –, aber essind immer noch 25 Prozent, die überhaupt nicht erreichtwerden. Sind Ihnen diese 25 Prozent egal? Uns sind sienicht egal. Wir wollen auch diesen Menschen das Über-leben sichern.

(Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Kollegin, es gibt noch eine Zwischenfrage der

Kollegin Monika Knoche.

Sabine Bätzing (SPD): Gerne, Frau Knoche.

Monika Knoche (DIE LINKE): Sehr verehrte Frau Kollegin, glauben Sie nicht auch,

dass es der Versachlichung der Debatte auch im SinneIhrer Argumentation dienlich wäre, dem Plenum und derÖffentlichkeit darzulegen, dass es sich um eine Arznei-mittelstudie handelt und dass es um die Frage geht, wel-

ches Präparat aus ärztlicher Sicht das geeignete undbeste für die betroffenen Personen ist, und dass wir alsPolitiker und Politikerinnen insbesondere dann, wenn si-gnifikante Ergebnisse für ein solches Präparat sprechen,die Pflicht haben, uns um die Zulassung eines Medika-ments zu bemühen, wenn es einem bestimmten Perso-nenkreis besser helfen kann als ein gängiges Präparat?Stimmen Sie mir zu, dass diese Information in der De-batte einen großen aufklärerischen Wert haben könnte?

Sabine Bätzing (SPD): Liebe Kollegin Knoche, ich stimme Ihnen sehr gerne

zu. Es handelt sich in der Tat um eine Arzneimittelstu-die, es geht um ein Arzneimittel. Ich bin Ihnen sehrdankbar für diese Information, die noch einmal deutlichmacht, dass es um Hilfe, Therapie und ein Medikamentfür schwerstkranke Menschen geht. Herzlichen Dank da-für.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich habe viele abhängige Menschen vor Ort kennen-gelernt und habe fast alle Ambulanzen besucht. Mankann es nicht hoch genug einschätzen, wie positiv sichdas Leben dieser Menschen verändert hat. Eindrucksvol-ler als Kollege Spieth kann man das sicherlich nicht dar-stellen.

Wir wollen, dass diesen schwerstkranken Menscheneine Möglichkeit geboten wird, wieder menschenwürdigzu leben

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das wollen wir doch auch! Das wollen wir alle!)

und, auch wenn es nicht einfach ist, ihre Sucht zu über-winden. Die Unionsfraktion, die den alternativen Antrageingebracht hat, befürchtet dagegen – das hat sie heutemehrfach wiederholt –, dass die Nachfrage nach Dia-morphinbehandlungen sprunghaft zunimmt. Diese Angstist völlig unbegründet.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth[DIE LINKE])

Die Horrorzahl von bis zu 80 000 Diamorphinpatientengeistert schon seit Monaten durch die Medien. Sie istaber eine reine Erfindung der Union.

(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Bei der Anhörung, Frau Kollegin!)

Realistisch ist – das bestätigen die Erfahrungen aus derSchweiz –, von 2 000 bis 3 000 Schwerstabhängigenauszugehen, die die Behandlung in Anspruch nehmenkönnten und denen nicht anders geholfen werden kann.

Es gibt also für uns keinen Grund, jetzt ein positiv ab-geschlossenes Modellprojekt fortzuführen und weiterabzuwarten. Was soll mit einer Verlängerung eines Mo-dellprojektes erreicht werden? Die Forschungsergeb-nisse sind eindeutig, auch was die angeblich offenenFragen der Union angeht.

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Sabine Bätzing

(Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wir wollen die offenen Fragen klären!)

Die Fortsetzung des Modells ist weder durchdacht nochfinanzierbar; denn die Antragsteller haben sich bislangnoch nicht einmal um zusätzliche Finanzmittel geküm-mert. Das ist unredlich und unseriös.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen für die betroffenen Schwerstabhängi-gen eine langfristige Perspektive, ihr Leben wieder inden Griff zu bekommen. Deshalb ist jetzt die Über-nahme der erfolgreichen diamorphingestützten Substitu-tionsbehandlung in die Regelversorgung notwendig. Ichappelliere abschließend an die Kolleginnen und Kolle-gen der Union: Geben Sie Ihrem Gewissen Freiheit! Ent-scheiden Sie sich auch aus christlicher Nächstenliebe fürdiese schwerkranken Menschen und unterstützen Sie un-seren Gesetzentwurf!

Danke schön.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-geordneten der FDP – Dr. Stephan Eisel[CDU/CSU]: Ich habe genauso viel Gewissenwie Sie!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jens Spahn

das Wort.

Jens Spahn (CDU/CSU): Frau Kollegin Bätzing, wir können darüber streiten,

wie wir den Menschen helfen. Aber eines lasse ich mirpersönlich und lassen wir uns als Fraktion nicht abspre-chen, nämlich dass wir genau das gleiche Bemühen anden Tag legen, wenn es darum geht, Schwerstabhängi-gen eine Perspektive zu geben. Wir haben genau dasgleiche Ziel, diesen Menschen eine Chance zu gebenund den Weg zurück in die Unabhängigkeit zu ermögli-chen, damit sie ihr Leben selber gestalten können. Wirstreiten nicht über das Ziel, sondern über das Wie. Etwasanderes sollten Sie nicht unterstellen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Kollege Terpe, ich möchte aufgreifen, was Siegesagt haben; das hat auch die Kollegin Bätzing ange-sprochen. Wir bestreiten nicht die Ergebnisse der Studie.Wir ziehen aber andere Schlussfolgerungen aus der Stu-die als Sie. Es gibt noch zahlreiche offene Fragen, wiedie Frage des Beikonsums – warum also weiterhin Ko-kain, Alkohol und Cannabis konsumiert werden – unddie Frage der Ausstiegsorientierung.

Frau Kollegin Bätzing, die Zahl 80 000 wurde nichtvon der Union erfunden, sondern von der KBV und denKrankenkassen, also von den Kostenträgern und der ver-sammelten Ärzteschaft, in der Anhörung genannt. DieKostenträger und die versammelte Ärzteschaft – mankann sie auch Experten nennen – haben gesagt, gemäßder von ihnen definierten Kriterien kämen 80 000 Men-

schen – und nicht, wie Sie gesagt haben, 1 000 – in Be-tracht.

Was mich am meisten stört, ist der Eindruck, den Siehier erwecken. Wenn es um Ideologie, um Irreales ginge,würden wir mit unserem Antrag sicherlich nicht einKompromissangebot machen. Wenn man das Modell-projekt mit einer anderen Schwerpunktsetzung fortführt– ich verweise noch einmal auf den Beikonsum, die Aus-stiegsorientierung und die psychosoziale Betreuung hin;es ist zu untersuchen, inwieweit sie zu den Ergebnissenbeiträgt – und wenn es zu entsprechenden Ergebnissenkommt, sind wir bereit, über eine Gesetzesänderungnachzudenken. Wenn Sie wirklich ein Interesse daranhaben, dass es zu einer vernünftigen Lösung kommt, wieSie in Ihrer Rede gesagt haben, und dass die betroffenenStädte möglichst schnell zusätzlich Menschen aufneh-men können, dann können wir am morgigen Tag die we-nigen Millionen Euro im Haushalt des Bundesministeri-ums für Gesundheit einstellen, die wir brauchen, umdieses Modellprojekt fortzusetzen. Wir reichen die Handdazu, dass das schnell geht. Nehmen Sie diese Hand imInteresse der Betroffenen und im Hinblick auf gute Er-kenntnisse an! Wir streiten über das Wie, aber nicht überdas Ziel.

(Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr[FDP]: Ihr hattet jahrelang Zeit, einen Antrageinzubringen!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Zur Erwiderung hat die Kollegin Bätzing das Wort.

Sabine Bätzing (SPD): Herr Kollege Spahn, ich möchte nur auf einen Punkt

eingehen. Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wirstichhaltige Argumente haben, die wissenschaftlich be-legt sind. Die Ergebnisse kann man auch nicht andersauslegen; denn die Fakten sprechen eine klare Sprache.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich möchte lediglich etwas zu Ihrem Kompromissan-gebot sagen. Ich halte es für einen faulen Kompromiss,den Sie uns anbieten. Sie hatten vier Jahre Zeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

So lange liegt das endgültige Ergebnis der Studie vor.Wir haben zu zahlreichen Gesprächsrunden und Besu-chen vor Ort eingeladen. Wir haben mit Ihnen über Ge-setzentwürfe diskutieren wollen. Aber nie gab es einKompromissangebot. Jetzt, wo es nicht mehr andersgeht, bringen Sie einen Antrag ein. Aber Sie machenkeine Finanzierungsvorschläge. Das ist nichts anderesals reine Verzögerungstaktik. Für uns ist das ein faulerKompromiss, dem wir uns nicht anschließen werden.

(Beifall bei der SPD, der FDP, dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN –Frank Spieth [DIE LINKE]: Ein Schelm, wersich dabei anderes denkt! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Vor Monaten haben wir das Angebot

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Sabine Bätzing

gemacht! – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Seit anderthalb Jahren diskutieren wir!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Nun hat noch der Kollege Terpe das Wort.

Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Spahn, Sie haben eben gesagt, Sie wür-

den die Ergebnisse der Studie nicht bestreiten, nur an-dere Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das deckt sichnicht ganz mit dem, was Frau Kollegin Eichhorn gesagthat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN)

Von ihr habe ich nur gehört, dass beispielsweise das Sig-nifikanzkriterium in Zweifel gezogen wird. Wir könnenuns natürlich noch einmal darüber unterhalten, was ichunter Signifikanz verstehe. Ich habe als Arzt damit gear-beitet und eine Menge an Erfahrungen gesammelt. Ichnehme Ihnen Ihr Argument nicht ab, dass Sie die Studien-ergebnisse zwar anerkennen, aber andere Schlussfolge-rungen ziehen.

Sie haben gerade etwas zur Ideologie gesagt. Ich kannmich an die Bemerkung „Kiffen auf Krankenschein“ er-innern. Ich weiß nicht, ob eine solche Formulierungnicht zur Ideologisierung einer Diskussion beiträgt, beider es ganz konkret um Patienten geht, die zu behandelnsind, und zwar um schwerkranke Patienten.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Darum geht es uns doch auch!)

– Ja, das haben wir gehört.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ein bisschen mehr Respekt vor den Argumenten zeigen!)

– Die Argumente waren ja scheinheilig.

(Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ich sage dochauch nicht, dass Ihr Argument scheinheilig ist!Was soll das denn?)

– Wenn man an anderer Stelle ganz andere Äußerungenhört, dann fragt man sich, ob die Argumente in sichschlüssig sind.

(Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Dann müs-sen Sie auch mal Ross und Reiter nennen!)

– Das liest man in der Zeitung. Jeder weiß es.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/11515, 16/7249 und 16/12238 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen

– Drucksache 16/12303 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man sich die Agenden der Gipfeltreffen sowohl inder EU als auch auf internationaler Ebene anschaut,dann erkennt man, dass ein Element, das nach unsererÜberzeugung nicht fehlen darf, bisher nicht Gegenstandder Verhandlungen ist.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine weitere Belastung!)

Wir wollen dieses Element heute voranbringen und hof-fen, dass Sie mitziehen; wir werben um Ihre Unterstüt-zung.

Es geht um die Finanzumsatzsteuer, die wir auf euro-päischer Ebene einführen wollen. Das ist ein Projekt,über das auch in anderen Ländern Europas diskutiertworden ist. Wir glauben, es ist notwendig, dass es nichtnur politische Meinungsäußerungen dazu gibt – zumBeispiel des Außenministers und des Finanzministers;die können wir in dem Papier, das die beiden Ministervorgelegt haben, nachlesen –, sondern dass dieses Pro-jekt auf europäischer Ebene auch wirklich vertretenwird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen uns für eine EU-weite Finanzumsatz-steuer einsetzen. Natürlich müssen wir uns darüber un-terhalten – wir sollten das im Ausschuss tun –, welchedie bessere Variante ist: eine Börsenumsatzsteuer odereine allgemeine Finanzumsatzsteuer. Notwendig ist aufjeden Fall, dass wir zu einer sinnvollen Besteuerung vonUmsätzen auf den Finanzmärkten kommen.

Warum? Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit und derFairness. Die Umsetzung unseres Vorschlags würde dazuführen, dass die Gewinner des Finanzbinnenmarktes,also diejenigen, die hohe Umsätze generieren, de factoeinen Teil der Ausgaben tragen, die auf europäischerEbene – über den Sozialfonds und die Regionalmittel –getätigt werden, um die Verlierer der Entwicklung zu

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Dr. Gerhard Schick

kompensieren. Das sollte in einem sinnvollen Verhältnisstehen. Häufig wird das Argument vorgetragen, diesführe zu Belastungen bei der Altersvorsorge und im Ak-tienhandel. Im Gegensatz zur Börsenumsatzsteuer be-zieht sich eine allgemeine Finanzumsatzsteuer nur zu6 Prozent auf Umsätze mit Aktien und zu 94 Prozent aufDerivate, Optionen und Futures verschiedener Arten.

Das heißt, das Gros der Belastung betrifft nicht denje-nigen, der sich Aktien kauft, um für das Alter vorzusor-gen. Es soll vielmehr auf die Teile des Finanzmarkts ab-gezielt werden, wo ein sehr schneller Umschlag herrscht.Alle beklagen, dass das Verhältnis von Realwirtschaftund Finanzwirtschaft nicht mehr stimmt. Das muss wie-der hergestellt werden. Es handelt sich daher um einesinnvolle Steuer, die auch stabilisierend wirkt. Klar, dieSteuer hätte die jetzige Krise nicht verhindert. DieserEinwand gilt aber für jeden einzelnen Vorschlag. Abersie wirkt stabilisierend auf die Finanzmärkte, weil essich nicht mehr lohnt, minimale Preisunterschiede aus-zunutzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es wird manchmal gesagt, das gehe rechtlich nicht.Das stimmt nicht. Es ist auf europäischer Ebene durcheine Richtlinie festgelegt, dass das machbar ist.

(Frank Schäffler [FDP]: Steuererhöhung!)

Wir sollten das tun. Das, was wir vorschlagen, ist auchkeine Steuererhöhung. Unser Vorschlag geht dahin, dassim Gegenzug die Mitgliedsbeiträge in die nationalenHaushalte zurückgeführt werden. Damit hätten wir einesinnvolle Finanzierung der europäischen Aufgaben überein europäisches Finanzierungsmodell.

(Frank Schäffler [FDP]: Ein trojanisches Pferd ist das!)

Andere europäische Staaten haben uns vorgemacht,dass nationale Parlamente diese Diskussion anstoßenkönnen. Frankreich und Belgien haben entsprechendeBeschlüsse gefasst. Sie sind bereit, wenn andere Staatenmitziehen, so etwas europaweit zu realisieren.

(Frank Schäffler [FDP]: Das glaube ich sogar!)

Es ist an der Zeit, das Deutschland nicht nur allgemeineMeinungsäußerungen dazu abgibt, sondern als größteVolkswirtschaft mitzieht und diesen Vorschlag weiter-verfolgt. Es gibt ein gutes Vorbild, das sich die GroßeKoalition anschauen sollte. In einer Studie des Wirt-schaftsinstituts in Wien wurde eine Finanzumsatzsteuerauf europäischer Ebene in der Form, die wir aufgegriffenhaben, vorgeschlagen. Nehmen Sie sich ein Vorbild ander Großen Koalition in Österreich. Es gibt auch GroßeKoalitionen, die Sinnvolles in die europäische Diskus-sion einbringen. Wir hoffen, dass wir in den Ausschuss-beratungen zu einer gemeinsamen Position kommen.Dann müssen die europäischen Regierungen gemeinsamso etwas voranbringen; denn eines ist klar: Es darf nichtpassieren, dass für die Belastungen der jetzigen Krisewieder alle Menschen über die Erhöhung der Mehrwert-steuer – das haben Sie schon einmal gemacht – bezahlen.Wir wollen, dass die Gewinner an den Finanzmärkten

die Verlierer entschädigen. Wir wollen zu einer fairenEntwicklung an den Finanzmärkten beitragen und vor al-lem für mehr Stabilität an den Finanzmärkten sorgen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Nina

Hauer das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Nina Hauer (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Na ja, wenn Österreich das vorschlägt, dann sind eigent-lich alle großen Finanzmärkte der Welt dabei, oder?

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die haben die Erbschaftsteuer abgeschafft, Frau Kollegin!)

Ich glaube, Ihre Überlegung, dass eine Steuer, wennwir sie in diesem Bereich brauchen, nicht nur die Pro-dukte umfassen darf, die an der Börse gehandelt werden,ist gar nicht falsch. Darüber kann man reden. Die Frageist nur, wie Sie das machen wollen. Woran wollen Siedas festmachen? Was nehmen Sie alles mit hinein? Neh-men Sie Überweisungen dazu, Schuldverschreibungenund alles, was dazu gehört? Sie haben in Ihrem Antrag,der in dieser Beziehung sehr dünn ist, Aktien und Deri-vate aufgeführt. Es gäbe noch mehr. Diejenigen, die dieBörsenumsatzsteuer fordern, tun das meiner Meinungnach deshalb, weil sie wissen, dass es schwierig genugsein wird, diese Steuer letztendlich einzuziehen.

Sie wollen große Finanzmärkte und Akteure kontrol-lieren. Trotzdem enthält Ihr Vorschlag eine Steuer vonnur 0,01 Prozent. Man kann dafür oder dagegen sein,man kann sich für 1 Prozent oder 0,01 Prozent ausspre-chen, aber, ehrlich gesagt, viel werden Sie damit am Fi-nanzmarkt nicht bewegen. Sie werden diejenigen, diekurzfristige und risikoreiche Spekulationen durchführen,nicht bremsen können. Sie werden auf der anderen Seiteauch nicht die Einnahmen, die Sie sich versprechen, er-zielen, wenn Sie es technisch überhaupt hinbekommen,diese Steuer einzuziehen. Die Einnahmen werden nichtbesonders hoch sein. 70 Milliarden Euro verteilt auf27 Mitgliedsländer sind nicht viel. Sie wollen das Geldgleich bei der EU belassen. Dazu muss ich sagen: Worinbesteht denn dann der Anreiz für die Länder, dieseSteuer zu erheben? Jedes Land, das eine höhere Wert-schöpfung als Österreich hat, wird das sein lassen, weiles auf die Einnahmen verzichten kann und über die EUohnehin Gelder fließen.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schick?

Nina Hauer (SPD): Ja.

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Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Unser Antrag enthält einen Hinweis darauf, dass dasösterreichische Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien ineiner Studie von einem Steuersatz von 0,01 Prozent aus-geht; daraus ergebe sich ein EU-weites Steueraufkom-men von gut 70 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehrkonservativ geschätzt. Wir haben als Benchmark für dieDiskussion ganz bewusst die vorsichtigste Schätzung ge-nommen. Wir sind gern bereit, darüber zu diskutieren,welcher der richtige Satz ist.

Sie haben auch gesagt, das sei wenig Geld. Wenn Siediesen Betrag ins Verhältnis setzen zum Haushalt derEuropäischen Union, sind Sie dann bereit, anzuerken-nen, dass diese 70 Milliarden Euro mehr als die Hälftedes derzeitigen Volumens des europäischen Haushaltessind und dass dieser Betrag angesichts dessen keine ge-ringe, sondern eine sehr relevante Größe ist?

Nina Hauer (SPD): Herr Dr. Schick, welche Zahl größer ist, kann man

leicht feststellen. Die Frage lautet allerdings: Bekommtman diese Einnahmen überhaupt? Dazu steht in IhremAntrag überhaupt nichts. Wie soll die rechtliche Grund-lage für das Erheben dieser Steuer aussehen?

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Europasteuer, oder was ist das?)

Auf welche Produkte soll diese Steuer erhoben werden?Wer soll das kontrollieren?

Das, was Sie im Hinblick auf den EU-Haushalt vorha-ben, ist, wie ich finde, politisch schwierig zu erklären.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir wollendoch keine eigene Steuer für die europäischenStaaten!)

Gerade in der jetzigen Situation – wir geben Finanzun-ternehmen Bürgschaften, um deren Existenz zu sichern –ist den Leuten schwer zu erklären, dass sie von diesenSteuereinnahmen nichts haben sollen, weil sie in denEU-Haushalt fließen. Da Sie das offensichtlich wissen,haben Sie gleichzeitig den Vorschlag gemacht, dieseEinnahmen wieder an die Mitgliedstaaten zu verteilen.Wie soll das gehen? Das hat mit der eigentlichen Steueram Ende überhaupt nichts mehr zu tun.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Gibt es da präzisere Vorstellungenvon Ihnen? – Frank Schäffler [FDP]: HerrSteinmeier hat doch auch eine Börsenumsatz-steuer verlangt!)

– Wir reden hier aber über die Finanzumsatzsteuer. Sowie dieser Antrag formuliert ist, kann eine solche Steuerdoch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden.

Das Bemerkenswerte ist, dass auf unserem Finanz-markt nicht nur Hedgefonds und kurzfristige Spekulan-ten agieren. Auf unserem Finanzmarkt geht es vor allenDingen darum, den Unternehmen Kapital zur Verfügungzu stellen und es Anlegern zu ermöglichen, Altersvor-sorge und Vermögensbildung zu betreiben.

(Frank Schäffler [FDP]: Aber auch bei der Börsenumsatzsteuer!)

Wie soll das funktionieren, wenn die Finanzprodukteverteuert werden?

Sie schreiben, das würde sich auf die Altersvorsorgeüber Kapitalanlagen unwesentlich auswirken.

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber kumu-liert wirkt das auch!)

Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mir das kaumvorstellen kann. Wenn jemand eine Kapitalanlage wie ei-nen Fonds wählt, dann hat er ein Interesse daran, dassdieser Fonds wächst; sonst ist sein Geld am Ende nichtsmehr wert. Dieser Fonds wächst aber nur, wenn manschnell auf den Kapitalmarkt reagieren kann. Wenn maneine zusätzliche Steuer schafft, dann wird das Ergebnissein, dass es Fonds für diejenigen gibt, die sich nicht vielleisten können. Sie werden diesen Steuersatz zahlen. EinKursgewinn von 3 Prozent würde nach Steuern nur eineRendite von 2 Prozent bringen; nach Ihrer Rechnungwären es 2,9 Prozent, aber das ist nicht viel mehr. Siewollen diejenigen, von denen wir, die Politik, glauben,dass sie einen Finanzmarkt brauchen, der gut funktio-niert und sicher ist – ich meine die ganz normalen Anle-ger und Anlegerinnen –, die Zeche zahlen lassen. Siewollen, dass die für sie gedachten Produkte verteuertwerden. Sie bewirken, dass diese Menschen in Kapital-anlagen investieren, deren Fondsmanager wenig Inte-resse daran haben, möglichst viel zu handeln, weil siedafür viel bezahlen müssen.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber jetzt argumentieren Sie ge-gen den Vorschlag Ihrer eigenen Partei!)

Aber diejenigen, die international agieren, die ganzschnell aussteigen und an einer anderen Börse, auf eineranderen Plattform oder außerhalb von beidem handelnkönnen, lassen Sie heraus. Diese Personen werden dieSteuer am Ende nicht zahlen; sie werden nicht zu denvon Ihnen geplanten Einnahmen beitragen, sondern ihrePapiere schlicht und ergreifend woanders handeln.

Ich sage gar nicht, dass wir das aus grundsätzlichenÜberlegungen nicht wollen. Die ganze Debatte überdiese Art der Besteuerung dreht sich um die Fragen: Wiebekommen wir diese Steuereinnahmen? Welche Effektelöst das aus? Sind das volkswirtschaftliche Effekte, diewir erzielen wollen? Oder ist es nicht vielmehr so, dassunser Finanzmarkt von beiden Teilen leben muss? Ermuss davon leben, dass sich Unternehmen Geld besor-gen. Er soll in diesen schwierigen Zeiten und auch in Zu-kunft davon leben, dass die Leute einen Teil dessen, wassie an Vermögen bilden wollen, am Finanzmarkt zu fairenPreisen sicher anlegen können, und zwar so, dass sie er-warten können, dass ihre Produkte gut gemanagt wer-den. Das würden wir mit dem von Ihnen vorgeschlage-nen Vorgehen kaputtmachen. Würden wir Ihrem Antragfolgen, ließen wir diejenigen außen vor, die diese Steuereigentlich zahlen könnten, und würden am Ende dafürsorgen, dass der Finanzmarkt für normale Anleger nichtmehr zu erreichen ist.

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Nina Hauer

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Frank Schäffler (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Den Worten von Ihnen, Frau Hauer, kann ich ei-gentlich nur zustimmen.

(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU])

Alles, was Sie gesagt haben, ist richtig. Nur, Ihr eigenerKanzlerkandidat fordert eine Börsenumsatzsteuer undwill den Finanzmarkt stärker mit Steuern überziehen.Von daher haben Ihre Worte in Ihrer eigenen Partei si-cherlich nicht so richtig eine Mehrheit gefunden.

Ich möchte auf den Antrag der Grünen zu sprechenkommen. Herr Schick, ich glaube, Sie haben die Lehrenaus der Finanzkrise noch nicht richtig durchdrungen. Ichglaube, die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahrewurde im Wesentlichen dadurch verschärft, dass dieLänder dieser Welt damals die Steuern erhöht undgleichzeitig die Zölle angehoben haben. Das war letzt-endlich die Ursache dafür, dass die Weltwirtschaftskriseüber so lange Zeit eine verheerende Wirkung zeigenkonnte. Wenn Sie jetzt genau das Gleiche fordern, dannhaben Sie aus der Geschichte nichts gelernt.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie haben auch aus den internationalen Erfahrungenmit Börsenumsatzsteuern – so sage ich jetzt einmal –nichts gelernt.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Doch! Deswegen entwickeln wirdas weiter!)

Wir haben international im Kern eigentlich eine sehr er-freuliche Entwicklung. Überall wird die Börsenumsatz-steuer oder die Besteuerung von Aktienumsätzen abge-schafft. Dänemark hat die Börsenumsatzsteuer 1999abgeschafft. Deutschland hat 1991, als wir in der Koali-tion noch Steuern gesenkt haben, die Börsenumsatz-steuer abgeschafft. Italien hat 2008 die Börsenumsatz-steuer abgeschafft, die Niederlande

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: 1990!)

1990, Österreich 2000,

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Spanien 1988!)

Schweden 1991, Spanien 1988. Überall auf dieser Weltwird die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, und Sie vonden Grünen wollen wieder eine neue Steuer einführen.Das passt nicht ins Bild.

(Beifall bei der FDP – Dr. Gerhard Schick[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Obama willauch eine einführen! – Gegenruf des Abg. LeoDautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut! Das soller mal machen!)

Die internationalen Erfahrungen, die wir dazu haben,sind verheerend. Schweden hat die Börsenumsatzsteuer1985 eingeführt. Daraufhin ist der Markt für festverzins-liche Wertpapiere um 85 Prozent eingebrochen. DasHandelsvolumen bei anderen Produkten an der Börse istum 98 Prozent zurückgegangen. Die Einnahmen, dieSchweden damals unterstellt hat, nämlich etwas über165 Millionen Euro, sind nicht erzielt worden. Innerhalbvon wenigen Jahren sind sie auf 9 Millionen Euro gesun-ken. Wenn Sie also Arbeitsplätze in diesem Land ver-nichten wollen, auch am Finanzstandort Frankfurt, dannmüssen Sie die Finanzumsatzsteuer einführen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Lassen Sie mich direkt auf Ihren Antrag eingehen.Wenn man einen Antrag formuliert und wissenschaftli-che Quellen nennt, auf die man sich bezieht, dann sollteman wenigstens ordentlich abschreiben. Sie haben in Ih-rem Antrag auf das österreichische Wirtschaftsfor-schungsinstitut WIFO verwiesen – Sie haben es geradewieder getan –, haben einen Steuersatz von 0,01 Prozenterwähnt und Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliar-den Euro pro Jahr prognostiziert. Es ist immer ganzschön, wenn man einmal nachschaut, ob alles das, wasda hineingeschrieben wurde, auch zutrifft.

Ich habe mir vorhin erlaubt, diese Studie herunterzu-laden. Auf Seite 71 können Sie das gern noch einmalnachlesen. Da ist genau beschrieben, welche Annahmengetroffen worden sind. Es ist beispielsweise angenom-men worden, dass bei diesem Steuersatz die Aktienum-sätze oder Börsenumsätze um 15 bis 35 Prozent zurück-gehen. Es wird tendenziell das dargestellt, was ich fürSchweden gerade vorgetragen habe. Unterstellt werdennicht Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro,wie Sie geschrieben haben, sondern von 28,6 MilliardenUS-Dollar. Das ist wesentlich weniger als das, was Sieangenommen haben. Das passt wieder zu dem Bild, dasich für Schweden gezeichnet habe. Zwischen dem, wasman ursprünglich annimmt, und dem, was dann tatsäch-lich eintritt, besteht ein himmelweiter Unterschied.

(Beifall bei der FDP)

Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie davon Ab-stand! Ziehen Sie die Lehren aus der Finanzkrise! Diesewird eben nicht dadurch bewältigt, dass man Steuernund Zölle erhöht sowie Mauern aufbaut, sondern da-durch, dass man Mauern abbaut und Freihandel zulässt.Das ist die richtige Antwort auf diese Finanzkrise.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die

Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schick, eswäre vielleicht sinnvoller gewesen, wenn Sie zu diesemTagesordnungspunkt Ihren ursprünglichen Antrag mitdem Titel „Finanzmärkte besser regulieren – Krisenkünftig verhindern“ eingebracht hätten. Da hätte es vieleSchnittmengen gegeben; da wären wir in vielen Punktendurchaus gemeinsamer Auffassung gewesen und hätten dasauch gemeinsam nach vorne bringen können. Sie habensich – aus nachvollziehbaren Gründen – jetzt rein auf dieEinführung einer Finanzumsatzsteuer konzentriert, weilSie mit Ihrem Finanzmarktpapier wahrscheinlich aucheine Antwort auf die SPD-Forderung nach Einführungeiner Börsenumsatzsteuer geben wollten.

Vor Wochen zumindest lehnte Finanzminister Steinbrückdie Einführung einer Börsenumsatzsteuer ab. Die jetztim Finanzmarktpapier der SPD erhobene Forderung istwahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass er mehr inseiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Vorsitzenderund weniger als zuständiger Finanzminister agiert. Dassollte Sie, Herr Schick, nicht veranlassen, die durchausguten Vorstellungen, die Sie in Ihrem Finanzmarktpapierentwickelt haben, nicht mehr weiterzuverfolgen und sicheinseitig auf eine unnötige Belastung des Finanzmarktesdurch Einführung einer solchen Finanzumsatzsteuer zukonzentrieren.

Ich habe mit Respekt und in gewisser Weise auchüberrascht die Ausführungen der Kollegin Hauer gehört,die sich im Grunde genommen nicht nur gegen die Ein-führung einer Finanzumsatzsteuer ausgesprochen hat,sondern indirekt auch gegen die im Finanzmarktpapierder SPD geforderte Einführung einer Börsenumsatz-steuer. Vor diesem Hintergrund gibt es in dieser Debattezwischen uns durchaus einige Gemeinsamkeiten.

Wenn Sie, Herr Schick, sagen, mit Ihrem Vorhabenginge keine Belastung der privaten Altersvorsorge einher,dann muss ich Ihnen entgegnen – darauf hat sich FrauKollegin Hauer auch schon bezogen –: Wenn eine Belas-tung da ist, wird sie sich in kleinen Schritten kumuliertüber die Zeit negativ auf die Rendite des Anlegers aus-wirken. Wenn eine Anlage auf diese Weise über 20 Jahrebelastet wird, dann hat das durchaus nennenswerte Aus-wirkungen auf den Anlageprozess zur Folge.

Die Einführung einer solchen Steuer muss auch imHinblick auf Aktienkultur und Aktienanlagen gesehenwerden: Aktien, die durch die Abgeltungsteuer jetztschon stärker als beispielsweise Inhaberschuldverschrei-bungen oder Anleihen belastet sind, würden zusätzlichbelastet. Das würde dazu führen, dass vernünftige Unter-nehmensfinanzierungen über den Aktienmarkt immerschwieriger würden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Weiterhin würde eine solche Steuer eine Störung derMobilität des Finanzkapitals mit sich bringen. Sie würdein einer Krise darüber hinaus prozyklisch wirken.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, im Gegenteil!)

Wenn Sie, wie Sie schreiben, durch die Belastung mit einersolchen Steuer erreichen wollen, dass gerade die kurz-fristigen Geschäfte am Finanzmarkt erschwert würden,dann sollten Sie bedenken, dass es auch einige Finanzin-strumente kurzfristiger Natur gibt, die durchaus stabilisie-rende Wirkungen gegenüber den Grundgeschäften haben.Wenn Sie diese zusätzlich belasten, würden Sie den ge-samten Apparat der Sicherungsgeschäfte auf den Finanz-märkten erschweren. Hier sollte man immer das Endebedenken.

Weiter sagen Sie in Ihrem Antrag, die Finanzumsatz-steuer sorge für mehr Finanzmarktstabilität. Schauen wiruns einmal an, in welchen Ländern es Strukturen gibt, dieeiner Börsenumsatzsteuer oder einer Taxation andererArt entsprechen. Da wären zum Beispiel das VereinigteKönigreich oder die USA zu nennen. Aber von diesenLändern gingen doch überwiegend die Krisen, die auchuns erreicht haben, aus. Wenn eine solche Steuer Finanz-märkte stabilisieren würde, dann hätte es in diesen Länderngar nicht zu diesen Vorkommnissen kommen dürfen.Von daher gehen Sie auch mit dieser Annahme in IhremAntrag fehl.

Im internationalen Vergleich erkennen wir, dass imVereinigten Königreich und in den USA nicht alle Ele-mente des Finanzmarktes in die Besteuerung einbezogensind. Wenn Sie sagen, Obama werde das jetzt machen,dann sage ich: Gut, dann soll er einmal vorangehen. Obdann andere Länder nachziehen, ist eine andere Frage.

Herr Kollege Schäffler hat schon dargestellt, wie es imeuropäischen Vergleich ausschaut. Sie von den Grünen sa-gen ebenfalls, dass Sie keinen Alleingang wollen. Ichwünsche Ihnen viel Erfolg dabei, die Länder, die bisherdiese Finanzinstrumente wohlweislich und aus nachvoll-ziehbaren Gründen abgelehnt haben, dazu zu bringen,einer europäischen Grundlage für eine solche Steuerzuzustimmen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Euro-päische Union als eine Einheit ansehen, die selbstständigSteuern erhebt. Das haben wir bisher, Herr KollegeSchick, immer abgelehnt. Ich glaube, wir fahren gut da-mit, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Sie widersprechen sich in Ihrem Antrag selbst, indemSie fordern, dass die Anteile im jeweiligen Land einengewissen Stellenwert haben sollen und dass ein be-stimmter Teil der Einnahmen in den Ländern verbleibenmuss, weil sie sonst kein Interesse daran haben, dieseSteuer zu erheben.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Widerspruch!)

Das ist ein Widerspruch. Wenn Sie eine solche Steuerauf europäischer Ebene einheitlich erheben wollen, dannkönnen Sie die nationale Zuständigkeit für bestimmteBereiche nicht beibehalten. Daher der Hinweis: Ihr ur-sprünglicher Antrag war in diesem Punkt sehr viel besser.

Heute Morgen gab es – auch von unserer Kanzlerin –hervorragende Debattenbeiträge dazu, welche Erforder-nisse sich für die Finanzmarktstabilisierung auf internatio-naler und auf europäischer Ebene in den nächsten Monaten

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Leo Dautzenberg

ergeben werden. Darauf sollten wir uns konzentrieren.Wir sollten – ausgehend von den G-20-Beschlüssen vom15. November – die fünf Leitprinzipien, die bis zu 47 Ein-zelmaßnahmen im Hinblick auf den internationalen Finanz-markt und seine Stabilisierung nach sich ziehen, nichtnur als Ankündigung sehen, sondern auch dafür sorgen,dass sie in den nächsten Monaten Schritt für Schritt um-gesetzt werden.

Wir sollten einen Teilbereich besonders beachten. An-gesichts der europäischen Einigkeit, was Elemente derFinanzmarktstabilisierung betrifft, sollten wir gemein-sam mit den USA und dem gesamten angelsächsischenBereich diese Beschlüsse umsetzen, weil jetzt das Zeit-fenster gegeben ist. Wenn diese Krise in einigen Jahrenüberstanden ist, dann werden wir uns in einem Zustandwiederfinden, den es vor zwei bis zweieinhalb Jahrengegeben hat, als in diesem Bereich wenig Sensus fürRegulierung und für Elemente der Finanzmarktstabili-sierung vorhanden war.

Es geht um Transparenz, um mehr Rechenschafts-pflichten und um die Verbesserung der Regulierung. Esmuss das Ziel sein, dass es weltweit keine weißen Fleckenmehr gibt, was die Regulierung von Finanzmarktproduk-ten anbelangt. Dazu gehört auch die Austrocknung vonSteueroasen. Dies muss aber in gegenseitigem Respektgeschehen und nicht mit dem Einsatz von verbalenMachtinstrumenten. Dazu gehört auch die Forderung,die Integrität des Finanzmarktes zu wahren, die internatio-nale Zusammenarbeit zu stärken und Institutionen wie IWFund das Financial Stability Forum mit den Kompetenzenauszustatten, die es ihnen ermöglichen, die angestrebtenZiele zu erreichen.

Deshalb sind für uns – im Gegensatz zu Ihnen – dieStabilisierung und Weiterentwicklung der internationa-len Finanzarchitektur eine sinnvolle Zielsetzung. Daraufsollten wir uns konzentrieren und nicht auf eine zusätz-liche Belastung der Finanzmärkte durch die von Ihnenvorgeschlagene Steuer. Wenn es Europa auf dem Londo-ner Gipfel gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, dannbietet sich damit eine hervorragende Grundlage, interna-tionale Vereinbarungen zu treffen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Roland Claus (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der uns vorliegende Antrag ist gewissermaßenein Symbol für eine sehr interessante momentane Ent-wicklung. Ich will sie mit folgenden Worten beschreiben:Wir müssen etwas gegen den Finanzkapitalismus tun;aber das darf ihm nicht wehtun. – Wir halten das aus-drücklich für falsch. Wenn Union und FDP gar einemfinanzpolitischen Weiter-so, wie es soeben erfolgt ist,

das Wort reden, ist das eine besonders fatale Entwick-lung, die uns nicht aus der Krise herausführt, sondern indas nächste Chaos hinein.

(Beifall bei der LINKEN)

Begonnen hat das alles heute Morgen. Die Frau Bun-deskanzlerin hat ja nicht in erster Linie als Kanzleringeredet, sondern als CDU-Vorsitzende. Das mag sich dieCDU gewünscht haben. Aber für eine konsequente Poli-tik, die uns aus der Krise herausführt, ist das natürlichder falsche Weg. Beschwichtigen, zurückrudern – einesolche Politik können wir nicht hinnehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Natürlich geht der Vorschlag der Grünen in die richtigeRichtung. Er ist eine aktuelle Einladung an FinanzministerSteinbrück. Auch der proeuropäische Ansatz ist unterstüt-zenswert. Es wäre sogar, wie wir wissen, eine Mehrheitim Bundestag vorhanden, diesen Antrag zu beschließen.Aber den bei diesem Ausmaß der Krise notwendigenSchritten wird auch dieser Antrag nicht gerecht.

Sie hatten bereits – daran muss ich Sie erinnern – imersten Halbjahr 2007 die Möglichkeit, einem nicht glei-chen, aber ähnlichen Antrag der Fraktion Die Linkezuzustimmen. Vor zwei Jahren wurden wir für diesenVorschlag in der Debatte – ich habe sie mir noch einmalangeschaut – bestenfalls verlacht. Dabei haben wir da-mals – da waren wir noch nicht mutig genug – nochnicht einmal Karl Marx, sondern die Ökonomen Keynes,Tobin und Stiglitz zitiert.

Der Antrag der Grünen im Wandel – dies ist schonvon meinem Vorredner angesprochen worden. Er hießnämlich bis vorgestern: „Finanzmärkte besser regulieren –Krisen künftig verhindern“. Ich hielte das für weitausmutiger. Der jetzige Antrag war in diesem enthalten.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Der kommt auch noch! Das ist nureine Frage der Zeit! – Christine Scheel[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben esnicht gemerkt: Das sind zwei Anträge!)

Ich hoffe, dass dabei nicht die Analyse Pate stand,dass die Partei der Grünen die Wählerinnen und Wählermit den höchsten Einkommen hat, inzwischen Empfän-gerin von Spenden aus der Finanzwirtschaft ist – ebensowie CDU, CSU, FDP und SPD –

(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr habt ja noch weitere Quellen, die ihr nicht hergebt!)

und nur 1 Prozent der Bevölkerung sagt, dass sich dieGrünen in der Krise um sozial Benachteiligte kümmern.Auch ist immer noch das Wort Ihres Übervaters JoschkaFischer aus dem Jahre 2003 nachzulesen, der seiner Par-tei meinte ins Stammbuch schreiben zu müssen: Wirkönnen nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen.

In dem vorliegenden Antrag gibt es ein sehr großespraktisches Problem. Es wird nichts zur Höhe der vorge-schlagenen Steuer gesagt. Kollege Schick hat nun etwasdazu dargestellt. Aber wer Steuerforderungen erhebt,muss, weil Steuern nun einmal etwas mit den vier Grund-rechenarten zu tun haben, auch etwas zur Höhe sagen;

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Roland Claus

denn die Höhe hat sehr wohl Einfluss auf die Qualität.Nur wenn eine bestimmte angemessene Höhe erreichtwird, wird auch das Ziel, Kapital investiv und nicht spe-kulativ anzulegen, erreicht werden. Bleibt der Satz aberso gering – möglicherweise so gering, wie Sie ihn imZusammenhang mit einem Vergleich angeben, nämlichein 100stel Prozent –, dann orientiert sich das, was wir mitdieser Steuer erreichen wollen, am Umsatz. Sie zielen da-mit gewissermaßen darauf, am Geschäft des Kasinos einbisschen mitzuverdienen. Insofern sage ich: Der Antragspiegelt die Situation wider, mit der wir es jetzt zu tunhaben. Er ist zwar nicht falsch, aber auch nicht konse-quent genug.

Leider stellen wir auch fest, dass sich Bundesfinanz-minister Steinbrück am Krebsgang orientiert. Er hatnoch vor kurzem die lückenlose Kontrolle der Hedge-fonds gefordert. Jetzt erfahren wir: Von 9 000 weltweitagierenden Hedgefonds sollen gerade einmal 100 indiese Kontrolle einbezogen werden. Seine Forderungnach Einführung einer Börsenumsatzsteuer hat er aus-drücklich im Zusammenhang mit dem SPD-Wahlpro-gramm bekannt gegeben und nicht in seiner Funktion alsBundesminister. Was das bei der SPD bedeutet, wissenwir von Franz Müntefering, der es schlicht und einfachunfair nannte, dass man ihn nach der Wahl daran erin-nert, was er vor der Wahl gesagt hat.

Zurück zur Fraktion der Grünen.

Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Claus, Sie müssen bitte zum Schluss kom-

men.

Roland Claus (DIE LINKE): Komme ich auch, Frau Präsidentin. – Mein Fazit ist:

Schlecht regieren konnten die Grünen gut. Gute Opposi-tion müsst ihr noch üben.

(Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha, ha, ha!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/12303 an die in der Tagesordnung auf-geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-lung des Datenschutzaudits und zur Änderungdatenschutzrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 16/12011 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu derUnterrichtung durch den Bundesbeauftragten fürden Datenschutz und die Informationsfreiheit

Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundes-beauftragten für den Datenschutz und die In-formationsfreiheit – 21. Tätigkeitsbericht –

– Drucksachen 16/4950, 16/12271 –

Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp Dr. Michael Bürsch Gisela Piltz Petra Pau Silke Stokar von Neuforn

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich begrüße ganz ausdrücklich den Bundesbeauftrag-ten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, deran dieser Debatte über seinen Tätigkeitsbericht und denGesetzentwurf teilnimmt.

(Beifall)

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Beatrix Philipp für die Unionsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. KlausUwe Benneter [SPD] – Gisela Piltz [FDP]:Jetzt bin ich gespannt, ob ich bei dir klatschenkann!)

Beatrix Philipp (CDU/CSU): Du kannst immer bei mir klatschen, weil ich vernünf-

tige Sachen sage. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Zum 21. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftrag-ten für den Datenschutz liegt Ihnen eine fraktionsüber-greifende Entschließung vor, die den sogenanntenkleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten dar-stellt.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Klein!)

– Es ist der kleinste, aber immerhin, Herr Bürsch. Wennviele Arbeitsgruppen und Berichterstatter das schaffenwürden, wären wir in der Bevölkerung vielleicht erheb-lich besser angesehen, als das im Augenblick der Fall ist.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Zustimmung!)

Herr Bürsch, fraktionsübergreifend sind wir uns da-rüber einig, dass angesichts der technologischen Ent-wicklung der vergangenen Jahre immer deutlicher wird,dass wir unser Datenschutzrecht in seiner Gesamtheitüberdenken und überarbeiten müssen. Es wird wesent-lich darauf ankommen, zu verhindern, dass es am Endeunendlich viele Einzelregelungen und bereichsspezifi-sche Sonderregelungen gibt. Wir brauchen ein stringen-tes Datenschutzrecht aus einem Guss.

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(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowiebei Abgeordneten der FDP und des BÜND-NISSES 90/DIE GRÜNEN – Gisela Piltz[FDP]: Wir warten darauf!)

Zur Ehrlichkeit gehört natürlich auch, zuzugeben,dass es im Bereich des Vollzugs der Datenschutzaufsichtund wohl auch im Bereich des Arbeitnehmerdatenschut-zes erhebliche Defizite gibt.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Richtig!)

Hier sind die Länder besonders gefordert. Intensive Ge-spräche zu diesen Themen wurden dort bereits auf denWeg gebracht.

Es ist guter Brauch, an dieser Stelle dem Bundesda-tenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen undMitarbeitern für ihre Arbeit Dank zu sagen. Ich tue dasim Namen meiner Fraktion auch in diesem Jahr aus-drücklich und freue mich, dass ich das durch Augenkon-takt unterstreichen kann. Das ist ja einmal etwas Nettes.

(Beifall im ganzen Hause)

Bei der heutigen Debatte liegt das Hauptaugenmerkzweifellos auf dem Gesetzentwurf zur Regelung des Da-tenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtli-cher Vorschriften. Das Ausmaß der öffentlichen Diskus-sion über die in diesem Gesetzentwurf enthaltenenRegelungen und die sich bereits jetzt abzeichnendenKonsequenzen für ganze Branchen verlangen nach einerintensiven, ernsthaften und ausgewogenen Auseinander-setzung mit den Betroffenen und den Interessengruppen.

Ich habe ebenso wie viele von Ihnen in den vergange-nen Monaten sehr viele Einzelgespräche mit Unterneh-mern, Verbandsvertretern, mit Vertretern unterschied-lichster Branchen, aber auch mit Datenschützern undVerbraucherschützern geführt. Ich wiederhole hier des-halb sehr eindringlich, vor allem nach unserer fraktions-internen Anhörung in der vorigen Woche: Das Ende derÜberlegungen und der Auseinandersetzungen mit die-sem heiklen Thema sehe ich noch lange nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Abschaffung des Listenprivilegs und die gleich-zeitig geplante Einführung eines umfassenden, ver-pflichtenden Opt-in sind die wesentlichen Streitpunkte.Nach derzeitiger Rechtslage ist die Weitergabe und Nut-zung von Name, Adresse, Geburtsdatum und Berufsbe-zeichnung verbunden mit jeweils einem zusätzlichenMerkmal gestattet. Nach dem sogenannten Listenprivi-leg ist dies immer dann rechtlich zulässig, wenn es sichnicht um Daten einzelner Personen handelt, sondern umlistenmäßig zusammengefasste Daten. Ich glaube sogar,daher stammt dieser Begriff.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Gute Erläute-rung!)

– Das muss einmal gesagt werden, Herr Bürsch.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wunderbar!)

Damit nähern wir uns den Realitäten erheblich. – In die-sem Fall müssen die Betroffenen zwar nicht über dieWeitergabe oder Nutzung informiert werden, sie haben

aber jederzeit die Möglichkeit – schon nach geltendemRecht –, einer Weitergabe oder Nutzung zu widerspre-chen. Das ist das sogenannte Opt-out. Selbstverständlichgibt es ein Auskunftsrecht über gespeicherte Daten.

Der uns nun vorliegende Gesetzentwurf will nicht nurdieses Privileg, von dem ich immer sage, dass es gar kei-nes ist, gänzlich abschaffen, sondern zugleich einenKurswechsel um 180 Grad vornehmen. Ich bin aber si-cher, dass wir mit der Abschaffung des Listenprivilegsund der Einführung eines verpflichtenden Opt-in überdas eigentliche Ziel von Datenschutz hinausschießen.Damit wird, wenn man ehrlich ist, effektiver Verbrau-cherschutz mehr als fraglich.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wenn personifizierte, also auf einen speziellen poten-ziellen Kunden abzielende Werbung nicht mehr möglichist – das wird dann der Fall sein –, dann sind unter ande-rem folgende Alternativen zu befürchten – ich zähle sieeinmal auf –: Jeder Einzelne wird dann Opfer ungefilter-ter flächendeckender Werbung, die im Vergleich zuheute erheblich zunehmen wird.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Sie glauben auch alles, was manIhnen erzählt!)

– Nein, ich glaube nicht alles, Frau Stokar, sondern ichkann mir, weil der gesunde Menschenverstand seltenhinderlich ist, ausmalen, wie sich Werbung vollzieht,wenn nicht mehr personifiziert geworben werden kann,sondern flächendeckend geworben wird. Dann habe ichmehr Werbung im Briefkasten als jetzt, nur mit dem Un-terschied, dass meine Adresse nicht mehr draufsteht.

Es gibt noch andere Möglichkeiten. Es wird wiedervermehrt Drückerkolonnen geben, die zu passenden oderunpassenden Zeiten an der Haustür klingeln und uns be-lästigen; ich empfinde das jedenfalls so. Es wird natür-lich, auch wenn es inzwischen gesetzlich eingeschränktist, zu vermehrter Telefonwerbung kommen.

(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist verboten!)

Also müssen wir uns fragen, ob wir das wollen und obsich tatsächlich etwas für den Verbraucher verbessert.Das finde ich jedenfalls mehr als fraglich. Schon jetzt istabsehbar, dass ein verpflichtendes Opt-in aus unter-schiedlichsten Gründen das künftig verfügbare Adress-material erheblich reduzieren wird. Da helfen auch keineAusnahmen für etwaige Sondergruppen wie Spendenor-ganisationen. Denn die Zahl der Adressen, auf die sie zu-greifen können, wird so reduziert sein, dass sie in ihrerExistenz bedroht sein werden und ihre Arbeit eigentlichauch sein lassen könnten. Man muss sich überlegen, obman das in unserer Gesellschaft möchte.

(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

Der nächste Punkt. Die Auswirkungen werden auchdie deutsche Wirtschaft treffen. Ich meine, dass das inder derzeitigen Wirtschaftssituation kaum zu verantwor-ten ist. Ich will auf Folgendes aufmerksam machen:337 000 Anwender haben sich 2007 des Marketing-

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Beatrix Philipp

instruments der volladressierten Werbesendung mit ei-nem Aufwendungsvolumen von 11,5 Milliarden Eurobedient. Man kann sagen, dass das unheimlich viel ist;aber ich weise darauf hin, dass die Alternativen andersaussehen. Die Zahlen sprechen im Hinblick auf gesamt-wirtschaftliche Konsequenzen und Arbeitsplätze fürsich. Man kann nicht sagen, das erzähle immer die Wirt-schaft; es liegt eigentlich auf der Hand und muss erhebli-che Berücksichtigung finden.

Ohne wesentliche Änderungen zeichnen sich für ei-nen Großteil der Wirtschaft Konsequenzen in einemAusmaß ab, wie ich es für nicht akzeptabel halte: für dieUnternehmen, die auf ständige Neukundengewinnungangewiesen sind – jeder im Versandhandel und bei Zeit-schriftenverlagen sagt Ihnen, dass sie jedes Jahr10 Prozent Neukunden brauchen, um den Verlust anKunden auszugleichen –, für die Werbung und die Di-rektmarketingbranche, für Firmen und für Existenzgrün-der. Im April dieses Jahres findet die 60. Meisterfeier beider Handwerkskammer in Düsseldorf statt. Der Hand-werksmeister, der mit dem Meisterbrief nach Hause gehtund beschließt, all die anzuschreiben, die er gut bedienenund beraten könnte, hat diese Möglichkeit demnächstnicht mehr, weil ihm die Adressen fehlen. Man musssich genau überlegen, ob man das will.

Nicht zuletzt gibt es erhebliche Konsequenzen fürSonderbereiche, denen man bereits durch entsprechendeSonderregelungen entgegenzukommen versucht. Manhat schon gesehen, dass es da Probleme gibt. Aber wiegesagt: Die Ausgangslage ist, dass das Adressenmaterialerheblich reduziert sein wird. Den Bereich der Markt-und Meinungsforschung wird es in dieser Zuverlässig-keit nicht mehr geben. Im Bereich der Versicherungenwird ein verpflichtendes Opt-in aufgrund des gesetzlichvorgeschriebenen versicherungsspezifischen Sparten-prinzips zu einer erheblichen Belastung; und wir sehenKorrekturbedarf für den Bereich der Fachpresse.

Schließlich – ich will mich jetzt beschränken, weilwir in der nächsten Woche eine Anhörung durchführen –glaube ich, dass wir uns auf die Dinge konzentrierensollten, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe.Ich sage: Wir brauchen mehr Datensicherheit und nichtnur mehr Datenschutz. Die Abschaffung des Listenprivi-legs muss grundsätzlich überdacht werden inklusive derProblematik, die mit einem juristisch einwandfreienOpt-in verbunden ist, das vor Gericht Bestand hätte. Dasgibt es nämlich noch nicht; auch darauf sind wir auf-merksam gemacht worden. Das Kopplungsverbot mussuneingeschränkt gelten. Wir brauchen eine große Robin-sonliste und eine firmeninterne kleine Robinsonliste miteiner Hinweispflicht durch die Unternehmen. Wir brau-chen eine Kennzeichnungspflicht bezogen auf die letzteQuelle der Daten. Wie gesagt: Der Vollzug muss verbes-sert werden. Dies ersetzen wir nicht mit der bisher vor-gesehenen Auditregelung.

Meine Damen und Herren, wir bewegen uns in einemsensiblen Bereich, in dem man sehr genau überlegenmuss, an welchen Stellschrauben man dreht, wenn manunerwünschte Ergebnisse, zum Beispiel die Abwande-rung von Firmen ins Ausland, vermeiden möchte.

Wir stehen am Anfang einer Debatte, die in erhebli-chem Maße geeignet ist, bei der Bevölkerung Problem-bewusstsein zu schaffen; das ist gut. Es besteht aberauch die ernst zu nehmende Gefahr, dass man Firmenmit allzu hohen Hürden, zu strengen Auflagen und zugroßen Belastungen ins Ausland treibt, in Länder, in de-nen mit verschiedenen Auflagen maßvoller umgegangenwird als bei uns; das wäre schlecht.

Insofern hoffe ich auf eine ernsthafte Debatte, getra-gen von dem Willen, für einen angemessenen und abge-wogenen Umgang mit Datenschutz und Datensicherheitzu sorgen. Der Überweisung des Gesetzentwurfes an dieAusschüsse stimme ich natürlich zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.Dr. Michael Bürsch [SPD] – Silke Stokar vonNeuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daswar der Totalverriss eines Schäuble-Gesetzes!)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Gisela Piltz (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was lange währt, wird endlich gut. Vor dem Hintergrunddes Themas, über das wir heute diskutieren, sollte manhinter diesem Satz eher ein Fragezeichen als ein Ausru-fezeichen setzen. Denn um dieser Aussage zumindestnoch ansatzweise gerecht zu werden, läuft Ihnen, liebeKolleginnen und Kollegen von der sogenannten GroßenKoalition, langsam die Zeit davon.

Sie haben lange – ich finde: zu lange – gebraucht, umdafür zu sorgen, dass wir dieses Thema debattieren. Ichbin gespannt, wie es weitergeht. Denn aus meiner Sichthätte die Debatte über die Vorschriften, um die es heutegeht, schon längst geführt werden können, sogar schonlängst geführt werden müssen.

(Beifall bei der FDP)

Nicht erst die jüngsten Datenskandale zeigen ein-drucksvoll, dass dem gewissenlosen Umgang und demHerumvagabundieren von Daten – heute kann man Da-ten ohne Probleme im Internet kaufen – durch gesetzli-che Regelungen schon längst ein Riegel hätte vorgescho-ben werden müssen.

In der kurzen mir zur Verfügung stehenden Redezeitgehe ich auf zwei wichtige Punkte des Gesetzentwurfesein. Zunächst möchte ich ein paar Worte zum Entwurfeines Datenschutzauditgesetzes verlieren. Das Bundes-datenschutzgesetz sieht diese Möglichkeit schon seitdem Jahre 2001 vor. So lange haben Sie gebraucht, umdies in die Wege zu leiten. Das sage ich auch an dieAdresse der Grünen, die dafür ebenfalls viel Zeit gehabthätten. Wenn dieses Parlament für alles neun Jahrebraucht, mache ich mir wirklich Sorgen.

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Gisela Piltz

Obwohl die Bundestagsfraktion der FDP schon langedie Etablierung eines Datenschutzsiegels fordert, kannich Ihrem Gesetzentwurf, abgesehen von seiner Zielset-zung, nicht furchtbar viel abgewinnen. Er lässt klarePrüfungsmaßstäbe vermissen. Des Weiteren fehlt dieMöglichkeit, neben Unternehmen auch Produkte,Dienstleistungen und Verfahren zu auditieren. MeinHauptkritikpunkt ist der unwahrscheinlich große büro-kratische Aufwand, den der Gesetzentwurf mit sichbringt. Mit diesem bürokratischen Monstrum wird dieZielsetzung, einen unbürokratischen Datenschutz zu eta-blieren, geradezu konterkariert.

(Beifall bei der FDP)

Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an IhrenKoalitionsvertrag erinnern – ich weiß, dass Sie sich nichtdaran erinnern wollen; wir erinnern Sie aber gerne –, indem steht:

Das Datenschutzrecht bedarf vor dem Hintergrundder technischen Entwicklungen der Überprüfungund an verschiedenen Stellen der Überarbeitungund Fortentwicklung. Bei dieser Aufgabe werdenwir auch prüfen, ob im Hinblick auf den Abbauüberflüssiger Bürokratie Änderungen vorgenom-men werden können.

Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Gemessen an diesem Satzhaben Sie das Ziel Ihres Gesetzentwurfes wirklich ver-fehlt.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Das zweite zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes– dazu hat sich Frau Philipp ausführlich geäußert; siehatte auch mehr Zeit als ich – ist die Etablierung des so-genannten Opt-in-Verfahrens und die Abschaffung desgenerellen Listenprivilegs. Wenn man dem, was man im-mer wieder hört, Glauben schenken kann,

(Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Alles glaube ich nun wirklich nicht!)

ist dies wohl ein schwieriges Thema.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sie sind doch sonst viel wirtschaftsgläubiger als wir!)

Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Philipp, die ge-samte Redezeit Ihrer Fraktion für sich beanspruchthaben. Ich hätte gerne auch gewusst, was der Bundesin-nenminister, die Staatssekretärin im Verbraucherschutz-ministerium und die verbraucherschutzpolitischen Fach-leute Ihrer Fraktion dazu sagen. Dazu haben Sie sichallerdings nicht geäußert. Das bedaure ich außerordent-lich.

Ich weise Sie darauf hin, dass jeder Haushalt137 Werbebriefe pro Jahr erhält, die er möglicherweisegar nicht bekommen möchte. Falls Sie in diesem Zusam-menhang Drückerkolonnen im Blick haben, frage ichmich, ob die CDU/CSU-Fraktion das EU-Recht ändernoder das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften ein-schränken möchte. Das wäre nämlich das Szenario, dasSie an die Wand gemalt haben.

Eines ist klar: Die Technik ist heute weiter, als dasListenprivileg alt ist. Heutzutage kann man ruck, zuckDaten vermengen oder gegeneinander austauschen. Alldas ist heute viel schneller möglich als früher. DieserEntwicklung muss man sich stellen, und dieser Entwick-lung stellen wir uns. Ich denke, es ist nach wie vor rich-tig, zu sagen: Ich bestimme, was mit meinen Daten pas-siert, sei es nur ein einziges persönliches Merkmal, dashinzukommt. Ich entscheide, ob man meine Daten be-nutzt oder nicht. Wenn man das Recht auf informatio-nelle Selbstbestimmung ernst nimmt, muss man darübernachdenken. Wir halten das nach wie vor für den richti-gen Weg.

(Beifall bei der FDP)

Leider sind die von uns geforderten Datenmarkernoch nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen; wirwürden das für klug halten. Durch sie könnte man seineAnsprüche wirklich durchsetzen. Von daher bleibt ausunserer Sicht festzustellen, dass man noch viel verbes-sern kann.

Insbesondere muss man auch für den Datenschutzbe-auftragten mehr Geld zur Verfügung stellen. Ich halte esimmer für ein bisschen schwierig, wenn die Vertreter derGroßen Koalition hier darüber sprechen, dass man ihnbesser ausstatten muss. Sie folgen nämlich im Haus-haltsausschuss nicht den entscheidenden Anträgen, ihmmehr Geld zur Verfügung zu stellen, und äußern sichhinterher öffentlich im Fernsehen und sagen, er müsstemehr Geld bekommen. Das ist Doppelmoral. Das hat derBundesdatenschutzbeauftragte nicht verdient.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Noch kurz zum Tätigkeitsbericht des Bundesdaten-schutzbeauftragten, der aus meiner Sicht eine eigene De-batte verdient hätte: Ich bin froh, dass wir die Traditionfortsetzen konnten; das teile ich, Frau Philipp. Ich fändees aber auch schön, wenn die Regierung dem Parlamentfolgen würde und nicht zum wiederholten Male – wiebeim Arbeitnehmerdatenschutz – unsere Forderungenmissachtet. Vielleicht wird einmal alles besser. DieSkandale haben schließlich gezeigt: Es besteht Nachbes-serungsbedarf.

Zum Schluss gilt mein Dank in diesem Zusammen-hang den Mitberichterstattern, unseren Mitarbeitern unddem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitar-beitern. Ich bin stolz, dass wir das wieder hinbekommenhaben.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD])

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die

SPD-Fraktion.

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Manfred Zöllmer (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Datenschutz ist heutzutage Verbraucherschutz.Dies wird nicht zuletzt durch eine Studie des NürnbergerMarktforschers GfK deutlich. Danach haben im vergan-genen Jahr 29,5 Millionen Verbraucherinnen und Ver-braucher im Internet eingekauft. Das sind 12 Prozentmehr als 2007. Der Umsatz der Onlineshops stieg damit2008 um erstaunliche 19 Prozent und hat sich seit 2003mehr als verdoppelt.

Bei all diesen virtuellen Einkäufen hinterlassen dieVerbraucherinnen und Verbraucher ihre E-Mail-Adresse,tippen ihre Kontoverbindung ein oder geben ihre Kredit-kartennummer preis. Wer einen Job sucht, stellt seinenLebenslauf online. Wer Freunde treffen will, bewegt sichin sozialen Onlinenetzwerken. Wer einen Partner sucht,wird in seiner Darstellung zwangsläufig sehr persönlich.Das Datenschutzrecht muss deshalb modernisiert wer-den. Es muss auf der Höhe der rasanten technischen Ent-wicklung bleiben. Missbräuche müssen drastisch redu-ziert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum Glück ist unsere Rechtsprechung eindeutig. Esgilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Dahat sich in der Vergangenheit einiges verschoben. Ich er-innere an die vielfältigen Skandale, die es gab. Das musswieder ins Lot gebracht werden. Deshalb begrüßen wirden vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierunggrundsätzlich. Es ist richtig, wenn das bestehende Lis-tenprivileg modifiziert wird. Dieses Privileg hat leiderdazu beigetragen, dass persönliche Daten weitläufig undfür den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und über-prüfbar verstreut werden. Dies entspricht nicht dem er-wähnten Grundrecht.

Folgendes sage ich auch als Verbraucherpolitiker.Fakt ist: Ein funktionierendes Wirtschaftssystem und einfunktionierender Wettbewerb brauchen nun einmal dieWerbung. Gerade junge und kleine Unternehmen müs-sen in der Lage sein, Kunden zu akquirieren, um sich amMarkt zu behaupten. Es ist auch nicht verwerflich, wennWerbung zielgruppengerecht erfolgt. Deshalb sollten wires im weiteren Beratungsverfahren möglich machen,beim Listenprivileg zu einer vernünftigen Lösung zukommen. Durch diese Lösung muss auf der einen SeiteDatenmissbrauch zukünftig verhindert und darf auf deranderen Seite der Wettbewerb der Unternehmen nichtbehindert, sondern soll letztendlich gefördert werden.

Es darf nicht sein, dass bei vielen Produktbestellungenim Internet ein Datenstriptease nötig ist, um die Bestel-lung zu realisieren. Deshalb brauchen wir ein wirksamesKopplungsverbot. Das Prinzip der Datensparsamkeitmuss auch hier gelten.

(Beifall bei der SPD)

Für unsere Verbraucherpolitik gilt das Prinzip dergleichen Augenhöhe. Deshalb plädiere ich eindeutig undnachdrücklich dafür, dass wir die rechtliche Position derVerbraucherinnen und Verbraucher bei Verstößen gegenden Datenschutz deutlich verbessern. Dies muss durcheine Erweiterung des Verbandsklagerechts für Verbrau-

cherverbände auf den Datenschutz, verankert im Unter-lassungsklagegesetz, erfolgen.

(Beifall bei der SPD)

Schließlich brauchen wir ein Datenaudit. Dieses musseffizient, wenig bürokratisch und eindeutig sein.

(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] und SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN])

Wenn mögliche Gremien etabliert werden, dann solltedarin auch die Verbraucherseite Berücksichtigung fin-den.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der aktuelle Gesetz-entwurf ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. An-sonsten gilt wie immer für uns das Struck’sche Gesetz.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist

aus, dass die Fraktion Die Linke wollte, dass die Ab-geordnete Petra Pau jetzt spricht. Aus nachvollziehbarenGründen bin ich anderweitig beschäftigt. Deshalb neh-men wir diesen Beitrag für die Fraktion Die Linke zuProtokoll1).

Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neufornfür die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Können Sie sa-gen, was Sie gesagt hätten? – Dr. MichaelBürsch [SPD]: Reden Sie doch einen Metertiefer! Das geht doch! Jetzt können wir auf IhrArgument nicht eingehen!)

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gernwürde ich die Redezeit der Präsidentin übernehmen;denn ich stehe jetzt vor der Aufgabe, innerhalb von vierMinuten vier sehr komplexe Datenschutzthemen zu be-werten. Deswegen das Wichtigste zuerst.

Mein Dank geht an Peter Schaar und sein Haus für dieVorlage des 21. Tätigkeitsberichts, aber natürlich nichtnur für diesen Bericht, sondern auch für die engagierteArbeit für den Datenschutz. Wenn wir nur ein paarEmpfehlungen des Bundesdatenschutzbeauftragten mitMehrheit im Parlament beschließen würden, dann wärenwir alle ein Stück weiter.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine Geduld an der Gemeinsamkeit, dass wir Jahrfür Jahr feststellen, dass beim Thema Datenschutz etwasgeschehen muss, aber diejenigen, die jetzt regieren, sichkeinen Millimeter bewegen wollen, hat ein Ende gefun-den.

1) Anlage 2

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Silke Stokar von Neuforn

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Was folgt aus die-ser Drohung?)

Ich habe heute hier etwas erlebt, was ich bisher nochnie erlebt habe, nämlich den Verriss eines Gesetzent-wurfs von Bundesinnenminister Schäuble durch dieCDU/CSU-Fraktion, wie es schlimmer eigentlich nichtmehr gehen kann. Der Bundesinnenminister, den ich sel-ten lobe, hat ein durchaus ambitioniertes Datenschutzge-setz für den privaten Bereich vorgelegt, nicht freiwillig,sondern als Antwort auf zahlreiche Datenschutzskandaleund sicherlich auch – ich kenne ihn schließlich gut –, umsich gegenüber der Öffentlichkeit zu entlasten und umim Windschatten der Debatte um Datenschutz in der Pri-vatwirtschaft die staatliche Überwachung weiter auszu-bauen. Dass Sie, meine Damen und Herren von derCDU, durch Ihre Kollegin Frau Philipp dieses Daten-schutzgesetz in der Plenardebatte jedoch öffentlich inGrund und Boden stampfen, das ist schon ein besonderesEreignis.

Ich habe es so vernommen, dass Opt-in mit dem heu-tigen Abend gestorben ist. Von der SPD war hierzu we-nig zu hören. Herr Bürsch hat sich gegenüber dem Han-delsblatt ähnlich geäußert.

Deswegen möchte ich Ihnen noch einmal erklären,worum es eigentlich geht. Es geht nicht um eine Belästi-gung durch Werbeflut. Vielmehr geht es darum, dasshinter meinem Rücken mit meinen Daten, die ich für ei-nen bestimmten Zweck zur Verfügung gestellt habe, weilich im Internet etwas kaufen wollte, Kundenprofile vonmir erstellt werden und dass diese Kundenprofile von ei-nem Unternehmen an ein anderes Unternehmen weiter-verkauft werden und dass ich diesbezüglich keine Trans-parenz habe und ich mich auch nicht dagegen wehrenkann.

(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann müssen Sie bei Tante Emma kaufen!)

Opt-in ist im Internetzeitalter überhaupt kein Pro-blem. Mit einem Mausklick erklärt man sich damit ein-verstanden, dass einem weitere Informationen zuge-schickt werden, oder nicht einverstanden. Das ist seitdem Volkszählungsurteil ein Grundsatz des Datenschut-zes. Ich bestimme über meine Daten. Meine persönli-chen Daten sind keine beliebige Ein-Euro-Ware. Sie vonder CDU/CSU machen sie erneut dazu und tragen damitauch die Verantwortung für die weiteren Skandale in derPrivatwirtschaft.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich kann jetzt nur noch ein paar Worte zum Daten-schutzaudit sagen. In der Anhörung im Innenausschusswerden wir intensiv darüber reden. Seit zehn Jahren wol-len wir dieses Datenschutzaudit, das heißt, wir wollenein Gütesiegel für diejenigen, die einen vorbildlichenDatenschutz betreiben. Auch hier: Auf Ihrem Gesetzent-wurf steht Datenschutzaudit, aber ein Datenschutzgüte-siegel ist noch lange nicht darin enthalten.

Wir sind gerne bereit, an der Verbesserung dieses Ge-setzentwurfs mitzuwirken. Wir wollen Qualitätsstan-dards, die staatlich gesetzt werden und eingehalten wer-

den müssen. Sie arbeiten hier mit einem Placebo. WennSie meinen, man kann die Verbraucherinnen und Ver-braucher heute noch mit einem Datenschutzgütesiegellight hinters Licht führen, dann haben Sie sich getäuscht.

Gehen Sie diesen Weg, und schaffen Sie ein vernünf-tiges Datenschutzgütesiegel, dann haben Sie uns an IhrerSeite. Was hier heute zu hören war, zeigte aber: DieGroße Koalition wird beim Thema Datenschutz trotz derzahlreichen Skandale nichts mehr bewegen.

(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Unglaublich! – Klaus Uwe Benneter[SPD]: Die Große Koalition wahrt Augenmaß,wie immer!)

Den Arbeitnehmerdatenschutz haben Sie ja schon be-erdigt. Ich bedaure dies und hoffe, dass wir das Thema inder nächsten Legislaturperiode mit anderen Leutenerneut angehen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege

Dr. Michael Bürsch das Wort.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Jetzt ist vielleicht die Gelegenheit, mal wiederetwas Ruhe und Abgeklärtheit in der Debatte zu schaf-fen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir sind doch ganz ruhig! – SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht: Daskennen wir!)

Verehrte Kollegin Stokar, wenn es um die Große Ko-alition und ihre Vorhaben geht, dann halte ich mich anmeinen und unseren Innenminister. InnenministerWolfgang Schäuble hat gesagt, er schließe Nachbesse-rungen zwar nicht aus, er warne aber vor einem Schei-tern. Ich zitiere:

Wir müssen den Datenschutz im privaten Bereichnoch stärker durchsetzen. Daher müssen wir hierauf jeden Fall noch etwas in dieser Legislaturpe-riode tun.

Genau so wird es geschehen.

Frau Philipp hat ein paar kritische Anmerkungen ge-macht. Das ist wohl erlaubt.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Zu viele! Neun Minuten lang! – SilkeStokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Neun Minuten lang hat sie den Entwurfverrissen!)

Nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?“ sage ich:Bitte schön, jetzt nenne ich einige Punkte, die wir unsmit dieser Datenschutznovelle und dem ganzen Drum-herum vornehmen.

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Dr. Michael Bürsch

Zunächst einmal zum wichtigsten Punkt. Die SPD,die Grünen und ich weiß nicht, wer noch alles, haben inder Tat schon vor Jahren bzw. Jahrzehnten gefordert,dass ich nicht mehr, wie das bislang üblich war, widerru-fen muss, wenn jemand meine persönlichen Daten ver-wendet, sondern ich vorher einwilligen muss: vorherigeEinwilligung statt Widerruf.

Frau Stokar von Neuforn, Frau Piltz und all die ande-ren, die sich hier kritisch geäußert haben, es ist dochauch nach Ihrer Einschätzung ein Paradigmenwechsel,dass dies in den Vordergrund gerückt wird und dass wirdies auch aufgrund der Lehren, die wir aus den Daten-schutzskandalen gezogen haben, ernst nehmen. Das istdie Richtschnur, die uns bei allem, was in dem Gesetz-entwurf enthalten ist und was wir noch umsetzen wollen,leiten wird. Es geht um Einwilligung statt Widerruf.

Im zweiten Schritt rede ich gerne über Listenprivilegund all die Begriffe, die kaum jemand hier kennt. Auchwenn wir jetzt um 20.15 Uhr nur noch unter Eingeweih-ten hier sitzen, rate ich sowie einmal dazu, dass man dieganze Debatte so führt, dass andere sie auch verstehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wer weiß, was ein Audit ist, wer weiß, was ein Kopp-lungsverbot ist, und, Kollege Zöllmer, wer weiß, was dasStruck’sche Gesetz ist?

Ich erläutere zumindest das: Das Struck’sche Gesetzstammt von Peter Struck und bedeutet: Kein Gesetzkommt so aus diesem Bundestag heraus, wie es als Ent-wurf hineingekommen ist. Genau das ist die Devise,nach der ich an dieses Gesetz herangehe. Nach den37 Gesprächen und all den Treffen mit Verbänden undVereinen, die ich gehabt habe – wie wahrscheinlich vieleandere hier auch –, bin ich mir ganz sicher, dass wirWege finden werden.

Wir haben im letzten halben Jahr viel dazugelernt,und wir werden Lösungen finden. Wir werden unsereAufgabe erfüllen, die darin besteht, verehrte Frau Stokar,als Gesetzgeber einen Interessenausgleich zu finden. Dasist unsere Aufgabe: auf der einen Seite ein Interessenaus-gleich zwischen einem enormen Fortschritt im Daten-und Verbraucherschutz – das will ich, und das will auchdie SPD –, aber auf der anderen Seite mit Augenmaß,was die Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen angeht.

Das ist keine große Einschränkung der dritten Art,sondern es bedeutet, dass wir nicht nur den Datenflusswollen – wir leben im 21. Jahrhundert –, sondern auchden Datenschutz. Dabei ist für mich maßgeblich, waswir im Gesetzentwurf vorgesehen haben und was für unsalle die Richtschnur sein muss, nämlich Einwilligungstatt Widerruf.

Wir werden auch den Datenschutz in der Wirtschaftverbessern. Das ist die Zielsetzung, die wir im Grunde inden vielen Gesprächen mit der Wirtschaft verabredet ha-ben. Damit ist mir allerdings etwas anderes wichtiger alsdas, was mit einem freiwilligen Zertifizierungsverfahrengemeint ist. Mir ist viel wichtiger, was schon im Gesetzsteht, aber in der Praxis noch nicht stattfindet, nämlichdass wir viel stärker darauf achten, wie die Daten, mit

denen gehandelt wird und die hin und her fließen, ver-schlüsselt sind und wie sie entschlüsselt werden können.

(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Die Daten-sicherheit!)

Die Möglichkeiten der Verschlüsselung werden beiweitem noch nicht genutzt, im Gegenteil. In § 3 a desBundesdatenschutzgesetzes ist das wunderbar geregelt.Danach sollen Daten anonymisiert oder mit Pseudonymenversehen werden, wie die Fachleute es nennen, sodassman die personenbezogenen Angaben nicht direkt lesenkann.

Die ganzen Skandale der letzten Monate bei der Tele-kom und wo auch immer wären nicht passiert, wenn dieDaten ordnungsgemäß verschlüsselt worden wären. Dasist für mich der Schlüssel zu dem, was Datenschutz inder Wirtschaft bedeutet. Das werden wir angehen.

Verehrter Herr Schaar, auch von unserer Seite ganzherzlichen Dank für die Zusammenarbeit, für viele kriti-sche Anmerkungen, aber auch für die konstruktive Be-gleitung dessen, was wir erreichen wollen. Wir wollenund müssen den Datenschutzbeauftragten stärken.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Auch personell!)

Wenn wir – wie es im Gesetzentwurf vorgesehen ist –eine stärkere Kontrolle durch die Aufsichtsbehördenwollen, dann müssen wir ihm jetzt endlich – es ist schonzu viel Zeit vergangen; damit bin ich ganz bei Ihnen –mehr Personal und mehr Eigenständigkeit ermöglichen.Das gilt genauso für den betrieblichen Datenschutz-beauftragten. An dieser Stelle müssen wir nachbessern.

Ich bin der Meinung, wir können auf dem Gesetzent-wurf aufbauen. Wir werden nach der Anhörung in dernächsten Woche mit den sich daraus ergebenden Anre-gungen ein Gesetz machen können, das sich sehen lassenkann. Das ist meine feste Überzeugung. Wir werden denDatenschutz voranbringen. Ich lade alle dazu ein, die gu-ten Sinnes sind und das auch erreichen wollen, statt esnur kritisch zu begleiten und am Rande zu kläffen.

(Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Wen meinen Sie da?)

Alle, die dabei mitmachen wollen, sind dazu eingeladen.Wir können den Datenschutz vielleicht gemeinsam ver-bessern, wie wir auch eine gemeinsame Erklärung zumBericht des Datenschutzbeauftragten abgegeben haben.

Danke schön.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau:Ich schließe die Aussprache und gehe davon aus, dass

mit der letzten Bemerkung kein Mitglied des Hauses ge-meint war und sich damit auch nicht angesprochen füh-len muss.

(Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Karawane zieht weiter!)

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Vizepräsidentin Petra Pau:

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/12011 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 desBundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informa-tionsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 16/12271, in Kenntnis desgenannten Berichts auf Drucksache 16/4950 eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmigangenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HorstMeierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Mobilfunkforschung verantwortlich begrün-den

– Drucksache 16/10325 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten LutzHeilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKE

Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorgestärken

– Drucksache 16/9485 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und VerbraucherschutzAusschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei dieFraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHorst Meierhofer für die FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Horst Meierhofer (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Mobilfunk ist aus dem öffentlichen Leben nichtmehr wegzudenken. Das merkt man allein daran, dass esmittlerweile in Deutschland mehr Handys als Bürgergibt. Man merkt es aber auch daran, dass das Handyzunehmend leistungsfähiger wird und teilweise schon

mobile Computer ersetzen kann, wodurch die Arbeits-welt flexibler geworden ist. All das begrüßen wir sehr.Es geht aber nicht nur um eine Modernisierung unddarum, was das Mobilfunkgerät alles ermöglicht hat.Vielmehr geht es auch um viele Arbeitsplätze in diesemBereich. Ich glaube, es sind ungefähr 200 000 Men-schen, die im mittelbaren und unmittelbaren Bereich vonFunktechnologie, Handys und anderen Strahlengerätentätig sind. Die betreffenden Unternehmen stehen für einesehr innovative Branche, kurze Produktzyklen und großeInnovationen, also für etwas, wofür der StandortDeutschland geradezu ideal sein sollte.

In der Bevölkerung gibt es trotzdem – das ist dereigentliche Grund unseres Antrags – noch immer vieleVorbehalte. Viele von uns kennen aus ihrem Wahlkreis,dass sich eine Bürgerinitiative, wenn ein Funkmasterrichtet werden soll, zu Wort meldet und dass Angstherrscht, weil die Unwissenheit teilweise noch relativgroß ist. Wir wollen dieses Problem dadurch lösen, dasswir die Forschung vorantreiben. Entscheidend ist: Mankann die Angst minimieren, indem man mehr Öffent-lichkeit und Transparenz herstellt sowie die Mobilfunk-forschung optimiert.

(Beifall bei der FDP)

Es gibt erste Erkenntnisse und Ergebnisse. Das DeutscheMobilfunk-Forschungsprogramm weist sehr guteAnsätze auf. Vieles wurde untersucht und erreicht, aberlogischerweise noch nicht alles; denn das war im Rah-men dieses Programms nicht möglich.

Meine Damen und Herren von der Linken, ich darfzwei, drei Bemerkungen zu Ihrem Antrag machen. Es istaus meiner Sicht falsch, wie Sie an die Sache herange-hen. Sie schüren Ängste und werden der Ernsthaftigkeitdes Themas nicht gerecht. Sie zeichnen sich durch einsehr populistisches Vorgehen aus.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

So wollen Sie die Strahlung der Geräte verringern; dafürgibt es im europäischen Ausland Beispiele. Das bedeutetaber, dass man mehr Funkmasten braucht. Genau daswollen Sie vermutlich auch nicht. Wir wollen gleichzeitigweiterhin telefonieren. Die Mobilfunkanbieter haben denAuftrag, eine flächendeckende Nutzung zu ermöglichen.Ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie vor die Bürger-initiativen in Ihren Wahlkreisen treten und ihnen erklären,dass nun zusätzliche Handymasten gebaut werden müs-sen. Ich glaube, dass Ihr Ansatz nicht richtig ist.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich halte Ihren Ansatz auch aus einem anderen Grundfür nicht richtig. Die Ergebnisse der Reflexstudie, dieSie anführen, können eigentlich nicht auf den Menschenübertragen werden. Die Europäische Umweltagentur hatzudem selbst eingestanden, dass sie eigentlich überkeinerlei Expertise im Bereich der elektromagnetischenFelder verfügt. Trotzdem verweisen Sie auf die Studiedieser Umweltagentur. Das halte ich für nicht anständig.Damit sorgt man nur für mehr Verunsicherung und weni-ger Transparenz. Damit erreicht man nicht das, was wir

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alle wollen, nämlich eine bessere Information allerBevölkerungsschichten.

(Beifall bei der FDP)

Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir eine transparenteForschung und eine paritätische Finanzierung. Das heißt,wir wollen keine reine staatliche, öffentliche Finanzierung,sondern drei Säulen. Dann könnten wir die Problemeeinigermaßen lösen. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungs-programm hat zu der Erkenntnis geführt, dass akute oderchronische Wirkungen der nichtionisierenden Strahlung– also der von Handys und anderen strahlenden Geräten –weder unter Laborbedingungen noch in epidemiologi-schen Studien erfasst werden konnten.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Es kann aber nicht ausgeschlossen wer-den!)

Das ist eine gute Nachricht. Die Ängste waren in diesemBereich also unbegründet. Es konnte kein Zusammen-hang festgestellt werden. Das nimmt Ängste.

(Beifall bei der FDP)

Noch ist aber nicht alles untersucht. Es gibt drei Berei-che, die wir in einem weiteren Schritt untersucht wissenmöchten. Das sind die Auswirkungen der Strahlung aufSchwangere, kleine Kinder und Heranwachsende. Dasalles konnte bislang nicht erforscht werden, genauso wenigwie die langfristigen Folgen der Strahlung. Diese dreiBereiche sollten aus unserer Sicht noch weiter unter-sucht werden. Deswegen haben wir unseren Antrag ge-stellt. Man sollte auch die Auswirkungen der Additionvon Strahlungen untersuchen. Mittlerweile sind oft ver-schiedene Strahlungsgeräte gleichzeitig im Einsatz.Viele haben zu Hause WLAN, ein schnurloses Telefonund ein Handy. Darüber, wie verschiedene Strahlungs-quellen zusammenwirken, gibt es noch zu wenige Infor-mationen. Diese Bereiche sollte man unserer Meinungnach endgültig und befriedigend untersuchen. Wenn unsdas gelingt, gibt es, glaube ich, weniger Probleme.

Die Struktur sollte verbessert werden. Die Erkennt-nisse sind valide. Die Erkenntnisse des DeutschenMobilfunk-Forschungsprogramms sind sicherlich allerEhren wert. Trotzdem gab es das eine oder andere MalKritik. Man will mehr Objektivität durch einen unabhän-gigen Projektleiter. Das war bei diesem Forschungs-programm nicht der Fall. Wenn man beim nächsten Maldafür sorgen würde, wäre das der letzte kleine Stein, dernoch fehlt, um eine optimale Information der Bevölke-rung zu erreichen.

Wir haben für den Bereich der Erforschung nichtioni-sierender Strahlung 1,6 Millionen Euro in den Bundes-haushalt für 2009 eingestellt. Was damit aber gemachtwerden soll, steht leider noch nicht fest; wir konnten dasbisher nicht erfahren. Wir glauben, dass man das konkre-ter angehen sollte. Wir sollten deswegen diese Bereicheerforschen und das Programm abschließen.

Neben dem Staat sollten auch die Netzbetreiber in dieFinanzierung einbezogen werden – das war bisher schonder Fall –, aber auch die Handyhersteller, die Herstellerder Endgeräte – sie wurden bisher noch nicht einbezogen –,

die aus unserer Sicht ein Interesse daran haben sollten,dass alle Probleme aus der Welt geschafft werden.

Schon 2006 haben wir angeregt, die Geräte, die eineniedrige Strahlung aufweisen, zu kennzeichnen, beispiels-weise mit einem Blauen Engel. Leider ist das von denHerstellern nicht in einem sinnvollen Umfang angenom-men worden, obwohl ein Drittel aller Geräte schon jetztüber den entsprechenden Standard verfügen würden. Wirrufen hiermit die Hersteller auf, die Geräte zu kenn-zeichnen. Wenn man keinen Blauen Engel verwendenmöchte, besteht auch die Möglichkeit, es wie bei denKühlschränken zu machen und die Geräte in verschie-dene Strahlungsklassen – A, B, C, D und E – einzuteilen.Wenn uns das gelänge, könnten wir vernünftig über dieStrahlenbelastung reden und würden die Bedenken derBevölkerung ernst nehmen, aber sie nicht für populistischeZwecke ausnutzen.

Ich bitte Sie darum, unserem Antrag positiv zu begeg-nen und ihm letztendlich zuzustimmen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die Unions-

fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Jens Koeppen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Meierhofer hat seine Rede mit dem Hinweis be-gonnen, dass die moderne Informations- und Kommuni-kationstechnologie in unserer Gesellschaft eine großeBedeutung hat. Ich möchte daran anknüpfen. Über dieHälfte der Industrieprodukte und weit über 80 Prozentder Exportprodukte Deutschlands hängen heute vomEinsatz dieser Technologie ab. Sie leistet einen wesent-lichen Beitrag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitunseres Landes. Sie ist Innovationsträger, erzeugtWachstum und Arbeitsplätze. Die vom KollegenMeierhofer genannte Zahl war nicht ganz richtig: Die ge-samte IKT-Branche beschäftigt rund 750 000 Menschen.

(Horst Meierhofer [FDP]: Ja, wenn man die Telekommunikationsbranche dazuzählt!)

Dieses Segment ist also sehr wichtig. Die Mobilfunk-technologie wird von uns allen genutzt. In Deutschlandgibt es mehr Handys als Bürger. Im Jahr 2006 kamen auf100 Menschen 104 Handys; es werden praktisch täglichmehr. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, über diesesThema zu diskutieren.

Gleichzeitig nimmt die Strahlenexposition zu. In derBevölkerung gibt es Ängste und Sorgen wegen mögli-cher gesundheitlicher Gefährdungen. Vor diesem Hinter-grund beraten wir heute über zwei Anträge aus derOpposition: über den Antrag der FDP-Fraktion, der unsgerade vorgestellt wurde, und über den Antrag derLinksfraktion. Die beiden Anträge könnten gar nichtunterschiedlicher sein.

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Jens Koeppen

Sie von der FDP gehen in Ihrem Antrag von der großenBedeutung der Mobilfunktechnologie aus. Sie sagen, diebestehenden Vorbehalte müssten erforscht werden, um dieÄngste und Risiken auszuräumen; es bestehe weitererForschungsbedarf. Sie fordern eine Langzeitstudie zuden Auswirkungen auf Kinder usw. Das sind Vorschläge,über die wir beraten sollten. Ich finde, der Antrag gehtabsolut in die richtige Richtung: Er ist sachbezogen,ergebnisorientiert und objektiv. Vielleicht haben Sie teil-weise von uns abgeschrieben.

Allerdings ist Ihr Antrag nicht mehr ganz zeitgemäß; erenthält Forderungen, die wir im Deutschen Mobilfunk-Forschungsprogramm bereits erarbeitet und umgesetzthaben bzw. umsetzen werden. Die Ergebnisse sprecheneindeutig dafür, diese Forschung weiterzuführen.

Sie fordern auch, die Kommunikation zu verbessern.Hier erinnere ich nur an das Informationszentrum Mobil-funk, das eine sehr gute Informationsbasis bietet, und andie Internetseite www.mobilfunk-baukasten.de, wo unteranderem die Kommunen sachlich und verbraucherorien-tiert informiert werden.

Im Gegensatz zum Antrag der FDP spielt der Antragder Linken mit den Sorgen der Menschen. Das ist abso-lut unredlich. Er basiert auf reinen Behauptungen, diewissenschaftlich überhaupt nicht fundiert sind und vonder Forschung nicht gedeckt werden. Aber so sind nuneinmal die Anträge, die Sie stellen. Sie basieren auf Un-wissenheit. Statt in populistischer Weise diffuse Ängstevor Mobilfunk, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, zuschüren, sollten wir durch Forschung und Aufklärung zueiner Versachlichung der Debatte beitragen. Das wäreder richtige Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Koalition nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie tutviel, um die Folgen der Mobilfunktechnik zu untersu-chen und mögliche Gefahren zu erkennen. Das ersteDeutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat die Auf-gabe, herauszufinden, ob die geltenden Grenzwerte, diedie Bevölkerung vor der Mobilfunkstrahlung ausrei-chend schützen sollen, noch in Ordnung sind. Die Bun-desregierung hat in den Jahren 2002 bis 2007 8,5 Mil-lionen Euro in dieses Forschungsprogramm gesteckt,weitere 8,5 Millionen Euro gaben die Mobilfunknetzbe-treiber dazu. Es gibt kein Programm, in dessen Rahmenumfangreicher und gründlicher geforscht wurde als die-ses. Das ist eine sehr gute Sache. Ich bin sehr froh, dasswir dieses Programm erfolgreich zu Ende führen konn-ten.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Weltweit gab es mittlerweile über 20 000 Untersu-chungen auf diesem Gebiet. Nach Aussagen der Weltge-sundheitsorganisation besteht kein begründeter Zusam-menhang zwischen Mobilfunkstrahlung und demsteigenden Risiko einer Erkrankung – das sollten wir denMenschen auch so deutlich sagen –, und das müssen wiranerkennen. Die Ergebnisse des Programms sind zuersteinmal beruhigend. Die Strahlenschutzkommission unddas Bundesamt für Strahlenschutz haben übereinstim-mend festgestellt, dass es keine Erkenntnisse gibt, nach

denen die bestehenden Grenzwerte überarbeitet werdenmüssen. Es konnten ausdrücklich keine negativen Ef-fekte auf Hormone, auf die Blut-Hirn-Schranke, auf dieFortpflanzung oder auf das Krebsrisiko festgestellt wer-den. Das, was Sie gesagt haben, wurde überhaupt nichtverifiziert, auch nicht repliziert. Demzufolge ist das un-begründet.

Es kann davon ausgegangen werden, dass es im Be-reich der thermischen Wirkung kein zusätzliches Lang-zeitrisiko und kein Krebsrisiko gibt.

6 Prozent der Menschen leiden unter Elektrosensibili-tät. Es wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dassdie Mobilfunkstrahlung darauf keinen Einfluss hat. Sowurden Anlagen zufällig abgeschaltet oder eingeschal-tet. Dabei wurde festgestellt, dass die Sensibilität unab-hängig davon, ob die Anlagen ein- oder ausgeschaltetwaren, bestand.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Er-gebnisse keinen Anlass bieten, die Schutzwirkung derbestehenden Grenzwerte in Zweifel zu ziehen. Deswe-gen bleiben die bestehenden Grenzwerte der26. BImSchV erhalten.

Das Forschungsprogramm hat dazu beigetragen, vieleÄngste auszuräumen, und es hat die wissenschaftlicheKenntnis über die Wirkung elektromagnetischer Felderwesentlich verbessert. Trotz dieser insgesamt beruhigen-den Ergebnisse muss weitergeforscht werden. Es ist ganzwichtig, dass die Forschung finanziell ordentlich ausge-stattet wird. Das betrifft insbesondere – da gebe ich Ih-nen vollkommen recht – die Forschung über die Lang-zeitwirkung. Wir können jetzt noch nicht sagen, was inzehn Jahren passiert;

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Aha!)

denn so lange gibt es die Geräte noch nicht. WeitererForschungsbedarf besteht über die Auswirkungen aufKinder und Schwangere. All das muss weiter untersuchtwerden, aber ohne Hysterie. Es muss auf fundierterGrundlage ordentlich aufgeklärt werden.

Ich begrüße die Tatsache, dass die Mobilfunkbetrei-ber zugesagt haben, dass sie dieses Programm weitermitfinanzieren und dass die 2001 unterschriebeneSelbstverpflichtung weiter gilt. Es soll jetzt zu nachprüf-baren Verbesserungen auch für Verbraucher-, Gesund-heits- und Umweltschutz kommen. Ein besonderes Au-genmerk legen die Hersteller auf die Verbesserung derGeräte. Es ist wichtig, dass die Handys bei geringeremStromverbrauch und geringerer Strahlung die gleicheLeistung erreichen. Das ist eine Win-win-Situation.

Eine erschöpfende Analyse der gesundheitlichen Ri-siken ist momentan noch nicht möglich. Es steht aller-dings jetzt schon jedem frei, selbst Vorsichtsmaßnahmenzu ergreifen, also auf drahtlose Systeme zu verzichtenund auf kabelgebundene Systeme zurückzugreifen, zumBeispiel auf Headsets mit Kabeln.

(Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Warum denndas, wenn alles ungefährlich ist? Das versteheich überhaupt nicht!)

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Jens Koeppen

Dann kann jeder, der unter Elektrosensibilität leidet, fürsich entscheiden, ob er einer Vorsichtsmaßnahme folgtoder nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Handy ist aus unserer mobilen Informationsge-sellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir müssen dieseTechnologie stetig verbessern und verfeinern. Wir müs-sen die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen; das ma-chen wir auch. Wir dürfen die Emotionen nicht verharm-losen; das machen wir auch nicht. Wir müssen gezieltforschen, ohne Aktionismus und ohne böse Beschuldi-gungen. Wir müssen die Wissensbasis verbreitern unddurch eine transparente und verständliche Kommunika-tion zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Dasist der richtige Weg.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann für die Frak-

tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Gäste! Mit dem Antrag, den die FDP vorgelegthat, macht sie wieder eines deutlich: dass sie stramm ander Seite der Mobilfunkbetreiber und Mobilfunkherstel-ler steht.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Irgendwann danach kommen auch einmal die Verbrau-cherinnen und Verbraucher an die Reihe.

(Horst Meierhofer [FDP]: Das ist kein Wider-spruch! Es gibt nämlich auch Menschen, dietelefonieren!)

Kollege Koeppen, Ihre Ausführungen kann ich sonicht stehen lassen. Erst sagten Sie, es sei alles wunder-bar, es sei alles in Butter, es sei alles rosarot. Trotzdemhaben Sie am Ende gesagt: Ja, wir müssen weiterfor-schen,

(Jens Koeppen [CDU/CSU]: Ja, selbstver-ständlich!)

um Langfristigkeit herzustellen. Dann erwähnen Siedoch ganz einfach, dass das Deutsche Mobilfunk-For-schungsprogramm über fünf Jahre lief und dass in diesenfünf Jahren überhaupt keine Langzeitforschung erfolgenkonnte. Deswegen ist es ganz einfach notwendig, diesesProgramm fortzuführen. Genau das haben wir in unserenAntrag geschrieben.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber diese Fortführung lehnen Sie ab. Darüber habenwir im Umweltausschuss diskutiert. Schauen Sie sichdas Protokoll ganz einfach an!

(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Die Linkewill die Telefonvielfalt in der DDR wieder ein-führen!)

Kollege Meierhofer, zu Ihrem Vorhalt: Ich weiß nicht,ob Sie unseren Antrag nicht gelesen haben oder ob IhrMitarbeiter Ihnen das nicht richtig aufgeschrieben hat.Das, was Sie mir vorgehalten haben, steht darin nicht.Unser Antrag enthält ganz konkrete Punkte. DiesePunkte will ich Ihnen gleich näher erläutern.

Ihr Antrag enthält kein einziges Wort zu den Risikendes Mobilfunks. Diese Risiken gibt es; das ist so sicherwie das Amen in der Kirche. Das hat man auch Ihren Re-debeiträgen entnehmen können. Der Präsident des Bun-desamtes für Strahlenschutz hat das ebenfalls deutlichgemacht. Er empfiehlt zum Beispiel, dass Kinder nichtoder nur sehr wenig mit dem Handy telefonieren.

(Horst Meierhofer [FDP]: Deswegen wollen wir ja forschen!)

Ich möchte Sie ganz einfach dazu auffordern, ein biss-chen mehr zu recherchieren.

Um es klarzustellen: Die Linke steht für einen techno-logischen Fortschritt im Interesse der Menschen. Dasschließt eine verantwortungsbewusste Nutzung von Mo-bilfunk ausdrücklich ein.

(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das muss man aber erst mal dazusagen!)

Aber die Forderungen, die Ihr Antrag enthält, sind weithinter dem, was möglich ist. Sie schreiben zum Beispiel,dass es zu einer Reduzierung der Strahlen kommen soll,wenn man das Handtelefon in die Basisstation steckt. Esist möglich, dass die Strahlenbelastung vollständig redu-ziert wird. Warum schreiben Sie keine entsprechendeForderung in Ihren Antrag?

(Horst Meierhofer [FDP]: Weil das von der Wirklichkeit überholt ist!)

– Ihr Antrag ist von der Wirklichkeit überholt. Dasstimmt allerdings.

Fakt ist, dass der Ausbau des Handynetzes, insbeson-dere des UMTS-Netzes, voranschreitet, was zweifelloshöhere Belastungen mit elektromagnetischen Feldernzur Folge hat; das hat auch Kollege Koeppen bestätigt.Da damit insbesondere gesundheitliche Risiken steigen,da die geltenden Grenzwerte nicht ausreichend sind, dagerade die thermischen Effekte der Handystrahlung um-stritten sind, da WLAN-Netze immer mehr Verbreitungfinden – schauen Sie in die Schulen, schauen Sie in dieFlughäfen, schauen Sie in die Bahnhöfe –, da für Mobil-funkanlagen nur eine Standortgenehmigung nötig ist undda Gesichtspunkte des Immissionsschutzes völlig unbe-rücksichtigt bleiben – wie gesagt, ist das Deutsche Mo-bilfunk-Forschungsprogramm 2007 ausgelaufen –, istnach Auffassung der Linken Folgendes notwendig:

Erstens. Die Grenzwerte müssen so weit gesenkt wer-den, dass gesundheitliche Auswirkungen ausgeschlossenwerden können. Das ist möglich. Kollege Meierhofer,Sie haben es erwähnt: Warum lassen sich die Mobilfunk-

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Lutz Heilmann

hersteller darauf nicht ein? Die entsprechenden Techni-ken gibt es schon.

(Horst Meierhofer [FDP]: Mehr Masten!)

Insofern ist das unverständlich.

Zweitens. Ein allgemein öffentlich zugänglichesStrahlenkataster muss geschaffen werden.

Drittens. Genehmigungen für Mobilfunkanlagen sindnur befristet zu erteilen, und der Immissionsschutz istdarin aufzunehmen.

Viertens. Es ist darauf hinzuwirken, dass schnurloseTelefone – hören Sie jetzt einfach zu, KollegeMeierhofer! – so zu bauen sind, dass die Funkverbin-dung zwischen Basisstation und Mobilteil unterbrochenwird, sobald das Gerät in der Basis ist.

Fünftens. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungspro-gramm ist auch unabhängig von einer Beteiligung derMobilfunkbetreiber fortzusetzen.

Sechstens. Die Untersuchungen hinsichtlich der Ge-fährlichkeit sind auf Tiere und Pflanzen auszudehnen.

Abschließend Folgendes: Künftig müssen alle Han-dys gefahrlos zu nutzen sein. Das ist der Anspruch, denwir an die Industrie stellen. Darunter machen wir esnicht.

Ich wünsche einen schönen Abend und danke für dieAufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN – Sylvia Kotting-Uhl[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist IhrHandy?)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Detlef Müller für die SPD-

Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Nutzerinnen und Nutzer vonMobiltelefonen – das werden wir wohl alle sein –, waskann man heute nicht alles mit modernen Handys, dielängst Lifestyle-Symbole sind, machen? Fotografieren,Bilder senden und empfangen, Videos anschauen, Nach-richten schreiben und lesen, E-Mails abrufen, Dateienerstellen und verwalten. Auch als Navigationssystemwerden sie schon genutzt. Die eigentliche Aufgabe, dasTelefonieren, wird dabei fast zur Nebensache.

Es gab von Anfang an in Teilen der Bevölkerung auchkritische Stimmen, die fragten, ob die Nutzung der Mo-bilfunktechnologie nicht gesundheitliche Schäden durchelektromagnetische Felder hervorrufe. Der Bundesregie-rung, dem Bundesumweltministerium sowie den Netz-betreibern war klar, dass diese Vorbehalte nur dann aus-geräumt werden können, wenn Gesundheitsrisiken durchunabhängige Forschung ausgeschlossen werden kön-nen. Dieser Zwiespalt – eine hohe Zunahme der Nutzer-zahlen, aber auch eine wachsende Verunsicherung bei ei-nigen Bürgern, verbunden mit Forderungen nach

Absenkung der Grenzwerte – führte 2001 letztendlichzur Implementierung des Deutschen Mobilfunk-For-schungsprogramms.

Von Anfang an galten dabei als oberstes PrinzipTransparenz und Objektivität. Dies ist vor allem an dieAdresse der Fraktion Die Linke gerichtet, die die Unab-hängigkeit des Programms infrage gestellt hat. Die Mo-bilfunknetzbetreiber hatten kein Recht zur Auswahl,konnten an Projekten nicht mitwirken und sie auch nichtbeeinflussen. Das gilt ebenso für die Bewertung der For-schungsergebnisse. Auch hinsichtlich der Transparenzwar das Mobilfunk-Forschungsprogramm vorbildlich.Alle Projektvorschläge wurden im Rahmen eines Fach-gespräches vorgestellt. Es bestand ausreichend Gelegen-heit zur öffentlichen Diskussion.

Was aber waren die Ziele des Mobilfunk-Forschungs-programms? Was konnte es leisten und was nicht?Hauptsächlich sollten wissenschaftliche Unsicherheitendurch eine gezielte unabhängige Forschung geklärt unddie geltenden Grenzwerte überprüft werde. Dabei lagendie fachlichen Schwerpunkte in den Bereichen Biologie,Epidemiologie und Dosimetrie, also bei den Messungender Strahlendosis.

Nach Abschluss der Forschungsprojekte im Jahre2008 bewerteten sowohl das Bundesamt für Strahlen-schutz als auch die Strahlenschutzkommission das Pro-gramm. Beide sind unabhängig voneinander zu dem Er-gebnis gekommen, dass die Forschungen keineErkenntnisse erbracht haben, die die geltenden Grenz-werte infrage stellen. Ebenfalls war ein ursächlicher Zu-sammenhang zwischen elektromagnetischer Strahlungunterhalb der geltenden Grenzwerte und unspezifischenGesundheitsbeschwerden, der sogenannten Elektrosensi-bilität, nicht nachweisbar. Somit decken sich in der Ge-samtbewertung die Ergebnisse des Programms mit de-nen anderer Projekte, auch aus dem Ausland. Deshalbgab es für die Bundesregierung keinen Grund, von dengeltenden Grenzwerten abzurücken. Ich sage es ganzklar: Die vorliegenden Ergebnisse des Mobilfunk-For-schungsprogramms geben keinen Anlass, die ange-strebte Schutzwirkung der bestehenden Grenzwerte inZweifel zu ziehen.

(Beifall bei der SPD)

Vor diesem Hintergrund müssen aber die Anträge ge-sehen werden, über die wir heute beraten. Beide Anträgehaben große Schnittmengen, und die Antragsteller for-dern insbesondere die Weiterführung des Mobilfunk-Forschungsprogramms.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Von wegen! Völlig gegensätz-lich!)

Grundsätzlich steht die Politik beim Thema Mobil-funk vor einem Dilemma: Die Ergebnisse des For-schungsprogramms beziehen sich auf den aktuellenwissenschaftlichen Kenntnisstand. Die zukünftige Un-schädlichkeit einer Technologie kann wissenschaftlichnie bewiesen werden. Die Bundesregierung hat sich beider Grenzwertfestlegung auf die aktuellen Ergebnissegestützt, während die Mobilfunkgegner oder -kritiker

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Detlef Müller (Chemnitz)

vorhandene gesundheitliche Beschwerden auf elektro-magnetische Felder des Mobilfunks zurückführen. DiePolitik steckt deshalb in der Klemme zwischen Wissen-schaft und teilweiser öffentlicher Wahrnehmung.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)

Natürlich sind wir uns bewusst, dass auch durch in-tensivste wissenschaftliche Forschung mögliche Risikennicht völlig ausgeschlossen werden können. Vorbeu-gende Maßnahmen sind deshalb weiterhin sehr sinnvoll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Fakt ist, dass das Forschungsprogramm primär auf denMobilfunk ausgerichtet war, andere Funktechnologienwie zum Beispiel digitales Fernsehen oder auch dieWLAN-Technologie nur am Rande betrachtet wurden.

Insbesondere die Auswirkungen auf Kinder sind nochnicht endgültig erforscht. Kinder sind eben keine kleinenErwachsenen. In diesem Bereich sind noch dringendspezifische Untersuchungen erforderlich. Wir als SPD-Fraktion unterstützen dieses Anliegen.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber unseren Antrag haben Sie damalsabgelehnt!)

Hinzu kommt, dass Kinder möglichen Risiken längerausgesetzt sind, weil sie – leider – schon seit ihrer Kind-heit Handys benutzen. Auch ist nicht auszuschließen,dass Kinder möglicherweise auch empfindlicher auf-grund einer vergleichsweise höheren Eindringtiefe derStrahlung in den Körper reagieren. In diesem Bereichmuss die Forschung intensiviert werden.

Nur unbefriedigend kann die Frage beantwortet wer-den, ob die Gefahr für gesundheitliche Folgen bei derNutzung über Zeiträume von länger als zehn Jahren zu-nimmt. Durch Untersuchungen konnten bisher gesund-heitliche Auswirkungen des Mobilfunks nicht belegtwerden, da die Anzahl der Personen, die Mobiltelefoneseit mehr als zehn Jahren nutzten, zu gering war, um sta-tistisch belastbare Daten zu liefern. Zu Fragen möglicherLangzeitwirkungen wurden im Rahmen des Forschungs-programms allerdings zahlreiche tierexperimentelleLangzeitstudien durchgeführt. Insgesamt stützen dieseErgebnisse nicht die Vermutung, dass chronische Ein-wirkungen zu einer Risikoerhöhung führen.

Dagegen können wir durch die Vorlage des Gesetzeszum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, welcheswir morgen hier in den Deutschen Bundestag einbringenwerden, eine wichtige Rechtslücke schließen. Damitwird der gesetzliche Rahmen geschaffen, um auch inDeutschland die Grenzwerte der EU-Ratsempfehlung fürelektrische, magnetische und elektromagnetische Felderüber den gesamten Frequenzbereich von 0 Hertz bis300 Gigahertz umsetzen zu können. So wird sicherge-stellt, dass es durch die gleichzeitige Anwendung unter-schiedlicher Quellen nicht zur Verletzung gesundheits-bezogener Grenzwerte kommt.

Aber wir müssen leider feststellen, dass die geltendenRegelungen noch nicht alle Aspekte des Schutzes derBevölkerung vor Strahlen aus diesem Bereich abdecken.

Folgende Punkte bedürfen deshalb unserer Meinungnach einer Regelung:

Erstens. Es werden derzeit nur die wichtigsten Anla-gen der Infrastruktur, die Netze, geregelt.

Zweitens. Unserer Ansicht nach bleiben noch zu vieleQuellen, insbesondere die Endgeräte, unberücksichtigt.Verbraucherschutzmaßnahmen wie der Blaue Engel wer-den nicht oder nur unzureichend umgesetzt.

Drittens. Eine relativ neue Technik, Wireless LANbzw. WLAN, muss gründlich überprüft werden. IhreReichweite kann unter bestimmten Voraussetzungenmehrere Hundert Meter betragen. Auch durch diese Tech-nik entstehen hochfrequente elektromagnetische Felder.Zwar gibt es trotz mehrerer Studien, unter anderen desBundesamtes für Strahlenschutz, nach dem aktuellenStand der Wissenschaft keinen Nachweis, dass innerhalbder gesetzlichen Grenzwerte eine gesundheitliche Ge-fährdung besteht, Forschungsbedarf besteht aber sehrwohl. Die in der Umgebung von öffentlich zugänglichenWLAN-Hotspots erhobenen Expositionswerte lagen alleunterhalb der vom Europäischen Rat empfohlenen Werte.Trotzdem fordern wir an dieser Stelle die Bundesregie-rung auf, auch die Forschung in diesem Bereich weiter-zubetreiben.

Im Übrigen erachten wir es nicht als negativ, eine fi-nanzielle Beteiligung der Industrie an der Mobilfunkfor-schung einzufordern. Im Gegenteil, eine Beteiligungwird aus unserer Sicht als sachgerecht angesehen, dadies nach dem Verursacherprinzip notwendig ist.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz genau!)

In diesem Zusammenhang nehmen wir auch zum wie-derholten Mal die Herstellerfirmen bzw. Netzbetreiber indie Pflicht, zukünftig verstärkt strahlungsärmere Endge-räte anzubieten und aktiv zu bewerben.

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Pflicht oder Selbstverpflichtung?)

Sehr geehrte Damen und Herren, wir nehmen dasThema Mobilfunkstrahlung ernst und sind uns beimThema Mobilfunk unserer Verantwortung für den Schutzder Bevölkerung sehr bewusst. Wir als SPD-Fraktion be-grüßen die grundsätzlichen Ansätze der Anträge derFDP und der Linken. Auch wir haben weiteren For-schungsbedarf zur Beantwortung der noch offenen Fra-gen gesehen. Dem wird mit der Fortsetzung des Mobil-funk-Forschungsprogramms Rechnung getragen. DasBMU und das Bundesamt für Strahlenschutz werden dieForschung zur weiteren Aufklärung der noch offenenFragen fortsetzen. Hierzu wurde ein dreijähriges For-schungsprogramm erstellt. Die Finanzierung soll anteiligdurch Mittel des BMU und der Netzbetreiber erfolgen.

(Horst Meierhofer [FDP]: Und die Geräteher-steller?)

Insofern ist der FDP-Antrag entbehrlich, weil ein Groß-teil der Forderungen im Antrag bereits umgesetzt wird.

Mit dem alle zwei Jahre erfolgenden Bericht der Bun-desregierung an den Deutschen Bundestag zur Mobil-

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Detlef Müller (Chemnitz)

funkforschung werden wir als Parlamentarier über dieneuesten Forschungsergebnisse zeitnah informiert.

Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Wortezum Antrag der Linken. Wir teilen die dort angeführtenFeststellungen zu diesem Thema nicht. So entstammendie im Antrag zur Begründung angeführten Behauptun-gen zu Folgen und Risiken des Mobilfunks wie zum Bei-spiel gentoxische Effekte, erhöhtes Hirnturmorrisikooder auch niedrigere Lebenserwartung in der Nähe vonMobilfunkbasisstationen einer selektiven Wiedergabeder wissenschaftlichen Literatur.

Sie geben aber nicht den heutigen wissenschaftlichenKenntnisstand wieder. Eine derartige einseitige Wieder-gabe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist aller-dings keine fundierte Basis für die Ableitung weiter-gehender Anträge. Herr Heilmann, es geht nicht darum,Technologien wie WLAN abzulehnen oder zu verbieten,sondern es geht darum, sie zu verbessern.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben beim Mobilfunk ein Dilemma. Wir haben dasBedürfnis einer Mehrheit in der Gesellschaft nach mobi-ler Kommunikation – möglichst überall und zu jeder Zeit –,und wir haben die Elektrosensibilität einer Minderheit.Was dieses Dilemma angeht, ist es überhaupt nicht wich-tig, ob die Elektrosensibilität nachgewiesen werdenkann. Entscheidend ist, ob die Betroffenen sie empfin-den.

Forschung ist wichtig; auch wir wollen sie. Das Pro-blemfeld Kinder und Jugendliche einerseits und Lang-zeitwirkungen andererseits ist von allen benannt worden.Aber, Herr Meierhofer, die Forschungen helfen Elektro-sensiblen nicht, solange die Schädlichkeit nicht nachge-wiesen ist. Dass auch die Unschädlichkeit bisher nichtbeweisbar ist, befreit die Menschen nicht von den Beein-trächtigungen, die sie spüren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Menschen sind aber zu wenige, und sie habenkeine Lobby. Unsere Antwort ist daher vor allem Mit-sprache. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobil-funkbetreiber hat nicht das gebracht, was sie sollte. Vorallem in kleinen Kommunen funktioniert die Einbindungder Bürgerinnen und Bürger nur suboptimal. Das Bau-recht erlaubt nur in reinen Wohngebieten, Sendemastenzu verhindern. Die öffentliche Standortdatenbank warein erster guter Schritt. Jetzt braucht es zentrale Anlauf-stellen für Bürger und Bürgerinnen. Solche Stellen müs-sen die Anwohner von sich aus über geplante Anlageninformieren und runde Tische organisieren. EinzelneKommunen gehen da schon mit gutem Beispiel voran.

Aber das muss eine Verpflichtung werden. Nur mit ga-rantierter Bürgerbeteiligung können wir das Gefühl vonOhnmacht bei den Betroffenen verringern.

Besonders sensible Bereiche wie Kindergärten oderKrankenhäuser brauchen besonders sensible Maßnah-men. Da sind die Vorschläge der Linken nicht verkehrt,wie auch noch andere ihrer Vorschläge. Ich habe aber einProblem zum Beispiel mit Ihrer Haltung zu der Frage,wer die weitere Forschung bezahlen soll. Was nicht geht,ist, die Mobilfunkbetreiber außen vor zu lassen. Auch andieser Stelle gilt für mich das Vorsorgeprinzip.

Sie unterstellen, dass Mobilfunkunternehmen über dieKostenbeteiligung Einfluss auf die Gestaltung der Stu-dien und Abschlussberichte nehmen können. Bei der In-terpretation der Ergebnisse des großen DeutschenMobilfunk-Forschungsprogramms haben sie das wohlprobiert. Aber daraus zu schließen, dass das Ganze eineArt Gefälligkeitsforschung war, schüttet das Kind mitdem Bade aus. Wo soll das enden, wenn schon die Linkedie Industrie aus der Finanzierung der Beseitigung vonFolgekosten entlasten will?

Ihr Antrag, Kollege Meierhofer, ist erstaunlich tech-nikkritisch. Das ist an dieser Stelle richtig.

(Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE])

– Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann können wir unsunterhalten. – Es ist überfällig, dass wir Technologienvor ihrer Einführung auf ihre Folgewirkungen hin erfor-schen und nicht erst dann, wenn sie bereits so stark inWirtschaft und Gesellschaft verankert sind, dass wir sienicht mehr zurücknehmen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es freut mich, Herr Koeppen, dass auch Sie das so se-hen.

Das gilt übrigens nicht nur für Funktechnologien,sondern auch für die Nanotechnologie, für CCS undviele andere Technologien,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Autos!)

bei denen die Begeisterung für die Chancen die Risikengern übersehen lässt. Das gilt gerade für Ihre Partei, Kol-lege Meierhofer.

Es ist auch überfällig, dass wir aufhören, jeden einzel-nen Emittenten isoliert zu betrachten und die kumulativeWirkung zu ignorieren. Grundsätzlich ist Kennzeich-nung, also auch die Kennzeichnung der Strahlungsinten-sität beim Handy, der erste Schritt zum mündigen Bür-ger. Es ist unverständlich, dass die Große Koalitionunseren Antrag vor zwei Jahren abgelehnt hat. Machenwir also einen neuen Versuch!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch beim Antrag der FDP stoße ich mich neben demDuktus so richtig nur an einer Stelle, nämlich an der Le-bensretterfunktion des Handys beim Kind. Solange wirnicht wissen, ob die Nutzung von Handys aufgrund ihrerStrahlung bei Kindern zu gesundheitlichen Beeinträchti-gungen führen kann – da gibt es noch keine Forschungs-

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Sylvia Kotting-Uhl

ergebnisse –, sind Handys in Kinderhänden für mich amfalschen Platz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die beiden Anträge sind in ihren Forderungen nichtso gegensätzlich, wie Sie, Herr Koeppen, sagen. Beidewollen Forschung, beide wollen Kennzeichnung. Ob dieeinen die Forschung wollen, weil sie aufklären wollenoder weil sie davon überzeugt sind, dass diese For-schung die gesundheitliche Schädigung nachweist, oderob die anderen die Forschung wollen, weil sie davonüberzeugt sind, dass durch sie die Unschädlichkeit nach-gewiesen wird, ist mir relativ egal. Die Hauptsache ist,dass wir alle Forschung fordern und die Bundesregie-rung bewegen, sie in die Wege zu leiten.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 16/10325 und 16/9485 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten ChristianFreiherr von Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich(Hof), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU

sowie der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, UteBerg, Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPD

Faire Wettbewerbsbedingungen für ÖffentlichPrivate Partnerschaften schaffen

– Drucksache 16/12283 –

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr.Ole Schröder und Christian Freiherr von Stetten für dieUnionsfraktion, Dr. Michael Bürsch für die SPD-Frak-tion, Ulrike Flach für die FDP-Fraktion, Ulla Lötzer fürdie Fraktion Die Linke und Alexander Bonde für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.1)

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache16/12283. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit denStimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge-gen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion DieLinke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange-nommen.

1) Anlage 3

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-schuss) zu dem Antrag der AbgeordnetenWolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKE

Pakistan und Afghanistan stabilisieren – Füreine zentralasiatische regionale Sicherheits-konferenz

– Drucksachen 16/10845, 16/11249 –

Berichterstattung:Abgeordnete Bernd Schmidbauer Johannes Pflug Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke Marieluise Beck (Bremen)

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden folgender Kollegen: Holger Haibach fürdie Unionsfraktion, Detlef Dzembritzki für die SPD-Fraktion, Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion,Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke, OmidNouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linkemit dem Titel „Pakistan und Afghanistan stabilisieren –Für eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonfe-renz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 16/11249, den Antrag der Frak-tion Die Linke auf Drucksache 16/10845 abzulehnen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, derSPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines … Geset-zes zur Änderung des Strafgesetzbuches – An-hebung der Höchstgrenze des Tagessatzes beiGeldstrafen

– Drucksache 16/11606 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses (6. Ausschuss)

– Drucksache 16/12143 –

Berichterstattung:Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)Joachim Stünker Jörg van Essen Wolfgang NeškovićJerzy Montag

2) Anlage 4

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Vizepräsidentin Petra Pau

Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-den zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge-ben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handeltsich um die Reden folgender Kollegen: Siegfried Kauderfür die Unionsfraktion, Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion, Jörg van Essen für die FDP-Fraktion, UlrichMaurer für die Fraktion Die Linke, Jerzy Montag für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Parlamentari-sche Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesre-gierung.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDruck-sache 16/12143 den Gesetzentwurf der Bundes-regierung auf Drucksache 16/11606 in der Ausschuss-fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion,der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, derSPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:

a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenJosef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), KaiGehring, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten

– Drucksachen 16/9142, 16/11384 –

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Grundsätzliche Überprüfung der Abschie-bungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen undder Inhaftierungspraxis in Deutschland

– Drucksachen 16/3537, 16/12020 –

Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard Grindel Rüdiger Veit Hartfrid Wolff (Rems-Murr)Sevim DağdelenJosef Philip Winkler

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die

1) Anlage 5

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhaltensoll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJosef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Die deutsche Praxis der Verhängung vonAbschiebehaft und des Vollzuges ist im Sinne einer anden Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitiknicht länger hinnehmbar.

Bei den Betroffenen handelt es sich nicht um Men-schen, die sich eine Straftat haben zuschulden kommenlassen, sondern um Personen, die in Deutschland Schutzgesucht haben. Die Inhaftierung von Menschen zumZwecke der Sicherung einer reinen Verwaltungshand-lung widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßig-keit. Nur zur Erklärung: Abschiebehäftlinge können biszu 18 Monate inhaftiert werden, ohne einer Straftatschuldig gesprochen worden zu sein oder überhaupt ei-ner verdächtig zu sein. Ein Abschiebehäftling hat nachAnordnung der Haft kaum Möglichkeiten, gegen dieHaft juristisch vorzugehen. Ein Haftprüfungstermin, wieer bei Untersuchungshäftlingen Anwendung findet, istfür Abschiebehäftlinge ebenso wenig vorgesehen wieein Pflichtverteidiger.

Demzufolge wäre eigentlich davon auszugehen, dassAbschiebehaft nur im Ausnahmefall angeordnet wirdund bei der Anordnung durch das Amtsgericht eine sehrsorgfältige Prüfung stattfindet, ob die Haft wirklich not-wendig ist.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: So sollte es sein!)

Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im Zehn-Minuten-Takt werden die Abschiebehaftbeschlüsse verfasst, unddie gesetzlich vorgesehene Anhörung findet de factonicht statt. Den Angaben in den Anträgen der Ausländer-behörden auf Anordnung der Abschiebehaft wird allzuoft ungeprüft Glauben geschenkt.

Die belastenden Haftbedingungen sollen auf dieFlüchtlinge abschreckend wirken und darauf hinwirken,dass sie Deutschland vorzeitig und „freiwillig“ verlas-sen. Auch nach Einschätzung vieler Flüchtlingsinitiati-ven, die in den Gefängnissen Besuchsdienste leisten, ha-ben Abschiebegefängnisse gleichsam den Charaktereiner Beugehaft. Das kann nicht länger so bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

All dies wird in der Antwort der Bundesregierung aufdie Große Anfrage meiner Fraktion zur Situation in dendeutschen Abschiebehaftanstalten deutlich. Besonderserschütternd war für uns, dass es in den Jahren zwischen2005 und 2007 mindestens zwei Selbstmorde und39 Selbstmordversuche gab, wobei nicht alle Bundeslän-der der Bundesregierung Auskunft über die Zahlen in ih-

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Josef Philip Winkler

rem Land gegeben haben. Dies ist für einen Rechtsstaatwirklich unerträglich

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und zeigt, dass die Situation nicht länger so bleibenkann, wie sie derzeit ist.

Hinter diesen Zahlen verbergen sich unfassbaremenschliche Dramen. Ich habe die Zahlen der Selbst-morde und der Selbstmordversuche in den Mittelpunktgestellt. Es gibt aber noch eine Vielzahl anderer Grup-pen, die man erwähnen könnte: Schwangere Frauen wa-ren zum Teil mehr als 100 Tage in Abschiebehaft, zumTeil sogar noch am Tag der Entbindung. Auch Minder-jährige befinden sich in den Abschiebehaftanstalten.Darüber haben wir im Innenausschuss ausführlich debat-tiert. All das kann ich hier jetzt nicht noch einmal aus-führlich darstellen.

Diese Zahlen können uns als Bundestag nicht beruhi-gen. Ganz im Gegenteil: Der Bundesinnenminister wäregefordert – Herr Staatssekretär, Sie können es ihm jaausrichten –, endlich seiner Verantwortung gerecht zuwerden. Das Problem von Suiziden und Suizidversuchenund die Ursachen dieser Misere müssen endlich ernst ge-nommen werden, statt wie bisher im wahrsten Sinne desWortes totgeschwiegen zu werden. Zwar ist der Vollzugder Abschiebehaft Ländersache; die gesetzliche Grund-lage ist aber in § 62 des Aufenthaltsgesetzes, einem Bun-desgesetz, geregelt. Zusammen mit den Bundesländernwäre der Innenminister hier gefordert, zum Beispiel aufGrundlage der Daten dieser Großen Anfrage über Refor-men und humanitäre Verbesserungen zu beraten. EinAnlass hierzu könnten die Beratungen über die Verwal-tungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sein.

Unserer Auffassung nach sollte § 62 des Aufenthalts-gesetzes so modifiziert werden, dass dieser schwerwie-gende Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen aufabsolute Ausnahmefälle beschränkt wird. Im Übrigenbewegen wir uns da auf der Linie des Bundesverfas-sungsgerichtes, das am 15. Dezember 2000 in einer Ent-scheidung klar gesagt hat, dass die bisher übliche Haft-dauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nichtverhältnismäßig ist. Änderungen sind hier also überfäl-lig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir fordern, dass im Rahmen der jetzt anstehendenBeratungen zu den Verwaltungsvorschriften zum Auf-enthaltsgesetz Konkretisierungen und verbindliche Re-gelungen insbesondere für Minderjährige und Traumati-sierte vorgelegt werden. Leider Gottes ist ein Befund desVorsitzenden Richters am Verwaltungsgerichtshof Hes-sen, Herrn Göbel-Zimmermann, aus dem Jahre 1996 im-mer noch aktuell – ich zitiere und komme dann zumEnde –:

Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zuoft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzo-gen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mitgerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfeh-lern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belas-

tet, so dass es zu einer nicht unerheblichen Zahlfehlerhafter Entscheidungen kommt.

Dies darf nicht länger so bleiben.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Es mutet an wie indem Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier. In ste-ter Regelmäßigkeit müssen wir uns hier im DeutschenBundestag auf Betreiben der Oppositionsfraktionen mitden Themen Abschiebung und Abschiebungshaft be-schäftigen.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Nichtalle! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie wirk-lich!)

Meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition,der Mehrwert und der Neuigkeitswert dieser Debattensind leider Gottes außerordentlich gering.

Eines bleibt klar festzuhalten: Abschiebungen undAbschiebungshaft sind notwendige Mittel zur Durchset-zung rechtmäßiger Ausweisungen. Ich möchte außerdemzu Beginn klarstellen: Das deutsche Recht wird demGrundsatz der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfanggerecht, indem Abschiebungen Ultima Ratio, das aller-letzte Mittel einer notwendigen Rückführung sind.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sind sieeben nicht! Die Zahlen belegen doch was ganzanderes!)

Ich darf auch darauf hinweisen: Es handelt sich bei demKreis der Betroffenen um Personen, die keinen Aufent-haltstitel in Deutschland haben und Deutschland eigent-lich verlassen müssten, aber aus diversen Gründen – teil-weise humanitären, teilweise tatsächlichen Gründen –Deutschland bislang nicht verlassen konnten und nichtverlassen haben.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sindkeine kriminellen Täter! Das sind keine Straf-täter!)

Die §§ 58 ff. des Aufenthaltsgesetzes genügen in vol-lem Umfang den rechtsstaatlichen und meiner Meinungnach auch den humanitären Anforderungen. Dies istmehrmals, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kolle-gen, insbesondere von der Opposition, durch die Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichtes und vieleUrteile bestätigt worden.

Es gibt einen klaren Grundsatz, der besagt, dass dieAbschiebung das letzte Mittel der notwendigen Rück-

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Stephan Mayer (Altötting)

führung ist. Es gibt im Vorfeld mildere Mittel, die weit-aus häufiger angewandt werden.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir reden von der Haft, nicht vonder Abschiebung!)

Die freiwillige Ausreise hat den absoluten Vorrang. Derüberwiegende Teil der Personen, die nun einmal keinenAufenthaltstitel für Deutschland haben und Deutschlandverlassen müssen, verlässt Deutschland freiwillig. Wenneine Abschiebung notwendig wird, muss sie im Vorfelderst einmal angedroht werden. Für den Fall, dass sie tat-sächlich erforderlich ist, bedarf es einer richterlichenAnordnung der Abschiebung. Eine Abschiebung bedarfalso der Anordnung durch ein unabhängiges gerichtli-ches Organ.

Des Weiteren gibt es diverse Möglichkeiten, die dazubeitragen, dass auf das Mittel der Abschiebung verzich-tet wird. Wenn der Betroffene, also die Person, die aus-reisepflichtig ist, glaubhaft macht, dass er Deutschlandentweder freiwillig verlassen oder sich der Abschiebungbeugen wird, dann bedarf es nicht der Anordnung derAbschiebungshaft. Das europäische Recht ist mit demdeutschen Recht schon in vollem Umfang in Einklanggebracht worden.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!)

Der Rat der Europäischen Union hat die sogenannteRückführungsrichtlinie am 16. Dezember letzten Jahresverabschiedet, und am 13. Januar dieses Jahres ist sie inKraft getreten.

(Rüdiger Veit [SPD]: Darüber müssen wir noch einmal reden!)

Viele andere Länder in der Europäischen Union habenim Hinblick auf die EU-Rückführungsrichtlinie weitausgrößeren Nachbesserungsbedarf als Deutschland.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wir könnten ja einmal mit gutemBeispiel vorangehen!)

In Art. 15 der Rückführungsrichtlinie sind Abschie-bung und Abschiebungshaft als letztes Mittel, als UltimaRatio, vorgesehen. Wie im bisher geltenden deutschenAufenthaltsgesetz wird auch hier der freiwilligen Aus-reise Vorrang eingeräumt. Im Rahmen von Art. 7 derEU-Rückführungsrichtlinie gibt es diverse Möglichkei-ten, unter bestimmten Auflagen auf die Anordnung einerAbschiebung zu verzichten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mayer, würden Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Dağdelen zulassen?

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Selbstverständlich, sehr gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Lieben Dank, Herr Kollege. – Ich werde gleich nocheine Rede halten. Wenn ich meine Frage aber nicht jetztan geeigneter Stelle stellen dürfte, wäre das später völligaus dem Zusammenhang gerissen.

(Iris Gleicke [SPD]: Wieso? Sie können dochfrei sprechen! – Zurufe von der CDU/CSU:Das wäre natürlich äußerst schade! – Wie trau-rig! – Das muss ja sehr wichtig sein!)

Sie haben gesagt, die Rückführungsrichtlinie seischon in nationales Recht umgesetzt worden. Dazu habeich eine Frage. Nach Art. 16 der Rückführungsrichtlinieist es nicht zulässig, Menschen, die zur Ausreise ver-pflichtet worden sind, in Straf- bzw. Haftanstalten unter-zubringen; in 14 der 16 Bundesländer ist dies aber nochUsus. Außerdem sind nach der beschlossenen Rückfüh-rungsrichtlinie keine Inhaftierungen allein aufgrund ei-ner illegalen Einreise mehr erlaubt. Ich frage Sie, ob Siezur Kenntnis nehmen, dass diese zwei Regelungen derRückführungsrichtlinie noch nicht in nationales Rechtumgesetzt worden sind, und ob die Bundesregierung ge-denkt, auch diese Regelungen in nationales Recht umzu-setzen.

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):Sehr verehrte Frau Kollegin Dağdelen, ich kann nur

für meine Fraktion und für mich, aber nicht für die Bun-desregierung sprechen. Ich gehe natürlich davon aus,dass die Bundesregierung, insbesondere wenn die CDU/CSU an ihr beteiligt ist, der Vorgabe der EU-Rückfüh-rungsrichtlinie in vollem Umfang Genüge tun wird,

(Rüdiger Veit [(SPD]: Vorsicht! Gemach! –Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Wer es glaubt, wird selig! – Josef PhilipWinkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dasmachen Sie sonst ja auch nicht immer!)

sodass die EU-Rückführungsrichtlinie bis zum 24. De-zember 2010 im Wortlaut umgesetzt wird.

Nun zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin. Ichhabe die Antwort der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage der Fraktion der Grünen sehr intensiv gelesen.Sie haben sich gerade auf Frage 3 der Großen Anfragebezogen, die, wenn ich das so sagen darf, sehr perfidegestellt ist; darauf möchte ich gerne eingehen.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hauptsache, Sie haben sieverstanden! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht perfide, sondernschlau!)

– Ja, oder schlau. – Leider kenne ich den genauen Wort-laut nicht auswendig. Sinngemäß lautet die Frage: Inwelchen Bundesländern werden Abzuschiebende auch inJustizvollzugsanstalten untergebracht? – Natürlich wer-den Abzuschiebende in den Bundesländern, in denendies der Fall ist, nicht ausschließlich in JVAs unterge-bracht. Das ist also eine Fragestellung, der man sehr ge-nau auf den Grund gehen muss. Meines Wissens werdendie Abzuschiebenden in fast allen Bundesländern fast

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Stephan Mayer (Altötting)

ausschließlich in gesonderten Haftanstalten unterge-bracht, sodass dem Art. 16 der EU-Rückführungsrichtli-nie schon Genüge getan wird.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nein! – JerzyMontag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aberbestimmt nicht in Bayern!)

Diese Fragestellung sollte man erst einmal genau hinter-fragen. Die Antwort auf diese Frage ist in Anbetracht derFragestellung natürlich relativ.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn das?)

Frau Kollegin, auch Sie sollten sich diese Fragestellungnoch einmal genau zu Gemüte führen.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das haben wir ja!)

Ich fasse zusammen: Art. 16 der EU-Rückführungsricht-linie ist umzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass diesgeschieht.

Ich möchte betonen, dass diejenigen, für die Abschie-bungshaft angeordnet wurde, in allen 16 Bundesländernin den meisten Fällen bereits heute in gesonderten undspeziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Dasist auch vollkommen richtig, Frau Kollegin, weil ein Ab-zuschiebender in den allermeisten Fällen nichts mit ei-nem Straftäter oder einem Straffälligen zu tun hat. Des-wegen ist es auch richtig, dass es zwei verschiedeneHaftanstalten gibt, zum einen für Straftäter und zum an-deren für Abzuschiebende.

Frau Kollegin, lassen Sie mich bei dieser Gelegenheitauf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Sie haben dieweitestgehende Forderung gestellt, nämlich dass die Ab-schiebehaft komplett abzuschaffen ist. Dies ist in vollemUmfang weltfremd und unrealistisch.

(Beifall des Abg. Henry Nitzsche [fraktions-los])

Es gibt Fälle, in denen es einer zwangsweisen Abschie-bung und auch der Anordnung einer Abschiebehaft be-darf.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht immer!)

– Herr Kollege Winkler, natürlich handelt es sich bei denAbzuschiebenden nicht immer um Straftäter. Es gibtaber durchaus Fälle, bei denen es sich um Straftäter han-delt. Ich möchte nur an die brutalen und menschenver-achtenden Schläger in der Münchener U-Bahn erinnern,die kurz vor Weihnachten 2007 einen über 70-jährigenRentner fast totgeschlagen haben.

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Aber die sitzen doch nicht in Abschie-behaft!)

Leider sind die rechtsstaatlichen Grundsätze immer nochzu hoch – das sage ich ganz offen –,

(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Nicht „leider“, Herr Kollege!)

um solche Personen im Zweifel abschieben zu können.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie sind doch in der Regierung!)

In Einzelfällen besteht aber natürlich die Notwendigkeit,ausländische Straftäter abzuschieben.

Des Weiteren ist Ihre Forderung, die Verwaltungsge-richte in vollem Umfang als zuständige Gerichte für dieAnordnung der Abschiebehaft einzusetzen, ebenso welt-fremd und unrealistisch.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Weltfremdsind Sie, Herr Mayer! In welcher Welt lebenSie eigentlich?)

Dies wäre ein logischer Bruch in unserem Prozessrechts-system. Haft wird nun einmal von ordentlichen Gerich-ten angeordnet. So muss es auch bei der Abschiebehaftsein. Das bis dahin stattfindende Verfahren wird von denVerwaltungsgerichten in ordnungsgemäßer Weise durch-geführt. Dies gilt für die Rückweisung und auch für dieAnordnung der Abschiebung. Die Anordnung der Ab-schiebehaft muss aber selbstverständlich von den ordent-lichen Gerichten angeordnet werden, und daran solltesich auch nichts ändern.

Ebenso vollkommen überzogen ist Ihre Forderung,für abzuschiebende Personen generell eine Pflichtvertei-digung und eine kostenlose anwaltliche Vertretungbereitzustellen. Dies entspricht in keiner Weise demdeutschen Prozessrecht. Wenn die entsprechenden per-sönlichen Verhältnisse der Person nicht zulassen, dasssie sich selbst vertreten kann, und sie auch nicht die nöti-gen finanziellen Mittel für einen Rechtsbeistand aufbrin-gen kann,

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das können Sie ja auch nicht!)

sieht es das deutsche Prozessrecht in bestimmten berech-tigten Fällen vor, dass dann die Möglichkeit der Anord-nung eines Pflichtverteidigers unter Prozesskostenhilfebesteht. Dies gilt aber nur für diese Ausnahmefälle. EineAusnahme ist meines Erachtens richtigerweise, dassMinderjährigen selbstverständlich ein Pflichtverteidigerbeigeordnet wird.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, dieGroße Koalition hat in den vergangenen dreieinhalb Jah-ren in Sachen Reduzierung der sich illegal in Deutsch-land aufhaltenden Personen durchaus bemerkenswerteFortschritte gemacht. Wir haben eine Bleiberechtsrege-lung geschaffen, eine Altfallregelung in § 104 a des Auf-enthaltsgesetzes, die wirklich wegweisend ist. Auch dieInnenministerkonferenz hat eine Bleiberechtsregelunggeschaffen, von der durchaus und in nicht zu unterschät-zender Art und Weise Gebrauch gemacht wird.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 25 000 sind das!)

Am Ende des Tages müssen wir aber einfach zur Kennt-nis nehmen, dass es in Deutschland Personen gibt, diekeinen Aufenthaltstitel haben. Diese Personen müssenDeutschland dementsprechend verlassen. Wenn sie das

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Stephan Mayer (Altötting)

nicht freiwillig tun, dann muss dies eben mit den Mittelnder Abschiebung und der Abschiebehaft geschehen.

Wie schon eingangs erwähnt, beschäftigen wir uns insteter Regelmäßigkeit mit solchen Anträgen, die keinenNeuigkeitswert zutage fördern. Deswegen kann ich unsnur empfehlen, die interessanten Antworten der Bundes-regierung auf die Große Anfrage der Grünen-Fraktionzur Kenntnis zu nehmen und den vollkommen weltfrem-den, überzogenen und unrealistischen Antrag der Links-fraktion abzulehnen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Henry Nitzsche [fraktionslos])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der

FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Um-

gang mit sich illegal in Deutschland aufhaltenden Men-schen betrifft durchaus das Selbstverständnis einer frei-heitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragender Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Ordnung.Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländer-rechts, mit dem man sich auf eine seriöse Art und Weisebeschäftigen sollte, gerade dann, wenn man die humani-tären Themen angehen möchte.

Der Antrag der Linken kommt mit humanitärer Ab-sicht daher, verschweigt aber konsequent seine Folgenfür die deutsche Zuwanderungspolitik. In entlarvenderWeise fordern die Linken die Aufgabe der staatlichenDurchsetzungsmöglichkeiten und quasi die Einstellungjeglicher Abschiebung aus Deutschland. So einfach kannman sich das nicht machen.

Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosenLeistungen sind unverhältnismäßig. Die Privilegierungillegal oder zumindest ohne Rechtsgrundlage Eingewan-derter gegenüber legal eingewanderten Menschen undauch jedem deutschen Staatsbürger gegenüber ist frag-würdig.

Zu Ende gedacht ruft die Linkspartei unter dem Vor-wand der Menschenrechte zu einer weitgehenden Ab-schaffung jeglicher Migrationssteuerungsinstrumenteauf. Gleichzeitig aber schimpft sie über Integrations-mängel, Schwarzarbeit sowie die Spannungen auf demArbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen.Das ist unlogisch und unredlich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind un-redlich, Herr Wolff! Drehen Sie das mal nichtum!)

Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Ver-tretern der Linken eine naive Freude an unkontrollierterund unsteuerbarer Zuwanderung besteht.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte, so weit ist es mitder FDP schon gekommen!)

Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht einenVerstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist infam.Bei jeder Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendesdemokratisches Aufenthalts- oder Zuwanderungsrechtvor.

Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall angebrachtsein mag: Die pauschale Herabsetzung rechtsstaatlichenHandelns, die die Linke hier vornimmt, ist unanständig.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist ja eine Frechheit! Eine Unverschämtheit!)

Mit diesen überzogenen Forderungen der Linken wirddem an sich berechtigten Anliegen, eine verhältnismä-ßige und humanitäre Abschiebepraxis zu gewährleisten,ein Bärendienst erwiesen.

(Beifall bei der FDP)

Es gilt auch aus liberaler Sicht,

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das hat dochnichts mit Liberalismus zu tun! Schämen Siesich!)

dass mit dem Instrument der Abschiebehaft sehr zurück-haltend und sehr behutsam umgegangen werden muss.Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkei-ten, die umgesetzt werden müssen. Auch in diesem Be-reich sehen wir durchaus Handlungsbedarf. Grundsätz-lich halten wir die Abschiebehaft jedoch für notwendig.

Insofern haben wir die detaillierte Antwort der Bun-desregierung auf die Große Anfrage der Grünen positivgesehen. Außerdem ist es grundsätzlich sehr gut, dassdie Grünen diese Große Anfrage gestellt haben

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir ziehen nur andere Kon-sequenzen daraus als Sie!)

und wir damit eine Grundlage bekommen, um uns sach-lich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich mussallerdings auch sagen: Einige Teilaspekte sind angespro-chen worden; der Gesamtzusammenhang fehlt jedochleider.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Wolff, erlauben Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Winkler?

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Nein, jetzt nicht.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?)

Dabei hatten die Grünen bereits im Jahr 1998, lieberJosef, im Koalitionsvertrag unterschrieben, die Praxisder Abschiebehaft – ich zitiere – „im Lichte des Verhält-nismäßigkeitsgrundsatzes“ zu prüfen.

(Rüdiger Veit [SPD]: „Und des Flughafenver-fahrens“ heißt es vollständig!)

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Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, liebe Kollegen von denGrünen, das zu tun, was Sie für besser gehalten haben.Was ist daraus geworden? Der Kollege Veit wird jetztüberlegen, ob er derjenige war, der verhindert hat, dassIhre großen, hehren Ziele umgesetzt wurden.

(Rüdiger Veit [SPD]: Wahrscheinlich eher nicht!)

Jedenfalls hatten Sie die Möglichkeit, sie umzusetzen.

Die FDP stimmt den drei essenziellen Aspekten zu,die auch die EU-Kommission beschlossen hat. Demnachmüssen das Primat der freiwilligen Rückkehr gestärkt,verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert – ausmeiner Sicht auch ausgebaut – und die Verhältnismäßig-keit gewahrt werden. Gerade dann, wenn wir auf europäi-scher Ebene weiterkommen wollen, kann die Rückfüh-rungsrichtlinie, so notwendig sie auch war, nur einAnfang sein.

Meine Damen und Herren, der vorliegende Antragder Linken zeigt zwar Probleme auf – der eine oder an-dere Satz zeigt auch das Niveau –; die Antragsteller bie-ten als scheinbare Lösung jedoch nur eine weitgehendeErschwerung von oder einen Verzicht auf Abschiebun-gen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere denMenschen nicht, die legal und unter Beachtung der Ge-setze der Bundesrepublik Deutschland hierher einge-wandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten.

Eine individuelle Bewertung ist notwendig. Institutio-nalisierte, ritualisierte oder automatische Nachsicht mitdenen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten,kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen unddie Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Zuwanderung istaber etwas, was wir brauchen. Deshalb sollten wir sehrvorsichtig mit den verschiedenen Vorgaben umgehen.

Auch deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes,aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzu-stellen, wenn es darum geht, eine Rechtsordnung zu ver-teidigen, die demokratisch entstanden ist.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPD-

Fraktion.

Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! Nicht selten liegen Wahrheit und Rea-lität in der Mitte – auch bei einigen Beiträgen, die hierund heute schon gehalten worden sind. Ich will mich be-mühen, möglichst angemessen und nicht emotional aufdie Problematik einzugehen.

Wir können den Antrag der Linksfraktion nicht unter-stützen, weil er zum einen aufgrund der Rückführungs-richtlinie, die aktualisiert wurde, völlig veraltet und inkeiner Hinsicht mehr aktuell ist

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie das Datum ge-sehen haben!)

und weil er zum anderen eine Reihe von Behauptungenund Forderungen enthält, die in der Tat als nicht prakti-kabel angesehen werden können. Insoweit stimme ichder Begründung des Kollegen Wolff in einigen Details– aber wirklich nicht in jeder Hinsicht – zu.

Lieber Kollege Winkler, ich möchte mich aber auchan Sie wenden und sagen: Als jemand, der an diesemGeschehen einmal aktiv und verantwortlich beteiligtwar, verwahre ich mich dagegen, dass Abschiebung undAbschiebungshaft in Deutschland generell so verhängt,vollzogen und praktiziert würden, dass dies mit men-schenrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich habe nur von der Haft gespro-chen!)

Diese pauschale Schelte für alle daran beteiligten Ver-waltungsbehörden oder auch Gerichte kann ich so nichtstehen lassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Da ich die Pflicht hatte, zwölf Jahre lang politischhauptverantwortlich einer Ausländerbehörde und da-rüber hinaus weitere sechs Jahre lang einer zentralen Ab-schiebebehörde vorzustehen, könnte ich Ihnen durchauseiniges aus der Praxis erzählen – übrigens auch von denmanchmal extremen emotionalen Belastungen, denendie Mitarbeiter ausgesetzt sind, die unsere Rechtsord-nung vollziehen müssen. Das betrifft nicht nur die poli-tisch Hauptverantwortlichen, sondern auch einzelne Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich die davonbetroffenen Menschen.

Um das ganz klar zu sagen: Dass als Ultima RatioAbschiebung als solche und Abschiebehaft von irgendje-mandem in unserem Staatswesen – Verwaltungsbeam-ten, Gerichten oder sonstigen Beteiligten – mit großerFreude und Überzeugung vollzogen würden, kann mannun weiß Gott nicht sagen. Das ist für alle Beteiligten inder Regel eine quälende Belastung. Es ist aber im Aus-nahmefall notwendig, dass die Rechtsordnung durchge-setzt wird.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Ich habe auch nicht von allen,sondern von „häufig“ gesprochen! Das ist einkleiner Unterschied!)

– Vielleicht von „zu häufig“. Aber auch das „häufig“lasse ich nicht gelten.

Der Kollege Wolff hat die Koalitionsvereinbarungvon SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 1998übrigens nicht ganz vollständig zitiert. Darin hieß esnämlich, dass sowohl die Abschiebehaft als auch dasFlughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeitzu überprüfen seien. Lieber Kollege Winkler und alle,die damals schon daran beteiligt waren – wenn ich esrichtig sehe, dann war das auf der Seite der Grünen nurder Kollege Hans-Christian Ströbele –, wir hätten gegen-über unserer eigenen Regierung unter Umständen einbisschen erfolgreicher sein können. Ich will das einmalso freundlich umschreiben.

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Rüdiger Veit

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ich wusstees doch! – Hans-Christian Ströbele [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zutreffend!)

Hinsichtlich der Flughafenverfahren gab es ja immer-hin Erfolge. Nachdem die neue Unterkunft fertiggestelltworden war – ich habe das hier schon mehrfach gesagt –,waren die Bedingungen sowohl für die Betroffenen alsauch für die Mitarbeiter wesentlich besser und die Zahlder Beschwerden über diesen ganzen Komplex und dieerheblichen Belastungen wesentlich geringer. Trotzdemsollten wir nicht aufhören, auch darauf zu achten. Ichkomme noch einmal darauf zurück.

Wir haben damals erreicht – jedenfalls in den Jahren1999, 2000 und 2001 –, dass zumindest die unbegleite-ten Minderjährigen – und hierbei vor allem die Kinder –entweder nur ganz kurz oder überhaupt nicht in der Flug-hafenunterkunft untergebracht worden sind. Mir sindvon meinen Mitarbeitern Zahlen vorgelegt worden, ausdenen hervorgeht, dass sich diese Tendenz leider wiederumgedreht hat, sodass sich heute wieder mehr Jugendli-che und sogar Kinder in der Flughafenunterkunft aufhal-ten. Meine Mitarbeiter haben mir zum Beispiel von ei-nem Fall berichtet, bei dem ein Minderjähriger über32 Tage dort war. Das geht nicht in Ordnung.

Hier ist die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft alsDienstherr sowohl der Bundespolizei als auch des Bun-desamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg auf-gefordert und gebeten, darauf hinzuwirken, dass Kinderund Jugendliche allenfalls nur wenige Stunden auf demFlughafen in Frankfurt verbleiben und dann kind- bzw.jugendlichengerecht untergebracht werden.

Gerade für die Kinder gilt – es ist vielleicht eines derVerdienste von Bündnis 90/Die Grünen, dass sie dieseDaten mit ihrer Anfrage noch einmal zutage geförderthaben –: Sie kommen in ein Land, von dem sie sich Si-cherheit und Schutz vor Verfolgung im Herkunftslanderhofft haben, und erleben dann möglicherweise schwie-rigste und nicht kindgerechte Haftbedingungen oderAufenthaltsbedingungen, zum Teil und gerade in der un-mittelbaren Nachbarschaft von Erwachsenen. Sie erlei-den allein schon durch dieses Schicksal möglicherweisezusätzliche Traumata, die wir als humanitärer Rechts-staat eigentlich vermeiden sollten. Nicht ohne Grundgeht aus Art. 37 der Kinderrechtskonvention klar hervor,dass Freiheitsentziehungen bei einem Kind nur als aller-letztes Mittel und für die denkbar allerkürzeste Zeitangeordnet werden können. Der Hohe Flüchtlings-kommissar der Vereinten Nationen interpretiert dieUN-Kinderrechtskonvention so, dass Abschiebehaft beiKindern unter 16 Jahren überhaupt nicht und bei Jugend-lichen unter 18 Jahren nur als letztes Mittel verhängtwerden darf.

Damit sind wir bei einem anderen Thema, das unsschon häufiger beschäftigt hat, nämlich die von der Bun-desregierung immer noch erklärten Vorbehalte gegenüberder Akzeptanz der Kinderrechtskonvention. Es ist nurnoch ein einziger Punkt offen. Alle anderen sind erledigt.Dabei geht es um die Frage der Asylmündigkeit und derBehandlung von Jugendlichen unter 18 Jahren als Asyl-

suchende und Flüchtlinge. Denn unser Recht geht vonder Fiktion aus, sie seien schon in jeder Hinsicht mündigund verantwortlich, könnten selbst Anträge stellen undwomöglich auch in Haft genommen werden.

Das entspricht nach Überzeugung der SPD-Fraktionnicht der Kinderrechtskonvention. Wir sehnen uns alsMehrheit des Parlaments schon langsam danach, endlicheiner Regierung gegenüberzusitzen, die bereit ist, dieParlamentsbeschlüsse auch umzusetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dabei bin ich mir darüber im Klaren, Herr StaatssekretärAltmaier, dass das Problem bei den Bundesländern liegt.Mit dieser Frage werden wir uns vielleicht noch einmalim Ausschuss fachlich auseinandersetzen.

Aber nicht nur im Lichte der Kinderrechtskonvention– es wird wirklich langsam Zeit, dass wir den Vorbehaltendlich ausräumen –, sondern auch im Lichte anderenübergeordneten Rechtes haben wir Veranlassung, lieberKollege Mayer, unser eigenes Rechtssystem zu überprüfen.Insoweit ist unser Anliegen doch aktuell. Ich denke dabeian die Aufnahmerichtlinie und – wie versprochen kommeich jetzt darauf zurück – an die Rückführungsrichtlinieaus dem Januar dieses Jahres.

Um es klipp und klar zu sagen: Die Rückführungsricht-linie ist weder für die Sozialdemokraten im EuropäischenParlament noch für die sozialdemokratische Fraktion imDeutschen Bundestag ein besonders fortschrittliches In-strument der Migrationspolitik. Aber sie bildet sozusagenden Mindeststandard – nur den Mindeststandard – füralle Mitgliedstaaten der EU. Darunter waren auch einige,die noch sehr viel problematischere Bedingungen imBereich von Abschiebung, Rückführung und Abschie-bungshaft hatten. Insoweit muss man feststellen: Wenndas Mindeststandards für alle EU-Staaten sind, dann istdas insoweit ein Erfolg. Das darf uns als deutschenGesetzgeber nicht daran hindern, an günstigeren Rege-lungen festzuhalten oder sie zu schaffen.

Wir müssen aber – damit sind wir wieder bei derAsylmündigkeit und den Richtlinien für Kinder unter18 Jahren – alles daransetzen, sowohl was die Frage derUnterbringung der Kinder und Jugendlichen – StichwortAufnahmerichtlinie – als auch ihre angebliche Asylmün-digkeit ab 16 Jahre angeht, unser deutsches Recht diesenMindeststandards anzupassen, um nicht dahinter zurück-zubleiben. Das wäre ein gemeinsames Anliegen, an demwir weiter arbeiten sollten.

Wenn dazu die Antwort der Bundesregierung mit zumTeil nicht so erfreulichen Zahlen über den Vollzug vonAbschiebungshaft und vor allen Dingen von ganzbestimmten besonders schutzwürdigen Gruppen einenBeitrag geleistet hat, dann wäre das immerhin ein kleinerErfolg. Ansonsten sind wir alle gefordert, in der geschil-derten Weise auch gesetzgeberisch tätig zu werden.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Henry

Nitzsche.

Henry Nitzsche (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist

schon erstaunlich, mit was man sich als deutscher Volks-vertreter so herumschlagen muss. Das meiste Kopfschüt-teln rufen bei mir regelmäßig die Anfragen und Anträgeder Grünen hervor.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ehrt uns!)

Ich will einige Beispiele nennen: die Große Anfrage„Zur Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen und Transgender“ vom Juni 2006, dieKleine Anfrage zur „Lage der Homosexuellen auf Ja-maika“ vom Juni 2008 oder der Antrag zur Rechtssituationvon Homosexuellen in Nigeria Anfang dieses Monats.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)

Das sind die Nöte und Sorgen, die die Menschen inunserem Land bewegen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Jetzt haben Sie uns aber in Schwulitä-ten gebracht!)

Jetzt sorgen Sie sich also um die Situation in deut-schen Abschiebehaftanstalten, wo es wahrscheinlichzugehen muss wie in Guantánamo. Gehen Sie doch bitteeinmal zum Hauptportal herein, und schauen Sie nachoben. Dort steht „Dem deutschen Volke“ geschrieben.Zeigen Sie dafür doch endlich einmal Verantwortung!

Kommen wir zu Ihrer Großen Anfrage. Es istbezeichnend, dass Sie sich auf die zweifelhafte Antiras-sistische Initiative Berlin beziehen.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Was ist denn daran zweifelhaft?)

Bei dieser handelt es sich nämlich um eine Gruppierungmit besten Kontakten zum Linksextremismus.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Sie wissen bei Extremismus, wovon Siereden!)

Da haben Sie wahrlich den Bock zum Gärtner gemacht!Diese Gruppierung behauptet auf ihrer Internetseite, diePolizei veranstalte in Deutschland Menschenjagden, undfordert wörtlich offene Grenzen, Bleiberecht für alle undgleiche Rechte für alle. Darauf wollen Sie sich beziehen?

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch wir wollen gleicheRechte für alle!)

Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass der von Ihnenangeführte Selbstmord eines sich in Abschiebehaft befind-lichen Asylbewerbers nicht den Tatsachen entspricht.

(Widerspruch bei der LINKEN)

Besagter Äthiopier erhängte sich nämlich in Wahrheit,während er in Untersuchungshaft wegen des Verdachtsauf Totschlag saß. Das ist schon ein Unterschied, auchwenn das nicht in Ihr Weltbild passt. Es sind nicht alleOpfer. Es gibt auch viele Täter unter ihnen.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das denn?)

Schauen wir uns einmal an, woher die Asylbewerberstammen, die in Abschiebehaft sitzen. Wir finden darun-ter Nationalitäten, die durchaus verwundern. Daruntersind Menschen aus Litauen, Portugal, Israel oder Polen.Da frage ich mich schon: Warum haben die bitte Asylbeantragt? Noch etwas fällt auf: Ein Großteil der Asyl-bewerber stammt aus der Türkei. Demnach müssen dieVerhältnisse in diesem Land – gerade in Bezug auf dieEinhaltung der Menschenrechte – deutlich zu wünschenübrig lassen. Wie können Sie da die Aufnahme der Tür-kei in die EU verantworten, meine Damen und Herrenvon den Grünen? Erklären Sie das hier bitte einmal!

In Wahrheit geht es Ihnen doch gar nicht um die Ver-besserung der Situation in deutschen Abschiebegefäng-nissen. Sie wollen das Instrument der Abschiebehaftganz abschaffen. Um das zu erkennen, genügt ein Blickin Ihr Wahlprogramm. Ich zitiere:

Menschen, die nichts weiter getan haben, als inDeutschland Zuflucht zu suchen, sitzen in Abschie-behaft. Wir setzen uns für die Beendigung dieser in-humanen Situation ein.

Ich muss Sie fragen: Sind Sie noch ganz bei Trost? Siewissen doch ganz genau, was los wäre, wenn man dieAbschiebehaft abschaffen würde. Die abgelehnten Asyl-bewerber würden schnurstracks in die westdeutschenGroßstädte, in die Gettos, abtauchen.

Liebe Kollegen von den Grünen, ich weiß, Sie sindimmer große Freunde präventiver Ansätze. Ich will Ih-nen einen solchen Ansatz einmal vorstellen. Die Frageist nicht, wie die Situation in der Abschiebehaft verbes-sert werden kann, sondern wie verhindert werden kann,dass überhaupt Personen in Abschiebehaft gelangen. DieAsylanerkennungsquote in Deutschland liegt etwa bei1 Prozent.

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlimm genug!)

Das heißt, 99 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt,und die Asylbewerber müssen das Land wieder verlas-sen. Daher wäre es doch sinnvoll, sich einmal Gedankendarüber zu machen, wie wir das ändern könnten. Wiewäre es zum Beispiel mit einem Sicherungssystem derEU-Außengrenzen und einer verstärkten Kontrolle anden Grenzen zu Deutschland?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Nitzsche, denken Sie an die Zeit, bitte.

Henry Nitzsche (fraktionslos): Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. – Dann

lösen sich die Probleme in den Abschiebehaftanstaltenvon ganz alleine.

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Henry Nitzsche

Im Übrigen, Herr Präsident, ist das Plenum nicht be-schlussfähig.

(Ulrich Kelber [SPD]: Sie tun mir leid mit Ih-rem Hass! Irgendwann muss doch mal etwaspassiert sein!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen von der Frak-tion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dieser rassistische, menschenverachtende undauch menschenfeindliche Unsinn meines Vorrednersspricht für sich selbst. Ich möchte das nicht weiter kom-mentieren.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In der ersten Beratung über unseren Antrag am29. März 2007 haben die Regierungsfraktionen und dieFDP eines deutlich gemacht: Abschiebungshaft ist einInstrument der Abschreckungspolitik. Denn der Verzichtauf Abschiebungshaft würde – ich zitiere Herrn Wolffvon der FDP – einen massiven Anreiz zur illegalenZuwanderung darstellen. Der Kollege Veit von der SPDmalte in der ersten Beratung das Gespenst eines nicht zubewältigenden Zustroms an die Wand, würde sich – ichzitiere erneut – unter den vielen Millionen Menschen inder Welt, die in Armut und Elend leben, oder den zigMillionen bereits auf der Flucht befindlichen Menschenherumsprechen, dass, wer immer deutschen Bodenerreicht, auch hier leben kann.

Ich finde, das hat mit Humanismus nichts mehr zutun, auch nichts mit einem Bewusstsein für die Flucht-ursachen und -gründe der Flüchtlinge, für die wir wegender Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen vonMenschen mitverantwortlich sind. Außerdem ist nicht zuersehen, woher eigentlich diese Sorge kommt. Die letz-ten Bundesregierungen haben maßgeblich dafür gesorgt,dass die Chance, die EU lebend zu erreichen, minimiertwird. So sinken auch die Zahlen derjenigen, die es über-haupt noch bis nach Deutschland schaffen. Wir alle ken-nen die Bilder vom Mittelmeer oder aus dem WestenAfrikas. Für die Linke darf ich feststellen: Für uns istkein Mensch illegal. Deshalb plädieren wir für mehrHumanität.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist einer der zynischen Höhepunkte der Abschiebe-praxis in Deutschland, dass Abschiebungshäftlinge fürdie Kosten der Haft und der Abschiebung auch nochzahlen müssen. Zynisch ist auch, dass Menschen für einesolche Abschreckungspolitik persönlich herhalten müssen.Einige zahlen dafür nicht nur sprichwörtlich Blutzoll;Herr Winkler hat es noch einmal deutlich gemacht. Ichwiederhole: Seit 1993 töteten sich 150 Flüchtlinge an-gesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei

dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davonallein 56 Menschen in Abschiebungshaft. Dieser Verant-wortung können sich die letzten Bundesregierungennicht entziehen.

Abschiebungshaft wird häufig rechtswidrig undrechtsfehlerhaft verordnet. In zwei Dritteln aller Fälle, dievom Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdienstesunterstützt wurden, konnte eine Entlassung aus der Hafterreicht werden; die betroffenen Personen waren alsorechtswidrig oder rechtsfehlerhaft inhaftiert worden.Herr Mayer, das belegt nochmals deutlich, dass Abschie-bungshaft eben nicht die Ultima Ratio zur Durchsetzungder Ausreisepflicht ist, sondern häufig ohne Prüfung er-folgt.

(Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN])

Aus der Antwort der Bundesregierung auf die GroßeAnfrage der Grünen geht auch hervor, wie leichtfertigdie Abschiebungshaft verhängt wird. Etwa der Hälfteder Abschiebungen ging eine Abschiebungshaft voraus.Etwa 15 Prozent aller Inhaftierten mussten wieder ent-lassen werden. Ich finde, diese Menschen hätten erst garnicht ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, da bereits imVorfeld klar war, dass eine Abschiebung unmöglich ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zwischen 2005 und 2007 wurden unbegleitete Minder-jährige für bis zu 142 Tage in Haft gehalten, Schwangerefür bis zu 132 Tage. Das zeigt noch einmal deutlich, dasses Ihnen um die Abwehr von Flüchtlingen geht und nichtum den Schutz bedrohter Menschen in diesem Lande.

Ich erinnere Sie gern noch einmal daran, dass HeikoKauffmann von Pro Asyl die Abschiebungshaft als eine„demokratisch abgesicherte Barbarei“ bezeichnet hat.Günter Wallraff bezeichnet Abschiebegefängnisse als„Institutionen der Unmenschlichkeit“.

Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besondersim Umgang mit den Schwächsten einer Gesellschaft, mitFlüchtlingen, Migrantinnen und Migranten. Folgen Siealso unserem Antrag und schaffen Sie die immer rigoro-ser und unmenschlicher werdende Abschiebungshaft ab!Schaffen Sie, um dieses Ziel zu erreichen, eine gesetzlicheGrundlage für die Wahrung von Mindeststandards beider Inhaftierungspraxis!

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit demTitel „Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungs-haft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungs-praxis in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12020, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3537

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen derFraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Einlagensicherungs- und Anlegerent-schädigungsgesetzes und anderer Gesetze

– Drucksache 16/12255 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten FrankSchäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. HermannOtto Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Reform der Anlegerentschädigung in Deutsch-land

– Drucksache 16/11458 – Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zudem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN

Verbraucherschutz auf den Finanzmärktenstärken

– Drucksachen 16/11205, 16/12184 –

Berichterstattung: Abgeordnete Leo Dautzenberg Ortwin RundeDr. Gerhard Schick

Es ist interfraktionell vorgesehen, dass die Redebei-träge zu Protokoll genommen werden. Es handelt sichum die Beiträge der Kollegen Klaus-Peter Flosbach,CDU/CSU, Jörg-Otto Spiller, SPD, Frank Schäffler,FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, und Dr. GerhardSchick, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufDrucksachen 16/12255 und 16/11458 an die in der Tages-ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. SindSie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sinddie Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf den Fi-nanzmärkten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-

1) Anlage 6

ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12184, denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 16/11205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim-men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-tung der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelKauch, Joachim Günther (Plauen), HorstMeierhofer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDP

Nachtstromspeicherheizungen nicht verbieten,sondern modernisieren – Chancen für erneu-erbare Energien und für den Klimaschutz nut-zen

– Drucksache 16/11193 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommenwerden. Es handelt sich um die Reden von Volkmar UweVogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, MichaelKauch, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und PeterHettlich, Bündnis 90/Die Grünen.

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Die Außerbetriebnahme von elektrischen Speicher-

heizungen ist ein Baustein der gestern von der Bundes-regierung beschlossenen Novellierung der Energie-einsparungsverordnung. Darin werden erstens dieAnforderungen bei Errichtung neuer Wohn- und Nicht-wohngebäude um durchschnittlich 30 Prozent verschärftebenso wie zweitens für Altbauten für den Fall größererUmbauarbeiten sowie drittens Regelungen zur Verbesse-rung des Vollzugs der Verordnung festgeschrieben. Bau-stein Nummer vier ist die Außerbetriebnahme elektri-scher Speicherheizungen, wobei es sich zu 99 Prozent umsogenannte Nachtspeicherheizungen handelt. Das eben-falls verabschiedete Energieeinsparungsgesetz schafft indiesem Zusammenhang die Verordnungsermächtigungfür das Inkrafttreten der Energieeinsparungsverordnungin nunmehr sechs Monaten.

Dabei – und das möchte ich insbesondere angesichtsdieses Tagesordnungspunktes noch einmal betonen – dür-fen die einzelnen Maßnahmen zum Klimaschutz und de-ren Bausteine nicht isoliert betrachtet werden. Nur kumu-liert entfalten sie ihre erwünschte Wirkung: VielePinselstriche ergeben hier das Bild. Das heißt aber nicht,dass wir uns in kleinteilige Diskussionen verstricken dür-fen. Davor warne ich. Es ist von entscheidender Bedeu-tung, alle Einsparpotenziale zu erschließen, die zu ver-tretbaren Kosten zu erreichen sind. Dabei dürfen wir denBürgern nicht zuviel zumuten – das war und ist die Posi-tion und Entscheidungsgrundlage der Union.

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Volkmar Uwe Vogel

Bei elektrischen Speicherheizungen sehen wir jedocheinen Handlungsbedarf. Rund 1,4 Millionen Wohnungenwerden elektrisch beheizt (2004), sei es durch elektrischeSpeicherheizungen – von denen hier die Rede ist – oderdurch Direktheizungen, wie etwa Fußbodenheizungen.Das ist in etwa jede 25. Wohnung. Zugleich verursachendiese rund 3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen.Elektrische Speicherheizungen sind die größten Strom-verbraucher in deutschen Haushalten. Sie sind schlechtzu regeln und teuer im Unterhalt. Aus Umweltsicht höchstproblematisch bei Nachtspeicherheizungen ist insbeson-dere deren schlechter Wirkungsgrad. Energetischbetrachtet, sind Nachtspeicherheizungen eine Ver-schwendung hochwertiger Energie für die Bereitstellungniederwertiger Raumwärme.

Den Begründungskontext für das Aufkommen undWachstum von Nachtspeicherheizungen in den 50er-,60er- und 70er-Jahren bildeten große Überkapazitätenan Strom in der Nacht und das Interesse der Energiever-sorger, die Kraftwerke möglichst gleichmäßig zu fahren.Insofern wurde durch diese Stromspeicherheizungen undgünstige Nachtstromtarife nachts eine künstliche Nach-frage geschaffen.

Heute sehen wir die Dinge differenzierter: Der wert-volle Strom sollte im Allgemeinen dort eingesetzt werdenwo er wirklich gebraucht wird, das heißt, in elektrischenoder elektronischen Geräten, in elektrischen Antrieben.Eine elektrisch betriebene Raumheizung ist weder wirt-schaftlich noch umweltschonend und daher nicht mehrzeitgemäß. Dies hat in aller Deutlichkeit eine Studie desBremer Energieinstituts aus dem Jahr 2007 gezeigt. DieStudie stellt aber auch fest, dass der Trend zu elektrischenHeizungen im Allgemeinen ungebrochen ist: Der Heiz-stromverbrauch stieg von 1995 bis 2004 um 6 Prozent –und damit stärker als der Gesamtenergieverbrauch fürRaumwärme! Insbesondere für Nachtspeicherheizungengibt es eine Vielzahl an alternativen Erzeugungsformen,wobei im Vergleich bis zu 80 Prozent Primärenergie ge-spart werden können, zum Beispiel durch Holzpellet-Hei-zungen – mit oder ohne Solarkollektor – oder etwa hoch-effiziente Gas-Brennwert-Heizungen.

Eine Außerbetriebnahme alter und heutzutage nichtmehr im Neubau verwendeter Nachtspeicherheizungennützt erstens dem Klima und zweitens der Konjunktur.Nach Berechnungen des Bremer Energieinstituts liegendie spezifischen CO2-Emissionen von Nachstromspei-cherheizungen gegenüber einer Gas-Brennwert-Heizungum den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizungsogar um den Faktor 13 höher. Daher werden wir sienach Maßgabe der Energieeinsparungsverordnung lang-fristig außer Betrieb nehmen. Das hilft dem Klima. Kli-maschutzmaßnahmen verlieren, richtig gemacht, auchangesichts wirtschaftlich schwierigerer Zeiten nicht anLegitimation. Klimaschutz war richtig und bleibt es vordem Hintergrund der Nachhaltigkeit auch unter den jet-zigen, schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingun-gen.

Wir haben in den letzten Monaten zwei Konjunkturpa-kete verabschiedet, um die Wirtschaft anzukurbeln. Vordiesem Hintergrund fügt sich diese Maßnahme gut ein –

auch wenn sie keinen kurz- oder mittelfristigen, sonderneinen langfristigen Charakter hat. Schließlich erfolgt dieAußerbetriebnahme erst ab dem Jahr 2020 stufenweiseund für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen in Wohn-gebäuden mit mindestens sechs Wohneinheiten.

Jenseits von Aspekten des Umwelt- und Klimaschutzessehen wir einen Markt für Umweltinnovationen im Wär-mebereich. Hier ruht ein großes Investitionsvolumen:Aufträge für Heizungsbauer und Installationsgewerbe,Mittelstand und Handwerk.

Ganz entscheidend ist, und dafür steht die Union, dassdie Außerbetriebnahme sozialverträglich und mit Augen-maß geschieht. Genau das erreichen wir durch Förderan-reize einerseits sowie umfangreiche Härtefallregelungenund eine langfristige, stufenweise Verpflichtung zur Au-ßerbetriebnahme andererseits: Das fördert die Akzeptanzfür die Maßnahme bei den Betroffen und die Bereitschaft,den Weg mit zu gehen.

Ganz konkret wird die Außerbetriebnahme von Nacht-speicherheizungen bereits seit Mai 2003 als Einzelmaß-nahme im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungspro-gramms von der KfW gefördert. Daneben bietet auch dasBundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle im Rah-men des Marktanreizprogramms des BMU Förderungenvon Maßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien imWärmemarkt an. Hiermit werden auch kurzfristig Anreizegesetzt, die mit steigenden Stromkosten immer teurer wer-denden Nachstromspeicherheizungen zu ersetzen. Zudemhaben wir in der Novellierung die bestehende Härtefall-reglung noch umfangreicher und zugleich konkreter ge-staltet:

Weiterhin gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit derMaßnahme – für die Union ist das ein entscheidenderGradmesser: Stellt die Umsetzung der Vorgaben einenunangemessenen Aufwand dar oder kann die erforder-liche Aufwendung – auch bei Inanspruchnahme der För-derung – nicht innerhalb einer angemessenen Frist –erwirtschaftet werden, so entfällt die Pflicht zur Außerbe-triebnahme. Wir von der Union sind überzeugt, dass wirmit der langfristigen Außerbetriebnahme von Nachtspei-cherheizungen eine für alle tragbare und sinnvolle Rege-lung gefunden haben.

Die im Antrag der FDP-Fraktion geforderten Maß-nahmen stehen aus Sicht der Union bezüglich Aufwandund Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis. Die Nut-zung elektrischer Speicherheizungen zur Raumbeheizungist aufgrund der technischen Systemeigenschaften defini-tiv nicht mehr zeitgemäß. An diesen grundlegenden Defi-ziten ändert auch etwa die Nutzung von Strom aus erneu-erbaren Energien nicht das Geringste. Daher lehnen wirden Antrag der FDP-Fraktion ab.

Rainer Fornahl (SPD): Am 19. Dezember 2008 hat der Bundestag das Ener-

gieeinsparungsgesetz beschlossen und damit die rechtli-che Grundlage zum Verbot von Nachtstromspeicherhei-zungen geschaffen. Ein Entschließunsantrag der FDP mitgleichlautendem Inhalt wie der hier vorliegende Antragwurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Rainer Fornahl

sodass sich die heutige Debatte eigentlich erledigt hat.Da die Fraktion der FDP ihren Antrag nicht zurückgezo-gen hat und mir ausreichend Redezeit zur Verfügungsteht, werde ich auf einige Irrungen und Wirrungen beider FDP eingehen.

Es ist falsch zu behaupten, dass Nachtstromspeicher-heizungen nicht klimaschädlich sind. Nach einer Studievon IZES/Bremer Energieinstitut sind die spezifischenCO2-Emissionen gegenüber einer Gas-Brennwerthei-zung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Hei-zung sogar um den Faktor 13 höher. 1,4 Millionen Woh-nungen (jede 25.) werden derzeit in Deutschlandelektrisch beheizt. Die moderne und umweltverträglicheWärmeversorgung mit erneuerbaren Energien und hoch-effizienten Nah- oder Fernwärmesystemen könnte durchSubstituierung von elektrischer Raumheizung bis zu80 Prozent der Primärenergie sparen und die Emissionendes klimaschädlichen CO2 um über 80 Prozent reduzie-ren. Mindestens 23 Millionen Tonnen CO2/a könnendurch den Ersatz von Nachtstromspeicherheizungen ein-gespart werden.

Die im Antrag erwähnte parlamentarische Anhörungdes Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungam 10. November 2008 hat hier auch nichts anderes er-geben. Die FDP greift in ihrem Antrag im ersten Spiegel-strich ein von einem Experten entwickeltes Argument zumEmissionshandel auf. Demnach werden die durch wegfal-lende Nachtspeicher nicht mehr benötigten Emissions-rechte im Emissionshandel einfach für andere Stromver-braucher frei und führen damit nicht zu einer Minderungder Emissionen. Diese Argumentation ist formal nichtfalsch, berücksichtigt aber nicht, dass die jetzt geltendenEmissionshandel-Richtlinien („Kioto“) für die Jahre2007 bis 2012 gelten, während die Außerbetriebnahme-regelung erst ab dem 1. Januar 2020 wirksam wird. FürEmissionshandel der dritten Periode ab 2013 werdenzwar erste Verhandlungen geführt. Rechtsrelevante Emis-sionsregelungen für diese sogenannte Post-Kioto-Peri-ode existieren aber noch nicht. Selbstverständlich würdenbei der Festlegung künftiger Emissionshandelsobergren-zen die in diesen Zeitabschnitt fallenden Einsparungenaufgrund ordnungsrechtlicher Einzelpflichten berück-sichtigt. Je mehr Einsparungen im Strombereich durchAußerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen,den Einsatz effizienter Geräte und andere Maßnahmenerreicht werden können, umso niedriger kann das Cap fürdie dritte Handelsperiode sein. Die Außerbetriebnahme-pflicht führt daher insgesamt nicht zum Anstieg, sondernzur dauerhaften Minderung der deutschen Treibhausgas-emissionen.

Der Hinweis in dem Antrag, dass die Nachtstromspei-cherheizungen von den Energieversorgungsunternehmenin der Vergangenheit insbesondere in der Nähe von Koh-lekraftwerken gezielt gefördert wurden, um diese nachtsaufgrund der Lasttäler nicht zu sehr drosseln zu müssenbzw. das Netz vor Überspannung zu schützen, ist richtig.Seit der Liberalisierung der Energiewirtschaft Ende der90er-Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für dieVersorgung mit Elektrizität aber grundlegend geändert.Physikalisch gleicher Strom wird nunmehr ökonomisch,ökologisch und im Zeitgang differenziert weit über die

Landesgrenzen hinaus gehandelt. Eine bessere Regelbar-keit der Kraftwerke, die Verstärkung der europäischenund nationalen Verbundnetze, der Ausbau der Windener-gie und vieles andere mehr haben die technischen Gege-benheiten erheblich verändert. Deshalb und aufgrund derökologischen Nachteile der Nachtstromheizungen ist zum31. Dezember 2006 auch die Steuerermäßigung für Stromzum Betrieb von Nachtspeicherheizungen, die vor dem1. April 1999 installiert wurden, ausgelaufen. Zum Aus-gleich wird seit Mai 2003 der Ersatz von elektrischenNachtspeicherheizungen im Rahmen des mit Bundesmit-teln ausgestatteten KfW-CO2-Gebäudesanierungspro-gramms als Einzelmaßnahme gefördert.

Bei allen im vorliegenden Antrag zur Rettung derNachtstromspeicherheizungen beschworenen zukünfti-gen technologischen Entwicklungen und einem modernenLastenmanagement bleibt, dass elektrische Widerstands-heizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie fürdie Bereitstellung niederwertiger Raumwärme darstel-len. Um Panik zu vermeiden, sollten die Kollegen von derFDP vielleicht einfach nur sorgfältig den vom Bundeska-binett beschlossenen Entwurf zur Energieeinsparverord-nung 2009 lesen, die hoffentlich bald ihre klimapolitischsegensreiche Wirkung entfalten kann.

Nachtstromspeicherheizungen sollen langfristig undstufenweise außer Betrieb genommen werden. Nach Ab-lauf des Jahres 2019 dürfen die ersten Anlagen mit einemAlter von mindestens 30 Jahren nicht mehr betriebenwerden. Den Eigentümern und indirekt auch den Herstel-lern wird damit eine langfristige zeitliche Perspektive ge-geben. Die Kosten für den Austausch zum Beispiel gegeneinen Brennwertkessel sind zwar hoch (Einfamilienhaus:etwa 18 500 Euro, Mehrfamilienhaus mit sechs Wohnein-heiten: etwa 36 000 Euro). Die Regelung gilt aber nur fürältere Wohngebäude mit mehr als fünf Wohneinheiten undähnlich große Nichtwohngebäude. Ein größerer Anwen-dungsbereich ist den Betroffenen gegenwärtig wirtschaft-lich unzumutbar. Härtefallklauseln sollen sicherstellen,dass niemand persönlich, wirtschaftlich oder finanziellüberfordert wird. Bundesregierung und Koalition beab-sichtigen jedoch, in den nächsten Jahren den Austauschim Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogrammsnach Maßgabe der durch den Haushalt zur Verfügung ge-stellten Mittel zu fördern.

Ich glaube, dies macht deutlich, dass es nicht um denUntergang des Abendlandes geht. Ich kann der FDP aberwenigstens eine kleine Hoffnung machen, dass es 2020doch nicht zu dem sanktionsbewehrten Verbot kommenmuss. Die Preiskalkulation für Strom für elektrische Wi-derstandsheizungen beruht insbesondere auf einem ex-trem niedrigen Wert für Netznutzungsentgelte – im Bun-desschnitt 2 Cent/kWh, weit weniger als ein Drittel derregulären Netznutzungsentgelte im Niederspannungsbe-reich. Dies dürfte sich aus rechtlichen, betriebswirt-schaftlichen und betriebstechnischen (zum Beispiel Ver-änderung des Kraftwerksparks, bessere Regelbarkeit derKraftwerke) Gründen zunehmend ändern. Einige Strom-anbieter haben bereits ihre Tarife nach oben korrigiertbzw. preisgünstige Sondertarife nicht verlängert. Einrealistisch kalkulierter Preis für Elektroheizungen müsstebei 15 bis 16 Cent/kWh liegen. Das liegt jenseits der

Zu Protokoll gegebene Reden

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Rainer Fornahl

Energiepreise, die für die sonst üblichen Heizsysteme an-zusetzen sind (zum Beispiel Erdgas circa 7 Cent/kWh).Würden die Strompreise für Elektroheizungen auf diesesNiveau angehoben, würde sich der Druck stark erhöhen,diese Heizungen schnellstmöglich zu ersetzen. Ganz imSinne der FDP würde der Markt die Frage des Verbotsbeantworten.

Ich befürchte allerdings, dass dann der Mieter dasNachsehen hätte. Deshalb ist die gefundene Regelung,mit der über einen langen Zeitraum geplant werden kann,sinnvoll und vernünftig und im Sinne von Energieeffizienzund Klima-Verantwortung ohne ernsthafte Alternative.Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorlie-genden FDP-Antrag ab.

Michael Kauch (FDP): Die Bundesregierung will den Ersatz der von ihr als

„extrem klimaschädlich“ empfundenen Nachtstromspei-cherheizungen in Wohnhäusern rechtlich erzwingen. Esreicht ihr dabei nicht, einfach nur den weiteren Zubauvon Nachtstromspeicherheizungen zu verbieten, vielmehrsollen auch die im Gebäudebestand bereits in Betrieb be-findlichen Nachtstromspeicherheizungen entfernt werdenmüssen.

Mit dem verabschiedeten Energieeinspargesetz hat dieKoalition die rechtliche Grundlage für ihr geplantes Ver-bot geschaffen. Dabei ließ sie die Ergebnisse einer zu die-sem Thema durchgeführten parlamentarischen Experten-anhörung außer Betracht. Dies ist auch nachvollziehbar;denn die Anhörung ergab gravierende Zweifel am klima-und energiepolitischen Sinn der Maßnahme.

Eine erzwungene Außerbetriebnahme von Nacht-stromspeicherheizungen ist aus mehreren Gründen abzu-lehnen; denn sie ist sowohl aus der Perspektive der Res-sourcenschonung als auch des Klimaschutzes sinnlos undkontraproduktiv. Eine Außerbetriebnahme von Nacht-stromspeicherheizungen führt in der Gesamtbetrachtungnicht zu einer Emissionssenkung. Nein, im Gegenteil!Diejenigen Haushalte, in denen Nachtstromspeicherhei-zungen außer Betrieb genommen werden, würden sich ge-zwungen sehen, neue Heizungsanlagen einzubauen. Inden Fällen, in denen diese mit fossilen Brennstoffen be-trieben würden, entstünden dann zusätzliche CO2-Emis-sionen. Denn Emissionen von Gasheizungen sind nichtdurch den Emissionshandel mit seinen festen CO2-Ober-grenzen erfasst – der Strom für die Nachtspeicherheizun-gen schon. Im Ergebnis werden deshalb die CO2-Emis-sionen kurzfristig ansteigen, wenn die Bundesregierungdie Verordnungsermächtigung in die Tat umsetzt. DasVerbot steht damit in unmittelbarem Widerspruch zu demZiel, das es vorgibt, erreichen zu wollen. Eine effizienteNutzung von modernisierten Nachtstromspeicherheizun-gen in einem schlüssigen Konzept aus Energiespeiche-rung und modernem Lastmanagement würde dagegen zurOptimierung der Energieausbeute beitragen. Schließlicherscheint eine Modernisierung bestehender Nachtstrom-speicherheizungen deutlich kostengünstiger und auchenergiepolitisch sinnvoller als deren aufwendige Entfer-nung.

Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher die Bun-desregierung auf, ungeachtet einer zwischenzeitlich ge-schaffenen Ermächtigungsgrundlage die bestehendenPläne zur erzwungenen Außerbetriebnahme von Nacht-stromspeicherheizungen in der bisherigen pauschalenForm nicht weiter zu verfolgen.

Stattdessen sind sinnvollere Maßnahmen zu ergreifen:Eigentümern von Nachtstromspeicherheizungen müssendie Vorteile des liberalisierten Strommarktes zugänglichgemacht werden, da der Wechsel zu anderen und billige-ren Anbietern für diese Stromkunden immer noch nichtmöglich ist.

Die aufseiten der Netzregulierung erforderlichen Re-gelungen für die Einführung intelligenter Zähler müssenunverzüglich erarbeitet werden, um das Angebot lastab-hängiger Tarife zu ermöglichen und Wettbewerbern – mitZustimmung des Stromkunden – einen Zugang zu den Ver-brauchs- und Lastdaten zu geben, die für die Erstellungsolcher neuartiger Wettbewerbsangebote erforderlichsind. Dazu gehören aus Sicht der FDP-Bundestagsfrak-tion Standards für die technischen Anforderungen anZähler, insbesondere hinsichtlich der Fernauslesbarkeit,der Fernsteuerbarkeit und der Datenformate.

Überdies sind im Dialog mit den Netzbetreibern dieregulatorischen Voraussetzungen zu prüfen, wie Nacht-stromspeicherheizungen in Smart-Grid-Konzepte ein-gebunden werden können, die ihre Nutzung als Wärme-energiespeicher insbesondere auch für Strom auserneuerbaren Energien erlauben bzw. optimieren.

Schlussendlich muss die Bundesregierung dem Deut-schen Bundestag ein widerspruchsfreies und hinsichtlichseiner Bestandteile aufeinander abgestimmtes, konsis-tentes Konzept für einen wirksamen und zugleich wirt-schaftlichen Klimaschutz im Rahmen des europäischenEmissionshandels vorlegen, statt sinnlose und kontrapro-duktive Maßnahmen zu verfolgen, die einem langfristigenKlimaschutz entgegenstehen.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Mit ihrem Festhalten an den ineffizienten und klima-

schädlichen Nachtstromspeicherheizungen macht sichdie FDP zum Handlanger der Kohle- und Atomkonzerne.Das rasante Wachstum der erneuerbaren Energien er-möglicht einen Ausstieg aus Kohle und Atom. Mit den fos-silen Energieträgern werden auch die Nachtstromspei-cherheizungen überflüssig. Wenn das die FDP nunblockiert, kann sie es nicht ernst meinen mit der Ener-giewende.

Nachtstromspeicherheizungen wurden erfunden fürdie Kohle- und Atomkraftwerke. Weil die nachts ihre Leis-tung nicht herunterfahren konnten, musste der Stromirgendwie verbraucht werden. Nachtstromspeicherhei-zungen und fossile Kraftwerke ergänzen sich dabei ge-genseitig: Die Heizungen kriegen günstigen Nachtstrom,die Kraftwerke können mehr Strom verkaufen. Von einemWeiterbetrieb der Nachtstromspeicherheizungen würdenalso vor allem unflexible Kohle- und Atomkraftwerke pro-fitieren. Energieeffizienz und erneuerbare Energien blei-ben auf der Strecke.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Eva Bulling-Schröter

Nachtspeicheröfen verursachen im Vergleich zu ande-ren Heizungssystemen die höchsten CO2-Emissionen unddarüber hinaus die mit Abstand höchsten Kosten bei derRaumheizung. Die in 1,4 Millionen Wohnungen instal-lierten Geräte verbrauchen den Strom von fünf großenBraunkohlekraftwerken. Da sie zudem überproportionalhäufig in alten Mietwohnungen installiert sind, müssenhäufig ärmere Familien draufzahlen, oder der Steuerzah-ler kommt über das Arbeitslosengeld II für die exorbitan-ten Heizkosten auf.

Vom BMU war ursprünglich vorgesehen, einen Ersatzder Nachtspeicheröfen mit festgelegten und überschau-baren Fristen vorzuschreiben. Das BMWi hat hier zahl-reiche Befreiungs- und Härtefallregeln hineinverhandeltund zudem die Fristen zum Austausch auf spätestens 2020bzw. 30 Jahre nach der Installation festgelegt. Der ökolo-gische und ökonomische Unfug wird also frühestens 2038endgültig beendet, wobei noch unklar ist, ob es finanzielleAnreize zum Austausch geben wird. In Wohngebäuden mitweniger als sechs Wohneinheiten oder weniger als500 Quadratmetern Nutzfläche braucht gleich überhauptnichts zu passieren. Vielleicht wurde hier so halbherzigvorgegangen, weil Nachtspeicheröfen den Energiever-sorgern ihr geliebtes Geschäft mit dem Nachtstrom si-chern.

Nicht nur im Stromsektor, auch im Wärmebereich müs-sen wir umsteuern. Dazu ist ein Abschied von den Nacht-stromspeicherheizungen ein notwendiger erster Schritt.Denn Heizen mit Strom ist höchst ineffizient. WertvolleEnergie wird verschwendet, wenn die Wärme im Kraft-werk zunächst in Strom umgewandelt wird, nur um an-schließend wieder in Wärme verwandelt zu werden. Solcheine Energieverschwendung können wir uns in Zeitensteigender Energiepreise einfach nicht leisten!

Die Alternativen zur klassische Öl- und Gasheizungmüssen endlich durchgesetzt werden: Vor allem der An-schluss an Nah- oder Fernwärme kann enorme Mengendes Klimakillers CO2 einsparen. Sinnvoll ist auch eindeutlich höherer Anteil von erneuerbaren Energien imWärmebereich, wie Solaranlagen zur Warmwasserberei-tung. Nach einer Studie des Instituts für Zukunfts-Ener-gie-Systeme und des Bremer Energie-Instituts kanndadurch bis zu 80 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespartwerden.

Das Hauptfeld und die kostengünstigste Option zuCO2-Einsparungen ist und bleibt im Übrigen die Wärme-dämmung, vor allem im Gebäudebestand. Doch die hat jadie Bundesregierung in ihrer Verordnung gerade vonPflichten zur energetischen Gebäudesanierung befreit.

Kommen wir noch einmal zu den konkreten Plänen derBundesregierung, Natürlich ist die Umstellung vonNachtspeicherheizungen auf Alternativen mit Kosten ver-bunden, die sich nicht alle leisten können. Daher ist esrichtig, dass die Regierung ein Förderprogramm aufle-gen möchte. Auch Ausnahmen und Härtefälle kann es ge-ben. Sie müssen jedoch viel enger begrenzt werden als ge-genwärtig geplant. Sie dürfen schlicht nicht dazu führen,dass praktisch nichts passiert! Vom Aus der Nachtspei-cherheizungen wird nicht nur das Klima profitieren. Vorallem die Mieterinnen und Mieter können bei den Ener-

giekosten sparen. Die explodierenden Strompreise sinddoch nicht zu übersehen. Deswegen ist es richtig, wennjetzt Geld in die Hand genommen wird, um langfristigKosten einzusparen.

Fassen wir zusammen: Die ineffizienten Nachtstrom-speicherheizungen machen nur Sinn in Kombination mitKohle- und Atomkraftwerken. Wir sind aber auf dem Wegins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Deswegen brau-chen wir neue, umweltfreundliche Heizsysteme. Die gibtes bereits. Nur die Atomfreunde der FDP wollen weiter-hin Energie verschwenden. Dazu sagen wir von der Lin-ken ganz klar: Nein! Die Nachtstromspeicherheizungenmüssen sozialverträglich durch klimafreundliche Heizun-gen ersetzt werden.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zunächst einmal ist bemerkenswert, wie hartnäckig

die FDP dieses Thema verfolgt. Allerdings sollten hierdie Fakten nicht verdreht werden. In der im Antrag er-wähnten parlamentarischen Expertenanhörung war esdurchaus nicht so, dass sich eine breite Mehrheit gegendas Verbot von Nachtstromspeicherheizungen aussprach.Im Gegenteil, nur der von der Fraktion der FDP eingela-dene Professor Weimann war ein glühender Verfechterdieser Heizungsart. Allerdings – und das musste auchProfessor Weimann anerkennen – funktioniere seine Theo-rie auch nur auf der Basis eines weltweit funktionieren-den Emissionszertifikatehandels. Dass es diesen – noch –nicht gibt, dürfte auch der FDP nicht verborgen geblie-ben sein.

Die Änderung der Energieeinsparungs-Verordnung,EnEV, bezüglich der elektrisch betriebenen Nachtstrom-speicherheizungen ist unter dem Strich sinnvoll, vor allem,wenn man sich den Gesamtwirkungsgrad ansieht, dasheißt die thermische Erzeugung von Strom, um dann ausStrom wieder Wärme zu machen. Es ist mit Sicherheit einFehler gewesen, in manchen Kommunen den Einsatz vonNachtstromspeicherheizungen vorzuschreiben. Dagegengewehrt haben sich die EVU aber nicht. Denn es istdurchaus von ihnen auch eine unmerkliche Abhängigkeitder Kunden befördert worden. Viele dieser Kunden merkenheute, nachdem auch Sondertarife für Nachtstromspeicher-heizungen angehoben wurden, die neue Unfreiheit schmerz-haft an den monatlichen hohen Abschlagszahlungen. Dennso preiswert, wie einmal versprochen wurde, ist Stromschon lange nicht mehr. Deshalb liegt der Verdacht nahe,dass die FDP hier zwar als Retter der Verbraucher auf-tritt, in Wirklichkeit aber die Interessen der großen Ener-gieversorgungsunternehmen vertritt.

Interessant wäre die Antwort auf die Frage, ob ein Ersatzvon Nachtstromspeicherheizungen auch dann sinnvollwäre, wenn sie ausschließlich mit Strom betrieben würden,der aus regenerativen ungeregelten Energieumwandlungs-systemen stammt. Die Bundesregierung hat sich diesbe-züglich nicht äußern können oder wollen. Die Antwortkönnte in den kommenden Jahren stärker ins Zentrum derDiskussion rücken, nämlich dann, wenn es zu temporärenStromüberangeboten aus regenerativen Quellen kommt.Fraglich ist allerdings auch dann noch, ob ein „Edel“-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Peter Hettlich

Energieträger wie Strom im Wärmemarkt überhaupt ein-gesetzt werden sollte – zumindest im größeren Maßstab.

Der Gebrauch von Elektroheizungen und Nachtstrom-speicherheizungen zementiert zudem den bestehendenKraftwerkspark, basierend auf thermischen Großkraft-werken, und verhindert eine dezentrale Struktur. Konden-sationskraftwerke auf Dampfturbinenbasis haben einenWirkungsgrad von mehr als 30 Prozent bis weniger als50 Prozent, wobei Atomkraftwerke besonders ineffizientsind. Diese Kraftwerkstypen und damit die Struktur desEnergiemarktes würden damit gestützt. Die Folge ist,dass die Hälfte bis zwei Drittel des eingesetzten Brenn-stoffes nicht genutzt und als „Wärmemüll“ in die Umweltabgegeben werden. Ziel muss es sein, diese Verluste zuminimieren. Dazu ist aber der Ausbau einer dezentralenEnergieversorgungsstruktur auf Basis der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK, notwendig. Diese wird jedoch durch dasFesthalten an alten Strukturen verhindert. Die FDP istBremserin einer zukunftsfähigen Energiepolitik.

Insofern wirft sie auch mit dem Titel ihres AntragesNebelkerzen. Wenn das, was im Antrag gefordert wird,Realität würde, wird ziemlich genau das Gegenteil vondem erreicht, was erreichen zu wollen die FDP vorgibt:Die Chancen für erneuerbare Energien und für den Klima-schutz würden eher verschlechtert denn verbessert. Des-halb lehnen wir Ihren Antrag ab.

Statt sich auf eine kleinteilige Lobbyarbeit zu reduzie-ren, sollte die FDP endlich unseren vielfältigen Vorschlä-gen folgen. Denn wenn wir so weitermachen, wird esmehr als 150 Jahre dauern, bis der Gebäudebestand aufeinen vernünftigen energetischen Standard gebracht ist.Das ist unverantwortlich gegenüber unseren nachfolgen-den Generationen. Daher lohnt es sich, nochmals unserewesentlichen Forderungen aufzuführen. Wir müssen derAufklärung und der qualifizierten Beratung der Gebäu-denutzer eine stärkere Aufmerksamkeit schenken. 20 bis30 Prozent der Einsparungen lassen sich alleine durchein verändertes Heizverhalten und mit einem vergleichs-weise geringen Mitteleinsatz durch Beratung erreichen.Wir müssen endlich verbindliche und realistische Ge-bäude-Effizienzstandards für Bestands- und Neubautensetzen, deren Wirkungen auf die kurzfristigen – bis 2020 –und langfristigen – bis 2050 – Klimaschutzziele ausge-richtet sind. Wir müssen ein Recht der Mieter bzw. Nutzerauf Einhaltung dieser Effizienzstandards einräumen. Wirmüssen die stärkere Berücksichtigung von Lösungsansät-zen in der Förderpolitik beachten, mit denen die größtenKlimaschutz- und Einsparpotenziale bei geringstem Mit-teleinsatz gehoben werden können. Wir müssen baulicheund modulare Lösungen in der energetischen Gebäude-sanierung von heute fördern, die uns bei der Erreichungder langfristigen Ziele morgen nicht im Wege stehen. Wirmüssen zusätzliche Sanierungshilfen und Lösungen fürökonomisch schwache Vermieter oder Hauseigentümereinführen, insbesondere in den peripheren RegionenDeutschlands. Wir müssen schließlich endlich einen Ener-gieausweis vorschreiben, der die energetische Qualität ei-nes Gebäudes tatsächlich abbildet und nicht als unseriöseLachnummer im Internet für Dumpingpreise von 1,99 Euroersteigert werden kann.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11193 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Sicherheit in der Informationstech-nik des Bundes

– Drucksachen 16/11967, 16/12225 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage-gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Die KolleginGisela Piltz hat sich als Einzige in dieser Aussprache zuWort gemeldet. Die anderen Reden nehmen wir zu Pro-tokoll. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit der Kol-legin Piltz widmen.

(Beifall bei der FDP)

Gisela Piltz (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei

dem Titel dieses Gesetzentwurfs, der sehr spät auf derTagesordnung steht – aus meiner Sicht leider zu spät fürein Gesetz, dessen Konsequenzen sich die meisten von Ih-nen, wie ich glaube, noch gar nicht klargemacht haben –,denkt man zunächst an nichts Schlimmes. Gegen Sicher-heit von Computern und der Informationstechnik kannman erst einmal nichts haben. Das ist völlig richtig. DiePannen mit Meldedaten oder auch andere Vorfälle zei-gen uns ganz deutlich: Diese Sicherheit muss Prioritäthaben.

Nur, da hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht;denn wo Sicherheit draufsteht, ist bei dieser Bundesregie-rung meist auch Überwachung drin. Auch die martiali-sche Wortwahl des Bundesinnenministers, Herr Staatsse-kretär, im Zusammenhang mit dem geplanten BSI-Gesetzlässt einiges ahnen. In der Pressekonferenz zum Arbeit-nehmerdatenschutz am 16. Februar 2009 sprach er dies-bezüglich vom Cyber-War, also vom Krieg. Ich finde, dasist nicht ganz angemessen. Natürlich gehört die Informa-tionstechnik zu den kritischen Infrastrukturen eines Staa-tes. Natürlich ist es notwendig, diese zu schützen. Darinsind wir uns alle einig. Natürlich würde im Falle einerkriegerischen Auseinandersetzung jeder versuchen, dieIT-Strukturen anzugreifen und zu sprengen. Aber bei Ha-ckerangriffen, Viren und Würmern von Cyber-War zusprechen, ist wohl doch etwas überzogen und impliziertwieder Kategorien des Kriegsrechts. Ich sage es einmalganz überspitzt: Ein Feindstrafrecht für Hacker darf esaus unserer Sicht nicht geben.

(Beifall bei der FDP)

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Gisela Piltz

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech-nik bekommt neue Aufgaben. Das hat mit Sicherheit lei-der nur begrenzt etwas zu tun. Das BSI bekommt Aufga-ben, die weit darüber hinausgehen, nämlich durch dieZertifizierung von Verschlüsselungstechnologien oderÄhnlichem die Sicherheit in der IT des Bundes zu ver-bessern. Die neuen Aufgaben zur automatisierten Erhe-bung und Auswertung von Protokolldaten an denSchnittstellen der Behörden bedeuten im Klartext: Werdie Seiten des Bundesverwaltungsamts, des BKA, desBMI oder anderer Behörden des Bundes im Internet auf-ruft, dessen Eingaben, Klicks und Verweildauer auf denSeiten werden gespeichert und ausgewertet, und zwarohne Anonymisierung und ohne Pseudonymisierung,nämlich im Klartext. Damit kann das BSI die gesamteKommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit Behör-den abhören und auswerten, den Besuch von Internetsei-ten, E-Mails, Internettelefonie und Chats. Wir finden,das geht zu weit.

(Beifall bei der FDP)

Damit aber leider nicht genug. Diese Daten dürfendann auch noch an die Sicherheitsbehörden weitergege-ben werden, an die Polizei, an die Staatsanwaltschaftenund ebenso an die Nachrichtendienste. Das BSI wird zurallgemeinen Polizei- und Schnüffelbehörde; denn es sollnicht nur Hacker und Trojaner verfolgen, sondern allemauf die Spur kommen, was vielleicht illegal im Netz ist.Weil bei so viel Schnüffelei auch einmal etwas Privatesdabei sein könnte, sollen „Erkenntnisse aus dem Kernbe-reich privater Lebensgestaltung“ im Zweifel entwedergelöscht werden oder – das, Herr Staatssekretär, ist wirk-lich einmalig – „unverzüglich dem Bundesministeriumdes Innern“ vorgelegt werden.

(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der Treuhänder der Daten!)

Zu Risiken und Nebenwirkungen der Telekommunika-tion für die Menschen fragen Sie bitte Ihr freundlichesBMI! Ich glaube, so hat sich das Bundesverfassungsge-richt das wirklich nicht vorgestellt.

(Beifall bei der FDP)

Da steht nichts von einer unabhängigen richterlichenKontrolle. Da steht nichts davon, dass Eingriffe in denKernbereich erst einmal zu unterbleiben haben, so wie esuns das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gegebenhat. Erst einmal wird automatisch aufgezeichnet. Wieaus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage spricht da-raus: Die Bundesregierung hält den Kernbereichsschutzoffensichtlich nur für ein Beweisverwertungsverbot.Auch da haben Sie das Bundesverfassungsgericht falschverstanden.

Immerhin hat das der Bundesrat in seiner bemerkens-werten Stellungnahme deutlich hervorgehoben. Bei derGegenäußerung der Bundesregierung muss aus meinerSicht hingegen von einem vorgezogenen Aprilscherzausgegangen werden. Da steht:

Die Daten werden auch nicht anlasslos erhoben,sondern nur, um Gefahren für die Informationstech-nik des Bundes abzuwehren.

Ich versuche einmal, mir das im nicht virtuellen Raumvorzustellen: Die Polizei erhebt Daten von allen Auto-fahrern an allen Autobahnauffahrten – also Kennzei-chen, Geschwindigkeit, Zahl der Insassen –, weil einVerkehrssünder dort fahren könnte. Das entspräche dem,was Sie hier vorhaben. Ich finde, das geht nun wirklichviel zu weit.

(Beifall bei der FDP)

Mehr Sicherheit in der IT setzt übrigens Transparenzvoraus. Gerade hier wird aber ein Riegel vorgeschoben.Findet das BSI Schadsoftware oder spürt es Sicherheits-lücken auf, braucht es das der Öffentlichkeit nicht mitzu-teilen, obwohl das eigentlich Sinn der Sache wäre.

Mit diesem Gesetzentwurf soll auch das Telemedien-gesetz geändert werden. Der Dienstanbieter soll nachdem Willen der Bundesregierung künftig nicht nur Ver-bindungsdaten, sondern auch Nutzungsdaten erheben.Das heißt, er soll feststellen, wer wie lange auf welcherSeite im Internet gewesen ist. Auch das ist eine neue Qua-lität Ihres Handelns und öffnet dem „gläsernen Surfer“wirklich Tür und Tor. Der Bundesrat hat zum Glück inseiner Stellungnahme, dem Vorschlag Hessens und Ba-den-Württembergs folgend, eine Einschränkung vorge-schlagen: Nur bei konkretem Verdacht soll die Möglich-keit zur Aufzeichnung erlaubt sein. Wir hoffen, dass sichdie Bundesregierung dem anschließt.

Ich glaube, ich bin die letzte Rednerin des heutigenTages. Ich darf mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanken,dass Sie so viel Geduld aufgebracht haben. Ich bedankemich aber auch bei denen, die hinter den Kulissen fünfMinuten länger arbeiten müssen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vielen Dank. – Die übrigen Reden werden zu Pro-

tokoll genommen. Es handelt sich um die Reden vonClemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD,Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen1).

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf den Drucksachen 16/11967 und 16/12225 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das istnicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Das war eben zwar die letzte Rede, aber wir habennoch eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten abzu-arbeiten. Ich bitte, mich dabei noch ein wenig zu beglei-ten; denn allein kann ich das nicht machen.

(Heiterkeit – Iris Gleicke [SPD]: Wir sind ganztreu, Herr Präsident! – Ulrich Kelber [SPD]:Wir lassen Sie nicht im Stich!)

– Im Übrigen brauche ich Sie auch noch zur Abstim-mung.

1) Anlage 7

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. PetraSitte, Monika Knoche, Heike Hänsel, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Öffentlich finanzierte Pharmainnovationenzur wirksamen Bekämpfung von vernachläs-sigten Krankheiten in den Entwicklungslän-dern einsetzen

– Drucksache 16/12291 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f)Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Es handelt sichum die Reden der Kolleginnen und Kollegen MichaelKretschmer, CDU/CSU, René Röspel, SPD,Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP,Dr. Petra Sitte, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Michael Kretschmer (CDU/CSU): Gesundheit ist im wahrsten Sinn des Wortes ein kost-

bares und kostspieliges Gut. Die Bundesregierung inves-tiert in den pharmazeutischen und biomedizinischen Be-reich in beträchtlichem Umfang. Allein für die vomBundesministerium für Bildung und Forschung eingelei-tete „Pharma-Initiative“, die die Erforschung und Ent-wicklung von neuen Medikamenten zum Ziel hat, werdenbis zum Jahr 2011 über 800 Millionen Euro investiert.Und gerade für den Bereich der vernachlässigten Krank-heiten gibt es seit Jahren viele internationale Initiativen.

So stellen wir uns einmal mehr die Frage, wieso wirgerade im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten nurlangsam vorankommen. Dabei geht es immerhin um dasLeiden und Sterben von vielen Millionen Menschen jähr-lich. Nicht nur an den drei großen todbringenden Krank-heiten – Tuberkulose, Malaria und Aids – sterben jährlich6 Millionen Menschen. Auch an scheinbar banalenDurchfall- und Atemwegserkrankungen und an armuts-bedingten Tropenkrankheiten, wie etwa der Schlafkrank-heit oder Lepra, sterben Millionen Erwachsene und Kin-der.

Laut Bericht der WHO sind mehr als eine MilliardeMenschen mit einer oder mehreren vernachlässigtenKrankheiten infiziert. Der Grund: Neben unsauberemTrinkwasser und mangelnden sanitären Anlagen fehlt esin vielen Teilen der Welt immer noch an einer hinreichen-den gesundheitlichen Versorgung. Immer noch ist einDrittel der Weltbevölkerung von einer essenziellen medi-zinischen Versorgung ausgeschlossen. Eine der Hauptur-sachen ist der enorme finanzielle und zeitliche Aufwandfür die Entwicklung von Medikamenten wie Impfstoffen.Das Risiko, dass sie es nicht bis zur Produktionsreifeschaffen, ist dabei so hoch, dass viele Pharmaunterneh-men die Finger davon lassen.

Der Markt für Impfstoffe gegen Armutskrankheiten isthiervon besonders betroffen. Pharmafirmen sehen hier

keine ökonomischen Anreize, weshalb sie die Forschungin diesem Bereich kaum vorantreiben. Um sich eine Vor-stellung davon zu machen, über welche Beträge wir beider Entwicklung eines Impfstoffs sprechen: Die Impfstoff-entwicklung lässt sich grob in drei Stufen aufteilen: In derersten Stufe wird Grundlagenforschung betrieben. Siekostet bis zur präklinischen Forschung mehrere Millio-nen Euro. In der zweiten Stufe erfolgt die Prüfung der To-xizität und die Weiterentwicklung bis zum Eintritt in dieklinische Phase. Diese verschlingt wiederum einige Mil-lionen Euro. Dabei muss man wissen, dass bis hier völligunklar ist, ob es sich überhaupt um einen erfolgverspre-chenden Impfstoffkandidaten handelt oder nicht. Diedritte Stufe umfasst die klinischen Studien. Diese teilensich in drei Phasen auf. In der ersten Phase erfolgt für ei-nige Millionen Euro die Sicherheitsprüfung. In der zwei-ten Phase erfolgt für um die zehn Millionen Euro die Prü-fung von Sicherheit und Effektivität. Und in der drittenPhase erfolgt die Prüfung der Schutzwirkung, welcheüber viele Jahre hinweg durchgeführt wird und bei der dieKosten schnell bis an den dreistelligen Millionenbereichgelangen. Die dritte Stufe ist also die kosten- und zeitin-tensivste der ganzen Entwicklung. Das sind alles grobeSchätzwerte, die von Studie zu Studie divergieren. Aberich glaube, es ist deutlich geworden, weshalb wir ange-sichts der Kosten und des Risikos Probleme haben, phar-mazeutische Unternehmen zu bewegen, Grundlagenfor-schung für die Bekämpfung von vernachlässigtenKrankheiten zu betreiben.

Pharmazeutische Unternehmen sind zunehmend nurnoch bereit, an bereits vorliegenden, erfolgversprechen-den Impfstoffkandidaten mit hinreichenden Informatio-nen aus der präklinischen und frühen klinischen Ent-wicklung weiterzuforschen. Das heißt, sie kaufen dieImpfstoffkandidaten zu Beginn der dritten, kostspieligenund zeitaufwendigen Stufe der Impfstoffentwicklung undforschen weiter. Die Gefahr, dass der Impfstoffkandidatungeeignet ist, ist zu diesem Zeitpunkt geringer. Trotzdemschafft es nur ein kleiner Teil bis zur Zulassung. Wie be-gegnen wir diesem Problem? Auch wenn wir den Druckauf die Pharmaunternehmen stetig erhöhen, können wirsie doch nicht zur Forschung zwingen. Die Bundesregie-rung fährt aus diesem Grund seit einigen Jahren einenanderen zielführenden Weg. Das Bundesministerium fürBildung und Forschung hat sich bereits mehrfach an derEntwicklung erfolgversprechender Impfstoffkandidatenbeteiligt, indem es die von Agenturen wie der VakzineProjekt Management GmbH (VPM) betriebene Impfstoff-entwicklung von der Grundlagenforschung bis hin zurfrühen klinischen Forschung fördert, also bis zu derPhase, an der Pharmaunternehmen zur Übernahme undFortführung der Forschung bereit sind. Durch diese För-derung erhalten Impfstoffkandidaten mit einem hohenForschungsrisiko und einer wichtigen gesundheitspoliti-schen Bedeutung überhaupt erst die Chance auf Weiter-entwicklung in der sehr aufwendigen und kostspieligenPhase der klinischen Entwicklung.

Dabei fördert das Bundesministerium für Bildung undForschung nicht nur die Grundlagenforschung und Wei-terentwicklung von Impfstoffkandidaten, die es ohnediese Initiative nicht geben würde. Es bemüht sich auch

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Michael Kretschmer

aktiv um die Verwertung und weitere Entwicklung derForschungsergebnisse und darum, günstige Lizenzkondi-tionen für Verkäufe von Medikamenten in Entwicklungs-länder zu vereinbaren. Der Verhandlungsspielraum istdurch die Schwierigkeit, Interessenten für die Weiterent-wicklung von Impfstoffen für vernachlässigte Krankhei-ten zu finden, eingeschränkt. Aber erst und nur durchdiesen Weg kommt der Impfstoff überhaupt seiner An-wendung näher. Und die durch den Verkauf der Lizenz ge-wonnenen Einnahmen werden der Erforschung neuerImpfstoffkandidaten zugeführt. Dabei arbeitet die Bun-desregierung weiter an Strategien, wie nicht nur die For-schung an Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten,sondern auch die Vermarktung zu erschwinglichen Prei-sen gesichert werden kann.

Der von uns als Regierungsfraktionen erarbeitete An-trag „Deutschlands globale Verantwortung für die Be-kämpfung vernachlässigter Krankheiten – Innovationfördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern“fordert genau solche Strategien. Wir haben es auch trotzHaushaltskonsolidierungsplan geschafft – sowohl überden Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-genabschätzung als auch über den Ausschuss für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung –, Mittelfür zusätzliche Forschungsvorhaben zu vernachlässigtenKrankheiten in den Haushalt 2009 einzubringen. DerKampf gegen vernachlässigte Krankheiten ist lang undschwer. Aber wir haben den Kampf entschlossen angetre-ten.

René Röspel (SPD): Die Situation ist erschreckend. Laut WHO starben al-

lein im Jahr 2006 1,7 Millionen Menschen an Tuberku-lose. Neben dieser „weißen Pest“ raffen aber auch HIV/Aids und Malaria Millionen von Menschen jährlich hin.Das menschliche Leid, welches hinter diesen Zahlensteht, können wir uns gar nicht ausmalen. Hinzu kommenweniger bekannte Tropenkrankheiten wie Elefantiasisoder Flussblindheit, die zwar nicht tödlich sind, abertrotzdem großes Leid verursachen. Alle diese Krankhei-ten wüten wiederum vorwiegend in ärmeren Ländern inAfrika und Asien.

Vor dem Hintergrund dieser erschreckenden Zahlenwill ich ausdrücklich appellieren, sich von der Bezeich-nung „vernachlässigte“ Krankheiten nicht irreführen zulassen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es handelesich etwa um vernachlässigbare Krankheiten, nur weil siein unseren Breiten oder unserer Gesellschaft keine Rollespielen. Dieser Eindruck entsteht nur dort, wo der Blicknicht über den Tellerrand hinausgeht, man sich in dermitunter trügerischen Sicherheit wiegt, man selbst könnedavon nicht betroffen sein, oder wo es an Solidarität mitbetroffenen Menschen in anderen Ländern mangelt.Meine Erfahrung ist, dass auf Nachfrage in Veranstaltun-gen allenfalls noch die sogenannte Kriegsgenerationkonkrete Erfahrungen oder Erinnerungen beispielsweisean Tuberkulose hat. Dennoch zeigen die Zahlen, welcheBedeutung diese Krankheit nach wie vor hat und auchwieder bekommen wird, wenn wir nicht mit gemeinsamerKraft gegensteuern.

Aber auch Europa ist schon längst nicht mehr ver-schont. In Osteuropa ist Tuberkulose verbreitet. EineHerd für Neuinfektionen sind offenbar die russischen Ge-fängnisse. So werden laut einer Studie jedes Jahr 30 000Gefangene mit Tuberkulose aus russischen Gefängnissenentlassen. Aber auch in Deutschland tritt Tuberkuloseauf. 2006 starben daran circa 600 Menschen bei zuneh-mend auftretenden Resistenzen des Erregers gegenüberMedikamenten.

Die sogenannten vernachlässigten Krankheiten sindfür Deutschland somit eine moralische und entwicklungs-politische, aber auch gesundheits- und forschungspoliti-sche Herausforderung. Eine Lösung liegt neben präven-tiven Maßnahmen, wie zum Beispiel besserer Hygieneund ein gutes Gesundheitssystem, in der Pharmafor-schung und einem bedarfsgerechten Zugang zu Medika-menten. Das beinhaltet Maßnahmen hier in Deutschlandsowie Anstrengungen bzw. Unterstützungen in den beson-ders stark betroffenen Ländern.

Bereits die rot-grüne Bundesregierung hat sich dieserVerantwortung gestellt, und die Große Koalition setztdies fort. Allein für Tuberkulose hat das Bundesministe-rium für Bildung und Forschung im Zeitraum 2004 bis2010 für Forschungsvorhaben 6 Millionen Euro bereitge-stellt. Hinzu kommen noch einmal fast 28 Millionen Eurofür übergreifende Programme, in denen auch an Tuber-kulose geforscht wird.

Aber nicht nur in der Politik wird das Problem er-kannt. Auch die deutsche Forschung verstärkt ihre An-strengung in diesem Bereich. So hat die Deutsche For-schungsgesellschaft ein Afrika-Programm mit demSchwerpunkt „Tropische Infektionskrankheiten“ ausge-schrieben, das bereits jetzt überzeichnet ist und eine Viel-zahl erfolgversprechender Projekte erwarten lässt.

Das Parlament hat sich damit aber nicht zufriedenge-geben. In den letzten Haushaltsverhandlungen haben dieKoalitionsfraktionen deshalb darauf hingewirkt, dass dieGelder zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheitenfür 2009 noch einmal um 3 Millionen Euro erhöht wordensind. Forschungs-, Entwicklungs- und Haushaltspolitikerder Koalition arbeiten auch in dieser Frage eng zusam-men. Das Thema ist bei uns als Querschnittsthema, wieim Antrag gefordert, bereits erkannt und angegangenworden.

Das dokumentiert auch der vor fast einem Jahr vonmeinem Fraktionskollegen Dr. Wolfgang Wodarg dan-kenswerterweise initiierte und in den Bundestag einge-brachte Antrag „Deutschlands globale Verantwortungfür die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten – In-novation fördern und Zugang zu Medikamenten für allesichern“, Drucksache 16/8884, der nicht nur auf die Pro-blematik hinweist, sondern auch eine Reihe von Forde-rungen abdeckt, die jetzt auch der vorliegende Antrag derFraktion der Linken aufgreift. Ich halte nicht nur deswe-gen viele Punkte aus dem Antrag der Linksfraktion fürvernünftig und unterstützenswert. Allerdings können wirihn in anderen Punkten nicht unterstützen, weil er nichtausgegoren genug ist und eher kontraproduktiv wirkenwürde.

Zu Protokoll gegebene Reden

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René Röspel

Ein Beispiel: Die Forderung „10 Prozent der für diePharmainitiative verausgabten Mittel“ – das wären über80 Millionen Euro – zukünftig direkt für die Forschungzur Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten aus-zugeben, geht an der Realität vorbei und muss als Aktio-nismus bezeichnet werden. Wir haben auf dem parlamen-tarischen Abend des „Stop-TB-Forums“ im Oktober2008 erfahren können, dass die deutsche Forschung indiesem Bereich gut aufgestellt und die Kapazitäten aus-genutzt sind. Nun eine „Geldlawine“, die zudem noch ausanderen Bereichen der Gesundheitsforschung abgezogenwerden soll, anzubieten, ohne dass das Geld sinnvoll ge-nutzt werden könnte, ist schlicht der falsche Weg. Sinnvol-ler ist der von uns beschrittene Weg des kalkulierbaren,kontinuierlichen Aufwuchses in diesem Forschungsbe-reich, auf den sich Forscher und Forscherinnen einstel-len können. Es gilt hier die Kapazitäten nachhaltig aus-zubauen.

Verständnis habe ich für die Kritik der Antragstelleram internationalen Patentsystem, die aber auch schon imKoalitionsantrag des letzten Jahres zum Ausdruckkommt. Nachvollziehbar finde ich auf den ersten Blickauch die kritische Befassung mit der vom BMBF geför-derten Vakzine Projekt Management GmbH, VPM, beider man sich gerne idealerweise vorstellen kann, dass dieentwickelten Produkte und Impfstoffe am besten kosten-frei an Betroffene in den Entwicklungsländern abgegebenwerden würden.

Allerdings können wir realistischerweise auch nichtignorieren, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewe-gen, das so einfach nicht aufzulösen ist. VPM wird durchdas BMBF so gefördert, dass Vakzinekandidaten bis zurPhase eins einer klinischen Prüfung entwickelt werdenkönnen. Ohne diese staatliche Förderung wäre der Impf-stoff vermutlich in einem frühen Entwicklungsstadiumverblieben und hätte aller Voraussicht nach keine Chanceauf Weiterentwicklung gehabt, weil er für kommerziellePartner – leider – noch nicht interessant bzw. ertragreichgenug gewesen wäre. Eine allein staatliche Finanzierungder Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten bis zurMarktzulassung würde sehr wahrscheinlich sowohl die fi-nanziellen wie auch rechtlichen Möglichkeiten des Staa-tes sprengen. Eine finanzielle Unabhängigkeit der Wei-terentwicklung nach der Anschubfinanzierung durch denStaat wird nur erreicht, wenn ein privater bzw. kommer-zieller Investor entweder mit humanistischem Anliegenauftritt oder seine zu erwartenden Investitionen durchausreichende Vermarktbarkeit refinanzieren kann. Das istim Bereich vernachlässigter Krankheiten, für die es ent-weder zu wenig Betroffene oder zu wenig kaufkräftige Be-troffene gibt, leider nicht zu erwarten, wenn die Vermark-tungsmöglichkeiten auch noch eingeschränkt werden.

Davon unabhängig bleiben wir bei unserer Aufforde-rung an das BMBF, im Rahmen seiner Möglichkeitenseine Verhandlungsspielräume zu nutzen, um einen be-günstigten Zugang für Entwicklungsländer zu ermögli-chen.

Der Ausbau von Forschung und Gesundheitssystemenin den betroffenen Gebieten muss verstärkt werden. Diespassiert bereits durch nationale, auch europäische Fi-

nanzierung. Doch in Ländern, in denen nicht einmal kon-tinuierliche Wasser- und Stromversorgung gewährleistetsind, wird der Aufbau, geschweige denn der Ausbau vonForschungskapazitäten nur sehr langsam vorankommen.Es braucht somit auch Zeit.

Mit dem Thema öffentliche klinische Studien in armenLändern werden wir uns noch einmal intensiver aufgrundder EU-Mitteilung „Partnerschaft Europas und der Ent-wicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ im Aus-schuss beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle aberschon einmal sagen, dass man an dieses Thema sehr dif-ferenziert herangehen sollte. Der Kapazitätsausbau vonForschungsinfrastruktur und Wissen ist richtig. Aber eineVerlagerung von klinischen Studien in Entwicklungslän-der aus rein finanziellen Gründen darf es nicht geben.Denn dies wäre aus verschiedenen Gründen problema-tisch. So ist die Vergleichbarkeit nicht immer gegeben.Aber besonders die Einhaltung ethischer Grundsätze beider Durchführung klinischer Studien ist in Entwicklungs-ländern viel schwerer zu überprüfen. Dabei darf derSchutz von Menschen im Rahmen von klinischen Studiennicht vom Durchführungsort der Untersuchung abhängigsein.

Wie Sie sicherlich wissen, habe ich mich bereits in derVergangenheit sehr kritisch mit dem TRIPS-Abkommenauseinandergesetzt. Dabei musste ich aber auch dieGrenzen der Handlungsmöglichkeiten eines deutschenParlamentariers erkennen. Einige Kritikpunkte teile ichdeshalb durchaus. Ich glaube aber nicht, dass uns die He-rausnahme des Abkommens aus dem WTO-System wirk-lich weiterbringt. Ich plädiere vielmehr für eine Refor-mierung bzw. Weiterentwicklung von TRIPS. Insgesamtscheinen mir die Vorschläge des Koalitionsantrages ausdem letzten Jahr zielführender zu sein.

Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):Lassen sie mich zunächst ein Lob aussprechen: Es ist

erfreulich, dass die Linkspartei jetzt auch auf das Thema„vernachlässigte Krankheiten“ aufmerksam gewordenist – fast ein Jahr, nachdem die Große Koalition einen An-trag zum Thema eingebracht hat. Es zeugt allerdings vonwenig Kreativität und Engagement, dass der Antrag fasteins zu eins abgeschrieben wurde.

Grundsätzlich haben Sie aber viele Punkte richtig ausunserem Antrag übernommen: Während wir hier inDeutschland und Europa über medizinische Innovationendiskutieren und die Lebenserwartung immer weiter steigt,sterben in vielen Entwicklungsländern immer noch Millio-nen Menschen an Krankheiten, die eigentlich behandel-bar wären. Insgesamt sind es jährlich knapp 13 MillionenMenschen. Ich spreche dabei nicht nur von den drei großentodbringenden Krankheiten Tuberkulose, Malaria undHIV/Aids. Vor allem an scheinbar banalen Durchfall- undAtemwegserkrankungen sterben Tausende Kinder undErwachsene jedes Jahr. In vielen Entwicklungsländernliegt die durchschnittliche Lebenserwartung bis heute umbis zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Hinzukommt, dass viele der vernachlässigten Krankheiten zwarnicht tödlich sind, aber die Lebensqualität und die Pro-duktivität der betroffenen Menschen erheblich mindern.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22873

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Dr. Wolfgang Wodarg

Wenn wir Entwicklungsländern aus der Armut helfen wol-len, wenn wir in Zukunft starke Partner wollen, mit denenwir in absehbarer Zeit auf gleicher Augenhöhe auch wirt-schaftlich zusammenarbeiten können, dann müssen wir indie Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten inves-tieren.

Zwei grundlegende Punkte stehen im Mittelpunkt derProblematik: zum einen die fehlenden Innovationen undzum anderen die mangelnde Versorgung der Menschen inEntwicklungsländern mit vorhandenen Medikamenten.

Zunächst zu den Problemen bei den Innovationen. So,wie wir es in den vergangenen Monaten so häufig auf denFinanzmärkten sehen konnten, ist es auch bei der medi-zinischen Forschung: Es wird nicht gefragt, was denMenschen dient, sondern nur, wo es möglichst schnell diehöchste Rendite gibt, am besten schon morgen. Langfris-tiges Denken ist bei den Pharmaunternehmen kaum zuerwarten. Dass eine Stärkung armer Länder auch inZukunft Abnehmer bringt, wird kaum in Betracht gezo-gen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nur1,3 Prozent aller seit 1975 auf den Markt gebrachtenMedikamente wurden für die Bekämpfung von tropischenKrankheiten und Tuberkulose entwickelt. Dabei wurdeweltweit noch nie so viel in Forschung und Entwicklungvon neuen Medikamenten investiert wie in den letztenzwei Jahrzehnten. Das Interesse gilt jedoch eher Haar-ausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder anderen „Krank-heiten“ reicher Länder. Hier lässt sich Profit machen,und hier hat die Pharmaindustrie ein Interesse, zu in-vestieren. Denguefieber, Schlafkrankheit, oder Wurm-erkrankungen wie die Bilharziose werden kaum beachtet.

Eine Lösung des Problems – auch das wurde bereits imAntrag der Koalition vergangenes Jahr beschlossen – istdie Stärkung öffentlicher Investitionen im Bereichvernachlässigter Krankheiten. Zum Beispiel auf der EU-Ebene ist hier eine stärkere Förderung öffentlich finan-zierter medizinischer Forschung vonnöten. Am bestenund schnellsten entwickelt sich medizinisches Wissen inoffenen internationalen Netzwerken, denen die nötigenMittel bereitgestellt werden. Deswegen freue ich mich, dasswir nächste Woche im Ausschuss für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung das EDTCP-Programm– das europäische Programm „Partnerschaft Europasund der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Stu-dien“ – auf der Tagesordnung haben. Dieses wichtigeNetzwerk fördert die eigenen Forschungsaktivitäten derEntwicklungsländer und bekämpft zielgerichtet die Krank-heiten HIV, Malaria und Tuberkulose. Das Programm istjedoch zeitlich und inhaltlich begrenzt. Deswegen werdeich mit meinen Kollegen im Ausschuss die EU auffordern,dieses Programm zu verlängern und es auf andere ver-nachlässigte Krankheiten auszuweiten. Die öffentlicheForschungsförderung muss massiv zunehmen und aktivauch von Deutschland unterstützt werden.

Ein guter Anfang ist auf jeden Fall die Initiative derWHO, die Verantwortung für die Versorgung mit Medika-menten verstärkt in Bereichen zu übernehmen, wo derMarkt eine Versorgung nicht leistet. Im Mai 2008 wurdedurch die Weltgesundheitsversammlung beschlossen, dieErforschung von Arzneimitteln für vernachlässigte

Krankheiten zu fördern. Dieser Prozess in der WHOwurde im vergangenen Jahr durch den Antrag der Koali-tion auf nationaler Ebene unterstützt und begleitet.

Der zweite relevante Punkt in der Problematik ist dieVersorgung der Kranken mit bereits entwickelten Medika-menten. Etwa ein Drittel der Menschheit ist bis heute vonessenziellen Medikamenten ausgeschlossen. In einigenTeilen Afrikas, Lateinamerikas oder Indiens liegt derAnteil der Bevölkerung ohne Zugang zu einer Versorgungmit den wichtigsten Medikamenten bei mehr als 50 Pro-zent. Zuallererst muss hier intensiv mit den Entwicklungs-ländern zusammengearbeitet werden. Die Versorgung derkranken Menschen darf nicht an mangelnder Kapazitätoder an Korruption scheitern; dann wäre jegliche Anstren-gung, Medikamente zu entwickeln, ad absurdum geführt.Konkret ist es wichtig, Entwicklungsländer bei derAnwendung der TRIPS-Flexibilitäten zu unterstützen.TRIPS muss so ausgelegt werden, dass Länder nicht da-von abgehalten werden, Medikamente für die öffentlicheGesundheitsversorgung herzustellen und einzusetzen.Der Schutz des geistigen Eigentums, ein Punkt, den dieBundeskanzlerin immer wieder betont hat, ist wichtig. ImBereich der medizinischen Forschung ist der Wettbewerbum Patente jedoch tödlich für alle, die aus finanziellenGründen nicht mithalten können. Es ist unsere Pflicht,dafür zu sorgen, dass Arzneimittelentwicklung und dieForschungsanstrengungen der Pharmabranche nicht nurvon Absatzerwägungen und Marktchancen abhängen,sondern vor allem vom gesundheitlichen Bedarf geradeder bedürftigsten Teile der Weltbevölkerung bestimmtwerden.

In vielen Punkten kann ich den Forderungen aus demAntrag der Linken nur zustimmen. Vieles wurde gut ausunserem Antrag aus dem letzten Jahr übernommen. Aller-dings haben Sie elementar wichtige Dinge übersehen:Die Prävention muss nach wie vor ein Schwerpunkt derweiteren Förderung sein; und das taucht leider in IhremAntrag überhaupt nicht auf. Für jeden Aids-Patienten,der eine antiretrovirale Therapie erhält, werden mindes-tens doppelt so viele neue HIV-Infektionen gezählt.Deshalb ist es richtig, öffentlich geförderte Forschungs-vorhaben vordringlich auf die Entwicklung von präven-tiven Maßnahmen und Impfstoffen zu konzentrieren.

Ich möchte an dieser Stelle im Hinblick auf die Äuße-rungen des Papstes betonen, wie wichtig Prävention ist.Die Behauptung des Papstes, die Benutzung von Kondo-men würde das HIV/Aids-Problem in Afrika nur ver-schlimmern, ist nicht nur aus entwicklungspolitischer,sondern auch aus menschlicher Sicht völlig inakzeptabel.In vielen Ländern ist die Lage dramatisch. Präventions-maßnahmen, darunter die Verteilung von Kondomen,tragen dazu bei, die Menschen vor der Übertragung vonHIV zu schützen. Durch die Äußerung des Papstes wirdlangjährige und aufwendige Aufklärungs- und Präven-tionsarbeit in unverantwortlicher Weise konterkariert.

Aber zurück zum Thema Forschung. Die Mittel für dieFörderung der Forschung im Bereich vernachlässigterKrankheiten sind im Haushaltsjahr 2009 angewachsen;auch hat Deutschland im Jahr 2008 fast 200 MillionenEuro in den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Wolfgang Wodarg

Tuberkulose und Malaria eingezahlt. Das ist ein Anfang,allerdings noch immer viel zu wenig. Wir werden uns wei-ter für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ein-setzen und haben dafür Anfang letzten Jahres mit unseremAntrag eine gute Grundlage geschaffen. Ich begrüße esausdrücklich, dass die Linkspartei unsere Forderungenmitträgt und Teile unseres Antrags gleich übernommen hat.Über Weiterentwicklungen, die mehr sind als ein laschesWiederkäuen unserer Anträge, würde ich mich auch inZukunft freuen. Für die weitere Arbeit im konkreten Fallgilt jedoch: Wir brauchen keine Kopien der Linken, son-dern bleiben lieber bei unserem Original.

Dr. Karl Addicks (FDP): Die internationale Gemeinschaft hat sich mit den acht

Millennium Development Goals, MDGs, zu verstärktenAnstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammen-arbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Die Verbesserungder Gesundheit in Entwicklungsländern haben drei deracht MDGs zum Ziel: die Verringerung der Kindersterb-lichkeit, die Verbesserung der Gesundheit der Mütter, dieBekämpfung von HIV/Aids, Malaria und von anderenübertragbaren Krankheiten.

Leider sind die Zwischenmeldungen, die uns in Bezugauf die Erreichung der Gesundheits-MDGs erreichen,nicht in allen Teilen der Welt positiv. Wir werden in Sub-sahara-Afrika vermutlich keines der acht MDGs errei-chen. Neben einigen Fortschritten treffen uns auch immerwieder Rückschritte. Uns bleibt noch viel zu tun!

Die Zahlen verdeutlichen die enormen Herausforde-rungen, vor denen wir stehen: In Subsahara-Afrika liegtdie Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Le-bendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt vor dem Errei-chen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krank-heiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkuloseund andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren.Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leichtbehandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen,hervorgerufen durch schlechte oder nichtvorhandene sa-nitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig beachtete Todes-ursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wieWurmerkrankungen, Flussblindheit, Denguefieber oderauch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer le-bensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Be-hinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Be-troffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die untertropischen Krankheiten leidet, ist erschreckend hoch undvielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet un-ter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bishernoch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkei-ten.

Besonders die Bekämpfung von vernachlässigtenKrankheiten muss mit verstärkten Anstrengungen ange-gangen werden. Wir haben uns bereits im letzten Jahr ineiner Debatte mit diesem Thema befasst. Leider sind dieErgebnisse der Bundesregierung in diesem Bereich mehrals ernüchternd. Lediglich eine Etaterhöhung im Bundes-ministerium für Bildung und Forschung um 3 MillionenEuro für den Bereich der vernachlässigten Krankheitenist für das Jahr 2009 zu verzeichnen. Anstrengungen se-hen für mich anders aus.

Angesichts des nicht ausreichenden Willens der Bun-desregierung müssen wir immer wieder diese Debatte inden Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Die gewaltigenHerausforderungen im Bereich der Wirkstoffforschungmüssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsamangehen und nach neuen Möglichkeiten suchen, um dieseHerausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Part-ner – Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – internationalgemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wirdnachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein.Neue Modelle der Forschungsförderung sowie die Förde-rung von Public Private Partnerships, PPP, müssen dabeistärker in den Fokus der Debatte rücken. Bisher ist dieBundesregierung eher zurückhaltend in ihrem Engage-ment in diesem Bereich, und das, obwohl es bisher sehrerfolgreiche PPPs gibt. Allein im Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wirddas Instrument der PPP zur Erforschung und Entwick-lung armutsbedingter, tropischer und vernachlässigterKrankheiten in einem Zeitraum von zwölf Jahren mitcirca 7 Millionen Euro gefördert. Hier, meine ich, sollteman sich in der Bundesregierung Gedanken machen, obda nicht mehr Engagement nötig und auch möglich ist.

Aber auch eine kohärente Strategie der Bundesregie-rung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrank-heiten ist dringend vonnöten. Aus der Wissenschaft undWirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zu-ständigkeiten bei den beteiligten Ministerien – BMZ,BMG und BMBF – verwiesen. Darüber hinaus muss einKonzept von der Bundesregierung vorgelegt werden, dasgemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erar-beitet wird. Denn Wirtschafts- und Wissenschaftsförde-rung bringt auch für die EntwicklungszusammenarbeitVorteile. Diese Win-win-Situation für alle Seiten muss un-ser Ziel sein. Wir fordern ganz klar die Bundesregierungauf, in diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zuwerden.

Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Mit den Worten „Wir wollen wieder zur Apotheke der

Welt werden“ verkündete Staatssekretär Meyer-Krahmerim vergangenen Jahr die Sieger des 100 Millionen Euroschweren Bio-Pharma-Wettbewerbs des Forschungsmi-nisteriums. Die drei hochdotierten öffentlich-privatenProjekte befassen sich mit der effizienten Umsetzung vonErgebnissen der Grundlagenforschung in den Pharma-markt – das Stichwort heißt Wertschöpfung. Apotheke derWelt sein zu wollen, heißt das aber nicht etwas anderes,als „dem Pharmastandort neue Impulse zu geben“, wiees der Staatssekretär ebenfalls in dem Zusammenhang er-klärte?

Apotheken nehmen Apothekerpreise, so hat es zumin-dest der Volksmund festgestellt, Preise also, die weit überdenen liegen, die Menschen in ärmeren Regionen bezah-len können. Trotzdem rentieren sich die Preise, denn inden wohlhabenden Ländern sind sie bezahlbar. Und da-mit die Verwertungskette in diesen Gegenden nicht insStocken gerät, setzen die Pharmafirmen ihre Patente undVerwertungsrechte anderswo auch mithilfe von Gerichtendurch. Aktuell verklagt der deutsche Bayer-Konzern dieindische Regierung, weil diese die Lizenz zur Herstellung

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Petra Sitte

eines Krebsmedikamentes an einen einheimischen Her-steller erteilt hatte, obwohl noch Patentschutz besteht.Nach der Indienreise des Forschungsausschusses weißich, was dort trotz des wirtschaftlichen Wachstums für einunglaubliches Elend herrscht. Eine Mehrheit der Bevöl-kerung kämpft um das tägliche Überleben. Es ist einSkandal, dass eine Firma wie Bayer ihre monopolisti-schen Rechte auf gerichtlichem Wege durchzusetzen ver-sucht, obwohl Indien der wichtigste Generikalieferantnicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern für vielearme Länder Südostasiens ist. Wenn die Aufgabe der„Apotheke der Welt“ darin besteht, Medikamente nur denwohlhabenden Regionen zur Verfügung zu stellen, um dieschon jetzt exorbitanten Gewinne noch zu steigern, dannmüsste ehrlicherweise von Deutschland als „Apothekeder Reichen dieser Erde“ gesprochen werden.

Diese Rolle spiegelt sich auch in der Forschung wider:die Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Oxfam ha-ben im vergangenen Jahr das Engagement Deutschlandsbei der Suche nach neuen Wirkstoffen und Diagnostikafür die sogenannten Armutskrankheiten wie etwa Tuber-kulose, Malaria und Cholera untersucht. Beide Studienkommen zu einem niederschmetternden Ergebnis:Deutschland tut viel zu wenig. Lediglich 0,12 Prozent desForschungshaushaltes wurden 2007 im Kampf gegen ver-nachlässigte Krankheiten aufgewendet. Auch das Bei-spiel Tuberkulose zeigt den mangelnden Einsatz Deutsch-lands: Inklusive der eingeworbenen EU-Mittel wurden9,5 Millionen Euro im Kampf gegen TBC ausgegeben,obwohl sich die Gefahr durch neue resistente Erregerstark vergrößert hat und mittlerweile auch in Europa wie-der eine große Rolle spielt. Selbst die private Gates-Stif-tung hat mehr als das Sechsfache ausgegeben, von den140 Millionen Euro des US-amerikanischen Staates ganzzu schweigen.

Wir haben es sehr begrüßt, dass die Koalition im lau-fenden Haushalt drei Millionen Euro zusätzlich zur Be-kämpfung vernachlässigter Krankheiten eingestellt hat.Das ist jedoch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein,insbesondere im Vergleich mit anderen Pharmaprojektendes Forschungsministeriums wie dem schon genanntenBiopharmawettbewerb. Ist es nicht fraglich, dass dasMillenniumsziel der weltweiten Bekämpfung von Infekt-ionskrankheiten an zu wenig Forschungsmitteln und rest-riktiver Patentanwendung scheitert, während die deut-sche Pharmaindustrie mit den insgesamt 800 MillionenEuro der „Pharmainitiative“ ins Biotech-Zeitalter hi-neinsubventioniert werden soll?

Wir haben es mit einem drastischen Marktversagen zutun, denn es sind die Investitionsentscheidungen der Un-ternehmen, die ein stärkeres privates Engagement gegendie Armutskrankheiten verhindern. Warum sollte eineFirma mit Gewinninteresse an Krankheiten forschen, diein Gegenden praktisch ohne Kaufkraft vorkommen? Andieser Stelle sind massive öffentliche Mittel gefragt, umein strukturelles Problem der Arzneimittelversorgung inprivater Hand wenigstens abzumildern.

Der hier debattierte Antrag meiner Fraktion fordertdie Bundesregierung auf, aus der „Pharmainitiative fürDeutschland“ auch eine Pharmainitiative für Gesundheit

in der Dritten Welt zu machen. Stellen Sie mindestenszehn Prozent der verausgabten Mittel direkt in den Dienstdes Kampfes gegen die in armen Ländern vorherrschen-den Krankheiten! Ohnehin steigt aufgrund der Investi-tionszurückhaltung der Industrie der Anteil öffentlicherMittel in der Pharmaforschung – besonders im Grundla-genbereich. Das gibt der öffentlichen Hand auch Gestal-tungsspielräume bei dem Umgang mit Patenten und an-deren Rechten am sogenannten geistigen Eigentum. DerFall des neuen Tuberkulose-Impfstoffes VPM 1002 gingEnde letzten Jahres bundesweit durch die Presse. Hierwurde am öffentlich finanzierten Max-Planck-Institut fürInfektionsbiologie ein aussichtsreicher Wirkstoff entwi-ckelt, dessen Exklusivlizenz dann vom federführendenWissenschaftler zur weiteren klinischen Prüfung an dieebenfalls öffentlich finanzierte Vakzine Projekt Manage-ment VPM GmbH verkauft wurde – übrigens für 40 000Euro und in dem guten Glauben, dass der Wirkstoff auchweitestmöglich zur Anwendung kommt. Mittlerweile be-trägt der Marktwert dieser Lizenz nach Schätzungen etwafünf Millionen Euro. Dieses Geld könnte die VPM gut ge-brauchen, denn sie soll sich ab 2010 aus ihren eigenen Li-zenzeinnahmen tragen. Den maximalen Preis bekommtsie jedoch nur, wenn ein Pharmakonzern eine globale Ex-klusivlizenz erwerben kann, ohne den Zwang zur preis-werten Abgabe des Impfstoffs etwa in armen Ländern.Und hier beginnt die Verantwortung des Forschungsmi-nisteriums: Die Aufgabe dieser mit Steuergeld finanzier-ten Wissenstransferagenturen wie VPM darf nicht nur diemundgerechte Belieferung der Industrie sein. Nachhal-tige Innovationspolitik muss den größtmöglichen Ge-meinnutzen der Anwendung von Forschungsergebnissenim Blick haben. Unser Antrag fordert, dass der ImpfstoffVPM 1002 nur unter der Auflage eines preisgünstigenZugangs für arme Länder an einen Pharmahersteller ver-kauft werden darf und dass in Zukunft diese Lizenzen zu-dem in sogenannte Patentpools für die Generikaherstel-lung eingebracht werden.

An guten Ideen zum Wissenstransfer in die Anwendungmangelt es nicht – wie das eben erwähnte Beispiel desPatentpools zeigt. Dieser bündelt eingebrachte Patente,für die zuvor eine pauschale Gebühr entrichtet wurde,und macht so die Herstellung von preiswerten Kombina-tionspräparaten möglich. Die Bundesregierung sollte zu-dem aktiv und auch finanziell die Entwicklung so-genannter Produktentwicklungspartnerschaften für dieHerstellung preiswerter Medikamente unterstützen. Es istbeschämend, dass dies wegen interministerieller Abstim-mungsschwierigkeiten bisher nicht gelungen ist. Wir ha-ben in unserem Antrag weitere Vorschläge gemacht, wieim Sinne des Millenniumsziels der Bekämpfung vonKrankheiten in den armen Regionen dieser Welt in derdeutschen Forschungspolitik umgesteuert werden kann.Dass weltweit nur zehn Prozent der Forschungsmittel fürKrankheiten ausgegeben werden, die neunzig Prozent derMenschen betreffen, ist eine nicht hinnehmbare Unge-rechtigkeit. Der HIV-Experte der WHO, Kevin de Cock,hat recht, wenn er sagt: „Der Schutz vor den großen In-fektionskrankheiten AIDS, Tuberkulose und Malariamuss endlich ein universelles Recht sein.“

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Petra Sitte

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vernachlässigte Krankheiten gelten deshalb als ver-

nachlässigt, weil sie schlecht erforscht sind und mit ver-alteten Methoden bekämpft werden. Deswegen ist eswichtig, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffenwird. Deswegen haben wir auch kürzlich eine Kleine An-frage zur Entwicklung von Tuberkulose- und Malaria-Impfstoffen an die Bundesregierung gestellt.

Es ist richtig, dass das Parlament über den Zusam-menhang von Pharmainnovationen und vernachlässigtenKrankheiten in Entwicklungsländern diskutiert. Dazubietet der vorliegende Antrag eine gute Gelegenheit.Allzu oft wird vergessen, welch ungeheure Verbesserungder Lebensumstände in Entwicklungsländern ein Durch-bruch in der Pharmaforschung bringen könnte. UnserGrundziel ist es, die Verbesserung der Lebensumständeder Menschen in Entwicklungsländern zu erreichen.Dazu gehört natürlich – wie in den Millenniumsentwick-lungszielen beschrieben – auch und entscheidend eineVerbesserung des Gesundheitszustands der Menschen.Dringend notwendig sind hierfür eine verbesserte Infra-struktur und eine bessere Gesundheitsversorgung; insbe-sondere der Fachkräftemangel im Gesundheitssystem istein Problem, das dringend angegangen werden muss.

Heute allerdings nehmen wir das Problem der soge-nannten vernachlässigten Krankheiten in den Blick. DieWeltgesundheitsorganisation hat bereits in ihrem am24. Mai 2008 verabschiedeten Strategiepapier weitrei-chende Empfehlungen für die Stärkung von Forschungund Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten undden Zugang zu Medikamenten abgegeben. Bislang ist lei-der zu wenig zur Umsetzung geschehen. Die Entwicklungneuer Arzneimittel kostet viel Geld und viel Zeit. Ergeb-nis: Pharmaunternehmen in den Industrieländern ver-nachlässigen die Armutskrankheiten in ihrer Forschung,da ihnen die Entwicklung von Medikamenten hierfür ge-ringere Aussichten auf Gewinne verspricht, denn dergrößte Teil der potenziellen Käuferinnen und Käufer istarm. Aus dem gleichen Grund sind auch vorhandene Me-dikamente oft nicht auf die Bedürfnisse der Menschen inEntwicklungsländern zugeschnitten, sind nicht hitzebe-ständig, nicht für Kinder geeignet oder schlichtweg zuteuer. Von den zwischen 1975 und 2004 neu entwickelten1 556 Medikamenten entfielen gerade mal 18 neue Medi-kamente auf die tropischen Armutskrankheiten und dreiauf Tuberkulose.

Angesichts dieser Situation muss es neue Anreize zurForschung an Arzneimitteln für vernachlässigte Krank-heiten geben, und ich erinnere hierbei auch an die Schlaf-krankheit, Chagas, Leishmaniose und Flussblindheit. Esist nicht hinnehmbar, dass zum Beispiel gegen Tuberku-lose, die zusammen mit HIV/Aids und Malaria eine dertödlichsten Krankheiten ist, an denen jährlich 6 Millio-nen Menschen sterben, seit Jahrzehnten keine neuen Me-dikamente entwickelt wurden. Die Krankheit hingegenhat sich sehr wohl weiterentwickelt: Die unsachgemäßeBehandlung von Tuberkulose oder der vorzeitige Ab-bruch von Therapien wegen mangelhafter Begleitungführen wiederum dazu, dass es mittlerweile multiresis-tente Erreger gibt. Zudem kommt die Tuberkulose, die inunseren Breiten als ausgerottet galt, inzwischen auch

wieder in neuer Form zu uns zurück. Folge in diesem Teu-felskreis: Die heute erhältlichen Medikamente sind mitt-lerweile veraltet, haben starke Nebenwirkungen und ei-nen zweifelhaften Therapieerfolg. Wir begrüßen daher,dass zurzeit ein neuer Tuberkulose-Impfstoffkandidat ausder Grundlagenforschung des Max-Planck-Institutes indie klinische Phase übergegangen ist.

Auch zu den vielfältigen möglichen Anreizen gibt dieWeltgesundheitsorganisation Empfehlungen. Wir bezie-hen uns hierbei nicht nur auf Patente – die auch ein An-reiz zur Entwicklung neuer Medikamente sind, die aberaus unserer Sicht auf keinen Fall armen Menschen denZugang zu lebensnotwendigen Medikamenten verwehrendürfen. Auch andere Anreize sind zu prüfen: Der Antragder Linken erwähnt Forschungspreise, die auch wir un-terstützen. Auch Aufkaufverpflichtungen, die sogenann-ten Advanced Market Commitments, wären ein möglicherAnreiz. Wir fanden es schon 2007 sehr schade, dass dieBundesregierung anders als Großbritannien, die USA,Kanada und Italien nicht bereit war, die Entwicklung ei-nes für Entwicklungsländer nutzbaren Impfstoffes gegenPneumokokken nicht nur rhetorisch, sondern auch finan-ziell zu unterstützen. An Pneumokokken, die Lungen- undHirnhautentzündung auslösen können, sterben in Ent-wicklungsländern vor allem Kinder unter fünf Jahren.

Den größten Erfolg allerdings verspricht die Stärkungder öffentlichen Forschung über vernachlässigte Krank-heiten. Die Initiative DNDi, die Drugs for Neglected Di-seases Initiative, ist eine Produktentwicklungspartner-schaft, die von Anfang an sicherstellt, dass öffentlicheMittel, die in die Forschung zum Beispiel an Medikamen-ten gegen Malaria investiert werden, auch definitiv dazudienen, einen breiten öffentlichen Zugang zu eben diesenMedikamenten zu ermöglichen.

Und hier komme ich zum Hauptproblem: der Preisge-staltung bei Medikamenten. Häufig verhindert ein zu ho-her Preis, dass Menschen in Entwicklungsländern sichdie notwendigen Medikamente tatsächlich leisten kön-nen. Pharmaunternehmen sind hier in der Mitverantwor-tung. Denn sie greifen auf Grundlagenforschung zurück,die fast immer auch durch öffentliche Mittel finanziert ist.

Die Bundesregierung muss ihren Einfluss dahin ge-hend geltend machen, dass Institute wie die Vakzine Pro-jekt Management GmbH (VPM), die derzeit mit öffentli-chen Mitteln die Entwicklung eines Tuberkulose-Impfstoffes vorantreibt, in der Zukunft auch ihre Lizenz-verträge so gestalten, dass ein erleichterter Zugang vonEntwicklungsländern zu den von der VPM mitentwickel-ten Impfstoffen gesichert ist. Die Bundesregierung sollteaußerdem einfordern, dass die drei mit dem Themenkom-plex der Forschung für vernachlässigte Krankheiten be-trauten Ministerien (für Gesundheit, für Bildung undForschung sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung) ihre sich zum Teil überschneidendenAufgaben besser koordinieren und ihre jeweiligen Zu-ständigkeiten auch für Außenstehende klarer definieren.

Armutskrankheiten müssen endlich als eine globaleAufgabe angesehen werden und auch als solche angegan-gen werden. Das erfordert eine kooperative Zusammen-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Ute Koczy

arbeit von staatlichen und multilateralen Institutionen,von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/12291 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD

Bürgerschaftliches Engagement umfassendfördern, gestalten und evaluieren

– Drucksachen 16/11774, 16/12202 –

Berichterstattung:Abgeordnete Markus Grübel Sönke Rix Sibylle Laurischk Elke Reinke Ekin Deligöz

Die Reden der Kolleginnen und Kollegen MarkusGrübel, CDU/CSU, Sönke Rix, SPD, Sibylle Laurischk,FDP, Elke Reinke, Die Linke, Britta Haßelmann, Bünd-nis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.

Markus Grübel (CDU/CSU): Es gibt mehr als 23 Millionen freiwillig engagierte

Menschen in Deutschland. Dies entspricht 36 Prozent derüber 14-jährigen Bürgerinnen und Bürger. Ohne siewürde das Zusammenleben, wie wir es kennen, nichtfunktionieren. Das klingt gut; wenn man jedoch genauhinsieht, muss man feststellen, dass sich das klassischeEhrenamt in einer Krise befindet. Immer weniger Men-schen sind bereit, sich langfristig und zeitaufwendig inVerbänden, Vereinen, in kirchlichen Institutionen etc. zubinden bzw. freiwillig zu engagieren. 53 Prozent der Be-völkerung sind in keiner Organisation Mitglied.

Für diese Menschen müssen neue Anreize, Möglich-keiten geschaffen werden, sich einzubringen. Geradebeim Engagement der Jugend liegen große Potenziale.Jedoch engagieren sich von den 16-Jährigen gerade ein-mal 20 Prozent freiwillig. Bei den 14-Jährigen sind es so-gar nur 18 Prozent. Bei den älteren Jugendlichen zeichnetsich wieder ein höheres Interesse ab, zumindest wennman das Interesse an den Jugendfreiwilligendiensten, diewir im letzten Jahr gesetzlich neu geregelt haben, zu-grunde legt. 23 000 junge Menschen engagieren sich hier.

Darüber hinaus müssen wir die Potenziale der Rent-ner und Pensionäre verstärkt mit einbeziehen. Statistischgesehen, verbringt ein Rentner ein Viertel seines Lebensim Ruhestand. Viele Menschen, auch im hohen Alter, wol-len gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Wir benöti-gen also die „aktiven Alten“. Heute sind bereits über30 Prozent von ihnen freiwillig engagiert. Weitere

30 Prozent würden sich gerne engagieren, wenn es pas-sende Angebote gäbe.

Das BMFSFJ hat daher in den vergangenen Jahreneine Vielzahl von Projekten initiiert, um das Miteinanderder Generationen zu fördern. Ich nenne exemplarisch dieMehrgenerationenhäuser und die neuen Freiwilligen-dienste aller Generationen. Zudem wurden zahlreicheVorschläge der Enquete-Kommission „Zukunft des Bür-gerschaftlichen Engagements“ bereits in der letzten Le-gislaturperiode umgesetzt. Der Enquete-Bericht siehtEngagementförderung als Querschnittsaufgabe an, diedurch stärkere Kooperation von Verwaltung, Politik undFachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung vonstaatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Or-ganisationen bestmöglich umgesetzt werden könne.

Auch wurde der Unterausschuss „BürgerschaftlichesEngagement“ eingesetzt. Viele von den Engagementpoli-tikern sind dort Mitglied und haben auch daran mitgear-beitet, dass im Rahmen des im Jahr 2007 verabschiedetenGesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichenEngagements die steuer- und gemeinnützigkeitsrechtli-chen Rahmenbedingungen erheblich verbessert wurden.Mit der Initiative „ZivilEngagement“ soll durch eineVielzahl von Maßnahmen Engagementpolitik wirksamgestaltet werden. Ziel ist eine abgestimmte Strategie zurWeiterentwicklung einer nationalen Engagementpolitikmit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie zum Beispielweiterer Ausbau der bestehenden generationenübergrei-fenden Angebote für bildungsferne Gruppen, einfachzugängliche Engagementangebote insbesondere für Ju-gendliche, Optimierung der Einsatzmöglichkeiten vonFreiwilligen durch Qualifizierungsangebote und Erwei-terung von Tätigkeitsprofilen für Engagierte.

Bürgerschaftliches Engagement ist für gesellschaftli-che Integration, wirtschaftliches Wachstum, Wohlstandund stabile demokratische Strukturen unerlässlich. Enga-gementpolitik berührt alle relevanten Politikfelder undalle staatlichen Ebenen. Bund, Länder und Kommunenmüssen Rahmenbedingungen wirkungsorientiert fördern,die zivilgesellschaftliche Organisationen als Träger bür-gerschaftlichen Engagements, Unternehmen und nichtzuletzt die engagierten Bürgerinnen und Bürger für bür-gerschaftliches Engagement benötigen. Zur Förderungzählt ausdrücklich auch eine verstärkte öffentliche Wert-schätzung bürgerschaftlichen Engagements.

Die Anerkennung des freiwilligen Einsatzes der Enga-gierten ist von besonderer Bedeutung. Es bedarf einerKultur der Anerkennung, in der bürgerschaftliches Enga-gement einen Wert an sich darstellt und zu einer Selbst-verpflichtung wird. Dazu ist ein gesamtgesellschaftlichesUmdenken vonnöten. Die Leitidee einer Bürgergesell-schaft und die verschiedenen Facetten des bürgerschaft-lichen Engagements – ihr Wert für die Engagierten undfür die Gesellschaft – müssen zukünftig deutlich heraus-gestellt werden.

Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Voraus-setzungen für eine regelmäßige wissenschaftliche Be-richterstattung zum bürgerschaftlichen Engagementdurch eine Sachverständigenkommission ab der nächstenLegislaturperiode schaffen. Der Forschungsbericht von

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Markus Grübel

unabhängigen Wissenschaftlern soll – auf Schwerpunktekonzentriert – die Entwicklung des bürgerschaftlichenEngagements und den Stand der Engagementpolitik ein-schließlich der politischen, rechtlichen und gesellschaft-lichen Rahmenbedingungen einmal pro Legislaturperi-ode aufzeigen. Ihm soll außerdem eine Stellungnahme derBundesregierung angefügt werden. Mit der Berichterstat-tung soll erreicht werden, die Diskussion über das bür-gerschaftliche Engagement noch tiefer im öffentlichenBewusstsein zu verankern und die in der Gesellschaft vor-handenen Potenziale für bürgerschaftliches Engagementzu mobilisieren und zu nutzen. Zudem ist der Bericht fürdie Entwicklung einer ressortübergreifenden Engage-mentstrategie wichtig und wird Informationen und Emp-fehlungen liefern, um die richtigen Weichen zu stellen undBedarfe und Möglichkeiten, aber auch Hindernisse fürEngagement aufzeigen.

Ein Vorläuferbericht für die regelmäßige Berichter-stattung, der den Beitrag des bürgerschaftlichen Engage-ments zur Bewältigung sozialer Aufgaben unter besondererBeachtung der Familie und bei Familien unterstützendenDienstleistungen untersucht, wird im Mai 2009 erschei-nen.

Bedauerlicherweise ist kein interfraktioneller Antragzustande gekommen, wie ursprünglich angedacht, da dieanderen Fraktionen sich entweder in Enthaltung oder Ab-lehnung üben. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass durchdie regelmäßige Berichterstattung eine verstärkte Wahr-nehmung des Themas in der Öffentlichkeit erreicht undbürgerschaftliches Engagement weiter ausgebaut und ge-fördert werden kann.

Sönke Rix (SPD): Heute verabschieden wir den Antrag, der von den Ko-

alitionsfraktionen eingebracht wurde. Der Titel „Bürger-schaftliches Engagement umfassend fördern, gestaltenund evaluieren“ lässt erst einmal nicht vermuten, dass essich im Kern um eine regelmäßige Berichterstattung han-delt. Beim zweiten Hinsehen erschließt sich das aberschon. Denn um überhaupt das bürgerschaftliche Enga-gement umfassend fördern und gestalten zu können, be-nötigen wir eine regelmäßige Bestandsaufnahme undEvaluation. So möchte ich das, was ich bereits im Aus-schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in derletzten Sitzungswoche betont habe, auch hier noch einmaldeutlich machen:

Eine regelmäßige Berichterstattung zum Themenge-biet bürgerschaftliches Engagement ist nützlich und sinn-voll, zumindest dann, wenn wir unserem Anspruch ge-recht werden wollen, die Rahmenbedingungen fürEngagierte stetig zu verbessern und einer aktiven Bürger-gesellschaft die Steine aus dem Weg zu räumen, die esmancherorts noch gibt. Dabei war es meiner Fraktion äu-ßerst wichtig, dass der Bericht von einer unabhängigenExpertenkommission erstellt wird und so unvoreingenom-men wie möglich erarbeitet werden kann. Der Bericht sollProblemlagen aufdecken und durch eine immer andereSchwerpunktsetzung unseren Blick für das bürgerschaft-liche Engagement schärfen.

Ohne Frage haben wir in den letzten Jahren schon da-mit angefangen. Denn das Thema bürgerschaftliches En-gagement hat die SPD in den letzten zehn Jahren immerweiter in den Vordergrund gerückt. Auf Initiative derSPD-Fraktion wurde die Enquete-Kommission zur Zu-kunft des bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt.Deren Arbeit hat deutlich gezeigt: Das Thema bürger-schaftliches Engagement ist ein Querschnittsthema. Fastalle und damit auch die unterschiedlichsten Politikberei-che haben Einfluss auf die Entfaltungsmöglichkeiten desbürgerschaftlichen Engagements. Das fängt an bei den fi-nanziellen Rahmenbedingungen, geht über die Anerken-nung, die wir den Engagierten entgegenbringen, undführt bis zu der Frage, wie viel Hauptamtlichkeit und wieviele Netzwerke wir brauchen, um dafür zu sorgen, dassdas Engagement auch gut organisiert ist. Und so ist auchdie Förderung des Engagements ein Querschnittsthema.

Das berücksichtigt auch der Antrag. Hier heißt es:„Der Bericht sieht die Engagementförderung als Quer-schnittsaufgabe an, die durch stärkere Kooperation vonVerwaltung, Politik und Fachressorts sowie ressortüber-greifende Vernetzung von staatlichen und zivilgesell-schaftlichen Akteuren und Organisationen sowie derWirtschaft bestmöglich umgesetzt werden könne.“ Diesebeiden Aspekte – Kooperation und Vernetzung – halte ichfür die wichtigsten. Einen Beitrag dazu leistet bereits seitsechs Jahren der Unterausschuss „BürgerschaftlichesEngagement“. Die Kolleginnen und Kollegen, die wie ichMitglied dieses Unterausschusses sind, wissen: Hier tref-fen sich regelmäßig Akteure aus der Zivilgesellschaft, ausder Verwaltung und der Regierung und berichten überihre Erfahrungen und Initiativen. Eine stärkere Vernet-zung ist dadurch möglich, wenn sie auch eher durch inof-fizielle Gespräche am Rand dieses Gremiums entstehenmag als durch die öffentliche Sitzung.

Der Bericht kann helfen, die Arbeit des Unteraus-schusses zusammenzutragen und auch neue Denkanstößezu geben. Aufgrund der demografischen Entwicklung, dergerade zurzeit unsicheren Lebensverhältnisse und derneuen Anforderungen, die sich an die Gesellschaft und je-den Einzelnen stellen, werden sich auch die Strukturendes Engagements verändern. Diese müssen wir beobach-ten. Dazu dient zurzeit der Freiwilligensurvey, den esmeiner Meinung nach auch weiterhin als wichtigste Da-tengrundlage in diesem Bereich geben muss. Der ge-plante Bericht kann aber über die Fakten, wer sich wieund warum engagiert, hinaus eine ganz andere Schwer-punktsetzung unter unterschiedlichen Fragestellungenbetreiben. Hieraus ergeben sich dann ganz konkrete Auf-gaben für die Politik – so wünsche ich es mir jedenfalls.

Eine weitere Aufgabe, die der Bericht leisten kann, ist,dem bürgerschaftlichen Engagement noch mehr Auf-merksamkeit zu verschaffen. In den letzten zehn Jahrenwurden auch dafür schon die Grundsteine gelegt, nichtnur im Parlament, sondern auch durch die Organisatio-nen selbst. Und an dieser Stelle möchte ich mich aus-drücklich beim BBE bedanken, denn das leistet mit derWoche des bürgerschaftlichen Engagements jedes Jahreinen unschätzbaren Beitrag für eine breite Öffentlichkeitund mehr Anerkennung für alle Engagierten. Um weiterauf diesem guten Weg zu bleiben, um Problemlagen er-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Sönke Rix

kennen und lösen zu können, um Engagierten die Rah-menbedingungen zu schaffen, die sie benötigen, brauchenwir diesen unabhängigen Bericht.

Sibylle Laurischk (FDP): Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engage-

ment Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur: einer Ge-sellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlichbei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, einerGesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind.

Vor diesem Hintergrund ist es schwer, die Arbeit derBundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichenEngagements zu loben. Hauptsächlicher Aktionspunkt derBundesregierung in dieser Legislatur war das Auswechselnvon Begriffen. Der von der Enquete-Kommission ge-prägte Begriff des „bürgerschaftlichen Engagements“wurde zugunsten des Begriffs „Zivilengagement“ aufge-geben. Die FDP sieht dies äußerst kritisch, da so eine all-gemeine Verwirrung bei Diskussionen entsteht und etwasNeues suggeriert wird, obwohl alles beim Alten bleibt.

Neben dieser babylonischen Begriffsverwirrung istvor allem die Untätigkeit der Bundesregierung bei derBelastung des bürgerlichen Engagements durch dieMehrwertsteuer fatal. Die Bundesregierung nimmt diedurch die Finanzämter neuerdings entdeckte Mehrwert-steuerbelastung des bürgerschaftlichen Engagements hinund tritt dieser Entwicklung nicht entschieden entgegen:Es ist erstaunlich, dass sowohl bei den Jugendfreiwilli-gendiensten als auch bei den Sponsoringaktivitäten durchUnternehmen dies seit Jahrzehnten unbeanstandet vonden Finanzbehörden stattfand. Nach Auffassung desBMF bzw. eines Finanzamtes ist dies nun anders. So liegtzum Beispiel in der kostenlosen Überlassung vonTelefondienstleistungen der Deutschen Telekom an dieTelefonseelsorge ein der Umsatzsteuer unterliegendesTauschgeschäft vor. Das BMF konstruiert aus dem bürger-schaftlichen Engagement von Unternehmen nun tausch-ähnliche Umsätze, da zum Beispiel auf der Internetprä-senz der Telefonseelsorge darauf verwiesen wird, dass dieTelekom der Partner der Telefonseelsorge ist. Aus einemHinweis auf den Sponsor nun ein steuerliches Tausch-geschäft zu konstruieren, steht im krassen Gegensatz zuden Bemühungen, mehr Unternehmen für Engagement imgesellschaftlichen Bereich zu gewinnen. Es ist sogar imstaatlichen Interesse, dass auf den Sponsor hingewiesenwird. Nur so können andere Unternehmen über die Stei-gerung von Ansehen und Prestige dazu bewegt werden,sich gesellschaftlich zu engagieren.

Weiterhin ist vollkommen ungeklärt, ab wann der Hin-weis auf den Sponsor einen steuerlich relevanten Tatbe-stand schafft. Unterliegt es beispielsweise der Steuerpflicht,wenn die dörfliche Gastwirtschaft ihre Mikrofonanlageaus dem Festsaal einem örtlichen Sportverein kostenlosfür das Fußballturnier leiht und sich dieser Verein aufdem Fußballfeld deutlich hörbar über die Mikroanlagedafür bedankt? Ist dies Werbung oder bürgerschaftlichesEngagement? Wenn das Gebaren einiger FinanzbehördenSchule macht, ist mit einem deutlichen Rückgang solcherSponsoringaktivitäten zu rechnen. Dies wird dem Ehren-amt erheblichen schaden.

Leider beweihräuchert der vorliegende Antrag die Ar-beit der Bundesregierung. Weiterhin fordern Sie in IhremAntrag einen Bericht. Nun ist die FDP nicht generell gegeneinen solchen Bericht, die Vorgehensweise ist jedoch atem-raubend. Der Bericht ist längst in Auftrag gegeben undquasi fertiggestellt und soll bereits im Mai 2009 der Öffent-lichkeit vorgestellt werden! Nun seitens der Regierungs-koalition durch diesen Antrag zu suggerieren, die Initiativezur Erstellung dieses Berichts gehe von den Regierungs-fraktionen aus, ist einfach peinlich. Fakt ist, den Berichtwird es geben, egal, ob dieser Antrag angenommen oderabgelehnt wird.

Der im Antrag geforderte Bericht allein nutzt nach denErfahrungen der letzten Jahre gar nichts und dient eherder Augenwischerei. Es ist zwar durchaus bemerkens-wert, dass die erstellten Berichte der verschiedenen Kom-missionen in der Regel ein überdurchschnittliches Niveauhaben, sie werden aber in ihren Anregungen lediglich zurKenntnis genommen und nicht umgesetzt. Das Parlamentdiskutiert in der Regel erst nach Jahren über die Berichte.Es gilt die Faustregel: Je besser der Bericht, desto längerbleibt er in der Schublade. Die sehr aufschlussreichen„Altenberichte“ der Bundesregierung werden erst zweibis drei Jahre nach ihrem Erscheinen behandelt. Ich for-dere deshalb von der Bundesregierung, mit Vorlage desBerichts zum bürgerschaftlichen Engagement auch Vor-schläge zu dessen Umsetzung zu machen.

Elke Reinke (DIE LINKE): Die Wichtigkeit und die Unverzichtbarkeit des bürger-

schaftlichen Engagements dürften nicht nur uns Abgeord-neten, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern bekanntsein. Viele Vereine oder Verbände wären ohne vorbildli-ches ehrenamtliches Engagement kaum überlebensfähig.Die Linke wehrt sich aber dagegen, dass ihr unterstelltwird, jede Kritik am bürgerschaftlichen Engagement,speziell an Gesetzen oder Anträgen zu diesem Thema,gehe mit einer Geringschätzung oder gar Ablehnung des-selben einher. Gerade weil sich die Linke für eine bessereAusgestaltung, Anerkennung und Evaluierung des bür-gerschaftlichen Engagements einsetzt, ist gegen den imAntrag von Union und SPD geforderten regelmäßigenwissenschaftlichen Bericht grundsätzlich nichts einzu-wenden. Das Thema „bürgerschaftliches Engagement“muss von der politischen Bühne noch stärker in die öffent-liche Diskussion rücken; es muss bei den Menschen nochmehr Interesse geweckt werden. Ein regelmäßiges, aufbreiterer Basis debattiertes Berichtswesen kann dazu bei-tragen und beispielsweise Handlungsrahmen absteckenund Empfehlungen geben.

Ein solches Berichtswesen muss aber meiner Meinungnach auch kritische Punkte ansprechen und sozial ge-rechte Lösungen aufzeigen. Ich befürchte, dass dies– wenn überhaupt – nur unzureichend geschehen wird.Einen Vorgeschmack gibt ja bereits der vorliegende An-trag. Hierin wird stolz berichtet, dass das Bundesfamili-enministerium einen Bericht in Auftrag gegeben hat, der– ich zitiere – „den Beitrag des bürgerschaftlichen Enga-gements zur Bewältigung sozialer Aufgaben“ unter-suchen soll. Ja, das Ehrenamt leistet dazu einen bedeu-tenden Beitrag; es ist gesellschaftlich und unter

Zu Protokoll gegebene Reden

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Elke Reinke

demokratischen Gesichtspunkten sinnvoll und notwen-dig. Aber wo genau liegen die Grenzen? Wie weit m u s sund d a r f bürgerschaftliches Engagement überhaupt so-ziale Aufgaben bewältigen? Oder gibt es nicht noch an-dere Institutionen, die sich ebenfalls der sozialen Verwer-fungen unserer Zeit annehmen sollten?

Angesichts der Sozial- und Verteilungspolitik der ver-gangenen Jahre sollte jeder, der Ähnliches wie das obenZitierte hört oder liest, sehr misstrauisch werden. Wir ha-ben es Ihnen wiederholt gesagt: Bürgerschaftliches En-gagement ist für die Linke kein Ersatz für eine gerechteSteuer- und Sozialpolitik! Unbezahlte Arbeit kann keinegerechte Verteilungspolitik ersetzen und die weit ausein-anderklaffende Schere zwischen Arm und Reich schlie-ßen. Auch eine „Initiative ZivilEngagement“ hält eineimmer stärker gespaltene Gesellschaft nicht zusammen.Der Staat darf nicht immer mehr der Möglichkeiten be-raubt werden, selbst gestaltend aktiv zu werden. Der Ab-bau der öffentlichen Daseinsvorsorge ist dabei ganz be-stimmt der falsche Weg!

Es ist bedenklich, wenn bei den Bürgerinnen und Bür-gern das Gefühl aufkommt, die Regierung fördert ehren-amtliches Engagement nur, um den eigenen Haushalt zuentlasten. Gesamtgesellschaftliche Probleme dürfen abernicht auf die aufopferungsvoll tätigen Freiwilligen abge-wälzt werden. So will die Linke bürgerschaftliches Enga-gement nicht verstanden wissen! Auf eine Vermögen-steuer wird nach wie vor verzichtet, verantwortungsloseFinanzjongleure bekommen Milliarden an Euro zuge-schustert. Die Linke fordert stattdessen einen Schutz-schirm für alle Beschäftigten sowie für sozial Benachtei-ligte. Bei ausreichender sozialer Absicherung würdeauch das Ehrenamt noch stärker aufblühen.

Es sind außerdem klare Forderungen an die Wirtschaftzu stellen. Unternehmen sonnen sich gerne im Schein desEngagiertseins, sobald es um etwas „handfestere“,sprich finanzielle Unterstützung geht, wird sich oftmalsallzu schnell in den Schatten zurückgezogen. Ziel des bür-gerschaftlichen Engagements sollten gesellschaftlicheTeilhabe und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bür-ger sein. Dies beinhaltet zugleich sozialversicherte Tätig-keit, von der man leben kann. Ehrenamt braucht keineStundenlöhne, sollte aber zugleich keine regulärenArbeitsplätze verdrängen und ersetzen und dadurch So-zialabbau vorantreiben. Die Linke fordert deshalb seitlangem, stärker in Richtung öffentlich finanzierter Be-schäftigung aktiv zu werden.

Alles in allem hätte ich mir gewünscht, dass sich dererste Bericht mit den Zugangsbarrieren – besonders fürsozial Benachteiligte – zum bürgerschaftlichen Engage-ment sowie mit Teilhabechancen befasst. Dies wäre zu-kunftsweisend und würde tatsächliche Probleme ange-hen.

In dem Antrag ist ebenfalls zu lesen, dass ein solcherwissenschaftlicher Bericht „nur ein erster Ansatz“ seinkann. Wie viele „erste Ansätze“ brauchen Sie denn noch?Von SPD-Seite wurde in der Ausschussdebatte zugege-ben, dass die exakte Ausgestaltung des Berichts im Laufeder Zeit bestimmt noch verbessert werden könne – nach-zulesen in „Beschlussempfehlung und Bericht des Fami-

lienausschusses“ unter Drucksache 16/12202. Warumdenken Sie die Dinge nicht vorher zu Ende, bevor Sie sieauf den Weg bringen? Bei Ihnen ist keine klare Richtung,kein Gesamtkonzept zur Stärkung und Anerkennung bür-gerschaftlichen Engagements erkennbar. Ihr einzigesKonzept ist die Konzeptlosigkeit – wie auf vielen anderenPolitikfeldern auch.

Insgesamt enthält sich die Fraktion Die Linke zu IhremAntrag, weil gegen die zentrale Forderung kaum etwaseinzuwenden ist. Es ist für uns aber immer wieder aufsNeue verwunderlich, wie realitätsfern und vor allemgänzlich unkritisch die Regierungskoalition mit wichti-gen gesellschaftspolitischen Themen umgeht. Obwohl wirbürgerschaftliches Engagement unterstützen und för-dern, werden wir auch weiterhin unbequeme Wahrheitenansprechen.

Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unsere Fraktion wird dem Antrag der Großen Koali-

tion nicht zustimmen. Der Grund dafür liegt nicht etwa inder Forderung nach einem regelmäßigen wissenschaftli-chen Bericht zum bürgerschaftlichen Engagement. ImGegenteil: Wir begrüßen das Einsetzen eines solchenausdrücklich. Wie groß der Nachholbedarf in Sachenwissenschaftlicher Befassung des Themas Bürgerschaft-liches Engagement ist, hat zuletzt noch einmal die Dis-kussion im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engage-ment im Januar gezeigt, als wir uns mit dem ThemaEntwicklung von Wissenschaft, Forschung und Lehre imBereich Zivilgesellschaft befassten. Allerdings hätten wiruns konkretere Einzelheiten zur politischen Begleitung ei-nes Berichts gewünscht, ähnlich wie es bei der Nationa-len Nachhaltigkeitsstrategie der Fall war.

In Ihrem Antrag heißt es dazu, dass Sie hoffen, dass einBericht den politischen Diskurs anregen kann und dasThema so in die öffentliche Wahrnehmung rücken wird.Das wird ein frommer Wunsch bleiben. Sie müssen dochsagen, wohin die Reise gehen soll – was wollen sie denn,wo sind die politischen Maßgaben, wo ihre Vorhaben?

Sie nennen Ihren Antrag, um den es hier heute geht:Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, ge-stalten und evaluieren. Und genau das sollten sie auchtun, statt – und nun zitiere ich ihren Antrag – „das Enga-gement der Bundesregierung im Bereich des bürger-schaftlichen Engagements“ ausdrücklich zu begrüßen.Sie haben im Moment ganz offensichtlich keine Gesamt-strategie zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage-ments.

Die Initiative des Bundesfamilienministeriums, die siejetzt Zivilengagement nennen, hat es bisher nicht ge-schafft, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschafteinzubinden. Tatsächlich scheint es ja selbst innerhalbder Koalition zwischen SPD und CDU/CSU so zu sein,dass Sie sich über wesentliche Inhalte der neuen Initiativeuneins sind. Schon längst hätte sie im Kabinett beratenwerden sollen und wird stattdessen von Mal zu Mal ver-schoben.

Auf unsere Kleine Anfrage vom Februar dieses Jahresbleiben sie die Antworten schuldig. Wesentliche Punkte,

Zu Protokoll gegebene Reden

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Britta Haßelmann

vom Leitbild der Zivilgesellschaft bis hin zur nachhalti-gen Finanzierung des bürgerschaftlichen Engagement,sind einfach nicht ausreichend geklärt. Was aber offen-sichtlich bereits längst geklärt ist, ist die öffentliche Ver-marktung des Ganzen. Denn vergangene Woche startetedie erste PR-Kampagne im Rahmen der Initiative Zivil-engagement. Wieder einmal hat es den Anschein, als seidem Familienministerium der Schein wichtiger als dasSein. So wirken Sie in Sachen Engagementplan zwar en-gagiert, sind aber doch ziemlich planlos.

Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält sich zudiesem Antrag.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12202, denAntrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD aufDrucksache 16/11774 anzunehmen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derFDP-Fraktion sowie Enthaltung vom Bündnis 90/DieGrünen und von der Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. TheaDückert, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. WolfgangStrengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umweltberichterstattung in die Gemein-schaftsdiagnose und Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung aufnehmen

– Drucksache 16/11649 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kolle-gen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU, Dr. Axel Berg, SPD,Gudrun Kopp, FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke,Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, zu Proto-koll.

Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Vor nicht einmal einem Jahr diskutierten wir hier in

ähnlicher Runde über mehr Transparenz beim Sachver-ständigenrat. In diesem Zusammenhang waren es auchdie Kollegen von den Grünen, die unter anderem derGemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirt-schaftsforschungsinstitute attestierten, dass kaum je-mand diese – ich zitiere – „dicken Berichte“ zur Kenntnisnehmen, geschweige denn lesen würde. Werte Kollegin-nen und Kollegen von den Grünen, Sie müssen ja nichtgleich aus Ihren Reihen auf andere schließen. Ich kannIhnen versichern, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Be-richte nicht nur einfach zur Kenntnis, sondern vor allemernst nehmen.

Die meisten von Ihnen werden mir beipflichten, dassdie Konjunkturprognosen der deutschen Wirtschafts-

forschungsinstitute unerlässliche Informationsquellenfür unsere Arbeit sind. Nicht nur untersuchen die Institutedarin unsere gesamtwirtschaftliche Leistung, sie gebenauch wirtschaftspolitische Empfehlungen ab, die in un-sere Wirtschaftspolitik einfließen.

In diesem Zusammenhang verstehe ich Ihre Zweiglei-sigkeit, mit der Sie hier auftreten, nicht: Einerseits kriti-sieren Sie solche Berichte als in der Öffentlichkeit kaumwahrgenommen und zu uneffektiv, auf der anderen Seitefordern Sie jetzt mit Ihrem Antrag, dass die Umwelt-berichterstattung mit in die Gemeinschaftsdiagnose auf-genommen werden soll. Ja, aber was wollen Sie denn jetzteigentlich? In ihrer letzten Gemeinschaftsdiagnose habensich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute dafürausgesprochen, dass der Staat in der gegenwärtigenFinanzmarkt- und Wirtschaftskrise Maßnahmen ergreifensollte, die der Stützung der Wachstumskräfte und derBelebung der Konjunktur dienen. Diesen Empfehlungensind wir in den letzten Monaten gefolgt. Wir haben mitden Maßnahmen der beiden Konjunkturpakete eine aus-gewogene Mischung aus Steuersenkungen und Ausgaben-erhöhungen beschlossen, mit denen wir der Wirtschafteine Brücke über die schwierige Phase hinweg bauenwollen. Unternehmen und Bürger werden von Abgaben undSteuern entlastet und zugleich wird die Binnenwirtschaftdurch gezielte Investitionen unterstützt. Bund, Länder undKommunen investieren 20 Milliarden Euro in Straßen undSchienenwege, in Bildungsstätten und Bauwirtschaft. DerBund hat zur Kreditversorgung deutscher Unternehmeneinen 100-Milliarden-Euro-Fonds aufgelegt und weitetsein Kreditangebot bei der KfW auf 15 Milliarden Euro aus.

Meine sehr verehrten Damen und Herren von denGrünen, gerade für Sie dürfte es von großem Interessesein, dass die Einführung der Umweltprämie – entgegenIhren Ankündigungen auch ökologisch gesehen – ein vol-ler Erfolg ist, von dem neben der Automobilwirtschaftauch die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land profi-tieren. Denn mit der Abwrackprämie tragen wir dazu bei,dass Altautos fachgerecht entsorgt und durch umwelt-freundlichere und energiesparendere Fahrzeuge ersetztwerden. Darüber hinaus haben wir bereits im Rahmendes ersten Maßnahmenpakets die Mittel für die CO2-Ge-bäudesanierung um insgesamt 3 Milliarden Euro aufge-stockt. Auch dies ist ein Beitrag, den wir trotz der schwie-rigen Zeit zum Umweltschutz leisten wollen. Soviel zurIneffektivität und fehlenden Aufmerksamkeit, die Sie denwirtschaftspolitischen Empfehlungen der Gutachten ver-sucht haben zu unterstellen. Wie Sie sehen, haben wir denEmpfehlungen Taten folgen lassen.

Sie fordern jetzt mit Ihrem Antrag die Aufnahme derUmweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose undBegutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.Allerdings kann ich Ihrem Antrag kein schlüssiges Kon-zept entnehmen, wie Sie dies umsetzen wollen, geschweigedenn, was davon der wirtschaftliche Nutzen sein soll. DasStatistische Bundesamt schreibt in seinen Erläuterungenzur Umweltökonomischen Gesamtrechnung, dass – ichzitiere – „eine direkte Messung des Inputs von Dienstleis-tungen der Umwelt auf gesamtwirtschaftlicher Ebenezurzeit weder in monetären noch in physischen Einheitenmöglich ist“. Ich frage mich daher allen Ernstes, warum

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Dr. Michael Fuchs

Sie mit solchen Forderungen unsere kostbare Zeit ver-schwenden.

Anstatt hier neue Verwaltungs- und Bürokratiemonsterzu schaffen, handeln wir lieber entsprechend. Dabei istder Nachhaltigkeitsgedanke ein konsequenter Bestand-teil unserer Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Denn mehrdenn je muss sich eine nachhaltige Umweltpolitik demökonomischen Kalkül stellen. Nachhaltigkeit in unseremSinne versucht die Interessen aus Umweltschutz, wirt-schaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Verantwor-tung bestmöglich zusammenzuführen. Was wir heute inden Klimaschutz investieren – das belegen zahlreichewissenschaftliche Studien –, verhindert in der Zukunfthohe wirtschaftliche Folgekosten sowie Umwelt- undGesundheitsschäden für die Bevölkerung. Deswegenscheint es dringender denn je, eine nachhaltige markt-wirtschaftliche Umweltpolitik als Chance und als Motorfür Innovation, Wachstum und Beschäftigung zu begrei-fen. Sie bietet Chancen für Wachstum und Beschäftigung,insbesondere im Mittelstand. Anstatt hier unsinnige undwissenschaftlich nicht messbare Forderungen zu stellen,wie dies die Grünen erneut unter Beweis gestellt haben,ist es unser Ziel, die weltweit führende Rolle Deutsch-lands bei den Umwelttechnologien weiter auszubauen.

Die Politik kann unterschiedliche Wege beschreiten,um der zunehmenden Umweltbelastung und -verschmut-zung Einhalt zu gebieten. Dabei sollten wir aber nichtdazu übergehen, durch neue Berichterstattungen und Sta-tistiken, deren wissenschaftliche Erkenntnis zudemumstritten ist, den Bürgerinnen und Bürgern in unseremLand höhere Abgaben oder Gebühren aufzuzwingen.Eine gerechte Kostenanlastung kann auch erfolgen, in-dem man beispielsweise Subventionen für den wirtschaft-lich nicht konkurrenzfähigen Solarstrom abbaut und dieGelder lieber zugunsten der Entwicklung effizientererTechniken umschichtet.

Dr. Axel Berg (SPD): Die Forderung der Grünen, dass Umweltnutzung und

Umweltbelastungen in wirtschaftliche Analysen und Pro-gnosen eingearbeitet werden sollen, macht Sinn. DieBetrachtung von Umweltverbrauch und dessen wirt-schaftlichen Auswirkungen ist eine Voraussetzung fürnachhaltige Wirtschaftsgestaltung. Und einer nachhalti-gen Wirtschaft fühlen wir uns als Sozialdemokraten ver-pflichtet.

Die Diskussion darüber, ob das Bruttoinlandsprodukteine vernünftige Kenngröße ist, dauert schon lange an.Dass die Reparatur von Umweltschäden oder Beseiti-gung von Umweltverschmutzung zur Erhöhung desBruttoinlandsproduktes führen, mutet schon seltsam an.Das Gleiche gilt übrigens für Unfälle. Wie die Grünen inihrem Antrag schreiben, gibt es mittlerweile auch andereKennzahlen, die für wirtschaftliche Gutachten und Pro-gnosen herangezogen werden können, die Umweltver-brauch und -verschmutzung nicht mehr als erfolgreichesWirtschaftswachstum einstufen. Wenn man in Zukunft sol-che Indikatoren nutzt, könnte dies ein Wechsel weg vonquantitativen hin zu qualitativen Messungen werden.

Im Antrag der Grünen wird das Jahresgutachten desSachverständigenrates für Wirtschaft von 1996 herange-zogen und deutlich gemacht, dass die herangezogenenGrößen wie Bruttosozialprodukt, die volkswirtschaftlicheGesamtrechnung usw. Probleme aufwerfen, weil Eigen-produktion und Schwarzarbeit nicht zur offiziellen Wert-schöpfung beitragen, Umweltnutzung und -zerstörungallerdings positiv zum BIP beitragen oder keine Berück-sichtigung finden.

Aus dem Jahresgutachten selbst geht hervor, dass dieumweltökonomischen Gesamtrechnungen Eingang in dieBewertung des Inlandsproduktes, Konjunkturanalysenund -prognosen finden sollen, so wie es die Grünen for-dern. Im Bericht folgt dann aber ein zusätzlicher Ab-schnitt: „Die lange Zeit gehegte Vorstellung, durchentsprechende Ergänzungen das Sozialprodukt in einÖkosozialprodukt überführen zu können, das objektiv undangemessen die Wohlstandsänderung einer Gesellschaftausdrückt, hat sich bald als nicht erfüllbar erwiesen“(aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates1996, Seite 70). Dieser Satz findet sich im Antrag derGrünen nicht wieder. Das ginge auch nicht, weil er näm-lich erklärt, dass die geforderte Einbeziehung von Um-weltkosten mit den von den Grünen vorgeschlagenen In-dikatoren nicht möglich ist. Prima wäre jetzt gewesen,wenn der Sachverständigenrat selbst eine Lösung vorge-schlagen hätte, wenn er das Problem doch wenigstens er-kennt.

Das große Problem ist immer noch, dass Umweltver-brauch keinen bezifferbaren Wert hat. Das liegt an dernicht vollständig vorhandenen Festlegung, welche Werteund Orientierungen im Zusammenhang mit der umwelt-ökonomischen Gesamtrechnung als nachhaltig angese-hen werden. Zusätzliche normative Vorgaben, die lautJahresgutachten notwendig sind, machen den Unter-schied zum volkswirtschaftlichen Rechnungswesen ausund machen es deshalb schwierig, „bei der Diagnose dergesamtwirtschaftlichen Entwicklungen die Ergebnisseder umweltökonomischen Gesamtrechnungen zu berück-sichtigen“ (aus dem Jahresgutachten des Sachverständi-genrates 1996, Seite 70).

Es hat den Anschein, als seien die von den Grünen vor-geschlagenen Indikatoren nicht geeignet, eine Umweltbe-richterstattung außerhalb der umweltökonomischen Ge-samtrechnung zu gewährleisten. Diese zu finden, ist dieHerausforderung der nächsten Zeit.

Richtig ist aber, dass Umweltverbrauch und Umwelt-verschmutzung einen negativen Wert bekommen müssen,wenn die Entwicklung eines Landes analysiert wird unddaraus Folgerungen für die Zukunft geschlossen werdensollen.

Dafür sollte aber in den Ausschussberatungen geprüftwerden, ob neue und qualitativ angelegte Indikatoren füreine Umweltberichterstattung herangezogen und dannspäter für Prognosen und Analysen verwendet werdenkönnen oder aber normativ Werte festgesetzt werden müs-sen, mit denen Umweltverbrauch in den Gesamtrechnun-gen zu berücksichtigen ist. Der Sachverständigenrat isteingeladen, mitzudenken.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Axel Berg

Gudrun Kopp (FDP): Das Ziel des Sachverständigenrates ist die Beobach-

tung des Vierecks aus Stabilität des Preisniveaus, hohemBeschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleich-gewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum.Demgegenüber dokumentieren die UmweltökonomischenGesamtrechnungen (UGR), inwieweit die Natur durch dieWirtschaft und die privaten Haushalte verbraucht, ent-wertet oder gar zerstört wird. Hier wird bereits dasKernproblem dieses Antrags von Bündnis 90/Die Grünenklar: Die monetäre Bewertung von Umweltvermögen und-schäden usw. ist sehr schwierig, da keine Marktpreiseexistieren. Die Grundverschiedenheit in den Ansätzenmacht deutlich, dass eine Erweiterung der Aufgabe desSachverständigenrates keinen zusätzlichen Erkenntnis-gewinn bringen würde. Ist ein Null- oder Minuswachstumbei hoher Arbeitslosigkeit deswegen erträglicher, weil dieUGR ein positives Ergebnis zeigen?

Ich halte die Einbeziehung in die VolkswirtschaftlichenGesamtrechnungen (VGR) bzw. die Gemeinschafts-diagnose für nicht sinnvoll. Eine gemeinschaftliche Kon-junkturprognose, die führende deutsche Wirtschaftsfor-schungsinstitute jeweils im Frühjahr und im Herbst einesJahres erstellen, kann in Zukunft schwerlich vorhersehen,wie viel Natur durch das prognostizierte Wachstum ver-braucht wird. In diesem Fall müsste es einen klaren Zu-sammenhang zwischen größerer Wertschöpfung bzw.Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch geben. DieEntwicklung des Energieverbrauchs zeigt, dass es diesenZusammenhang nicht gibt. Der Energieverbrauch ist imLaufe der Zeit weniger stark angestiegen als das BIP.Diese Entkopplung zeigt, dass aus mehr Wachstum ge-rade nicht auf mehr Verbrauch an „sauberer Luft“ oderan Ressourcen geschlossen werden kann.

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als zentraler Schwer-punkt der VGR ist natürlich kein vollkommen befriedigen-der Wohlfahrtsindikator. Die Gründe dafür liegen abernicht nur an den von Bündnis 90/Die Grünen formuliertenSchwächen. Für im BIP unberücksichtigte Faktoren wiewohlfahrtssteigernde Bildungsmöglichkeiten oder dieGesundheitsversorgung wurden allerdings extra Sozial-indikatoren von der OECD entwickelt.

Neben den „Wirtschaftsweisen“ gibt es zudem bereitseinen Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die Ergeb-nisse der UGR werden überdies ohnehin veröffentlichtund können zur Bewertung einzelner Sachverhalte beiBedarf herangezogen werden. Vor diesem Hintergrundsollten die Gutachten der Wirtschaftsweisen und der Kon-junkturinstitute nicht überfrachtet werden.

Die Erfassung von Umweltschäden und deren monetäreBewertung sind schwierig, da keine realen Marktpreiseexistieren. Dementsprechend ließen sich wirklichkeits-fremde Berechnungen durch ungenaue Schätzungen undFehler beim Erstellen der UGR nicht vermeiden. Würden,wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlägt, diese Be-rechnungen dennoch mit einbezogen, führte dies unwei-gerlich zu unsichereren Ergebnissen statt zu einer präzi-seren Gemeinschaftsdiagnose bzw. Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Erschwerendkommt hinzu, dass anders als bei den VGR, bei den UGR

keine umfassenden Revisionen stattfinden, wodurch neueDaten und Statistiken nur in Teilbereichen einbezogenwerden könnten.

Der internationale Vergleich zeigt, dass nur wenigeLänder bisher ähnlich umfassende Daten zu den UGRerstellen. Eine internationale Vergleichbarkeit einer Ge-meinschaftsdiagnose, wie sie in diesem Antrag vorge-schlagen wird, würde damit zusätzlich erheblich er-schwert.

Wir Liberalen lehnen aus diesen Gründen den vor-liegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Dervorliegende Antrag dient allenfalls umweltaktionisti-schen Darstellungen in der Öffentlichkeit. Ein wirklicherNutzen ist weder für die Umwelt noch die Wirtschaft er-kennbar. Die möglichst realitätsnahen, am erwähntenKanon orientierten Konjunktur- und Wirtschaftsanalysenund Prognosen dürfen daher nicht durch ungenaue Erhe-bungen verwässert werden. Dass diese Berechnungenkeinen Anspruch als allumfassender Wohlfahrtsindikatorerheben, versteht sich – zumindest für die FDP-Fraktion –von selbst.

Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): Die Fraktion der Grünen verlangt in ihrem Antrag,

dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge-samtwirtschaftlichen Entwicklung und die Wirtschafts-forschungsinstitute zukünftig auch die Umweltbelastunganalysieren und prognostizieren. Dieser Forderungstimmt Die Linke zu. Die Wirtschaftspolitik muss grund-legend geändert werden, weil wir die Umweltzerstörungaufhalten müssen. Dafür ist wissenschaftlicher Rat hilf-reich. Man darf allerdings nicht überschätzen, was damitgewonnen wäre. Zunächst einmal kann nicht alles, wasuns am Herzen liegt, in Euro bewertet werden. Das giltauch für saubere Luft und schöne Landschaften. Mankann deshalb nicht einfach vom Bruttoinlandsprodukt dieUmweltzerstörung in Euro abziehen und dadurch ein ob-jektives Ökoinlandsprodukt berechnen, das es zu maxi-mieren gilt. Das Statistische Bundesamt verzichtet zuRecht in seiner Umweltökonomischen Gesamtrechnungauf die Bewertung von Umweltzustand und Umweltbelas-tung in Geldeinheiten. Es geht also nicht um eine Korrek-tur der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondernum eine Ergänzung.

Die Vorstellung, Umweltzerstörung in Geld ausdrü-cken zu können, reduziert die Umwelt auf ein Wirtschafts-gut. Auch das Statistische Bundesamt ist davon nicht frei.Im Bericht zu den Umweltökonomischen Gesamtrechnun-gen 2008 ist zu lesen, dass Ökosysteme wie die Atmos-phäre, so wörtlich, Dienstleistungen für wirtschaftlicheAktivitäten zur Verfügung stellen. Das Verhältnis vonMensch und Natur wird also als Beziehung zwischenDienstleister und Kunden gedacht. Das ist blanker Öko-nomismus.

Wenn man Schäden für Mensch und Natur nicht er-schöpfend in Geld bewerten kann, dann bleibt die Abwä-gung eine Frage der Politik. Darüber muss öffentlich dis-kutiert und entschieden werden. Sie kann nicht an einExpertengremium delegiert werden. Sie kann auch nichtan den Markt delegiert werden. Anhänger einer grünen

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Herbert Schui

Marktwirtschaft argumentieren, dass der Markt zum rich-tigen Ergebnis führt, wenn alle Kosten in den Preisen be-rücksichtigt werden. Sie folgen damit der Theorie vonMilton Friedman, einem der Begründer des Neoliberalis-mus, demzufolge der Markt eine demokratische Institu-tion ist. Der Ansatz scheitert jedoch daran, dass nicht alleSchäden auf geldwerte Kosten reduziert werden können,ganz abgesehen von der Unsicherheit, was zukünftigeSchäden betrifft. Dazu kommt der Verteilungseffekt diesesAnsatzes: In einer grünen Marktwirtschaft kann man sichUmweltverschmutzung leisten, wenn man nur genügendGeld hat.

Die Alternative dazu sind politische Entscheidungen,bestimmte Produktionstechniken vorzuschreiben oder zuverbieten oder verpflichtende Grenzwerte zu setzen. Eskann nicht schaden, wenn sich der Sachverständigenratoder die Wirtschaftsforschungsinstitute mit diesen Fra-gen beschäftigen und die Öffentlichkeit beraten. Solangesie jedoch an ihrer Marktgläubigkeit festhalten, werdenihre umweltpolitischen Empfehlungen kaum besser seinals ihre Wachstumsprognosen in jüngster Vergangenheit.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir befinden uns mitten in einer schweren Wirtschafts-

krise, und wir befinden uns in einer noch schwereren Kli-makrise. Inzwischen dürfte jedem klar geworden sein,dass diese Krisen zusammenhängen. Sie müssen darumauch zusammen gelöst werden. Wirtschaftliche Tätigkeitdarf in Zukunft nicht mehr in derselben Weise auf Kostendes Klimas gehen wie heute.

Eine nachhaltige und umwelt- bzw. klimaschonendeWirtschaft muss man gestalten. Zuvor aber muss man er-fassen, welche Belastungen für Umwelt und Klima dasWirtschaften erzeugt. Wenn es um die Wirtschaft geht, gu-cken wir aber immer nur auf das Bruttoinlandsprodukt(BIP). Auch jetzt, in der Wirtschaftskrise, starren wirängstlich auf die Zahlen. Um wie viel wird unsere Wirt-schaft dieses Jahr schrumpfen? Um 4 Prozent? Um 5 Pro-zent?

Das BIP misst den Wert der im Inland hergestelltenWaren und Dienstleistungen, abgeleitet aus den Volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnungen, VGR. Es ist einestandardisierte Größe, die internationale Vergleichsmög-lichkeiten bietet, und daher unverzichtbar. Das BIP proKopf wird im internationalen Vergleich als Wohlstands-indikator herangezogen. Je höher das BIP pro Kopf einesLandes, desto reicher ist das Land im Vergleich zu ande-ren.

Weil das BIP so bequem zu handhaben ist, werdenseine Schwächen gern übersehen. Die Höhe des BIP istunabhängig davon, inwieweit bei der Wertschöpfung Ka-pital unwiederbringlich verbraucht wird. Das gilt auchfür Ressourcen und Fläche. Die Kosten von Umweltzer-störung werden nicht angemessen erfasst, im Gegenteil.Werden Umweltschäden behoben, zum Beispiel indemkontaminierter Boden abgetragen und ersetzt wird, stei-gern die dabei anfallenden Kosten das BIP. So entstehtdas Paradox, dass – zumindest in der Logik des BIP – dieZerstörung der Umwelt als wohlfahrtssteigernd gilt.

Diese Schwächen des BIP sind seit langem bekannt. Inseinem Jahresgutachten 1996/1997 hat der Sachverstän-digenrat bereits darauf hingewiesen. Er regte an, die Um-weltökonomischen Gesamtrechnungen, UGR, beim BIPzu berücksichtigen und in die Konjunktur- und Wachs-tumsanalyse einzubeziehen. Das ist aber in den folgendenJahresgutachten nie geschehen. Wir haben mit den UGRbereits ein auf die VGR abgestimmtes System für die Um-weltmessung. Diese Daten werden auch veröffentlicht,erfahren aber bei weitem nicht das Interesse, das demBIP zukommt.

Darum nehmen wir den Sachverständigenrat beimWort und fordern genau das, was er vor über zwölf Jahrenvorgeschlagen hat. Die Umweltnutzung und die Umwelt-belastungen sollen ab sofort in die Konjunktur- undWirtschaftsanalyse und in die Prognosen des Sachver-ständigenrats einbezogen werden. Dabei wird auf dieUmweltökonomischen Gesamtrechnungen des Statisti-schen Bundesamtes zurückgegriffen. Die Ergebnisse wer-den Bestandteil der Gutachten des Sachverständigenrats.

Auch in die Gemeinschaftsdiagnose soll die Umwelt-messung einbezogen werden. Dazu muss in der Aus-schreibung des Bundeswirtschaftsministeriums zurGemeinschaftsdiagnose stehen, dass neben den Volks-wirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch die Umwelt-ökonomischen Gesamtrechnungen einbezogen werdenmüssen. Die Umweltnutzung, Umweltbelastungen undihre Veränderungen werden in die Konjunktur- und Wirt-schaftsanalysen sowie Prognosen einbezogen. Damitwürde das BIP relativiert, wir könnten zwischen ressour-censchonendem und zerstörerischem Wachstum unter-scheiden. Auch wenn inzwischen theoretisch große Einig-keit darüber herrscht, dass CO2-armes Wirtschaften dereinzig gangbare Weg aus den Krisen ist, so ist die Hörig-keit gegenüber dem BIP doch noch groß. Wenn wir dasBIP aber ergänzen, werden in Zukunft bei der Bewertungvon Wohlstand nicht mehr nur ein möglichst hohes BIPpro Kopf, sondern zum Beispiel auch eine Verringerungdes CO2-Ausstoßes oder ein möglichst geringer Flächen-verbrauch eine Rolle spielen.

Die große Resonanz auf den Stern-Bericht „The Eco-nomics of Climate Change“ hat klargemacht, dass Zah-len ein Umdenken unterstützen und befördern können.Die Menschen wollen wissen, was Sache ist. Darum soll-ten wir auch bei den deutschen Veröffentlichungen zuWohlfahrt und Wachstum nicht mehr auf die Umweltdatenverzichten – zumal wir bereits eine so gute Datenlagedazu haben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 16/11649 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-

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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor-schriften

– Drucksache 16/12256 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien

Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Eshandelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-gen Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU, Dr. Marlies Volkmer,SPD, Daniel Bahr, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke,Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parla-mentarischen Staatssekretärs Rolf Schwanitz für dieBundesregierung.

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Bereits mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Arznei-

mittelgesetzes wurden im Wesentlichen europäische Vor-gaben in nationales Recht umgesetzt. Inzwischen bestehtallerdings darüber hinaus noch weiterer Handlungsbe-darf. Diesem soll durch die 15. AMG-Novelle Rechnunggetragen werden.

Abgesehen davon ist die Novellierung durch kein zen-trales Thema bestimmt. Denn betroffen ist nicht nur dasArzneimittelgesetz, sondern eine Vielzahl von Gesetzenund Verordnungen, darunter – nur um einige zu nennen –das Betäubungsmittelgesetz, die Arzneimittelpreisverord-nung, das Sozialgesetzbuch V, das Krankenhausentgelt-gesetz und viele andere mehr.

In den ersten Gesprächsrunden stellte sich heraus,dass viele der angesprochenen Punkte konsensual sind;bei einigen noch Diskussionsbedarf besteht. Dieser sollja nicht zuletzt auch durch eine Anhörung abgedeckt wer-den.

Was das Arzneimittelgesetz betrifft, gilt es, europäi-sche Vorgaben umzusetzen, die hauptsächlich die Arznei-mittelsicherheit betreffen. Die Novellierung ist daher be-grüßenswert, da sie dem Verbraucher, also dem Patien-ten, mehr Schutz und Sicherheit gewährt.

So sind auch neben der erweiterten Anzeigepflicht beiStandardzulassungen ergänzende Regelungen zur Redu-zierung von Arzneimittelfälschungen vorgesehen: Auchdas ist ein Beitrag zur Verbesserung der Arzneimittelsi-cherheit.

Einigkeit besteht sicherlich auch darüber, dass die An-passungen sowohl im Bereich der Arzneimittel für neuar-tige Therapien als auch bei Kinderarzneimitteln dringendnotwendig und geboten sind. Denn die zugrunde liegen-den Verordnungen aus Europa gelten bisher unmittelbar.Auch wird hier die besondere Stellung der Kinderarznei-mittel hervorgehoben. Denn oftmals besteht bei der Me-dikation von Kindern das Problem, dass keine speziell ge-testeten und zugelassenen Arzneimittel existieren. DieserUmstand führt zu inadäquaten Dosierungsangaben, wasbei Überdosierung das Risiko von Nebenwirkungen er-höht oder bei Unterdosierung zu einer unwirksamen Be-handlung führt.

Um unsere Kinder besser mit Arzneimitteln versorgenzu können, werden die Entwicklung neuer Arzneimittelgefördert, ihre Verfügbarkeit verbessert und der Zugangzu Informationen erleichtert.

Ein weiterer grundsätzlicher Bestandteil der Anpas-sung des Arzneimittelgesetzes an Europarecht ist dieNeudefinition des Arzneimittelbegriffes. Wenn bisher na-tionaler und europäischer Arzneimittelbegriff auch nichtwortgleich sind, kamen sie in der Anwendung doch in denhäufigsten Fällen bei der Einordnung eines Arzneimittelszu den gleichen Ergebnissen. Kam bei der Anwendungbeider Begriffe ein unterschiedliches Ergebnis heraus,legten unsere Gerichte den nationalen Arzneimittelbe-griff bereits europarechtskonform aus. Auch hier dientdie Neuregelung der rechtlichen Klarstellung und ist da-her zu begrüßen.

In diesem Zusammenhang soll eine „Zweifelsfall“-Re-gelung eingeführt werden. Diese Regelung soll nicht prü-fen, ob nach der Definition ein Arzneimittel vorliegt, son-dern eventuell auftretende Einordnungsproblematikenlösen. Denn in der Praxis kann es vorkommen, dass einErzeugnis sowohl unter die Definition Medizinproduktals auch unter die Definition Arzneimittel fällt. Solche Er-zeugnisse definiert die „Zweifelsfall“-Regelung als Arz-neimittel, die damit den Vorschriften des Arzneimittelge-setzes unterliegen. Auch diese Novellierung ist zubegrüßen. Sie schafft Rechtsklarheit, auch wenn sie na-tionale Gerichte bereits in diesem Sinne anwenden.

Eine weitere europäische Vorgabe betrifft die Sicher-stellung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimit-teln. Durch die Novellierung wird den pharmazeutischenUnternehmen und den Arzneimittelgroßhändlern ein öf-fentlicher Sicherstellungsauftrag für die Versorgung mitArzneimitteln zugewiesen. Während bislang nur den Apo-theken ein solcher Auftrag oblag, haben pharmazeutischeUnternehmen und Arzneimittelgroßhändler nunmehr ge-meinsam sicherzustellen, dass der Bedarf an Arzneimit-teln für unsere Bevölkerung gedeckt wird. Hintergrundist, dass Apotheken auf eine funktionierende Distributionund Lagerung von Arzneimitteln angewiesen sind. Ge-rade dies leisten aber pharmazeutische Unternehmen unddie Arzneimittelgroßhändler. Die Novellierung kommtdaher dem gestiegenen Bedürfnis der Patienten nach,Arzneimittel schnell verfügbar zu haben, und wirkt sichdamit vorteilhaft für die Patienten aus.

In diesem Zusammenhang wird über die europäischeVorgabe hinaus dem vollversorgenden Großhandel einBelieferungsanspruch gegenüber dem pharmazeutischenUnternehmen eingeräumt. Das ist erforderlich, denn derGroßhandel ist für die Arzneimitteldistribution im deut-schen Gesundheitssystem unverzichtbar. Er ermöglichteine zeitnahe und flächendeckende Belieferung der Apo-theken auch in der entsprechenden Angebotstiefe. Umdiese Funktion dauerhaft zum Wohle des Patienten ge-währleisten zu können, benötigt der vollversorgendeGroßhandel den Belieferungsanspruch.

Dabei wird jedoch, wie in der Diskussion im Vorfeldimmer wieder angesprochen, der Vertriebsweg nicht fest-gelegt; der sogenannte Direktvertrieb ist den pharmazeu-

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Dr. Wolf Bauer

tischen Unternehmen nicht verwehrt. Auch hat nichtjeder Großhandel automatisch einen Belieferungsan-spruch. Nur der vollversorgende Großhandel, also derGroßhandel, der über eine entsprechende Angebotstiefeseines Sortimentes verfügt, hat einen Anspruch auf Belie-ferung durch pharmazeutische Unternehmen. Zudem istdie Menge der abzugebenden Arzneimittel beschränkt.Der Anspruch richtet sich auf eine „bedarfsgerechte“ Be-lieferung. Dieser Bedarf kann anhand entsprechenderMarktdaten des jeweiligen Vormonats zuzüglich eines Si-cherheitszuschlages ermittelt werden. Wichtig dabei ist,dass eine „bedarfsgerechte“ Belieferung nur die Nach-frage auf nationaler Ebene betrifft. Der Export und derZwischenhandel innerhalb der Europäischen Union sinddavon nicht umfasst.

In diesen Bereich fällt auch die Änderung der Groß-handelsspanne. Dazu wird ein Arbeitsauftrag an das zu-ständige Bundesministerium für Wirtschaft erteilt. Einweiteres heftig diskutiertes Thema ist – wie könnte es an-ders sein – der Versand von Arzneimitteln und die damitverbundene Problematik der Pick-up-Stellen. Arznei-mittelsicherheit, flächendeckende Versorgung und Ver-braucherschutz sind hier Themen, die so gestaltet seinmüssen, dass die daraus resultierenden hohen Anforde-rungen an die Abgabe von Arzneimitteln erfüllt werden.Ob das Pick-up-Stellen leisten können, ist mehr als frag-lich. Das größte Problem hierbei ist, dass aufgrund ver-fassungsrechtlicher Bedenken Versandhandel und Pick-up-Stellen nicht isoliert von einander betrachtet und einernachhaltigen Lösung zugeführt werden können.

Wolfgang Zöller, unser stellvertretender Fraktionsvor-sitzender, sagte dazu am 18. September 2008 hier im Ple-num: „Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass eineflächendeckende Versorgung nicht durch einen den Wett-bewerb verzerrenden Versandhandel gefährdet wird.Pick-up-Stationen und Arzneimittelautomaten widerspre-chen den hohen qualitativen Anforderungen, die wir andie Abgabe von Arzneimitteln stellen.“

Diesbezüglich hat Wolfgang Zöller auch schriftlichsignalisiert, dass wir die „Forderung von Bayern undSachsen zur Rückführung des Versandhandels auf daseuroparechtlich notwendige Maß“ unterstützen. Die wei-tere Entwicklung und Bundesratsinitiativen bleiben abzu-warten.

Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang sowohldas BMG als auch die ABDA ein Konzept für die Ausge-staltung von Pick-up-Stellen vorgestellt haben. Da keineEinigung über eine gemeinsame Formulierung erreichtworden ist, bleibt es wohl oder übel beim Status quo.

Im Bereich des SGB V sieht die 15. AMG-Novelle eineganze Reihe von wesentlichen Änderungen vor. Hier sindvor allem die Regelungen zum Krankengeld zu nennenund das Generieren eines Einsparpotenzials für die GKVbei den parenteralen Zubereitungen in der Onkologie.Auch hier bleibt es spannend, wie ein guter Weg gefundenwird, der einerseits die Qualität der Versorgung in denonkologischen Praxen und in unseren Krankenhäusern– stationär und ambulant – gewährleistet bzw. verbessert

und andererseits die GKV um 300 Millionen Euro – wieim Entwurf dargestellt – entlastet.

Wir haben also noch eine Menge Gesprächsbedarf zur15. AMG-Novelle. Heute ist ihre erste Lesung. Für An-fang Mai 2009 ist eine Anhörung geplant. Anhand der Er-gebnisse dieser Anhörung und mit allen dann vorliegen-den Gutachten wird es uns – davon bin ich überzeugt –gelingen, noch in dieser Legislaturperiode eine guteAMG-Novelle zu verabschieden.

Dr. Marlies Volkmer (SPD): Wir beraten heute ein Gesetz, dessen Titel nur wenig

über den Inhalt aussagt. Tatsächlich sollten ursprünglichmit der sogenannten 15. AMG-Novelle nur einige Anpas-sungen vorgenommen werden, die durch europäischesRecht und den Vollzug des Arzneimittelgesetzes notwen-dig geworden waren.

Aber das Ende der Legislaturperiode naht: Dienächste Möglichkeit zu Gesetzesänderungen wird es frü-hestens im nächsten Jahr geben. Vor diesem Hintergrundist der Umfang der Kabinettsvorlage beachtlich ange-wachsen. Deshalb werde ich mich auf einige ausgewählteThemen beschränken, die in der Öffentlichkeit diskutiertwerden.

Mehrere Änderungen betreffen die Vertriebsstrukturenvon Arzneimitteln. Die wichtigste Änderung an dieserStelle ist die Übertragung eines öffentlichen Sicherstel-lungsauftrages an den pharmazeutischen Großhandelund die Arzneimittelhersteller.

Die öffentlichen Apotheken sind auf eine kontinuierli-che Belieferung mit Arzneimitteln und eine funktionie-rende Infrastruktur zur Verteilung und Lagerung ange-wiesen. Nach unserer Auffassung ist nur derherstellerneutrale Großhandel in der Lage, dies flächen-deckend sicherzustellen. Damit der Großhandel denneuen Gemeinwohlauftrag erfüllen kann, erhält er durchdas Gesetz einen Anspruch auf eine angemessene undkontinuierliche Belieferung durch die Hersteller. Tat-sächlich sind in der Vergangenheit viele Unternehmendazu übergegangen, Apotheken direkt mit Arzneimittelnzu beliefern und den Großhandel damit zu umgehen. DerGroßhandel konnte dadurch in einigen Teilbereichen dieAnfragen der Apotheken nicht mehr bedienen. Dazukommt, dass die Vergütung des Großhandels bislang vomPreis des Arzneimittels abhängig ist. Da meist teure Arz-neimittel von den Herstellern direkt in die Apotheken ge-liefert werden, zum Beispiel biotechnologisch herge-stellte Medikamente, wurden dem Großhandel erheblicheUmsätze entzogen. Die Industrie hat vielfach beklagt,durch eine solche Regelung würde es ihr unmöglich, Apo-theken auch weiterhin direkt zu beliefern. Dies ist nichtder Fall: Hersteller können auch weiter an Apotheken di-rekt liefern, aber nicht ausschließlich. Es ist an der Apo-theke zu entscheiden, ob sie die Arzneimittel direkt beimHersteller bestellen oder lieber über den Großhändlerbeziehen möchte. Es ist sachgerecht, dass der Apothekerüber den Vertriebsweg entscheidet und nicht der Herstel-ler.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Marlies Volkmer

Noch einmal zurückkommen möchte ich auf die Vergü-tung des Großhandels, die, wie bereits erwähnt, an dieArzneimittelpreise gekoppelt ist. Zwei gleichzeitig auftre-tende Effekte haben die Mischkalkulation der Großhänd-ler in eine Schieflage gebracht: Auf der einen Seite wer-den, wie erwähnt, den Großhändlern teure Präparatedurch den Direktvertrieb entzogen. Auf der anderen Seitesinken durch unsere Reformmaßnahmen – zum Wohl derVersicherten und der gesetzlichen Krankenversicherung –die Preise für Generika. Der Großhandel kann aber seineAufgabe auf Dauer nur dann erfüllen, wenn er eine leis-tungsgerechte und auskömmliche Vergütung erhält. Des-halb soll die Großhandelsvergütung in der Arzneimittel-preisverordnung neu gestaltet werden. Festgelegt wirdallerdings nur, dass das Gesundheitsministerium und dasWirtschaftsministerium einen Vorschlag vorlegen, derzum 1. Januar 2010 in Kraft treten soll. Der Vorschlagsoll die Großhandelszuschläge auf einen preisunabhängi-gen Fixbetrag zuzüglich eines prozentualen Zuschlags fürdie Logistikleistung umstellen. Derzeit wird noch über dieHöhe des Fixbetrages diskutiert. Auf keinen Fall darf dieUmstellung der Vergütung zu einer Mehrbelastung dergesetzlichen Krankenversicherung und damit der Versi-cherten führen.

In der Öffentlichkeit viel beachtet wurden die Ände-rungen, die den Krankengeldanspruch für Selbstständigebetreffen. Bekanntlich wurden mit der letzten Gesund-heitsreform Wahltarife zur Absicherung des Kranken-geldanspruchs für hauptberuflich Selbstständige, unstän-dig und kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Seit dem1. Januar 2009 müssen die Krankenkassen solche Tarifeanbieten. Bei der Umsetzung hat sich allerdings gezeigt,dass vor allem ältere Versicherte von der Regelung be-nachteiligt werden. Deshalb erhalten die genannten Per-sonengruppen künftig wieder die Möglichkeit, wie nor-male Arbeitnehmer einen Krankengeldanspruch gegenZahlung des allgemeinen Beitragssatzes ab der siebtenWoche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Aber auchder Abschluss von Wahltarifen bleibt möglich. Differen-zierungen nach dem individuellen Risiko der Versicher-ten, also Altersabstaffelungen, oder Differenzierungennach dem Geschlecht oder Krankheitsrisiko der Versi-cherten sollen aber künftig nicht mehr zulässig sein.

Viel diskutiert werden auch die Regelungen zur Ab-rechnung von onkologischen Rezepturen. Im Sinne einerGleichbehandlung unterschiedlicher Arzneimittel undDarreichungsformen ist es, dass auch bei Infusionen, dieunter anderem bei der Krebs- oder Rheumatherapie an-gewandt werden, Rabatte und Einkaufsvorteile von denApotheken an die Krankenkassen weitergegeben werden.Damit können die gesetzlichen Krankenkassen erheblichentlastet werden. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehenzu wollen: Wir werden genau darauf achten, dass die Än-derungen in der Praxis umsetzbar sind. Die Sicherstel-lung der flächendeckenden und wohnortnahen Versor-gung der Krebspatienten darf durch die Neuregelungennicht gefährdet werden.

Im Interesse privat krankenversicherter Krebskrankerist eine andere Maßnahme im Zusammenhang mit onko-logischen Zubereitungen. Bisher verlangen die Apothe-ken für die Abgabe neben einem Rezepturzuschlag einen

Zuschlag von 90 Prozent auf den Einkaufspreis der Apo-theke. Ein solcher Zuschlag ist gerechtfertigt, wenn zumBeispiel eine einfache Salbe angefertigt werden muss. Beiteuren Krebsmedikamenten ist das anders: Aufwand undPreis stehen hier in einem krassen Missverhältnis. Hiersind in der Vergangenheit Patienten, Beihilfeträger undprivate Krankenversicherungen finanziell massiv belas-tet worden. Die gesetzliche Krankenversicherung darfRegelungen über Einkaufspreise, Fest- und Rezepturzu-schläge vereinbaren, die von der Arzneimittelpreisver-ordnung abweichen. In Zukunft soll unter anderem auchdie private Krankenversicherung derartige Vereinbarun-gen treffen dürfen. Wenn eine solche Vereinbarung nichtvorliegt, soll auf die Vereinbarungen der gesetzlichenKrankenversicherung zurückgegriffen werden können.

Es gäbe noch viele Themen zu besprechen, was mir ausZeitgründen nicht möglich ist. Deshalb möchte ich Sie aufdie anstehenden Ausschussberatungen und die öffentli-che Anhörung verweisen.

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Die 15. AMG-Novelle beschäftigt sich nur zu einem

kleinen Teil mit arzneimittelrechtlichen Fragen. Sie wirddarüber hinaus von der schwarz-roten Regierung ge-nutzt, um alle möglichen Reparaturen in diversen Geset-zen und Verordnungen vorzunehmen. Erstaunlicherweisebetrifft das auch ein Gesetz, das erst zum 1. Januar 2009in Kraft getreten ist, also vor noch nicht einmal drei Mo-naten, nämlich das Krankenhausfinanzierungsreformge-setz. Aber das ist ja nichts Neues. Es beweist wieder ein-mal, mit welch heißer Nadel die Koalition ihre Gesetzestrickt, unbeeindruckt davon, dass sie damit Chaos undUnruhe schafft und viel zu viele Ressourcen für Repara-turarbeiten vergeudet werden.

Was den arzneimittelrechtlichen Bereich anbelangt,möchte ich nur zwei Beispiele herausgreifen. Das eine istder öffentliche Sicherstellungsauftrag für den Arzneimit-telgroßhandel. Ohne hier eine vorschnelle Wertung vor-nehmen zu wollen, verwundert es doch, dass diejenigen,die kontinuierlich den Sicherstellungsauftrag der Kas-senärztlichen Vereinigungen unterhöhlt haben, nun einensolchen für den Großhandel schaffen wollen. Fraglich istin dem Zusammenhang auch, ob man dem Großhandel ei-nen Belieferungsanspruch einräumen muss. Es mag ord-nungspolitisch sinnvollere Wege geben, wie man sicher-stellen kann, dass Patienten mit den Arzneimittelnversorgt werden können, die sie benötigen. Das alles wer-den wir in der Anhörung im Gesundheitsausschuss nocheinmal ausführlich diskutieren müssen.

Beispiel Nummer zwei: die Versorgung mit patienten-individuellen Rezepturen. Da frage ich mich, warumüberhaupt eine Änderung vorgenommen werden soll. Dieaktuelle Regelung, dass solche patientenindividuellenRezepturen von der Zulassungspflicht ausgenommensind, hat bisher doch nicht zu irgendwelchen Problemengeführt. Warum dies nunmehr auf Zytostatika und Lösun-gen für die parenterale Ernährung beschränkt werdensoll, vermag von daher nicht einzuleuchten. Es gibt an-dere Erkrankungsformen, bei denen ebenfalls solche pa-tientenindividuellen Rezepturen notwendig sind, wie zum

Zu Protokoll gegebene Reden

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Daniel Bahr (Münster)

Beispiel die Mukoviszidose oder die zystische Fibrose.Ich habe nirgendwo eine Begründung gelesen, warumman diese Indikationen anders behandeln sollte als onko-logische Erkrankungen.

Darüber hinaus gibt es aber weitere Punkte, zum Bei-spiel im Krankenhausbereich. Das Krankenhausfinan-zierungsreformgesetz war nicht exakt genug gefasst. Dashat zu Meinungsschwierigkeiten darüber geführt, ob beiVerhandlungen der Landesbasisfallwerte 2009 die kran-kenhausindividuellen Basisfallwerte des Jahres 2008zugrunde gelegt werden oder ob die vereinbarten Landes-basisfallwerte die Grundlage bilden sollen. Die Klarstel-lung im Gesetz ist deshalb vom Grundsatz her zu begrü-ßen. Allerdings muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist,dies schon für das Jahr 2009 so vorzugeben und nicht erstfür die Zeit ab 2010. Bis zum Abschluss des Gesetzge-bungsverfahrens werden in vielen Ländern die Verhand-lungen bereits abgeschlossen sein. Eine Rückabwicklungkann niemand allen Ernstes wollen.

Es gibt ein weiteres Gesetz, bei dem eine Änderungnotwendig ist, weil die entsprechenden Regelungen ein-fach schlecht gemacht waren. Das ist das sogenannteGKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, mit dem insbesonderefür selbstständig Versicherte mit Wirkung ab dem1. Januar 2009 Wahltarife zur Absicherung des Kranken-geldanspruches eingeführt und gleichermaßen der An-spruch auf Absicherung des Krankengeldes im Rahmender „normalen“ Krankenversicherung herausgenommenworden ist. Hier rächt sich, dass man keine klare, saubereLösung gefunden hat. Entweder belässt man den Kran-kengeldanspruch in der Versicherung oder man löst ihnheraus mit der Konsequenz, dass jeder, der das absichernmöchte, dies privat tun kann und dann auch sicher ist,dass er seinen Anspruch behält. Will eine gesetzlicheKrankenversicherung ihren Versicherten ein Gesamtan-gebot unterbreiten, kann sie entsprechende Kooperatio-nen mit privaten Anbietern eingehen. Darüber hinaushätte man selbstverständlich für eine Übergangsregelungfür diejenigen sorgen müssen, die aufgrund ihres Lebens-alters oder ihres Krankheitsrisikos mit besonders hohenPrämien zu rechnen hatten. All das hat die Regierung ver-säumt. Stattdessen will die Regierung jetzt einen Wahlta-rif der gesetzlichen Krankenkassen schaffen, der keineAlters- und Risikostaffelungen vorsehen darf, und will zu-dem die Möglichkeit einräumen, über einen Zuschlag dasKrankengeldrisiko im Rahmen der „normalen“ Verträgeabzusichern. So etwas führt zwangsläufig zu Risikoselek-tion. Die Zeche all dieser Reparaturarbeiten, die wie-derum schlecht ausgeführt werden, zahlen die Bürger.

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Än-

derung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriftenwird die Umsetzung der EU-Verordnungen 1901/2006und 1394/2007 zum Anlass genommen, ein komplexesSammelsurium von Gesetzesänderungen vorzulegen. Daserscheint nachvollziehbar, ist es doch eine der letztenMöglichkeiten für die Bundesregierung, erforderlicheÄnderungen auf den Weg zu bringen. Allerdings sagt esviel über die Arbeitsweise der Bundesregierung aus, dass

wieder einmal Fehler früherer Gesetzesänderungen kor-rigiert werden müssen.

Zu den zahlreichen erst kürzlich beschlossenen und inKraft getretenen Regelungen, die präzisiert, zurückge-nommen oder ausgeführt werden, gehört beispielsweisedie Änderung zum Krankengeld, die gerade zum 1. Ja-nuar 2009 in Kraft getreten ist. Hier zeigt sich der man-gelnde Weit- und Überblick dieser Regierung. Hier fehltes an einer klaren Linie und an klaren Zielen. Dabei sollnicht vergessen werden, dass durch solche Schnell-schüsse auch Kosten entstehen. Mir liegen Schreiben vonKrankenkassen vor, die zu Recht die Kosten für die Ent-wicklung und Kalkulation von Wahltarifen zum Kranken-geld beklagen, die nun nicht mehr gebraucht werden. Be-trachte ich diese Gesetzesvorlage, bin ich mir ziemlichsicher, dass auch die hier vorgeschlagenen Regelungenzum Teil nur eine geringe Halbwertzeit aufweisen wer-den, wenn sie so beschlossen werden.

Die vorgelegten Regelungen zum Krankengeld sindnur teilweise eine Lösung für die Probleme, die durch diekürzlich in Kraft getretenen Gesetzesänderungen entstan-den sind. Es gibt zahlreiche Kritikpunkte. Die Beibehal-tung eines Wahltarifs als einer freiwilligen Absicherungwird beispielsweise zweifellos dazu führen, dass geradegeringverdienende Selbstständige sich diesen Aufwandnicht leisten werden oder können. Damit werden imKrankheitsfall Transferleistungen notwendig, also Kos-ten nur verschoben. Vielen selbstständigen Frauen dürftees auch nicht bekannt sein, dass am Wahltarif für Kran-kengeld auch das Mutterschaftsgeld hängt. Dies wirdletztlich auch auf die noch ungeborenen Kinder zurück-fallen. Wir brauchen ein bezahlbares Krankengeld füralle.

Die geplanten Regelungen in den §§ 129 und 129 aSGB V sollen dazu beitragen, dass die Preiskalkulationvon Apotheken und Krankenhausapotheken bei der Zube-reitung von Fertigarzneimitteln für die Krebsbehandlungklarer wird und die Krankenkassen auch von niedrigenEinkaufspreisen profitieren. Wenn man sich in diese Lo-gik hineinbegibt, ist die Regelung logisch. Allerdingssollte dabei berücksichtigt werden, dass weiterhin An-reize für die Krankenhäuser und Apotheken bestehenbleiben müssen, Arzneimittel günstig einzukaufen bzw.herzustellen. Ansonsten entstehen den Krankenkasseneher Mehrkosten und die Versorgungsstruktur mit onko-logischen Arzneimitteln wird gefährdet.

Die Bundesregierung stärkt auch den Pharmagroß-handel. Das ist zu begrüßen. Damit ist sichergestellt, dassalle Medikamente flächendeckend und schnellstmöglichan die Apotheken und damit an die Patientinnen und Pa-tienten geliefert werden können. Der Entwurf der Regie-rung beinhaltet die Verpflichtung der Hersteller, denGroßhandel zu beliefern, und des Großhandels, die Ver-sorgung der Apotheken sicherzustellen. Zudem wurde mitder Einführung eines preisunabhängigen Fixzuschlagsdie Vergütung für den Großhandel angepasst. Dies solldafür sorgen, dass sich auch der Vertrieb niedrigpreisigerArzneimittel lohnt. Damit scheint ein Schritt in die rich-tige Richtung vollzogen zu werden. Fraglich bleibt, wieder zunehmenden Monopolbildung im Großhandel entge-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Martina Bunge

gengewirkt werden kann. Diese wird ansonsten auf Dauerzu Versorgungs- und Kostenproblemen führen.

Im Gesetzentwurf sind also Verbesserungen vorgese-hen; einige wünschenswerte und lange überfällige Ver-besserungen fehlen jedoch. Wenn es schon die Arbeits-weise dieser Bundesregierung ist, Gesetze mit zahllosenRegelungen anzureichern und mit nachfolgenden Geset-zesänderungen vorherige Gesetze zu korrigieren, dannsollte sie dies wenigstens konsequent fortführen. Sokonnte sich die Bundesregierung nicht durchringen, end-lich Regelungen zum Versandhandel mit Arzneimitteln zuerlassen. Nicht zuletzt aufgrund des sogenannten dm-Ur-teils des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2008besteht aus unserer Sicht Handlungsbedarf. Die Linkewill eine patientennahe, sichere und rasche Arzneimittel-versorgung auf lange Sicht flächendeckend sicherstellen.Die unabhängige und umfassende Beratung in den Apo-theken soll daher weiter ausgebaut werden. Den Versand-handel nur auf rezeptfreie Arzneimittel zu beschränken,kann unseres Erachtens hierzu einen wichtigen Beitragliefern. Einen entsprechenden Antrag hat meine FraktionDie Linke in den Bundestag eingebracht. Diese Änderungkönnte hier ganz leicht eingefügt werden.

Ebenso verpasst die Bundesregierung die Chance,eine weitere Korrektur ihrer Politik bei der Hilfsmittel-versorgung vorzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass dieAusschreibungen genau zu den Problemen geführt haben,die meine Fraktion bei der Einführung der Ausschreibun-gen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz befürch-tet hatte. Die niedrigsten Preise bestimmen die Ausschrei-bungen, und die Notleidenden sind die Patientinnen undPatienten, die weder wohnortnah noch qualitativ hoch-wertig versorgt werden. Die Auswirkungen fehlenderQualität bekommen derzeit beispielsweise zahlreicheMenschen zu spüren, die auf Inkontinenzartikel angewie-sen sind.

Als fehlend sind weiterhin zu benennen: der Abbau derüberstarken Belastung geringverdienender Selbstständi-ger durch Krankenkassenbeiträge oder die Sicherung dervollständigen Versorgung für Personen, die mit Kranken-kassenbeiträgen im Rückstand sind. So aber bleibt dieserGesetzentwurf trotz einiger guter Ansätze hinter seinenMöglichkeiten zurück.

Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bereits die Überschrift dieses Gesetzespaketes macht

deutlich, dass wir es nicht mit einer der üblichen Arznei-mittelgesetznovellen zu tun haben. Normalerweise wür-den wir von der 15. AMG-Novelle sprechen, aber derOmnibus ist so vollgeladen, dass dies sogar in der Über-schrift deutlich werden muss.

Aus dem Kontext des Arzneimittelrechtes will ich zweiAspekte aufgreifen: den Großhandel und die Definitionanthroposophischer Arzneimittel.

Der Sicherstellungsauftrag zur flächendeckendenVollversorgung mit Arzneimitteln soll auf den Großhan-del und die pharmazeutischen Unternehmen ausgeweitetund eine Lieferverpflichtung von Pharmaherstellern ein-

geführt werden. Ergänzend soll die Arzneimittelpreisver-ordnung geändert werden.

Für uns Grüne stellen sich die Fragen: Sind dieseMaßnahmen notwendig? Sind sie auch in Zukunft tragfä-hig oder werden Strukturen zementiert und der Wettbe-werb verschiedener Vertriebswege verzerrt? Sinnvoll undkonsequent erscheint uns die Ersetzung der prozentualenund damit preisabhängigen Großhandelszuschläge durcheinen Fixbetrag plus ergänzenden prozentualen Zuschlag.Systematisch knüpft dies an die Umstellung der Apotheken-zuschläge an und würde die tatsächlichen Distributions-leistungen des Großhandels realistischer abdecken als dasbestehende System. Dies darf, wie vorgeschlagen, nicht zuzusätzlichen Belastungen der Krankenkassen und somitder Versicherten führen. Diese Umstellung kann jedochauch ohne die Einführung des erweiterten Sicherstel-lungsauftrags geschehen; die Verknüpfung, die die Bun-desregierung aufstellt, leuchtet nicht ein.

Die Erweiterung des Sicherstellungsauftrages auf denGroßhandel sehen wir kritisch. Ist dies ein Schutzschirmüber den Großhandel, der bereits jetzt eher oligopolis-tisch strukturiert ist? Ver- oder behindert der Vorschlagnicht die Entwicklung neuer veränderter Strukturen inder Arzneimitteldistribution?

Bereits die Umstellung der Preisverordnung dürfteAuswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Direktver-trieb und Großhandel haben; der Anreiz zum Direktver-trieb hochpreisiger Medikamente wird sinken. Warumzum jetzigen Zeitpunkt darüber hinausgehende Regelun-gen notwendig sein sollten, erschließt sich uns nicht.

Es ist begrüßenswert, dass nun auch anthroposophi-sche und nicht nur homöopathische und pflanzliche Arz-neimittel definiert werden. Warum jedoch im Gegensatzzu den dortigen Definitionen nicht nur die Entwicklungund Herstellung gemäß der anthroposophischen Men-schen- und Naturerkenntnis, sondern auch die Anwen-dung nach diesem Ansatz Bestandteil der Definition seinsoll, ist nicht nachvollziehbar.

Aus den weiteren 17 Artikeln möchte ich noch zweiAspekte aus dem SGB V aufgreifen: Das Krankengeldund die ambulante Versorgung psychisch kranker Kinder.

Positiv zu bewerten ist die Einsicht der Bundesregie-rung, dass die mit der Gesundheitsreform eingeführteNeuregelung des Krankengeldes für Selbstständige sowieunständig oder kurzzeitig Beschäftigte korrigiert werdenmuss. Die vorgeschlagenen Regelungen – Anspruch aufgesetzliches Krankengeld – scheinen jedoch, wie sich ausder massiven Kritik von Betroffenen als auch der Kran-kenkassen schließen lässt, zu kurz gesprungen. Geradefür die Gruppe der unständig Beschäftigten fehlen dienotwendigen Verbesserungen. Die Krankenkassen nachwenigen Monaten zu einem völlig neu zu kalkulierendenWahltarif zu verpflichten, von dem nicht abzuschätzen ist,ob er überhaupt angenommen wird, fällt eher in die Ka-tegorie „überflüssig“. Der Unterausschuss „Arzneimit-tel“ des Gesundheitsausschusses des Bundesrats fordertzu Recht, die Wahltarife von einer Muss- in eine Kannbe-stimmung zu ändern.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Birgitt Bender

An den massiven Problemen der Fortführung der So-zialpsychiatrievereinbarung, die wir in den letzten Mona-ten erlebten, zeigt sich einmal mehr, welche negativenFolgen die Einführung des Gesundheitsfonds nach sichzieht. Der Vorschlag der Bundesregierung, die SPV füralle Krankenkassen einheitlich zu regeln, wird von unsGrünen sehr begrüßt. Im Gesetzgebungsprozess solltenwir jedoch intensiv erörtern, ob diese Regelung ausreicht.Aus Baden-Württemberg wird mir berichtet, dass Kran-kenkassen die Regelungen so interpretieren, dass sie nurdie sozialpädiatrische Diagnostik übernehmen wollenund die Kinder und Jugendlichen zur Therapie an die Ju-gendhilfe verwiesen werden sollen. Dies entspricht ausmeiner Sicht nicht dem Wunsch des Gesetzgebers undsollte klargestellt werden. Ebenso notwendig ist es, dassdie Krankenkassen Übergangsregelungen bis zum In-krafttreten dieses Gesetzes abschließen.

Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin für Gesundheit:

Der von der Bundesregierung heute eingebrachte Ent-wurf für ein Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicherund anderer Vorschriften enthält im Wesentlichen Anpas-sungen des Arzneimittelgesetzes an europäische Verord-nungen und an Erfahrungen aus dem Vollzug. Mit demGesetzentwurf wird die Arzneimittelsicherheit weiter ver-bessert. Zudem werden so weit wie möglich Verfahrenser-leichterungen für die Arbeit der Behörden und der Unter-nehmen geschaffen.

Der Gesetzentwurf enthält neben den Änderungen desArzneimittelgesetzes Änderungen anderer Gesetze, insbe-sondere des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Wesentli-che Anpassungen im Arzneimittelgesetz gehen auf zweiEG-Verordnungen zurück: die Verordnung über Arznei-mittel für neuartige Therapien und die über Kinderarz-neimittel.

Arzneimittel für neuartige Therapien unterliegengrundsätzlich der europäischen Verordnung. Zu den Arz-neimitteln für neuartige Therapien zählen zum Beispielbiotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, die in derregenerativen Medizin angewendet werden. Soweit sol-che Arzneimittel nicht routinemäßig, sondern individuellfür einzelne Patientinnen und Patienten hergestellt wer-den, unterliegen sie nicht den Zulassungsregelungen derEU-Verordnung. Deshalb sollen im Arzneimittelgesetzähnliche Qualitäts- und Sicherheitsstandards geschaffenwerden, wie sie auch in den Fällen routinemäßiger, alsoindustrieller Herstellung im Rahmen der EU-Verordnungerfüllt werden müssen. Damit werden der Zugang der Pa-tientinnen und Patienten zu diesen Arzneimitteln und zu-gleich ein hohes Qualitäts- und Sicherheitsniveau ge-währleistet.

Hinsichtlich der Verordnung über Kinderarzneimittelsind im AMG insbesondere Bußgeldbewehrungen undKlarstellungen zur Kennzeichnung vorgesehen.

Nach der Föderalismusreform ist es möglich und ausGründen der Arzneimittelsicherheit auch erforderlich,die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes auch auf solcheArzneimittel auszudehnen, die nicht dazu bestimmt sind,in Verkehr gebracht zu werden. Damit werden auch ins-

besondere solche Arzneimittel erfasst, die von der Ärztinoder vom Arzt zur Anwendung an den eigenen Patientin-nen und Patienten selbst hergestellt werden.

Zur weiteren Erhöhung der Arzneimittelsicherheitdient die Regelung des Anwendungsverbotes bedenkli-cher Arzneimittel.

Einen wichtigen Beitrag zu mehr Arzneimittelsicher-heit leisten die Regelungen zum Schutz vor Fälschungen.Hier werden insbesondere die derzeit für Arzneimittelgeltenden Vorschriften auch auf Wirkstoffe zur Arzneimit-telherstellung ausgedehnt.

Schließlich enthält der Entwurf Ergänzungen zur kli-nischen Prüfung im Interesse des Schutzes der Probandenund der Arzneimittelentwicklung.

Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimit-telversorgung für die Patientinnen und Patienten ge-währleistet ist, erhalten der Großhandel und der pharma-zeutische Unternehmer einen Sicherstellungsauftrag fürdie Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patien-ten. Hierfür ist es notwendig, dass der vollversorgendeGroßhandel einen gesetzlichen Belieferungsanspruch ge-genüber der Pharmaindustrie erhält, damit er seiner Ver-antwortung nachkommen kann. Darüber hinaus wird derVerordnungsgeber verpflichtet, die Großhandelsspannenneu zu gestalten.

Die Änderungen im Betäubungsmittelgesetz dienen imWesentlichen der Anpassung an Regelungen und Ände-rungen im Arzneimittelgesetz und in anderen Vorschrif-ten. Für Patientinnen und Patienten bei klinischen Prü-fungen und „Compassionate Use“ ist eine Ausnahmevon der betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnispflichtvorgesehen. Damit werden die (Prüf-)Ärztinnen und(Prüf-)Ärzte und das Bundesinstitut für Arzneimittel undMedizinprodukte von unnötigem bürokratischen Aufwandentlastet. Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittel-verkehrs bleiben in gleichem Maße gewährleistet.

Lassen Sie mich nun kurz die wichtigsten Änderungender Gesetze benennen, die nicht im Zusammenhang mitden Änderungen des Arzneimittelgesetzes stehen: Beson-ders hervorzuheben sind die Änderungen im SGB V, ins-besondere die Änderungen zum Krankengeld: Das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hat für bestimmte Versi-chertengruppen mit Wirkung ab 2009 Wahltarife zur Ab-sicherung des Krankengeldanspruchs eingeführt. Damitwurden flexible Angebote für die Versicherten ermög-licht. Bei der Umsetzung der Vorgaben durch die Kran-kenkassen hat sich allerdings gezeigt, dass die gesetzli-chen Vorgaben zur Vermeidung von ungerechtfertigtenBelastungen, vor allem bei älteren Versicherten, und zurVerwaltungsvereinfachung angepasst werden müssen.Versicherte, die einen Krankengeldanspruch nach denRegelungen des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes seit1. Januar 2009 allein über einen Wahltarif absichernkonnten, erhalten deshalb künftig wieder die zusätzlicheOption, wie Arbeitnehmer gegen Zahlung des allgemei-nen Beitragssatzes einen „gesetzlichen“ Krankengeld-anspruch ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeitabzusichern. Daneben ist auch weiterhin der Abschlussvon Wahltarifen möglich. Auch über den „gesetzlichen“

Zu Protokoll gegebene Reden

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Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz

Anspruch hinausgehende Absicherungswünsche könnenweiterhin über Wahltarife realisiert werden. Entgegender bisherigen Praxis vieler Krankenkassen sind künftigaber Differenzierungen nach dem individuellen Risikoder Versicherten, insbesondere also Altersstaffelungen,nicht mehr möglich.

Eine weitere wichtige Änderung im SGB V ist die Re-gelung zur Sicherung der Fortführung der Versorgungmit Leistungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Auf-grund von Kündigungen der Sozialpsychiatrie-Vereinba-rungen durch Krankenkassen ist bei den betroffenen Ärz-tinnen und Ärzten, deren Mitarbeiterinnen undMitarbeitern und den betroffenen Patientinnen und Pa-tienten sowie deren Familien erhebliche Unsicherheitentstanden, da die Finanzierung nichtärztlicher Leistun-gen im Rahmen sozialpädiatrischer und psychiatrischerTätigkeit zur Disposition gestellt wurde. Um die Sorgeüber die Fortführung der Versorgung mit Leistungen derSo-zialpsychiatrie-Vereinbarung zu beenden, wird ge-setzlich klargestellt, dass die Krankenkassen für dieseLeistungen eine angemessene Vergütung vereinbarenmüssen und dass das Nähere hierzu im Bundesmantelver-trag zu vereinbaren ist.

Hervorheben möchte ich die Änderungen im SGB Vzur Abrechnung parenteraler Zubereitungen. Apotheken,die Arztpraxen mit Infusionen und anderen parenteralenZubereitungen versorgen, sollen künftig offenlegen, wosie die Arzneimittel eingekauft haben, aus denen die Zu-bereitung hergestellt worden ist. Das verbessert die Arz-neimittelsicherheit. Außerdem sollen die Einkaufsvorteilefür Infusionsarzneimittel weitergeleitet werden. Rabattesollen nicht in der Vertriebskette versickern. Das Geldsoll in die medizinische Versorgung der Patientinnen undPatienten fließen. Die Apotheken erhalten auch die Mög-lichkeit, künftig die Einkaufspreise für Arzneimittel zurHerstellung von Infusionen frei zu vereinbaren. Dies ver-bessert die Wirtschaftlichkeit und stärkt die ortsnahe Ver-sorgung durch Apotheken.

Der Gesetzentwurf enthält auch die Regelungen zurelektronischen Gesundheitskarte. Im Zusammenhang mitihrer Einführung hat sich aus unterschiedlichen GründenAnpassungsbedarf für gesetzliche Regelungen ergeben.Um den Arbeitsabläufen in der Praxis Rechnung zu tra-gen, soll in Zukunft neben den Leistungserbringern auchderen Praxispersonal befugt sein, die Einwilligung derVersicherten zum Speichern ihrer Daten mittels der elek-tronischen Gesundheitskarte zu dokumentieren. Darüberhinaus wird klargestellt, dass auch die ambulant tätigenKrankenhäuser von den bestehenden Finanzierungsrege-lungen erfasst sind. Zusätzlich werden die bereits beste-henden umfangreichen Aufgaben des Bundesamtes für Si-cherheit in der Informationstechnik detaillierter imGesetz geregelt. Die gesetzlichen Anpassungen sind er-forderlich, um die Einführung der elektronischen Ge-sundheitskarte weiter zu unterstützen.

Der Entwurf enthält ein ganzes Bündel wichtiger Maß-nahmen, nicht zuletzt wegen der europarechtlichen Be-züge müssen wir den Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sieuns daher nun konzentriert und intensiv im Ausschussüber den Entwurf beraten.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/12256 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten VolkerBeck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, BirgittBender, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Le-benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-setze im Bereich des Adoptionsrechts(LPartGErgG AdoptR)

– Drucksache 16/5596 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss (f)Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kolle-gen Daniela Raab, CDU/CSU, Christine Lambrecht,SPD, Jörg van Essen, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll.

Daniela Raab (CDU/CSU): Am 19. Dezember 2008, also vor genau vier Monaten,

habe ich zuletzt über dieses Thema geredet. Ich habeschon damals wiederholt gesagt, dass ich gar nicht wis-sen will, wie oft wir schon wegen dieser Thematik hier zu-sammengekommen sind. Diesmal fordert die Fraktion derGrünen also erneut eine vollständige Gleichstellung ein-getragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe in Bezugauf die Adoptionsrechte. Sie begründet dies unter ande-rem mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom17. Juli 2002 und den Inhalten des Europäischen Über-einkommens vom 24. April 1967 zur Kindesadoption.

Leider muss ich Ihnen auch heute wieder mitteilen,dass insbesondere im Bereich der Adoption keinerlei Zu-stimmung vonseiten der Union zu erwarten ist. Wir sindweiterhin gegen ein volles Adoptionsrecht für Lebens-partnerschaften und somit gegen ein erneutes „Heranrü-cken“ an die Ehe. Wir haben der Stiefkindadoption zuge-stimmt, was schon ein großer Schritt war. Außerdem kannauch ein Lebenspartner, dessen Partner ein adoptiertesKind hat, nach § 9 LPartG zur Mitentscheidung in Ange-legenheiten des täglichen Lebens, die das Kind betreffen,befugt sein. Er ist bei Gefahr im Verzug nach § 9 Abs. 2LPartG ebenfalls berechtigt, zum Wohl des Kindes auchallein zu handeln. Sie liefern also keine neue Basis, dieeine gemeinsame Adoption eines Kindes durch Lebens-partner auf eine solide, sozialwissenschaftlich gesicherteTatsachengrundlage stellen würde und bei der das Kin-deswohl im Vordergrund steht. Das vom BMJ ins Lebengerufene Forschungsvorhaben zur Situation von Kindernin Lebenspartnerschaften und Lebensgemeinschaften vonMenschen gleichen Geschlechts ist weder abgeschlossen,noch gibt es erste Erkenntnisse. Daher werden wir vonder Union uns auch weiterhin gegen diese Möglichkeitaussprechen.

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Daniela Raab

Grundsätzlich ist festzuhalten: Klar ist für mich per-sönlich – und da spreche ich für viele meiner Kollegen –:Eine völlige Gleichstellung von Ehe und Lebenspartner-schaft streben wir nicht an und sie ist auch nicht geboten!Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-richts ist es dem Gesetzgeber wegen des verfassungs-rechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 des Grund-gesetzes grundsätzlich nicht verwehrt, diese gegenüberanderen Lebensgemeinschaften zu begünstigen. Das be-deutet nicht etwa eine Schlechterstellung oder Benachtei-ligung der Lebenspartnerschaften, aber eine Andersbe-handlung.

Christine Lambrecht (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung den von der Frak-

tion der Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ergän-zung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-setze im Bereich des Adoptionsrechts. Hier vorgesehen istdie Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe imAdoptionsrecht und die Ermöglichung einer gemeinsa-men Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften.Derzeit ist es für Homosexuelle nur möglich, ein Kind alsEinzelperson anzunehmen, da nur Verheirateten die Mög-lichkeit offen steht, gemeinschaftlich ein Kind anzuneh-men. Ein erster Schritt in die Richtung, dies zu ändern,war die Stiefkindadoption, die seit 2005 möglich ist.

Ein Blick zurück zeigt, dass wir seit der Einführung desLebenspartnerschaftsgesetzes 2001 durch die rot-grüneKoalition viel erreicht haben, jedoch leider noch nicht dievollständige Gleichstellung mit der Ehe. Das Bundesver-fassungsgericht hat die Gleichstellung mit der Ehe durchsein Urteil vom 17. Juli 2002 vom Grundsatz her bestä-tigt. Unter anderem steuerrechtlich oder im Beamten-recht behandelt das Gesetz Lebenspartner aber noch im-mer nicht gleich. Hier haben wir noch eine Menge zu tun,ich gehe aber acht Jahre nach dem Inkrafttreten des Le-benspartnerschaftsgesetzes davon aus, dass wir trotz derWiderstände einiger konservativer Kräfte die Vollendungder Gleichstellung mit der Ehe doch noch erreichen kön-nen.

Das von der rot-grünen Koalition 2004 verabschiedeteGesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschafts-rechts glich weiterhin die Rechte und Pflichte in der Le-benspartnerschaft denen in der Ehe so weit wie möglichan. Es wurde im Zuge dessen auch ein kleines Adoptions-recht, die Stiefkindadoption leiblicher Kinder der Lebens-partnerin oder des Lebenspartners eröffnet. So ist esdurch die Stiefkindadoption seit Beginn 2005 erstmalsmöglich in Deutschland, dass zwei Mütter oder zwei Vä-ter rechtlich als Elternpaar anerkannt werden. Die ge-meinschaftliche Annahme bleibt aber Ehepaaren vorbe-halten. Aufgrund des Verbotes von Kettenadoptionenkann ein adoptiertes Kind auch nicht durch weitere Per-sonen adoptiert werden. Die Stiefkindadoption ist für diePaare an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Adop-tion ist mit allen Konsequenzen endgültig. Verwandt-schaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil, auch dieunterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen Ansprüche andie leiblichen Verwandten des Kindes sind mit der An-nahme vollständig aufgehoben. Ist zu erwarten, dass zwi-schen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-

Verhältnis entsteht, so eröffnet die Stiefkindadoption dieMöglichkeit, das Kind rechtlich besser in der Familie ab-zusichern. Sie muss beim Vormundschaftsgericht bean-tragt werden. Der Antrag ist notariell zu beurkunden.Einbezogen wird auch das Jugendamt, das vom Vormund-schaftsgericht beauftragt wird, zu prüfen, ob die beab-sichtigte Adoption, wie selbstverständlich, dem Wohle desKindes dient und zu erwarten ist, ob zwischen dem An-nehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis ent-steht. Das Jugendamt überprüft dabei die Beziehung zudem Stiefelternteil sowie die gesundheitlichen und wirt-schaftlichen Verhältnisse der Lebenspartner wie bei hete-rosexuellen Paaren auch.

Der Weg zur Stiefkindadoption ist also schon jetzt nichteinfach. Laut Untersuchungen leben in Deutschland min-destens 13 000 Kinder bei homosexuellen Paaren. Oftstammen diese Kinder aus vorangegangenen Beziehun-gen, immer öfter werden Kinder aber auch via Samen-spende hineingeboren.

Das von dem Gesetzentwurf der Grünen vorgeseheneRecht eingetragener Lebenspartner, gemeinschaftlich einKind anzunehmen, bedeutet nach der Stiefkindadoptioneinen neuen Schritt. Abzuwarten bleibt, wie sich die ge-sellschaftliche Akzeptanz dafür entwickelt. Selbstver-ständlich haben wir uns wie immer an den Wünschen undBedürfnissen der Menschen zu orientieren. Der rechtli-che Rahmen für Ehe, Lebenspartnerschaften und Familiemuss zeitgemäß sein und den Bedürfnissen der Menschenentsprechen. Für die Änderungen des Adoptionsrechtsmüssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stim-men. Sicherlich kann sich gerade im Fall von Pflege- undAdoptivkindern ein gesellschaftliches Bedürfnis für einegemeinschaftliche Adoption dieser Kinder durch gleich-geschlechtliche Paare durchsetzen. Dass die Paareselbstbewusst zu ihrer Lebensweise stehen, wurde vonden Adoptionsvermittlungsstellen, die Erfahrungen mithomosexuellen Paaren hatten, als positiv für die Entwick-lung der Kinder beurteilt. Es bleibt aber noch abzuwar-ten, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz nach derEinführung der Stiefkindadoption weiterentwickelt. Vor-eilige Schlüsse verbieten sich bei diesem Thema. Die an-stehenden Beratungen geben Gelegenheit, über die offe-nen Fragen zu beraten.

Jörg van Essen (FDP): Ich freue mich darüber, dass die langjährige Forde-

rung der FDP, auch gleichgeschlechtlichen Paaren eingemeinsames Adoptionsrecht einzuräumen, mittlerweileauch in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mehrheits-fähig ist. Nur zu gut erinnere ich mich an die kontroversenDiskussionen aus der 14. und 15. Wahlperiode über die-ses Thema. Die FDP-Bundestagsfraktion hat als ersteFraktion überhaupt 2004 einen Gesetzentwurf in denDeutschen Bundestag eingebracht, der neben Regelun-gen im Sozialhilfe-, Einkommen- und Erbschaftsteuer-recht auch ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetra-gene Lebenspartner vorgesehen hat. Diese Initiative istdamals leider an der Mehrheit von Rot-Grün gescheitert.

Auch in den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen gab es erhebliche Widerstände gegen ein gemeinsa-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Jörg van Essen

mes Adoptionsrecht. Die damalige Bundestagsvizepräsi-dentin Antje Vollmer erklärte dazu im Oktober 2004 imDeutschen Bundestag, sie teile die Befürchtung, dass dieStiefkindadoption als Türöffner genutzt werden könnte,um langfristig das volle Adoptionsrecht für gleichge-schlechtliche Paare zu erleichtern. Mit der Adoption gehees aber nicht um Emanzipationsbestrebungen oder umStatusfragen von benachteiligten gesellschaftlichenGruppen, sondern allein um die Frage des Kindeswohls,so Frau Vollmer. Im gleichen Jahr schrieb sie im „Tages-spiegel“, sie sei davon überzeugt, dass die Erfahrung desLebens mit einem weiblichen und einem männlichen El-ternteil für Kinder im Grundsatz produktiv und gut sei.Kinder wollen einen Vater und eine Mutter, so FrauVollmer.

Darüber hinaus hat sich die rot-grüne Koalition in denvorangegangenen Jahren ständig hinter dem Europäi-schen Adoptionsabkommen versteckt und behauptet, dasAbkommen stünde einem gemeinsamen Adoptionsrechtvon homosexuellen Menschen in Deutschland entgegen.Die FDP-Bundestagsfraktion war von dieser Argumenta-tion nie überzeugt, insbesondere im Hinblick auf das ge-meinsame Adoptionsrecht in den Niederlanden. Nunmehrräumen auch die Grünen in ihrem vorliegenden Gesetz-entwurf ein, dass das Abkommen der Einführung einesgemeinschaftlichen Adoptionsrechts für gleichge-schlechtliche Lebenspartner nicht entgegensteht. DieEinsicht kommt zwar spät, aber besser als nie. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass in dieserwichtigen Frage mittlerweile auch bei Bündnis 90/DieGrünen ein Umdenken stattgefunden hat.

Der Gesetzgeber hat in der 15. Wahlperiode die Stief-kindadoption für Lebenspartner eingeführt. Für die FDP-Bundestagsfraktion war dies ein Schritt in die richtigeRichtung, aber letztendlich auch nicht mehr als nur einehalbherzige Lösung. Nach Auffassung der FDP ist Rot-Grün mit dieser Initiative auf halbem Weg stehen geblie-ben. In Deutschland leben schätzungsweise weit mehr als10 000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemein-schaften. Die Tatsache, dass Kinder mit zwei Bezugsper-sonen aufwachsen, die dem gleichen Geschlecht angehö-ren, ist daher in Deutschland keine Seltenheit, sondernvielmehr Ausdruck einer Lebensform, die in der Gesell-schaft anerkannt und akzeptiert ist. Homosexuelle Men-schen haben bereits heute das Recht, als Einzelperson einKind zu adoptieren. Darüber hinaus werden gleichge-schlechtliche Paare seit Jahren von den Jugendämternverstärkt als Pflegeeltern angeworben, weil sich ihre Er-ziehungskompetenz in besonderer Weise bewährt hat.Ausschlaggebend für eine Adoption muss alleine das Kin-deswohl sein.

Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabi-len und gefestigten Beziehung. Es dient gerade in beson-derer Weise dem Kindeswohl, wenn das Kind zwei Be-zugspersonen hat, die beide Verantwortung für das Kindund seine Erziehung übernehmen. Im Interesse der Stabi-lität von Familienstrukturen und Verantwortungsgemein-schaften und insbesondere im Interesse der betroffen Kin-der hält die FDP-Bundestagsfraktion es daher fürzwingend geboten, auch gleichgeschlechtlichen Paarendie Möglichkeit einer gemeinsamen Adoption zu eröffnen.

In einem Antrag zur Adoption von Kindern, den wir indieser Woche in den Bundestag eingebracht haben, be-kräftigen wir diese Forderung erneut.

In einer Anhörung des Rechtsausschusses vom vergan-genen Jahr haben die dort anwesenden Experten aus demBereich des Familienrechts übereinstimmend erklärt,dass Unterschiede im Hinblick auf die Entwicklung zwi-schen Kindern in gleichgeschlechtlichen Familien undKindern in heterosexuellen Familien nicht vorliegen. DieSachverständigen haben vorgetragen, dass praktisch ver-gleichbare Entwicklungsbedingungen für Kinder ingleichgeschlechtlichen Partnerschaften bestehen. AlleVorurteile, die in früheren Jahren gegen die Erziehungs-kompetenz von gleichgeschlechtlichen Paaren vorgetra-gen wurden, sind durch zahlreiche wissenschaftliche Un-tersuchungen klar widerlegt worden.

Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurfder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen daher unterstützen.

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Als Präsident Obama am 20. Januar sein Amt antrat,

ließ er auf der Homepage des Weißen Hauses seine poli-tischen Ziele veröffentlichen. In diesen turbulenten Zeitenbeschränkte er sich nicht auf Statements zur größtenWirtschafts- und Finanzkrise seit 1929, sondern betonteauch die Unterstützung der Lesben- und Schwulenbewe-gung:

Präsident Obama meint, dass wir die Adoptions-rechte für alle Paare und Einzelpersonen gewähr-leisten müssen, ohne Rücksicht auf die sexuelle Ori-entierung. Er denkt, dass das Wohl eines Kindesvon einem gesunden und liebevollen Heim abhängtund nicht davon, ob die Eltern schwul/lesbisch sindoder nicht.

Demgegenüber haben wir in Deutschland eine rück-ständige Situation. Beispielhaft für die Auseinanderset-zung ist die Aussage der CSU-Abgeordneten DanielaRaab. Sie sprach am 19. Dezember im Plenum des Bun-destages zum Stand der Gleichstellung von Ehe und ein-getragener Partnerschaft: „Solange die Union an derRegierung beteiligt ist, wird es eine vollständige Gleich-stellung nicht geben.“ Dies heißt für die CDU/CSU, dasssie ein Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paareverhindern will. Während der Präsident der VereinigtenStaaten das Adoptionsrecht erweitern will, kommt dieCDU/CSU zur gegenteiligen Schlussfolgerung undmöchte das Adoptionsrecht lesbischen und schwulenPaaren in jedem Fall verwehren.

Wie kommt es zu dieser strikten Ablehnung? „In dieserFrage darf es keine Kompromisse geben. Denn anders alsbei der rechtlichen Ausgestaltung der Lebenspartner-schaften sind hier nicht nur die Interessen der Betroffenentangiert, sondern in erster Linie die der Kinder, die staat-lichen Schutz benötigen.“ So die Stellungnahme der Ar-beitsgemeinschaft Recht zur Klausurtagung der CDU/CSU am 28. Mai 2008.

Worum geht es hier eigentlich? In Deutschland könnensich erwachsene Menschen frei entscheiden, wie sie zu-sammenleben. Zwei Rechtsinstitute stehen zur Verfügung,die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft, um

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dr. Barbara Höll

das Zusammenleben rechtlich abzusichern. Es existierenviele familiäre Konstellationen: die Groß- und Kleinfami-lie, alleinerziehende Väter und Mütter, Drei-Generatio-nen-Familien, die Patchwork-Familie und vieles mehr.Entscheidend für die Kinder ist, dass sie Liebe und Zunei-gung erfahren. Der rechtliche Rahmen sollte für Erwach-sene und Kinder so dynamisch sein, dass das Wohl unddie Rechte für alle gewährleistet sind. Kinder haben dasRecht auf Umgang mit ihren biologischen Eltern, aber imFalle des Falles auch mit ihren sozialen Eltern. DasSorge-, Umgangs-, Unterhalts- und eben auch das Adop-tionsrecht bilden den rechtlichen Rahmen.

In Deutschland wachsen etwa 13 000 Kinder beigleichgeschlechtlichen Paaren auf. Stellen sie sich einschwules Paar vor, Herrn Schön und Herrn Stark. Diesesmöchte gerne gemeinsam ein Kind großziehen und es da-her gemeinsam adoptieren, um die Verantwortung ge-meinsam zu tragen. Doch nach geltendem Recht wird demPaar eine gemeinsame Adoption verweigert. Die Konse-quenz: Herr Stark adoptiert das Kind, Roland, allein.Doch nach 14 Jahren gemeinsamer Partnerschaft, für-sorglicher Erziehung und gemeinsamer Fürsorge desKindes trennt sich Herr Schön von Herrn Stark. Die Be-ziehung geht im Streit auseinander. Roland hat nun nurRechte gegenüber Herrn Stark, nicht aber gegenüberHerrn Schön. Und Herr Schön muss sich das gemeinsameUmgangsrecht mühsam erstreiten. Beim Unterhalts- undbeim Erbschaftsteuerrecht ist Roland gegenüber anderenAdoptivkindern benachteiligt. Soll dies im Interesse desKindeswohls sein?

Mit der Möglichkeit der Stiefkindadoption, die seit1. Januar 2005 besteht, wurde ein weiterer Schritt zumWohle des Kindes in einer Lebenspartnerschaft gegan-gen. Nun ist es an der Zeit, das Kindeswohl vollständig zubeachten. Frau Bundesministerin Zypries, bitte geben Sienicht noch eine Studie zur Situation von Kindern beigleichgeschlechtlichen Paaren in Auftrag, lassen Sie unsendlich die Gleichstellung zwischen hetero- und homo-sexuellen Paaren vollziehen. Meine Damen und Herrenvon der CDU/CSU: Rüsten sie endlich ideologisch ab.Meine Damen und Herren von der SPD: Handeln sie imInte-resse der Kinder. Lassen sie uns dem Antrag derGrünen zustimmen – im Interesse der Kinder. Kinder ver-dienen es, gleich behandelt zu werden.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu Beginn erlauben Sie mir, Ihnen eine gute Nachricht

von unserem nördlichen Nachbarland zu verkünden.Bereits gestern wurde ein Gesetz vom Parlament inKopenhagen beschlossen, nach dem das Adoptionsrechtfür eingetragene Lebenspartnerschaften eröffnet wurde.Angesichts der Tatsache, dass die Dänen mit dem Institutder gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften schon20 Jahre Erfahrung haben, kann man ihnen wohl ver-trauen, dass sie das Richtige tun.

Das Grundgesetz schützt in Art. 6 Abs. 1 die Familie.Um diesen Schutz gewährleisten zu können, muss das Fa-milienrecht sich wandelnden familiären Lebensformengerecht werden. In Deutschland wachsen bereits in jederachten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft Kin-

der auf. Nach bestehender Rechtslage ist eingetragenenLebenspartnerinnen oder Lebenspartnern anders alsEheleuten eine gemeinsame Adoption dennoch nichtmöglich. Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Lebenspart-nerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich desAdoptionsrechts will die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen die bestehende Benachteiligung nun korri-gieren.

Im Mittelpunkt unserer Familienpolitik steht immerdas Wohl des Kindes. Bei den in Lebenspartnerschaftenlebenden Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aberauch um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkindereiner Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erzie-hungspersonen für das Kind sorgen, werden die Kinderdurch fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen El-tern nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht be-nachteiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptiertenKindern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Si-cherheit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen Fa-milien Nachteile durch die fehlende rechtliche Anerken-nung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsichtlichdes Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Fami-lie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absicherungdieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen gebieten.

In der politischen Diskussion vorgetragene Befürch-tungen, das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Le-bensgemeinschaften füge Kindern seelische und psychi-sche Schäden zu und führe zu Entwicklungsstörungen,sind wissenschaftlich nicht haltbar. Alle vorliegendenStudien legen nahe, dass kein nennenswerter Unterschiedzum Leben in Familien mit verschiedengeschlechtlichenEltern auszumachen ist. Eine Beeinträchtigung der kind-lichen Entwicklung kann der aktuellen Forschung nachnicht festgestellt werden. In zahlreichen Kommunen be-richten Jugendämter über ihre guten Erfahrungen mitschwulen und lesbischen Pflegeeltern. Auch die positivenMeldungen aus Schweden, dem Vereinten Königreich,Spanien, Belgien und den Niederlanden, wo die Möglich-keit der gemeinschaftlichen Adoption durch gleichge-schlechtliche Paare bereits eingeführt ist, widerlegen dieohnehin empirisch nie belegten Vorbehalte. Und redenSie sich nicht mit der Studie, die vom Bundesministeriumder Justiz im Auftrag gegeben wurde, heraus. Die liegtschon dem Ministerium längst vor und belegt, dass eskeine sachlichen Gründe gegen Gleichberechtigung ein-getragener Lebenspartnerschaften im Adoptionsrechtgibt. Und auch dem Bundesverfassungsgericht wird dieAuskunft verweigert, obwohl es schon öfters nach den Er-gebnissen der Studie gefragt hatte.

Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder habenvielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksamkeitund Geborgenheit. All dies können sie bei gleichge-schlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise er-fahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Les-ben und Schwule sind genauso verantwortliche Elternwie andere Menschen auch. Ein genereller Ausschlussvom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit vonLesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologi-schen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Dis-kriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt und schadetdem Kindeswohl, indem es die Stigmatisierung bereits be-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Volker Beck (Köln)

stehender Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternfördert und den Kreis der am besten geeigneten Adoptiv-eltern künstlich verknappt. Ob eine Adoption im konkre-ten Fall dem Wohl des Kindes dient, muss bei gleichge-schlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso wie beiEhepaaren jeweils im Einzelfall der sachkundigen Ent-scheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen blei-ben.

Und beenden möchte ich meine Rede ebenso mit einerguten Nachricht, die allerdings vom Mai letzten Jahreskommt. Damals verabschiedete das Ministerkomitee desEuroparats die revidierte Fassung des Übereinkommensüber die Adoption von Kindern von 1967, nach der dasAdoptionsrecht auf gleichgeschlechtliche Ehepaare bzw.Lebenspartner ausgeweitet werden kann. Dies zeigt, dassauf der europäischen Ebene die Vorurteile gegenüber ho-mosexuellen Eltern keine Mehrheiten mehr finden. Des-halb wäre es wünschenswert, wenn auch der deutscheGesetzgeber die Gleichstellung der Lebenspartnerinnenund Lebenspartner mit den Ehegatten im Bereich des Ad-optionsrechts beschließen würde. Im Übrigen rufe ich dieBundesregierung auf, der Ratifizierung der zeitgemäßenFassung des Übereinkommens nicht mehr entgegenzuste-hen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/5596 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anord-nung des Zensus 2011 sowie zur Änderung vonStatistikgesetzen

– Drucksache 16/12219 – Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und TechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Die Reden dazu nehmen wir ebenfalls zu Protokoll.Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol-legen Kristina Köhler, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD,Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, Die Linke, Silke Stokar vonNeuforn, Bündnis 90/Die Grünen.

Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU):Mit Stichtag 3. November 2008 gab es 12 987 543

Rindviecher in Deutschland, davon 632 in Berlin. Wirwissen also genau, wie viele Rindviecher welchen Alterswo in Deutschland leben. Wenn wir jedoch genau wissenwollen, wie viele Menschen in Deutschland leben, dannmüssen wir leider feststellen, „nichts Genaues weiß mannicht“. Es gibt keine exakten Daten über Umfang und Zu-sammensetzung der Bevölkerung in Deutschland.

Genaue, nach sozio-demografischen Strukturmerkma-len differenzierbare Bevölkerungszahlen sind aber diewesentliche Grundlage für viele politische und wirt-schaftliche Planungen, ebenso wie für die wissenschaft-liche Forschung. Wie viele Kindergartenplätze brauchteine Gemeinde? Wie viele Schulen und wie viele Alten-heime? Ist das neue Krankenhaus notwendig? Alles Fra-gen, die sich nur auf der Basis verlässlicher Bevölke-rungsdaten beantworten lassen. Gleiches gilt für dieEinteilung von Bundestagswahlkreisen oder für den Fi-nanzausgleich zwischen den Ländern. Wahlkreise dürfenin ihrer Größe nicht zu sehr voneinander abweichen,sonst kann theoretisch sogar die Wahl angefochten wer-den. Und im Länderfinanzausgleich geht es um viel Geld,hier fällt jeder Einwohner mit rund 2 000 Euro ins Ge-wicht.

Wenn man das weiß und wenn man weiß, dass die amt-liche Einwohnerzahl in rund 50 Rechtsvorschriften einewichtige Bemessungsgrundlage darstellt, dann wirddeutlich, wie wichtig auch hier verlässliche Zahlen sind.Ein solides Datenmaterial ist also die Voraussetzung fürgute Politik. Wir können die notwendigen Veränderungs-prozesse nur dann gestalten, wenn wir über ein angemes-senes Bild der Wirklichkeit unserer Gesellschaft verfü-gen. So weit, denke ich, sind wir uns alle einig.

Ich weiß aber auch, dass manch einer bezweifelt, dasswir zum Einblick in diese Wirklichkeit überhaupt einenZensus brauchen. Eines ist richtig: Natürlich haben wirbereits Bevölkerungszahlen. Aber diese Zahlen basierenauf Fortschreibungen der Volkszählung von 1987 in derBundesrepublik Deutschland und von 1981 in der DDR.Eine erste Testerhebung zur Vorbereitung des Zensus hatgezeigt, wie dramatisch dabei die Abweichungen derHochrechnungen zu den tatsächlichen Zahlen sein dürf-ten: Die aktuellen Bevölkerungszahlen dürften zurzeit ummindestens 1,3 Millionen überhöht sein. Das Ausländer-zentralregister weist 600 000 weniger Ausländerinnenund Ausländer auf als die Bevölkerungsfortschreibung.

Von mancher Seite aus kommt auch der Einwand, manbräuchte deshalb keinen umfänglichen Zensus, weil manja den regelmäßigen Mikrozensus habe. Dieser diene jagerade dazu, in regelmäßigen und kurzen AbständenStrukturdaten über die Bevölkerung und den Arbeits-markt zu gewinnen. Der Glaube, dass der Mikrozensusden großen Zensus ersetzen könne, ist jedoch – auch nureinzelne Merkmale betreffend – aus statistischer Sicht einTrugschluss. Der Mikrozensus ist eine Repräsentativsta-tistik. Dass heißt, er basiert ausschließlich auf einerStichprobe. Eine verlässliche Stichprobe kann man abernur dann ziehen, wenn man die Grundgesamtheit kennt.Ich kann eben nur dann sagen, dass die von mir ausge-wählte Gruppe repräsentativ für die Gesamtbevölkerungist, wenn ich zugleich auch weiß, wie sich die Gesamtbe-völkerung – also die Grundgesamtheit – zusammensetzt.Und diese Grundgesamtheit hat sich seit den letzten Zäh-lungen 1987 bzw. 1981 ziemlich verändert. Diese Verän-derung lässt sich mit reinen Fortschreibungen eben nichtverlässlich erfassen, wie die Abweichungen beim Zensus-test gezeigt haben. Hier wieder die Wirklichkeit als Basiszu haben, genau darum geht es auch im großen Zensus.Deshalb kann der Mikrozensus den Zensus nicht ersetzen.

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Kristina Köhler (Wiesbaden)

Im Gegenteil: Ohne eine regelmäßige Gesamterhebungsind die Ergebnisse des Mikrozensus nicht verlässlich!Deshalb brauchen wir den Zensus 2011 und deshalb wer-den wir uns an der Zensusrunde der Europäischen Unionbeteiligen.

Dabei sage ich im Übrigen auch ganz offen: Aus mei-ner Sicht war es ein Fehler, dass man im Jahr 2000 dieZensusrunde der EU nicht mitgemacht hat. Ich bin froh,dass dieses Mal die Volkszählung von fast allen Seiten ineinem sehr konstruktiven Rahmen begleitet wird. Dasssich die Proteste gegen den Zensus in Grenzen halten, hataber sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Methodedes Zensus 2011 grundsätzlich von einer traditionellenVolkszählung unterscheiden wird. Es wird keine umfang-reiche Befragung aller Haushalte geben. In erster Liniewerden bestehende Register genutzt, vor allem die Mel-deregister der Kommunen und die Daten der Bundes-agentur für Arbeit. Nur um Ungenauigkeiten zu erkennenund um solche Daten zu erhalten, für die es – wie etwa imFalle des Bildungsabschlüsse – keine bundesweiten Ver-waltungsdaten gibt, wird im Jahr 2011 ein kleiner Teil derBevölkerung direkt von Interviewern befragt werden. Wirreden hier von circa 7 bis 8 Prozent. Außerdem werdendie rund 17,5 Millionen Eigentümer und Verwalter vonWohnraum schriftlich befragt werden, da es bundesweitkeine Register zur Wohnraumversorgung gibt. DieserZensus ist also, wenn Sie so wollen, ein „minimalinvasi-ver Zensus“.

Das nun vorliegende Gesetz zum Zensus 2011 werdenwir intensiv beraten. Aus dem Deutschen Bundestagkommt selten etwas wieder so raus, wie es reingekommenist. Das wird wohl auch mit diesem Gesetz nicht anderssein. Dabei gibt es einige diskussionswürdige Vorschlägezur weiteren Verbesserung des Zensus 2011. Dazu gehörtetwa die Forderung, das Merkmal „Migrationshinter-grund“ in die Stichprobenbefragung aufzunehmen. Dahaben wir nämlich genau das Problem, dass der zwar imMikrozensus erhoben wird, wir aber die Grundgesamt-heit nicht kennen. Oder es gibt die Forderung des Bun-desrates, das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ in dieStichprobe aufzunehmen. Auch diesen Vorschlag prüfenwir zurzeit sehr sorgfältig. Dann gibt es noch weitere Vor-schläge vor allem der Länder und Kommunen zur Frageder Optimierung der Genauigkeit der Daten. Auch dieseVorschläge werden wir uns natürlich genau anschauen.

Grundsätzlich gilt natürlich bei allen Verbesserungs-vorschlägen, dass auch sie sich an den verfassungsrecht-lichen Vorgaben orientieren müssen, die das Bundesver-fassungsgericht uns in seinem Volkszählungsurteilauferlegt hat. An diese strengen Maßgaben wollen undwerden wir uns auch halten, ebenso wie wir uns strikt aneinem optimalen Datenschutz und an einer optimalen Da-tensicherheit orientieren werden.

Ich bin froh, dass es auf allen Seiten die Bereitschaftgibt, dieses wirklich komplexe Werk „Zensus 2011“ zu ei-nem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die Große Ko-alition im Bundestag und auch der Bundesrat sind sichihrer Verantwortung bewusst. Wir brauchen dieses Zen-susgesetz, weil wir den Zensus brauchen.

Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt den Mitar-beitern des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden undden Mitarbeitern der Statistischen Landesämter für ihreschon jetzt hervorragende Arbeit bei der Vorbereitungdes Zensus 2011. Die Methode des nun geplanten regis-tergestützte Zensus wurde von ihnen in jahrelanger Arbeitentwickelt. Erlauben Sie mir diese Anmerkung als Sozio-login: Sie haben hier eine Pionierarbeit geleistet, dienicht hoch genug eingeschätzt werden kann! VielenDank!

Maik Reichel (SPD): 1981 wurde in der damaligen DDR, 1987 in der dama-

ligen BRD die letzte Volkszählung durchgeführt. In ziem-lich genau zwei Jahren wird es in der EU eine Volks- undGebäudezählung geben. Die beteiligten Länder werdendiesen Zensus auf unterschiedliche Weise durchführen.Nachdem die letzten Volkszählungen 1981 und 1987 aufkonventionelle Weise, das heißt durch die Befragung allerBürger, abliefen, soll es 2011 erstmals einen registerge-stützten Zensus geben. Dies entlastet die Bürger von allengroßen und zeitraubenden Auskunftspflichten. Es bringtuns aber auch, und darauf werde ich noch näher einge-hen, bisher vollkommen neue Fragen und Probleme aufden Tisch, unter anderem auch deshalb, weil zur Feststel-lung der bevölkerungsstatistischen Angaben nicht mehralle Bürgerinnen und Bürger befragt werden sollen.

Die aktuellen Bevölkerungszahlen in Bund, Ländernund Kommunen sind teilweise mit großen Unsicherheitenbehaftet. In der Anhörung vom September 2007 bekamenwir zur Genauigkeit bzw. zur Richtigkeit mancher Regis-ter sehr deutliche Aussagen der Gutachter. GenauereZahlen sind notwendig. Wenn wir schon durch eigeneSchätzung davon ausgehen, dass 1,3 bis 1,5 Millionen Men-schen weniger als geglaubt in Deutschland leben – alsonicht die 82 Millionen, von denen wir heute sprechen –, soist das eine Abweichung von etwa 1,8 Prozent. Es handeltsich eben nur um Schätzungen.

Zuverlässige Bevölkerungszahlen sind auch als Be-rechnungsgrundlage für den Länderfinanzausgleich undden kommunalen Finanzausgleich notwendig. Die zumZensusstichtag festgestellten Einwohnerzahlen bilden dieGrundlage für die Bevölkerungsfortschreibungen. Siewirken sich aber auch auf etwa 50 Rechtsvorschriftenaus, für die die amtliche Einwohnerzahl als wichtige Be-messungsgrundlage dient. Betroffen sind noch weitereBereiche, zum Beispiel die Festlegung von Wahlkreisenzu Bundes- oder Landtagswahlen, die Bundesratsstim-men, die Berechnung von Sitzen bis in die Vertretungenkommunaler Gebietskörperschaften sowie die auf Ein-wohnerzahlen basierenden Finanzzuweisungen. Wir brau-chen also dringend eine solche neue Zählung.

Dass der Zensus notwendig ist, darin sind wir uns ei-nig. Dass wir ihn registergestützt machen, das ist neu.Aber auch da stimmen wir überein. In der EU wird dies jasehr unterschiedlich gehandhabt. Um jedoch bundesweiteine einheitliche Qualität erreichen zu können, werdenwir – und dies deutet die Stellungnahme des Bundesrateszum vorliegenden Gesetzentwurf bereits an – noch weiterauf spezifische Besonderheiten so mancher Gebietskör-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Maik Reichel

perschaft eingehen müssen. So bestätigte die Evaluationim letzten Jahr die bereits im Vorfeld des Vorbereitungs-gesetzes befürchteten Probleme, ländliche Strukturen undBesonderheiten von Großstädten statistisch homogen ab-bilden zu können. Berlin beispielsweise würde laut Bun-desrat in seiner Struktur vollkommen unscharf abgebildetwerden, da hier, wie wir als Bundestagsabgeordnete bes-tens wissen, nach Bezirken verwaltet und regiert wird.Dementsprechend werden bevölkerungsstatistische Da-ten auch bezirksweise erhoben und weiterverarbeitet.

Ein weiteres zu beachtendes Thema sind die ländli-chen Strukturen, unter anderem in Rheinland-Pfalz. Wiedie dort zuständigen Verantwortlichen zu bedenken ge-ben, werde eine Mindesterhebungsgrenze bei Gebietskör-perschaften von 10 000 Einwohnern 95 Prozent der Ge-meinden nicht statistisch abbilden können. Inwiefern diessinnvoll ist, wird in der weiteren Diskussion zu hinterfra-gen sein.

In der Anhörung vom September 2007 wurde auch dieEinheitlichkeit der Erhebung deutlich hervorgehoben.Vor allem die Länder sind darauf eingegangen. Das vor-liegende Gesetz ermöglicht ja einige Abweichungen inden Ländern. Inwieweit dies zu unterschiedlichen Ergeb-nissen, die auf nicht vergleichbarer Basis erhoben wor-den sind, führt, wird ebenfalls zu prüfen sein. Eines willich aber deutlich sagen: Es muss Rechtssicherheit gege-ben sein. Ich bin mir aber sicher, dass es sich hierbei umdurchaus lösbare Probleme handelt. Denn nicht nur derBund, sondern auch die Länder sind sehr stark am Zen-susergebnis interessiert.

Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann blicktman natürlich auch auf die verbleibende Zeit. Millionenvon Daten werden bewegt und zusammengeführt. Dasmachen nicht nur Computer, das müssen auch Menschenmachen. Ende 2010 wird das Anschriften- und Gebäude-register einsatzfähig sein. Und ich gehe davon aus, dasszu diesem Zeitpunkt auch alle beteiligten Institutionenund Ämter einen Datensatz erstellen können, der unserenhohen Ansprüchen an Vergleichbarkeit und Datenquali-tät gerecht wird und uns für den Zensusstichtag am 9. Mai2011 die notwendigen Ergebnisse und Zahlen liefernwird.

Diese millionenfache Datenverarbeitung und derenVorbereitung braucht Zeit. Die Bundesregierung hat imBundeshaushalt die Weichen gestellt. Die Erhöhung derHaushaltsmittel des Statistischen Bundesamtes um16 Millionen Euro, beginnend mit dem Haushaltsjahr2008, resultiert zu etwa drei Vierteln aus dem Zensus, denwir 2011 erstellen werden. Dafür wurden und werdenetwa 60 Stellen, teilweise zeitlich befristet, eingerichtet.Auch die Länder haben ihre Hausaufgaben bereits umfas-send gemacht.

Der Entwurf der Bundesregierung sieht eine Umset-zung der EU-Vorgaben 1:1 vor. Vonseiten der Kirchensind wir in Briefen bzw. in persönlichen Gesprächen aufdas fehlende Merkmal „Religionszugehörigkeit“ hinge-wiesen worden. Wir werden in der weiteren Diskussionauch darauf unser Augenmerk zu lenken haben. MeineFraktion wird sich mit den Empfehlungen des Bundesra-tes konstruktiv auseinandersetzen. Schließlich ist es unser

gemeinsames Interesse, ein unanfechtbares, effektivesGesetz auf den Weg zu bringen und damit allen Beteilig-ten ein funktionsfähiges Instrument an die Hand zu ge-ben. Es soll auch für europäische Kollegen Vorbild sein.

Gisela Piltz (FDP): Die FDP-Bundestagsfraktion hatte zum Zensusvorbe-

reitungsgesetz in ihrem Entschließungsantrag einige zen-trale Forderungen im Hinblick auf das Anordnungsgesetzdargelegt. An diesen ist der nun vorgelegte Gesetzentwurfaus unserer Sicht zu messen.

Bevor ich auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs ein-gehe, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dassdie FDP-Bundestagsfraktion den Ansatz eines registerge-stützten Zensus begrüßt und unterstützt. Damit wird dienotwendige Erhebung valider Daten für statistische Zwe-cke, die unerlässliche Grundlage für staatliches Handelnsind, datenschutzfreundlich ermöglicht. Der registerge-stützte Zensus bietet grundsätzlich die Chance, die für dieFunktionsfähigkeit des Staates erforderliche Datenerhe-bung mit dem grundrechtlich garantierten Schutz perso-nenbezogener Daten in Einklang zu bringen.

Schon im Entschließungsantrag zum Zensusvorberei-tungsgesetz hatte die FDP-Bundestagsfraktion die Be-schränkung auf wenige Merkmale und Register begrüßt.Nur so kann dem Volkszählungsurteil von 1983 Rechnunggetragen werden.

Nun stehen wir aber – wie es fast zu erwarten war – vorder Situation, dass die Forderungen immer zahlreicherwerden, was noch alles aufgenommen werden sollte. Dakommen die Kommunen mit der Forderung nach Erhe-bung der Höhe des Mietzinses und der Nebenkosten. Dakommen die Kirchen mit der Forderung nach Erhebungder Religionszugehörigkeit. Das sind alles interessanteFragen. Es gibt für alle diese Punkte auch gute Gründe,warum für diesen oder jenen im Gemeinwesen notwendi-gen oder wünschenswerten oder auch nur angenehmenZweck diese oder jene Datenerhebung und -auswertungsinnvoll wäre. Ich warne aber ausdrücklich davor, die an-stehenden Beratungen zu einem Wunschkonzert zu ma-chen. Wir müssen bei all den an uns schon herangetrage-nen oder noch kommenden Forderungen sehr genauhinsehen, ob das wirklich im Rahmen dieser Datenerhe-bung notwendig und erforderlich ist. Wir dürfen nicht denFehler machen, dass wir am Ende mit einem Bauchladenan neuen Merkmalen und Registern herauskommen – unddamit genau die Balance zwischen Datenerhebung undDatenschutz nicht mehr stimmt.

Ein Problem, das die FDP-Fraktion schon 2007 beimZensusvorbereitungsgesetz angesprochen hatte, ist mitdem Zensusanordnungsgesetz nicht gelöst. Die Vorge-hensweise bei der Vorbereitung und Durchführung desZensus in Bund, Ländern und Kommunen muss einheit-lich gestaltet sein. Valide und vor allem auch gerichts-feste Statistiken, die dann zum Beispiel über den Finanz-ausgleich, die Zuweisung von Fördermitteln oderÄhnliches entscheiden, kann man nicht gewinnen, wennjeder sein eigenes Süppchen kocht und dabei natürlich ei-gene Interessen verfolgt. Denn es geht dabei ja um Geld,um viel Geld. Dieses Problem ist mit dem vorliegenden

Zu Protokoll gegebene Reden

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Gisela Piltz

Gesetzentwurf nicht gelöst. Im Gesetz müsste daher – wiedies auch von den Ländern gefordert wurde – eine Ver-pflichtung zur einheitlichen Durchführung verankertwerden. Der Bundesrat hatte dies auch eingefordert, aberdie Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung keineBereitschaft gezeigt, den Ländern entgegenzukommen.

Genau zu prüfen werden auch die Wünsche der Kom-munen sein, die sich erhoffen, von den durch den Zensuserhobenen Daten für ihre eigene Aufgabenerfüllung zuprofitieren. Kleinräumige Planungsdaten dürfen nachdem Gesetzentwurf nur sehr eingeschränkt genutzt wer-den. Dies ist einerseits ein Beitrag zum Datenschutz, aberandererseits muss man sich schon die Frage stellen, obund inwieweit ein solches Vorhaben nicht auch sinnvolleDatengrundlagen für die Kommunen schaffen sollte. Hiermuss auch berücksichtigt werden, dass eine Nutzungauch für Kommunen etwaige eigene Datenerhebungendort vermeiden hilft, was auch zur Datensparsamkeitführt und es gegebenenfalls auch im Interesse einer effi-zienten Verwaltung und der Vermeidung weiterer Kostenfür die öffentliche Hand ist, den Kommunen eigene Erhe-bungen zu ersparen. Denn es geht ja in diesem Fall nichtum den Wunsch nach Erhebung weiterer Daten, sondernum die Nutzbarmachung der ohnehin zu erhebenden Da-ten. Hier muss im weiteren Verfahren eine Abwägungdurchgeführt werden, um zu einem Interessen ausglei-chenden Ergebnis zu kommen.

Erheblichen Bedenken begegnet die Vorgabe, dass alleDaten beim Statistischen Bundesamt ausgewertet werdensollen. Hierzu soll ein höchst komplexes und im Übrigennoch nie in der Realität und unter wirklichen Arbeitsbe-dingungen angewandtes IT-System aufgebaut und einge-setzt werden. Dies widerspricht dem schon zwischenBund und Ländern vereinbarten Fachkonzept, nach demdie zu verarbeitenden riesigen Datenbestände auf vierverschiedene Statistische Ämter des Bundes und der Län-der aufgeteilt werden sollten, um dort aufbereitet zu wer-den. Dieses Fachkonzept erscheint wesentlich sinnvoller.So erscheint schon die Schaffung eines derartigen riesi-gen IT-Systems für eine einmalige Anwendung fragwür-dig – nicht nur unter haushalterischen Gesichtspunkten,sondern weil es doch immer so ist, dass, wenn schon malein System besteht, um die vielen Daten der Bürgerinnenund Bürger zu nutzen, zu verknüpfen, abzugleichen undauszuwerten, dieses ganz bestimmt auch für andere An-wendungen dann irgendwann genutzt werden soll. Dasmag jetzt einigen vielleicht ein wenig hysterisch vorkom-men. Aber die Erfahrung zeigt, dass alle Systeme, mit de-nen man persönliche Daten sammeln und auswertenkann, auch genutzt werden – und zwar nicht nur für denursprünglich genannten Zweck. Daher ist eine dezentraleDatenverarbeitung sehr sinnvoll. Ebenso erscheint diesesinnvoll, weil die Risiken eines Systemausfalls damit ab-gefedert werden und weil schon getestete Systeme zumEinsatz kämen. Eine Risikoerhöhung durch ein neues IT-Mammutprojekt – ich erinnere hier nur an die Bundes-agentur für Arbeit – ist erheblich.

Im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren gibtes also noch einige Detailfragen, bei denen konstruktivüber den besten Weg gestritten werden muss. Neben dengenannten Punkten möchte ich an dieser Stelle schon ein-

mal erwähnen, dass die FDP-Fraktion Beratungsbedarfbei der Erhebung von Daten zur Religionszugehörigkeitsieht. Weiterhin muss bei der Frage der eingetragenenLebenspartnerschaften auf einen Lückenschluss zumBundesstatistikgesetz, dem das Merkmal noch immerfremd ist, obwohl eingetragene Lebenspartnerschaftenerfreulicherweise längst gesellschaftliche Realität sind,hingewirkt werden.

Die FDP-Bundestagsfraktion sieht den Beratungenmit der Hoffnung entgegen, dass die berechtigten Kritik-punkte des Bundesrats hier im Hause Gehör finden wer-den und am Ende ein notwendiges Vorhaben mit einemvernünftigen Gesetz auf den Weg gebracht werden kann,ohne dass – wie bei dem Vorbereitungsgesetz – erneut derVermittlungsausschuss angerufen werden muss.

Petra Pau (DIE LINKE): Es bestehen unausgeräumte Zweifel.

Erstens. Es ist nachvollziehbar, dass die Politik, dieVerwaltung und andere mehr möglichst stimmige Datenanstreben. Das ist seit Bibel-Zeiten so und das wurdeauch noch in der Neuzeit über Volkszählungen prakti-ziert.

Zweitens. Es war aber ausgerechnet eine Volkszählungin der BRD-alt, bei der das Bundesverfassungsgericht einStoppzeichen setzte. Es erhob in einem historischen Ur-teil den Datenschutz zum Grundrecht.

Drittens. Nun geht es aktuell nicht um eine groß ange-legte Volkszählung, sondern „nur“ um eine Mini-Volks-zählung, genannt „Zensus“. Aber auch eine kleine Volks-zählung will bürgerrechtlich begründet sein.

Viertens oder anders gesagt: Der erwartete Nutzen fürdie Bürgerinnen und Bürger muss erkennbar weit größersein als das befürchtete Risiko für ihre verbrieften Rechte.Und genau da bestehen unausgeräumte Zweifel.

Fünftens. Zu alledem wird es noch eine Anhörung vonExpertinnen und Experten geben. Das haben Bündnis 90/Die Grünen und die Linke beantragt. Ich werde heute da-her nicht unserem Urteil danach vorgreifen.

Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):

Die Zeiten ändern sich, löste die Volkszählung 1983noch eine große Protestbewegung aus, so können wirheute in der entwickelten Informationsgesellschaft unauf-geregt über den europaweiten Zensus 2011 reden. DieBundesregierung hat dazugelernt, die staatlichen Zählerdringen nicht mehr mit Fragebögen in die Wohnungender Bürgerinnen und Bürger ein und stellen Fragen, dietief in das Privatleben eindringen. Die Volkszählungsboy-kottbewegung hat damals das Volkszählungsurteil erstrit-ten, und das war gut so. Wir haben heute das Grundrechtauf informationelle Selbstbestimmung, und auf dieserGrundlage findet der Zensus 2011 statt.

Der Staat braucht statistische Informationen, um Poli-tik für die Zukunft planen zu können. Der Staat verfügtheute über eine große Menge von Datenmaterial – mehrals uns manchmal lieb ist –, und es ist richtig, dass nicht

Zu Protokoll gegebene Reden

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Silke Stokar von Neuforn

alles neu erfasst wird, sondern auf das vorhandene Mate-rial zurückgegriffen wird. Im Zensusvorbereitungsgesetzist festgelegt, dass die Daten zur Volkszählung 2011 ausden Melderegistern der Kommunen und aus dem Daten-bestand der Bundesagentur für Arbeit entnommen wer-den sollen. Länder und Kommunen sind mit dem Zensus-vorbereitungsgesetz aufgefordert, ihre Daten auf einenaktuellen Stand zu bringen und an den Bund zu liefern. Zu-sätzlich werden 25 Millionen Einwohner, davon 17,5 Mil-lionen Wohnungseigentümer, persönlich befragt. Nachder vorläufigen Kalkulation des Statistischen Bundesam-tes und der statistischen Ämter der Länder werden wahr-scheinlich 527,81 Millionen Euro an Gesamtkosten ent-stehen. Davon will der Bund 44,81 Millionen Eurotragen, die Länder sollen 483 Millionen Euro der Ge-samtkosten übernehmen. Lassen Sie mich an dieser Stellesagen, wir sehen in der Frage der Kostenaufteilung wei-teren Klärungsbedarf und haben sehr wohl Verständnisfür die Forderungen aus dem Bundesrat, dass die Kostenzwischen Bund und Ländern hälftig geteilt werden. Wirsetzen uns für eine faire Kostenverteilung zwischen Bundund Ländern ein und fordern, dass das Bundesamt fürStatistik die analysierten Daten so bald wie möglich denLändern und Kommunen zur Verfügung stellt.

Der Bundesrat sieht auch inhaltlichen Korrekturbe-darf, wir sollten in der geplanten Anhörung des Innen-ausschusses die Anregungen aus den Ländern und natür-lich aus dem Bereich des Datenschutzes sorgfältig prüfen.Eine formale Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Beschlus-ses darf schon angesichts der enormen Kosten, die derZensus 2011 verursacht, nicht dazu führen, dass wichtigeInformationen, die wir national für erforderlich halten,nicht erhoben werden. Ich möchte hier insbesondere aufden Migrationsbereich verweisen. Eine gezielte Integra-tionspolitik braucht wissenschaftlich analysiertes Zah-lenmaterial, und hier muss sorgfältig geprüft werden, obnicht das eine oder andere Merkmal zusätzlich abgefragtwerden soll. Wenn wir Anonymisierung und Datenschutzsicherstellen, spricht nichts dagegen, Informationen überEinbürgerungen, Herkunftsländer oder Bildungsab-schlüsse für Eingewanderte auszuwerten, und auch derstrittige Punkt der Aufnahme der Religion als Merkmalmuss erneut sachlich diskutiert und bewertet werden.

Politik braucht Planungsdaten, und dazu gehört alsFundament eine verlässliche Bevölkerungsstatistik. DieZahl der Einwohnerinnen und Einwohner in unserenKommunen entscheidet über die Zuschnitte von Bundes-tagswahlkreisen, sie ist Grundlage für eine gerechte Ver-teilung der Steuerlasten, sie ist Berechnungsgrundlagefür den kommunalen Finanzausgleich, und sie regelt denFinanzausgleich zwischen Deutschland und Europa. Beider zusätzlich geplanten Gebäudeerhebung ist allerdingsdarauf zu achten, ob diese Daten wirklich alle gebrauchtwerden.

Wir werden beim Zensus 2011 darauf achten, dass derGrundsatz der „Einbahnstraße“ von statistischen Datengewahrt bleibt, es keine Speicherung über den erforderli-chen Zeitraum hinaus gibt und Zugriffe Dritter auf dieDaten ausgeschlossen bleiben. Wir erwarten, dass derDatenschutzbeauftragte des Bundes und die Daten-

schutzbeauftragten der Länder das gesamte VerfahrenZensus 2011 eng begleiten und bewerten. Wenn der Da-tenschutz gewahrt bleibt, spricht nichts gegen den Zensus2011.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/12219 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sieeinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlos-sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf:

a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung des Grundgesetzes(Artikel 87 d)

– Drucksache 16/12280 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss (f)Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtli-cher Vorschriften

– Drucksache 16/12279 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Tourismus Haushaltsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich-tung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsi-cherung und zur Änderung und Anpassungweiterer Vorschriften

– Drucksache 16/11608 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss

Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Eshandelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-gen Clemens Binninger und Norbert Königshofen,CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter und Uwe Beckmeyer,SPD, Jan Mücke, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke,Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, und desParlamentarischen Staatssekretärs Ulrich Kasparick fürdie Bundesregierung.

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Clemens Binninger (CDU/CSU): Der Einheitliche Europäische Luftraum hat zum Ziel,

die bisherige, weitgehend nationale Einteilung der Luft-räume in ein europaweites System zu überführen. Mit demEinheitlichen Europäischen Luftraum können von Flug-gesellschaften verstärkt direkte Flugkorridore verwendetwerden. Das erspart Umwege und Zeit, Kerosin und Geld.Letztlich können dadurch bis zu 12 Prozent der CO2-Emissionen – also etwa 11,2 Millionen Tonnen – einge-spart werden. Der Einheitliche Europäische Luftraumstellt also ein wichtiges Element zur Verbesserung derGesamtwirtschaftlichkeit und Effizienz des Flugverkehrsdar, wie auch zur Reduktion von Treibhausgasen.

Die wesentlichen Vorschriften zum Single EuropeanSky stammen aus dem Jahr 2004. Heute beraten wir dienotwendigen Gesetzänderungen, um die Vorgaben fürden Einheitlichen Europäischen Luftraum in Deutsch-land umzusetzen.

Zu diesen notwendigen Rechts- und Strukturanpassun-gen gehört auch eine Änderung des Art. 87 d Grundge-setz, die wiederum die Voraussetzung für die Änderungverschiedener luftverkehrsrechtlicher Vorschriften undGesetze ist.

Mit der Änderung des Art. 87 d wird erstens klarge-stellt, dass die Luftverkehrsverwaltung allgemein derBundesverwaltung zugeordnet ist. Damit bleibt sie Ho-heitsaufgabe – soweit dem das Recht der EuropäischenGemeinschaft nicht entgegensteht. Sie muss aber nichtmehr durch Behörden der unmittelbaren Bundesverwal-tung oder von der bundeseigenen Verwaltung zugerech-neten organisationsprivatisierten Einrichtungen durch-geführt werden. Vielmehr können damit Aufgaben derLuftverkehrsverwaltung auch durch die mittelbare Bun-desverwaltung einschließlich privater Beliehener durch-geführt werden. Dies ist nicht nur aus fachlicher Sicht un-verzichtbar, sondern entspricht auch der aktuellen Praxisunter anderem bei Flugsicherungsbetriebsdiensten sowieFlugwetterdiensten an kleineren Flughäfen und ist auchvom Gemeinschaftsrecht so vorgesehen. Darüber hinauswird die Möglichkeit geschaffen, technische Unterstüt-zungsdienste, insbesondere sogenannte CNS-Dienste– also Communication, Navigation, Surveillance –, ausder hoheitlichen Luftverkehrsverwaltung herauszuneh-men, wie es das geltende europäische Recht schon heutevorsieht.

Zweitens schaffen wir die Voraussetzungen, um gemäßder Single-European-Sky-Verordnungen funktionale Luft-raumblöcke einrichten zu können. Dies wird über staats-vertraglich vereinbarte Kooperation zwischen denMitgliedstaaten geschehen. Zur Einrichtung dieser Luft-raumblöcke muss die grenzüberschreitende Zusammen-arbeit von nationalen Flugsicherungsorganisationen er-möglicht und intensiviert werden. Dazu ist es notwendig,dass auch ausländischen, nach EU-Recht zugelassenenFlugsicherungsorganisationen entsprechende Flugsiche-rungsaufgaben in Deutschland übertragen werden kön-nen. Eine solche Kooperation kann darüber hinaus auchunabhängig von europarechtlich zwingenden Vorgabengeschehen, wenn es zum Beispiel aus technischer oderpraktischer Hinsicht etwa bei Regionalflugplätzen oder

im Grenzbereich notwendig ist. Auch das ermöglicht nundie Änderung des Art. 87 d. Zusätzlich zu der Möglichkeiteiner völkerrechtlichen Regelung und einer Übertragungvon Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Organisa-tion wird die Übertragung von Aufgaben an ausländischeOrganisationen damit in Zukunft auch auf Basis einesBundesgesetzes möglich sein. Dieses Begleitgesetz siehtsehr enge Grenzen für eine solche Übertragung an aus-ländische Organisationen vor. Nur, wo es zur Schaffungeines funktionalen Luftraumblocks oder aus praktischenErwägungen notwendig ist, können die Flugsicherungs-aufgaben übertragen werden. Damit gilt nach wie vor:Der größte Teil der Flugsicherung in Deutschland wirdnur von einer zu 100 Prozent im Bundeseigentum befind-lichen Gesellschaft durchgeführt werden. Flugsiche-rungsaufgaben können an ausländische Organisationenauch nur dann übertragen werden, wenn diese ein Zerti-fizierungsverfahren durchlaufen haben. Damit wird si-chergestellt, dass das hohe Sicherheitsniveau, das wirheute haben, auch in Zukunft aufrechterhalten bleibt.

Mit dieser Grundgesetzänderung schaffen wir dieverfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine europa-rechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwal-tung und für die Beteiligung Deutschlands am Einheitli-chen Europäischen Luftraum. Damit ist nicht nur einesicherere, sondern auch eine effizientere grenzüber-schreitende Zusammenarbeit möglich, die viele Vorteilemit sich bringt.

Norbert Königshofen (CDU/CSU): Mit den heute eingebrachten Gesetzen nehmen wir die

Diskussion über die Weiterentwicklung der Flugsiche-rung wieder auf, die schon einmal – nämlich am 7. April2006 – in einen Beschluss des Deutschen Bundestageseinmündete. Damals hat der Bundespräsident HorstKöhler das Gesetz, das der Deutsche Bundestag mit einerüber neunzigprozentigen Mehrheit verabschiedet hatte,aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unter-schrieben.

Wir ziehen nun daraus die Konsequenzen, indem wirden Art. 87 d Grundgesetz durch das eingebrachte „Ge-setz zur Änderung des Grundgesetzes“ an die Vorgabendes Rechts der Europäischen Gemeinschaft zur Schaffungeines einheitlichen europäischen Luftraums (Single Euro-pean Sky/SES) anpassen.

Das bisherige, national organisierte System der Flug-sicherung ist bereits vor geraumer Zeit an seine Grenzengestoßen. Schon seit Jahren haben wir auch in Deutsch-land eine grenzüberschreitende Flugsicherung; so wirdbeispielsweise der an die Schweiz grenzende südwest-deutsche Raum durch die schweizerische Skyguide kon-trolliert. Seit 2007 nehmen Lotsen der österreichischenAustro Control Flugverkehrskontrolldienste an einerReihe deutscher Regionalflughäfen wahr. Beides ist beistrenger Auslegung des Grundgesetzes nicht verfassungs-konform.

Der Flugverkehr hatte in den letzten Jahren außeror-dentliche Wachstumsraten. Allgemein geht man davonaus, dass unabhängig von der derzeitigen Wirtschafts-und Finanzkrise sich die Flüge in Europa bis zum Jahr

Zu Protokoll gegebene Reden

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Norbert Königshofen

2020 gegenüber 2005 an Zahl verdoppeln werden. Schonheute ist der Himmel über Mitteleuropa hoffnungslosüberlastet. Besonders führen die Kapazitätsengpässerund um die Drehkreuze Paris, Frankfurt und London im-mer häufiger zu Ehrenrunden in der Luft und Stauungenam Boden.

Nach Berechnungen der International Air TransportAssociation (IATA) summierten sich allein im Jahr 2007die durch die fragmentierte Überwachung verursachtenVerspätungen auf eine Dauer von 40 Jahren. Das bedeu-tet 468 Millionen unnötige Flugkilometer oder 16 Millio-nen Tonnen unnütz in die Atmosphäre geblasene Abgase.

Daher soll ein einheitlicher europäischer Luftraumgeschaffen werden, indem aus den derzeitig 60 Luftraum-kontrollstellen der 27 nationalen Flugsicherungenmehrere große Einheiten gebildet werden, sogenannteFunctional Airspace Blocks (FABs). Neben dem ökonomi-schen Aspekt ist hier auch der ökologische Nutzen her-vorzuheben. So kann der CO2-Ausstoß laut Berechnun-gen um rund 1 800 000 Tonnen verringert werden.

Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, dieNiederlande sowie die Schweiz wollen den „FunctionalAirspace Block European Central“ (FABEC) bilden. Da-für ist es allerdings notwendig, dass wir auch in Deutsch-land eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Flug-sicherung durch die Regelung des Luftverkehrsgesetzesermöglichen. Neben der Deutsche Flugsicherung GmbH(DFS) müssen auch andere ausländische – nach demRecht der Europäischen Gemeinschaft zertifizierten –Flugsicherungsorganisationen in die Luftverkehrsver-waltung des Bundes eingebunden werden können, so wiedie DFS auch jenseits der deutschen Grenze tätig werdenkönnen soll. Um dies zu ermöglichen und den gesetzwid-rigen Zustand in Deutschland zu beseitigen, müssen wirdie Vorschrift, dass die Luftverkehrsverwaltung in bun-deseigener Verwaltung geführt wird, im Art. 87 d desGrundgesetzes durch eine europarechtskonforme Fas-sung ersetzen.

Ich bitte Sie dringend, der Anpassung des Grundgeset-zes und der übrigen Änderungen luftverkehrlicher Vor-schriften zuzustimmen. Es ist ein wichtiger unverzichtba-rer Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines einheitlichkontrollierten europäischen Luftraums.

Klaus Uwe Benneter (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf hat den Zweck, die

Luftverkehrsverwaltung in Deutschland den Realitätenund den Vorgaben der europäischen SES-Verordnungenanzupassen. Dazu soll – man ist fast versucht zu sagen:wieder einmal – das Grundgesetz geändert werden.

Zurzeit verpflichtet uns Art. 87 d GG, die Luftverkehrs-verwaltung in bundeseigener Verwaltung zu führen. Wasbedeutet das? Wir müssen feststellen: Schon in der Aus-legung dieses Begriffes ist man sich nicht einig. Die Ver-fassungsliteratur versteht diesen Begriff weit. Sowohl dieunmittelbare als auch die mittelbare Staatsverwaltungsoll davon umfasst sein. Damit könnte die Flugsicherungin Deutschland durch eigene und rechtlich unselbststän-

dige Behörden des Bundes sowie durch Körperschaftenund Anstalten oder Beliehene wahrgenommen werden.

Diesem weiten Verständnis hat sich der Bundespräsi-dent aber ausdrücklich nicht angeschlossen. Seiner Auf-fassung nach gibt Art. 87 d GG dem Bund auf, derVerantwortung für die Flugsicherung nur dann nachzu-kommen, wenn eine jederzeitige Durchsetzung des staat-lichen Willens garantiert ist. Dies sei aber schon bei mit-telbarer Staatsverwaltung nicht mehr der Fall. Ist dieDeutsche Flugsicherung als bundeseigene GmbH heutealso im Rahmen der Beleihung tätig, deckt sich diese Pra-xis nicht mehr mit der Ansicht des Bundespräsidenten. Esleuchtet daher ein, dass wir unser Verfassungsrecht mitder Wirklichkeit in Einklang bringen müssen. Wir könnenund wollen uns hier kein rechtliches Vakuum leisten.

Wir sind für ein Europa, das nicht nur am Boden mitden Schengen-Abkommen, sondern auch in der Luft wei-ter zusammenwächst. Europa wirkt schon heute vielfältigim Bereich des Luftverkehrs nach Deutschland hinein,zum Beispiel mit der Gestaltung der europäischen Außen-beziehungen im Luftverkehr oder bei der Verbesserungder Verbraucherrechte für Flugpassagiere.

Im Jahr 2004 wurde diese Zusammenarbeit auf eineneue Stufe gehoben: Mit den SES-Abkommen wurden dieVoraussetzungen für die Einrichtung eines einheitlicheneuropäischen Luftraumes geschaffen. Im Bereich derFlugsicherung herrscht heute noch die Kleinstaaterei,Zuständigkeiten richten sich nach Landesgrenzen undnicht nach Flugrouten, Umwege der Flugzeuge mit höhe-rem Spritverbrauch und CO2-Ausstoß sind die Folge. Diegeplanten fortgeschriebenen SES-II-Verordnungen ver-pflichten uns darüber hinaus, ausländische Flugsiche-rungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. DieseVerordnungen sind in Ordnung. Genauso wie wir bei derKriminalitätsbekämpfung, beim Verbraucherschutzesund in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammen-arbeiten, ist auch die Flugsicherheit heute keine rein na-tionale Angelegenheit mehr.

Art. 87 d GG verbietet uns aber hier mit seinem Gebotder bundeseigenen Verwaltung, ausländische Flugsiche-rungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. DieGrundgesetzanpassung erscheint deshalb aus europa-rechtlichen Gründen notwendig. Nun ist das Grundgesetzkeine beliebige Verfügungsmasse. Änderungen bedürfenstets besonderer Rechtfertigung. In der Beratung des vor-liegenden Gesetzentwurfes müssen wir uns deshalb vonfolgenden Grundsätzen leiten lassen:

Erstens: Oberste Priorität hat für uns Sozialdemokra-ten die Sicherheit der Tausenden von Menschen, die täg-lich in der Luft über Deutschland unterwegs sind. Sie ha-ben einen Anspruch darauf, dass wir alles Mögliche fürsichere Flüge tun. Wirtschafts- oder Marktinteressenmüssen hier zurückstehen. Die Deutsche Flugsicherungist eine der besten der Welt. Dies muss so bleiben. DasUnglück von Überlingen im Jahr 2002 hat uns brutal vorAugen geführt, was es heißt, wenn Kontrollen versagenoder lax gehandhabt werden.

Zweitens: Die Deutsche Flugsicherung GmbH mussweiter die zentral verantwortliche Institution für die Luft-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Klaus Uwe Benneter

verkehrskontrolle in Deutschland bleiben. Nur in Aus-nahmefällen sollten Dritte – nach strengen Zulassungs-und Zertifizierungsverfahren – diese Aufgaben wahrneh-men können.

Drittens: Der Bundesparteitag der SPD im Oktober2007 hat uns aufgetragen, keinesfalls einer Initiative zu-zustimmen, die eine Privatisierung der Deutschen Flug-sicherung zum Ziel hat und insbesondere das Grundge-setz dafür ändert. An diesen Beschluss fühle ich michgebunden. Mit ist durchaus bewusst, dass eine Privatisie-rung nicht das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwur-fes ist, allerdings wird sie mit dieser Grundgesetzände-rung theoretisch möglich sein. Das ist problematisch.

Darüber hinaus stellen sich mir eine Reihe weitererFragen: Die Luftverkehrsverwaltung soll in Zukunft nachArt. 87 d Abs. 1 GG in sogenannter Bundesverwaltunggeführt werden. Damit werden die verfassungsrechtli-chen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Dritte mitder Flugsicherung in Deutschland beauftragt werdenkönnen. Das Institut der „Bundesverwaltung“ ist neu unddem Grundgesetz bisher fremd. Wenn hier aber neue Be-grifflichkeiten geschaffen werden, halte ich es für uner-lässlich, dass ihre Bedeutung und Systematik genau be-stimmt ist, um rechtliche Grauzonen auszuschließen. Diesleistet der Gesetzentwurf bisher nicht in ausreichendemMaße. Vom Grundsatz der Bundesverwaltung darf weitergemäß Art. 87 d Abs. 1 GG dann abgewichen werden,wenn europäisches Recht dies notwendig macht. Auchdiese Formulierung ist für mich alles andere als eindeu-tig. Warum ist in der Gesetzesbegründung beispielsweisevon „zwingendem europäischen Recht“ die Rede, imGrundgesetz aber nicht? Diese und andere Punkte sindfür mich noch nicht hinreichend beantwortet. Das müssenwir uns noch einmal genau angucken.

Uwe Beckmeyer (SPD): Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzent-

wurf zur Änderung des Grundgesetzes im Art. 87 d sowieeinen Entwurf für ein Gesetz zur Änderung der luftver-kehrsrechtlichen Vorschriften. Darüber hinaus liegt unsein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtungeines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vor.

Die Änderungen, die wir als Koalitionsfraktionen pa-rallel zur Bundesregierung in die parlamentarischen Be-ratungen einbringen, stehen im engen Zusammenhangmit dem festen Willen der Mitgliedstaaten der Europäi-schen Union, eine engere Zusammenarbeit im Luftver-kehr zu erreichen. Ziel der Kooperation innerhalb derEuropäischen Union ist es, die Verkehrsströme in der Lufteffektiver zu organisieren. Im Jahr 2004 hat die Europäi-sche Union ein Paket an Verordnungen zur Errichtung ei-nes einheitlichen europäischen Luftraums verabschiedet.Oberstes Ziel ist es, grenzüberschreitende „funktionaleLuftraumblöcke“ zu schaffen. Auf diese Art werden Flug-trassen optimiert. Die Schadstoffemission von Flugzeu-gen wird reduziert.

In den grenzüberschreitenden Luftfahrtblöcken istdarüber hinaus eine grenzüberschreitende Zusammenar-beit der nationalen Flugsicherungsorganisationen dereuropäischen Mitgliedstaaten vorgesehen. Das erhöht

die Flugsicherheit. Um die Qualität der Flugsicherheit inEuropa zu verbessern, wurden einheitliche Zulassungs-kriterien für Flugverkehrskontrollanbieter und feste Vor-gaben für Struktur, Verfahren und Technik festgelegt.Darüber hinaus ist ein großräumiger Zuschnitt der je-weils überwachten grenzüberschreitenden Luftraumblö-cke vorgesehen. Außerdem strebt die Europäische Unioneine Verbesserung der Effektivität der Flugsicherungs-leistungen an und schreibt eine Trennung von Aufsichtund Umsetzung von Flugsicherungsdiensten vor.

Mit der angestrebten Änderung des Grundgesetzeswollen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungenfür eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luft-verkehrsverwaltung schaffen. Deutschland will und musssich aktiv an der Herstellung eines einheitlichen europäi-schen Luftraums beteiligen. Außerdem wollen wir den un-haltbaren Zustand beenden, dass bereits heute in grenz-nahen Räumen ausländische Flugsicherungsorganisatio-nen ohne rechtliche Grundlage tätig werden; einUmstand, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, dassFlugkorridore und damit die dortige Sicherheit am Him-mel über nationale Grenzen hinweg organisiert werdenmüssen, um einen effektiven Flugverkehr zu ermöglichen.Die Hoheitsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland las-sen sich nicht parallel mit den Zuständigkeitsbereichender Flugsicherungsorganisationen in der Luft abbilden.Hier kommt es zu Überschneidungen mit den Aufgaben-und Funktionsbereichen anderer ausländischer Flugsi-cherungsorganisationen. Kooperationen und Abspra-chen der Deutschen Flugsicherung mit anderen ausländi-schen Flugsicherungsorganisationen sind zwangsläufignotwendig, um den Flugsicherungsbetrieb in diesen Luft-räumen ordnungsgemäß abwickeln zu können. Ähnlichsieht es bereits heute an Regionalflughäfen aus, an denenaus praktischen und technischen Gründen ausländischeFlugsicherungsorganisationen tätig sind und deren Tä-tigkeit bisher rechtlich nicht gedeckt ist.

Mit der Neuregelung im Grundgesetzartikel 87 d öff-nen wir die bundeseigene hoheitliche Luftverkehrsver-waltung für abweichende Vorgaben des europäischenRechts. Sie wird auch künftig der Bundesverwaltung zu-geordnet. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dassdie Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung Hoheitsaufga-ben des Bundes bleiben. Sie müssen jedoch nicht mehrnur durch Behörden und Personal des Bundes, sondernkönnen in Ausnahmefällen auch im Wege der mittelbarenBundesverwaltung einschließlich beliehener Flugsiche-rungsorganisationen wahrgenommen werden.

Darüber hinaus werden mit der Grundgesetzänderungdie verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen,um in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht der Eu-ropäischen Gemeinschaft Unterstützungsdienste derFlugsicherung, das heißt Kommunikations-, Naviga-tions- und Überwachungsdienste sowie Flugberatungs-dienste aus der Hoheitsverwaltung des Bundes ausglie-dern zu können. Dabei handelt es sich um die technischenDienste, die die Beschäftigten der Flugsicherungsorga-nisationen wie die Fluglotsen bei ihrer Tätigkeit unter-stützen. Mit dem Gesetz zur Änderung luftverkehrsrecht-licher Vorschriften folgen wir dem Auftrag des neuenArt. 87 d im Grundgesetz, der uns als Gesetzgeber

Zu Protokoll gegebene Reden

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Uwe Beckmeyer

beauftragt, die konkrete Regelung der Flugsicherung inDeutschland in einem eigenständigen Bundesgesetz zutreffen.

Mit den geplanten Änderungen im Luftverkehrsgesetzwollen wir festschreiben, dass auch in Zukunft die Deut-sche Flugsicherung als bundeseigenes Unternehmen imvollständigen Besitz des Bundes bleibt. Wir schließeneine Privatisierung aus. Darüber hinaus wird die DFSweiterhin die führende Flugsicherungsorganisation inDeutschland bleiben. Nur in Randbereichen lassen wirauf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages eineBeleihung von ausländischen Flugsicherungsorganisa-tionen zu. Um die hoheitlichen Kontroll- und Aufsichts-rechte des zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes fürFlugsicherung zu sichern, ist es bei einer Beleihung einerausländischen Flugsicherungsorganisation unabdingbar,dass ein zwischenstaatlicher Vertrag vorliegt. Die Ho-heitsrechte des deutschen Staates müssen an dieser Stellegewahrt werden.

Außerdem legen wir fest, dass nach Maßgabe der eu-ropäischen Regelungen jede Flugsicherungsorganisa-tion, die in Deutschland tätig wird, ein europäisches Zer-tifikat vorzuweisen hat. Damit schließen wir im Einklangmit den europäischen Vorgaben zukünftig eine Beleihungnatürlicher Personen für die Zukunft aus. Aktuell gel-tende Einzelbeauftragungen erlöschen spätestens mit Ab-lauf des 31. Dezember 2010. Gleichzeitig stellen wir klar,dass zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Flug-sicherung neben der Sicherheit, Ordnung und flüssigenAbwicklung des Luftverkehrs auch die Beachtung der As-pekte des Lärm- und Umweltschutzes gehört.

Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Gesetzzur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsi-cherung vorgelegt, das wir im Zusammenhang mit denanderen beiden Gesetzesinitiativen beraten. Das europäi-sche Recht sieht eine zwingende Trennung von Aufsichts-und Durchführungsaufgaben im Bereich der Flugsiche-rung vor. Das zu errichtende Bundesaufsichtsamt wirddie hoheitlichen Kontrollaufgaben gegenüber den Flug-sicherungsorganisationen wahrnehmen.

Ich lade alle Fraktionen des Deutschen Bundestagsein, sich konstruktiv an der parlamentarischen Beratungder vorliegenden Gesetzentwürfe zu beteiligen. MeineHoffnung ist, dass wir die vorgeschlagenen Änderungenmit einer breiten Mehrheit des Hohen Hauses verabschie-den werden. Das wäre ein gutes Signal im Sinne einerweiteren Integration in der europäischen Luftverkehrspo-litik.

Jan Mücke (FDP): Durch die Medienberichte der letzten Tage entstand

teilweise der Eindruck, dass mit den drei Gesetzentwür-fen, die uns zur Beratung vorliegen, die Zukunft der Deut-schen Flugsicherung GmbH oder gar deren Kapitalpri-vatisierung bzw. ihre Verhinderung geregelt werden soll.Sicher, von einigen Grenzregionen und Regionalflughä-fen abgesehen, werden die Flugsicherungsdienste in derBundesrepublik von der DFS erbracht. Insofern trifft diebeabsichtigte Novellierung dieses Unternehmen ganz be-sonders. Auch steht die FDP-Bundestagsfraktion einer

Kapitalprivatisierung bekanntlich offen gegenüber. Da-rum geht es bei den vorliegenden Gesetzentwürfen abergar nicht. Vielmehr schaffen sie einen Rechtsrahmen da-für, wie in Deutschland zukünftig Flugsicherung allge-mein organisiert sein soll.

Die Initiativen sind aber nicht etwa das Ergebnis desunbändigen Tatendrangs von Bundesregierung und Ko-alitionsfraktionen. Beide wurden schlicht und einfachdurch die Gegebenheiten zum Handeln gezwungen. Flug-sicherungsdienste werden in grenznahen Regionen derBundesrepublik durch ausländische Organisationen er-bracht. Dies ist auch zweckmäßig, da Luftraumblöcke nurschwerlich am genauen Grenzverlauf ausgerichtet wer-den können. Diese Praxis verstößt jedoch gegen die Vor-gaben des Grundgesetzes. Das ist der Bundesregierungund der Koalition spätestens seit der Anhörung im Ver-kehrsausschuss zum Flugsicherungsgesetz im März 2007bekannt. Mehrere Gutachter, darunter auch der Staats-rechtler Professor Wieland, machten damals auf das Pro-blem und all seine Folgen aufmerksam. Passiert ist hin-gegen nichts. Mehr noch: Von der Opposition imVerkehrsausschuss beantragte Selbstbefassungen zudiesem Thema wurden mehrfach vertagt, deren par-lamentarische Initiativen wie der Antrag der FDP-Bun-destagsfraktion „Zukunft der Flugsicherung verfas-sungskonform gestalten“ wurden abgelehnt.

Dabei ist das Thema alles andere als zum Aussitzen ge-eignet. Der anhaltende Verfassungsbruch führt dazu,dass die Bundesrepublik für Schäden, die in diesem Zu-sammenhang entstehen, voll haften muss. Das wurde unsbereits vom Landgericht Konstanz in seinem Urteil zumUnglücksfall Überlingen bestätigt. Auch dort erbrachtedas Schweizer Unternehmen Sky Guide Flugsicherungs-dienste über deutschem Hoheitsgebiet. Die Regierungs-koalition nahm damit für lange Zeit neben dem Verfas-sungsverstoß als solchem ein Haushaltsrisiko inunüberschaubarer Höhe in Kauf. Wenn sie nun endlich– nach über zwei Jahren – legislativ tätig wird, ist dieszwar zu begrüßen; es wird aber auch allerhöchste Zeit.

Ein ähnlich starker Handlungszwang geht auch vomeuropäischen Gemeinschaftsrecht aus. Innerhalb desletzten Jahres wurde deutlich, dass es Europa ernst meintmit dem Single European Sky. Die Kommission hat einenVorschlag für eine Verordnung vorgelegt, nach der dieMitgliedstaaten bis spätestens 2012 Funktionale Luft-raumblöcke errichten müssen. Spätestens zu dieser Zeitmuss sichergestellt sein, dass auch ausländische Organi-sationen ihre Dienste im deutschen Luftraum erbringenkönnen. Deutschland kann sich dann schlechterdingsnicht den Angeboten ausländischer Unternehmen unterHinweis auf die nationale Verfassungslage verschließen –unabhängig von den geplanten EU-Vorschriften. Dennalles andere wäre ein Rückschritt hin zu reinem Protek-tionismus. Und es wird Sie nicht verwundern, dass wir inder FDP-Bundestagsfraktion diesem nicht die Hand rei-chen werden. Dabei mache ich mir um die DFS übrigenskeine Sorgen. Dank der Organisationsprivatisierung imJahre 1993 ist sie hervorragend aufgestellt und muss kei-nen Vergleich mit anderen Organisationen fürchten. DieAnzahl der von ihr kontrollierten Flüge nahm in den letz-ten 15 Jahren um 40 Prozent auf 3,15 Millionen zu. Trotz-

Zu Protokoll gegebene Reden

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dem hatten im Jahr 2008 nur 4 von 100 Flügen eine Ver-spätung von mehr als 15 Minuten, die in dieVerantwortung der DFS fiel. Diese Zahlen belegen: We-niger Staatsnähe im Bereich der Flugsicherung ist eineChance und kein Risiko für das Unternehmen.

Wir begrüßen es auch aus einem anderen Grund, dassdie Kommission bei der Errichtung des Single EuropeanSky jetzt Gas gibt. Durch ihn kann ein wertvoller Beitragzum Umweltschutz geleistet werden, ohne dass damit wie-der eine Verteuerung des Luftverkehrs und der Ticket-preise einhergehen würde. Allein durch die Vermeidungvon Umwegen, die auf nationalstaatliche Interessen zu-rückzuführen sind, kann der CO2-Ausstoß der Flugzeug-flotten um bis zu 16 Prozent reduziert werden. Um diesesZiel erreichen zu können, müssen auch – und gerade – dierechtlichen Voraussetzungen auf der Ebene der Mitglied-staaten geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund ka-men die Entwürfe spät, sehr spät. Umso wichtiger ist es,dass die letztlich beschlossenen Gesetze Bestand habenund einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten.Es wäre fatal, wenn ein Gesetz die Flugsicherung betref-fend zum dritten Mal innerhalb von 19 Jahren für verfas-sungswidrig erklärt werden würde. Im Rahmen der Bera-tungen ist daher besonderes Augenmerk auf dieUnterrichtungen des Bundespräsidenten aus den Jahren1991 und 2006 und die darin aufgeführten Gründe für dieNichtausfertigung zu richten. Es werden im Rahmen derAnhörung dahin gehend einige Fragen zu klären sein. Einerneutes Scheitern an den Hürden des Grundgesetzesdarf es nicht geben.

Es freut uns, dass auch aus Sicht der Koalition Kom-munikations-, Navigations- und Flugberatungsdienste absofort nicht mehr hoheitliche Handlungen darstellen,sondern als privatwirtschaftliche Tätigkeiten zu Markt-bedingungen erbracht werden sollen. Union und SPD be-stätigen damit die Auffassung der FDP, die seit Jahrenvon uns vertreten wird, so zum Beispiel in unserem Antrag„Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestal-ten“. Bedauerlich ist, dass die Koalition nicht konsequentgenug war, einen Schritt weiterzugehen und auch Flug-sicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftlicheDienstleistung auszugestalten. Dies würde aus unsererSicht nur Vorteile bringen. So stellt sich die Frage, warumes zur Erbringung von Flugsicherungsdiensten durchausländische Organisationen auch nach der geplantenGrundgesetzänderung notwendig sein soll, dass eine völ-kerrechtliche Vereinbarung mit dem Heimatstaat der Or-ganisation geschlossen worden sein muss. Wohl auch ausSicht der Koalition genügen ansonsten die Ingerenz-rechte des Staates nicht den Voraussetzungen einer– wenn auch nur einfachen – Bundesverwaltung. Im Er-gebnis hieße dies aber, dass, solange es keine entspre-chenden Vereinbarungen gibt, die Praxis in den grenz-nahen Regionen Deutschlands rechtswidrig bleibt. Durchdie Grundgesetzänderung würde es danach zu keinerleiVereinfachungen kommen. So hat sich Europa den SingleEuropean Sky sicherlich nicht vorgestellt. DiesesDilemma kann verhindert werden, wenn auch Flugsiche-rungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche Dienst-leistungen ausgestaltet werden.

Auch kann ich nicht erkennen, warum die Flugsiche-rung sicherer sein soll, wenn sie eine hoheitliche Aufgabedarstellt. Der Vergleich mit dem Verkehrsträger Schienebeweist das Gegenteil. Der Fahrdienstleiter, der demLokpersonal zum Beispiel durch Signale die Streckenfrei-gabe erteilt und Anweisungen gibt, ist Angestellter derprivatrechtlichen DB Netz AG. Er hat keinerlei Hoheits-gewalt. Trotzdem ist ein sicherer und reibungsloser Be-triebsablauf auf der Schiene gewährleistet. Darüberhinaus würden Zwangsbefugnisse rein faktisch ins Leerelaufen. Kein Fluglotse am Boden wäre in der Lage, seineWeisung mit staatlicher Gewalt an Bord des Flugzeugsdurchzusetzen. Schon heute ist deshalb anerkannt, dassdie Fluglotsen primär nicht regulierend, sondern unter-stützend tätig sind. Und folgerichtig haben bereits heutenach § 3 Luftverkehrsordnung die Piloten das Recht derletzten Entscheidung.

Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, dass dasThema Flugsicherung noch einmal am Ende dieser Legis-laturperiode angepackt wurde. Dies darf aber nicht dazuführen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp verlau-fen und nicht genügend Zeit für die Klärung von entschei-denden Fragen bleibt. Wir werden das Verfahren jeden-falls konstruktiv begleiten und freuen uns auf die weiterenDiskussionen.

Dorothée Menzner (DIE LINKE): Das, was die Koalition uns hier vorlegt, ist absurd.

Während die CDU sich aus ihrer Sicht gerade mit demTeufel einlässt und eine Bank verstaatlicht, bereiten Sieden Weg für einen Verkauf der Flugsicherung. Nachdemdie Koalition mit der Privatisierung der Deutschen Bahngescheitert ist, wird nun wieder die Flugsicherung ausge-graben, um kurz vor Geschäftsschluss, dem Ende der Le-gislatur, der Öffentlichkeit noch einen Erfolg vorweisenzu können.

Werte Kolleginnen und Kollegen, es gibt bemerkens-werte Parallelen zwischen der Finanzkrise und dem, waszurzeit in der europäischen Flugsicherung passiert: Vorder Finanzkrise wurde jahrelang den Banken und Invest-mentgesellschaften absolutes Vertrauen geschenkt undWünschen nach weniger Gesetzen und Regelwerkennachgegeben, statt eigene Kompetenzen bei der Banken-aufsicht aufzubauen. Die Quittung zahlen die Bürgerin-nen und Bürger. Die Bundesregierung lernt nichts dazu.Sie vertraut nun in gleicher Weise den europäischenFlugsicherungsorganisationen, denen es in erster Linieauch nur ums Geldverdienen geht. Dabei weiß die Bun-desregierung schon heute nicht mehr, was in ihrer bun-deseigenen Flugsicherung passiert. Künftig wird sie nochweniger wissen! Wie sonst wäre es zu erklären, dass dieBundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion DieLinke vom 24. November 2008 zu Cross-Border-Leasing-Geschäften im Bereich des Bundes bzw. bundeseigenerUnternehmen nicht antwortete?

Die Flugsicherung ist heute schon privatrechtlich or-ganisiert und damit juristisch in der alleinigen Verant-wortung. Fakt ist jedoch, es besteht ein 1,4-Milliarden-Deal der bundeseigenen Verwaltung Deutsche Flugsiche-rung GmbH mit der AIG zum technischen Equipment.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Dorothée Menzner

AIG, das ist der Konzern, der gerade den größten Quar-talsverlust in der Wirtschaftsgeschichte eingefahren hat:61,7 Milliarden Dollar!

Zu Beginn dieser Legislaturperiode ist die Privatisie-rung der Flugsicherung am Bundespräsidenten aus ver-fassungsrechtlichen Gründen gescheitert. Die Linkestimmte damals als einzige Fraktion im Bundestag gegendieses Gesetz, nicht nur, weil wir die Privatisierung fürfalsch hielten und halten, sondern weil wir verfassungs-rechtliche Bedenken hatten. Auf den Satz „Die Luftver-kehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung ge-führt“ in Art. 87 d des Grundgesetzes hatte sichBundespräsident Horst Köhler berufen, als er 2006 dasGesetz zur Neuregelung der Flugsicherung ablehnte.Diesen Satz wollen Sie nun ändern. Unter dem Deckman-tel der Anpassung ans europäische Recht bereiten Sie denBoden für eine materielle Privatisierung der Flugsiche-rung. Natürlich verkaufen Sie die nicht gleich. Ich kannauch lesen, dass die Flugsicherung weiter zu 100 Prozentin Bundesbesitz befindlich bleibt. Das steht aber nur imBegleitgesetz.

Das Grundgesetz sagt, folgt das Parlament Ihrem An-trag, bald etwas anderes. Das wollen Sie so ändern, dassdie lästigen Hürden, die den Bundespräsidenten damalsgezwungen haben, die Privatisierung zu stoppen, besei-tigt werden. Ich möchte vier Sätze aus einem Bericht desVerkehrsministeriums vom 23. März 2007 zitieren: „DieWörter ‚bundeseigener Verwaltung’ in Satz 1 werdenersetzt durch das Wort ‚Bundesverwaltung’. Die Bundes-verwaltung erhält hiernach einen größeren Handlungs-spielraum, indem sie private Dritte auch in Kernberei-chen der Staatsverwaltung, insbesondere auch im Bereichder Gefahrenabwehr einsetzen kann. Der bisherige Satz 2wird gestrichen. Für die beabsichtigte Kapitalprivatisie-rung der DFS ist der bisherige Satz 2 nicht ausreichend.“Beide „Bedingungen“ für eine Kapitalprivatisierung er-füllen Sie mit dieser Grundgesetzänderung. Sie lassen da-mit zu, dass auch in den Kernbereichen der Luftsicherheitprivate Unternehmen agieren dürfen. Der Vorwand ist,dies wäre nötig, um in den Grenzregionen Verfassungs-konformität herzustellen, aber ich sage: Das ist nur diehalbe Wahrheit. Mit anderen Worten: Die SPD macht sichzum Wegbereiter für eine Kapitalprivatisierung der DFS –trotz Hamburger Parteitagsbeschluss. Schwarz-Gelb, sodas auf uns zukommt, kann in der nächsten Legislaturpe-riode in Ruhe vollenden. Die hätten dann natürlich keineZweidrittelmehrheit, deswegen muss jetzt die SPD nocheinmal den nützlichen Idioten spielen. Wollen Sie daswirklich?

Wer der Meinung ist, die Deutsche Flugsicherung sollzu 100 Prozent in Bundesbesitz bleiben, der darf dieserGrundgesetzänderung nicht zustimmen! Ich appelliere andie Genossinnen und Genossen der SPD, das zu überden-ken, anderenfalls könnte einem glatt die Idee kommen, esläge ein Deal vor.

Der Anlass des Vorschlags zur Änderung des Grund-gesetzes des gemeinsamen Luftraums in Zentraleuropa istunbestritten. Auch die Linke setzt sich dafür ein, dass diegesetzlichen Grundlagen ans Europarecht angepasstwerden. Wir haben dazu einen eigenen Antrag einge-

bracht: Drucksache 16/3803, ausdrücklich nicht zur Än-derung des Grundgesetzes. Das muss man nicht verbie-gen, um die europäischen Vorgaben im Luftverkehreinzuhalten! Für einen einheitlichen Luftraumblock inZentraleuropa, der von den Pyrenäen bis zur Oder reicht,genügt eine zwischenstaatliche Organisation. Art. 24 desGrundgesetzes reicht sehr wohl aus! Das ist längst Pra-xis: Eurocontrol überwacht schon seit Jahrzehnten einenLuftraum, zu dem auch der Nordseeraum und Nord-deutschland zählen. Und selbst wenn Sie das Grundge-setz ändern, müssen trotzdem zwischenstaatliche Ein-richtungen geschaffen werden. Ansonsten bliebe nur derWeg, dass jeder Staat mit jedem anderen einen Vertragabschließt.

Ich möchte Ihnen Ihre angeblichen Sachzwänge ein-mal vor Augen führen: Für den einheitlichen europäi-schen Luftraumblock ist bislang lediglich eine Joint De-claration of Intent unterzeichnet worden, auf Deutsch:eine „Gemeinsame Absichtserklärung“! Das ist die nied-rigste Stufe einer irgendwie gearteten Vereinbarung! Dasnehmen Sie zum Anlass, das Grundgesetz zu ändern?

Völlig ausgeblendet haben Sie anscheinend auch dieAuswirkungen auf andere Luftverkehrsverwaltungen. Sietun so, als ob die Flugsicherung der einzige Bestandteilder Luftverkehrsverwaltung wäre. Dem aber ist nicht so,und Sie wissen das! Auch das Luftfahrt-Bundesamt,LBA, die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung,BFU, und das zukünftige Bundesamt für Flugsiche-rungsaufsicht, BAF, sind Bestandteile der Luftverkehrs-verwaltung. Darüber, was die Grundgesetzänderung fürdiese Verwaltungen bedeutet, haben Sie bisher wohlnoch nicht nachgedacht, getreu der Devise: Hauptsache,die Koalition erweckt noch den Anschein der Hand-lungsfähigkeit.

Hier sehen wir noch deutlichen Klärungsbedarf in denweiteren Beratungen. Wenn Flugsicherungsorganisatio-nen anderer Staaten – nach entsprechender Zertifizierung –künftig Bestandteil der nationalen deutschen Bundesver-waltung werden, dann muss gesichert sein, dass eineInstitution vorhanden ist, die kontrolliert, ob diese Orga-nisationen die zahlreichen Gesetze, Verordnungen, Richt-linien und Erlasse einhalten, die für Bundesverwaltungennun einmal gelten. Das neue Aufsichtsamt für die Flug-sicherung BAF mit seinen künftig etwa 80 Beamten wirdmit diesen Angelegenheiten mit ziemlicher Sicherheitüberfordert sein! Es ist in der Tat so, dass die Organisa-tionseinheiten von AustroControl, die einen Teil der deut-schen Regionalflughäfen kontrollieren, sich künftig in derRolle einer Bundesverwaltung befinden werden und ent-sprechendes öffentliches Recht für ihren inneren Aufbauwerden anwenden müssen! Die Frage ist jedoch, wer daskontrolliert. Wir sehen noch umfänglichen Klärungsbe-darf für die weiteren Beratungen.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir hatten uns als Verkehrspolitiker im Jahr 2006 auf

ein Gesetz zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Flug-sicherung, DFS, geeinigt und waren damals der Auffas-sung, zu einem guten Kompromiss gekommen zu sein.Das Gesetz sollte der Umsetzung der neuen Anforderun-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Winfried Hermann

gen für einen einheitlichen und sicheren europäischenLuftraum dienen, die mit einer Reihe von EU-Verordnun-gen zum Single European Sky, SES, vorgegeben waren.Die zentralen Zielsetzungen des Gesetzes lauteten: Wah-rung europäischen Rechts und des Grundgesetzes, Wah-rung und Sicherung hoheitlicher Aufgaben, Schaffungoptimaler Bedingungen für das international anerkannteFlugsicherungsunternehmen DFS im europäischen Wett-bewerb sowie Garantie und Sicherung unabhängigerstaatlicher Aufsicht. Der Bundespräsident hat gegen dasGesetz sein Veto eingelegt und dies mit der Verfassungs-widrigkeit des DFS-Gesetzes begründet.

Ohne eine Neuregelung konnten die europäischen Vor-gaben bisher nicht umgesetzt werden. Auch die Problemeder Luftraumüberwachung in Grenzgebieten durch aus-ländische Flugsicherungsorganisationen, die man kaumals in „bundeseigner Verwaltung“ betrieben bezeichnenkann, wurden nicht gelöst, noch wurden die Fragen derRechtmäßigkeit der Tätigkeit privater Flugsicherungs-organisationen an Regionalflughäfen beantwortet. DerBundesregierung ist es lange Zeit nicht gelungen, ausdem gescheiterten Vorhaben Konsequenzen zu ziehen.Jetzt endlich – immerhin drei Jahre später – werden dreiRegelwerke vorgelegt, die diesem Zustand abhelfen sol-len.

Mit dem ersten Gesetz soll Art. 87 d des Grundgesetzesgeändert werden. Die Debatte wie auch verfassungs-rechtliche Gutachten zu den Einwänden des Bundesprä-sidenten haben die Notwendigkeit einer Grundgesetzän-derung nahegelegt. Die jetzt von der Bundesregierungvorgeschlagenen zentralen Änderungen sind: Die For-mulierung „bundeseigene Verwaltung“, Art. 87 d GGderzeit, soll durch die Formulierung „Bundesverwal-tung“ ersetzt werden, das heißt, die Aufgaben der Flugsi-cherung können sowohl öffentlich-rechtlich als auchdurch private Organisationen, etwa durch Beleihung,ausgeübt werden. Ausländische Flugsicherungsorgani-sationen, die nach EU-Recht zertifiziert sind, sollen ge-mäß europäischer Vorgaben für Tätigkeit über deutschemHoheitsgebiet zugelassen werden. Das zielt, so die Be-gründung, auf die Absicherung ausländischer Organisa-tionen, die im Rahmen der Schaffung von FABs, Funktio-naler Lufträume in der EU, zur Umsetzung deseinheitlichen europäischen Luftraums über deutschemGebiet tätig werden.

Das Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vor-schriften enthält die Ausführungsbestimmungen für dievorgeschlagene Grundgesetzänderung sowie Klarstel-lungen und Regelungen über jene technischen Bereicheder Flugsicherung – Unterstützungsdienste, Kommunika-tions-, Navigations- und Überwachungsdienste –, dienach europäischen Vorgaben nicht mehr als hoheitlicheAufgaben des Bundes wahrgenommen werden müssen.Eine Kapitalprivatisierung wie im Gesetz von 2006 vor-gesehen wird ausdrücklich nicht angestrebt; die Deut-sche Flugsicherung bleibt im Besitz des Bundes.

Mit dem BAF-Gesetz soll das einzurichtende Bundes-aufsichtsamt für Flugsicherung, BAF, als unabhängigeAufsichtsbehörde auf den Weg gebracht werden. Die EUhatte mit den SES-Vorgaben die Mitgliedstaaten aufge-

fordert, eine Trennung von Flugsicherungsabwicklungund Kontrolle sicher zu stellen. Das BAF soll alle Kon-trollaufgaben in Sachen Flugsicherung wahrnehmen unddie Einhaltung von Standards sichern, umfassendeRechts- und Fachaufsicht. Die Einrichtung dieser Be-hörde ist längst überfällig; denn seit Jahren ist eine ArtÜbergangsbehörde mit unzureichender Personalausstat-tung allein für die Kontrolle, Genehmigung und Zertifi-zierung zuständig. Dieser Zustand muss dringend abge-stellt werden.

Unserer Auffassung nach müssen die beschriebenenProbleme mit der derzeitigen rechtswidrigen Flugsiche-rungspraxis rasch gelöst werden. Überdies drohen Ver-tragsverletzungsverfahren, wenn die europäischen Vor-gaben nicht umgesetzt werden. Die Schaffung eineseinheitlichen europäischen Luftraums soll – so ein erklär-tes Ziel – zu mehr Effizienz im Flugverkehr führen. Wirmeinen, dies ist ein wichtiger Baustein für mehr Klima-schutz im Luftverkehr und begrüßen daher die Umsetzungdes einheitlichen europäischen Luftraums.

Gleichwohl müssen wir jetzt im parlamentarischenVerfahren wohlüberlegt und mit großer Sorgfalt sicher-stellen, dass mit den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfenwirklich alle Fragen der momentan grundgesetzwidrigenPraxis in der Flugsicherung beim grenzüberschreitendenFlugverkehr und der Verfassungskonformität mit euro-päischen Anforderungen geklärt werden. Wir werden dieVorlagen in der nötigen Ruhe kritisch prüfen und im Rah-men der parlamentarischen Beratung wie auch der ver-abredeten Anhörung im Deutschen Bundestag auf trans-parente, eindeutige und rechtskonforme Regelungendrängen. Denn mit Blick auf die Historie – immerhin wur-den schon durch zwei Bundespräsidenten Regelungenzum Flugverkehr aufgehalten – wollen wir darauf drän-gen, dass klare und unmissverständliche Regelungen ge-troffen werden, damit nicht erneut ein Scheitern am Endesteht. Für uns hat Sicherung hoheitlicher Aufgaben derFlugsicherung höchste Priorität. Die Verantwortung fürden sicheren Luftraum muss beim Bund bleiben. So sollauch zukünftig die zivil-militärische Integration bei derÜberwachung des Flugverkehrs eine höchstmögliche Si-cherheit garantieren.

Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes-minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:

Wir behandeln heute ein umfangreiches Gesetzespaketzur Neuregelung der Flugsicherung, bestehend aus dreiGesetzen. Wir müssen unser nationales Recht aus ver-schiedenen Gründen weiterentwickeln und anpassen.

Wir wollen mit dem BAF-Errichtungsgesetz das ersteEU-Verordnungspaket über den einheitlichen europäi-schen Luftraum – SES I – umsetzen. Dies müssen wirschon deshalb tun, weil wir ein Vertragsverletzungs-verfahren der EU und insbesondere auch Defizite in derSicherheit durch eine unzureichende Aufsicht vermeidenwollen. Mit der Grundgesetzanpassung in der jetzt vorlie-genden Form haben wir einen Weg gefunden, bei allenwichtigen EU-Vorhaben zur Weiterentwicklung einesgemeinsamen Luftraums mitwirken zu können. Das vonuns sogenannte Begleitgesetz zur Flugsicherung ist die

Zu Protokoll gegebene Reden

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Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick:

logische und zwingende Folge der von mir eben vorge-stellten Maßnahmen zu Grundgesetz und EU sowie SES.Bei allem spielt außerdem eine wichtige Rolle, dass wirden Herausforderungen eines kontinuierlich wachsendenLuftverkehrs sachgerecht begegnen können.

Die Europäische Union hat bereits im Jahre 2004reagiert. Mit dem Verordnungspaket zum Einheitlicheneuropäischen Luftraum soll ein grenzüberschreitenderSingle European Sky in Zentraleuropa geschaffen wer-den. Wir hinken nach wie vor hinterher. Nach wie vor istunser Recht nicht auf den Single European Sky aus-gerichtet. Deutschland als das Kernland in Europa kannsich hier aber nicht einfach heraushalten.

Die besondere Herausforderung, vor der wir stehen, ist,die Flugsicherung grenzüberschreitend zu organisieren.Es gilt, eine weitgehend zersplitterte Flugsicherungs-landschaft in der Europäischen Union zu vereinheitlichenund auf einen gemeinsamen Level zu bringen. Die Lenkungdes Flugverkehrs soll sich künftig nicht mehr an Staats-grenzen orientieren, sondern an den Verkehrsströmen.Flugzeuge sollen, insbesondere auch im Interesse desUmweltschutzes, auf möglichst direktem Weg an ihr je-weiliges Ziel geführt werden. Dazu sollen in ganz Europagrenzüberschreitende funktionale Luftraumblöcke ein-gerichtet werden. Unter Beteiligung Deutschlands,Frankreichs, der Benelux-Staaten und der Schweiz laufendie Arbeiten an der Errichtung eines solchen gemeinsa-men Luftraums über Zentraleuropa: Functional AirspaceBlock Europe Central, FABEC. Es gilt daher, die aktiveBeteiligung Deutschlands an diesem FABEC sicherzu-stellen.

Wir brauchen insoweit die notwendige Flexibilität, umhier auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Staatengemeinsame Lösungen konzipieren und verwirklichen zukönnen. Diesen Freiraum, diese notwendige Flexibilitätschaffen wir mit dem Gesetzespaket zur Neuorganisationder Flugsicherung in Deutschland. Lassen Sie mich kurzauf die einzelnen Regelwerke eingehen.

Erstens: Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes,Art. 87 d GG. Mit der Grundgesetzänderung wird dieLuftverkehrsverwaltung neu ausgerichtet. Die bisherigebundeseigene Verwaltung des Luftverkehrs wird in eineBundesverwaltung überführt. Der einfache Gesetzgeberhat so die Möglichkeit, sie als bundesunmittelbare, aberauch als mittelbare Verwaltung auszugestalten. Durch dieMöglichkeit der Ausgestaltung als mittelbare Verwaltungwird insbesondere der Weg eröffnet, Dritte in die Bundes-verwaltung einbeziehen zu können. Wir brauchen diesenFreiraum gerade in der Flugsicherung. Zum Beispiel ha-ben wir Situationen an unseren Grenzen, wo es sich nichtvermeiden lässt, dass auch ausländische Flugsicherungs-organisationen mit ihrer Flugsicherungstätigkeit gleich-sam von außen nach Deutschland hineinwirken. Kommtes zur Errichtung des FABEC, wird sich dieser Umstandnoch beträchtlich ausweiten. Staatsgrenzen spielen dannkeine Rolle mehr; entscheidend für die Ausrichtung undAusgestaltung der internationalen Flugsicherungstätig-keit werden nur noch die Verkehrsströme sein.

Bei Abfassung des Grundgesetzes waren diese Um-stände nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ging seinerzeit

davon aus, dass die Luftverkehrsverwaltung und damit dieFlugsicherung durch eigene Einrichtungen des Bundesdarstellbar wären. Das ist aber heute in einem zusammen-wachsenden Europa nicht mehr der Fall. Der grenzüber-schreitende Flugverkehr fordert andere Lösungen. Dasist der Grund, warum wir unsere Verfassung anpassenmüssen.

Gleichzeitig – und das möchte ich hier besonders heraus-stellen – berücksichtigen wir bei der vorliegenden, an denNotwendigkeiten Europas wie der Praxis orientierten Ver-fassungsänderung auch Bedenken des Bundespräsidentenbezüglich der Bundesverwaltung, die er 2006 – wennauch in anderem Zusammenhang – geäußert hat.

Zweitens: Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicherVorschriften. Dieses Gesetz ist zur Umsetzung der neuengrundgesetzlichen Vorgaben notwendig. Mit dem Gesetzwerden die von der Neufassung von Art. 87 d des Grund-gesetzes geforderten einfachgesetzlichen Grundlagengeschaffen, um die deutsche Flugsicherung europa-rechtskonform auszurichten. Darüber hinaus werden dieVoraussetzungen geschaffen, um Flugsicherungsaufgabenin Deutschland in bestimmten Ausnahmefällen durch aus-ländische Flugsicherungsorganisationen wahrnehmenlassen zu können.

Lassen Sie es mich an dieser Stelle noch einmal aus-drücklich betonen: Es steht kein Ausverkauf der Flug-sicherung an. Wir übertragen insbesondere auch keineHoheitsrechte an Dritte. Die Flugsicherung in Deutsch-land bleibt weiterhin eine Aufgabe des Bundes. Keiner inDeutschland tätigen Flugsicherungsorganisation werdendaher Kompetenzen des Bundes übertragen. Diese Orga-nisationen sind nur befugt, die Hoheitsrechte des Bundesunter seiner Aufsicht und Kontrolle wahrzunehmen. DieBelange des Bundes müssen dabei in jedem Fall gewahrtwerden. Dazu braucht der Bund aber entsprechende Steu-erungsinstrumente.

Es war gerade der Bundespräsident, der uns 2006 inbesonders eindringlicher und anschaulicher Form nocheinmal deutlich gemacht hat, welch bedeutende Rolle,Aufgabe und Verantwortung der Bund für eine sichereund ordnungsgemäße Flugsicherung trägt. Ohne wirk-same Kontroll- und Durchsetzungsbefugnisse kann derBund – wie der Bundespräsident betont hat – seiner Ver-antwortung nicht gerecht werden. Vor diesem Hinter-grund und im Hinblick auf die herausragende Funktionund Stellung der DFS in der Flugsicherung sind wir nun-mehr der festen Überzeugung, dass eine solche Aufgabegrundsätzlich nur von einer zu 100 Prozent in Bundes-eigentum stehenden Flugsicherungsorganisation – sprich:DFS – wahrgenommen werden kann.

Die Aufrechterhaltung des Alleineigentums an derDFS erscheint uns letztlich als die beste Lösung, um jed-weden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegentretenzu können und um eine Gewähr für die Aufrechterhaltungdes hohen Sicherheitsstandards Deutschlands in derFlugsicherung bieten zu können. Nach den vorgesehenenNeuregelungen wird daher die DFS als bundeseigenes,privatrechtliches Unternehmen auch weiterhin die hoheit-lichen Aufgaben des Bundes in Deutschland wahrneh-men.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick:

Nicht bundeseigene Flugsicherungsorganisationen las-sen wir nur in Randbereichen der Flugsicherung zu, undzwar für die Flugsicherung an Regionalflughäfen. Hierhandelt es sich nicht um die Kontrolle des An- und Ab-fluges oder des Streckenfluges, sondern nur um die Über-wachung des Flugplatzverkehrs auf dem Flugplatz. DieseDienste waren bislang einzelnen natürlichen Personenübertragen. Künftig können sie nur von Flugsicherungs-organisationen durchgeführt werden, die nach europäi-schem Recht zertifiziert sind.

Bestimmte Dienste im Zusammenhang mit der Flug-sicherung wollen wir allerdings gänzlich aus dem hoheit-lichen Pflichtenkreis des Bundes herausnehmen. Es han-delt sich hierbei um Kommunikations-, Navigations- undÜberwachungsdienste – CNS-Dienste –, Flugberatungs-dienste, AIS-Dienste sowie Flugvermessungsdienste.Diese Dienste werden zukünftig der Privatwirtschaftüberlassen und der Aufsicht des noch zu errichtendenBundesaufsichtsamtes für Flugsicherung unterstellt. Damitkommen wir europäischen Vorgaben nach.

Künftig können auch zertifizierte ausländische Flug-sicherungsorganisationen mit Sitz oder Niederlassung imAusland im Bereich der grenzüberschreitenden Flug-sicherung unter Kontrolle und Aufsicht des Bundes ein-gesetzt werden. Dazu schaffen wir die Voraussetzungenfür eine Unterbeauftragung von ausländischen Flug-sicherungsorganisationen durch die DFS. So erhalten wireine wesentlich verbesserte rechtliche Basis für dieZusammenarbeit mit ausländischen Flugsicherungsorga-nisationen.

Drittens: Gesetz zur Errichtung eines Bundesauf-sichtsamtes für Flugsicherung. Das dritte Gesetz im vor-liegenden Paket setzt die zur Verbesserung der Flug-sicherheit nach europäischen Vorgaben zwingendgebotene Trennung operativer und regulativer Aufgabenim Bereich der Flugsicherung um. Nachdem die DFS inder Vergangenheit als Rechtsnachfolgerin einer ehema-ligen Bundesbehörde auch zahlreiche Hoheitsaufgabendes Bundes im Rahmen der Aufsicht und Regulierungwahrgenommen hat, wird sie durch dieses Gesetz von die-sen Aufgaben befreit. Die vorhandenen und neu durch dieUmsetzung des SES-Verordnungspakets entstandenenAufgaben werden zukünftig auf eine neue Bundesbehördeverlagert: das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung.Als nachgeordnete Behörde des BMVBS soll dieses Amtals eigenständige nationale Aufsichtsbehörde für dieFlugsicherung fungieren, wie sie in Art. 4 der EG-Verord-nung 549/2004 vorgeschrieben ist.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 16/12280, 16/12279 und 16/11608 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem

Übereinkommen vom 30. Mai 2008 überStreumunition

– Drucksache 16/12226 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss (f)VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Eshandelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-gen Hans Raidel, CDU/CSU, Andreas Weigel, SPD,Florian Toncar, FDP, Inge Höger, Die Linke, WinfriedNachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Raidel (CDU/CSU): Seit den 1990er-Jahren ist die Stärkung des humanitä-

ren Völkerrechts weit vorangekommen. Das Verbot derAntipersonenminen war ein erster Meilenstein. Der vonNorwegen im Februar 2007 eröffnete Oslo-Prozess zuStreumunition gestaltet sich zu einer weiteren wichtigenEtappe.

Streubomben sind scheußliche Waffen. Sie könnennicht zuverlässig zwischen militärischen und zivilen Zie-len unterscheiden. Noch Jahrzehnte nach dem Einsatzvon Streubomben werden Menschen von Sprengkörperngetötet oder schwer verletzt. Das Erbe der nicht explo-dierten Streumunition verhindert auch nach Beendigungeines Krieges den Wiederaufbau eines Landes. Die Besei-tigung von Streubomben ist ebenfalls eine Voraussetzungfür die Normalisierung eines Landes nach einem Krieg,wie die Beseitigung von Antipersonenminen.

Seit dem Einsatz von Streumunition im Nahen Osten imSommer 2006 wird ein Verbot für diese Munition gefor-dert. Die damals eingesetzte Munition hatte nach Aussa-gen von Nichtregierungsorganisationen eine enorm hoheBlindgängerrate von weit über 15 Prozent. Allein imLibanon wurden über 3 000 Blindgänger entschärft,60 Zivilisten sollen im Libanon durch Blindgänger umsLeben gekommen sein.

Die Bundesrepublik Deutschland ist sich schon früh-zeitig der Gefahren bewusst gewesen, die durch Ge-brauch und hohe Blindgängerrate bestimmter Arten vonStreumunition vor allem der Zivilbevölkerung drohen. Sieunterstützte daher von Beginn an aktiv den Verhand-lungsprozess zu Streumunition, um die Zivilbevölkerungvor den Gefahren dieser Munition stärker zu schützenund das humanitäre Völkerrecht weiter zu entwickeln.Deshalb möchte ich den Vertretern der Bundesregierungfür ihren Einsatz meinen Dank aussprechen.

Die Bundesregierung war immer bemüht, möglichstviele Staaten mit ins Boot zu holen. Letztlich lässt sich einstärkerer Schutz der Zivilbevölkerung nur dann errei-chen, wenn diese Verpflichtungen von so vielen Staatenwie nur irgend möglich mitgetragen werden, insbe-sondere von den Staaten, die über große Streumunitions-arsenale verfügen. Unsere Verhandlungsführer zeigtendiplomatisches Fingerspitzengefühl für das politischMachbare, immer verbunden mit einem realistischenSchrittfolgekonzept. Ein langer Atem und die Bereitschaft

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Hans Raidel

zum Bohren dicker Bretter waren Voraussetzungen fürden Erfolg. Wir wissen aus Erfahrung, wie mühsam es ist,Abrüstungserfolge zu erzielen. Betrachten wir nur dasOttawa-Minenprotokoll und das damit verbundene jahre-lange Tauziehen. Auch dabei haben sich DeutschlandsRegierung und Parlament besonders engagiert undSchrittmacherdienste geleistet. Es hat sich gelohnt:Heute ist das Ottawa-Protokoll in Kraft.

Die Mitglieder des parlamentarischen Forums „SmallArms and Light Weapons“, dessen Vorstand ich ange-höre, haben 2007 in einer Erklärung ihre Solidarität mitallen Opfern von Streubomben bekundet. Da Streubom-benmunition Zivilisten in Konfliktgebieten großen Scha-den zufügt, haben wir darin unsere tiefsten Bedenken zumAusdruck gebracht. Die hohe Zahl an Toten und Verletz-ten sowie die Gefahr einer nachhaltigen Schädigungdurch Blindgänger weit nach Ende des Konflikts werdenvon uns zutiefst bedauert.

In der Erklärung wird gefordert, dass aufgrund derrücksichtslosen und nachhaltigen Gefährdung der Zivil-bevölkerung ein internationales Instrument geschaffenwird, um gegen Streubomben vorzugehen. Das Forum fa-vorisiert dabei eine Lösung, durch die jede Form vonStreubombenmunition verboten werden soll. Hierin wirddie Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass eine Ab-schmälerung dieses Verbotes dazu führen könnte, dassder Handel und die Produktion weitergehen könnten. Eswird darauf gedrängt, dass sich die produzierenden Län-der dem Moratorium zu einem Verbot von Streubombenanschließen. Ziel sollte es sein, den Handel und die Pro-duktion dieser Waffen einzustellen. Ein solches Morato-rium soll auch für Artillerie und hochmoderne Waffen-technologien mit Selbstzerstörungseinrichtungen gelten.

In der Berlin-Erklärung vom Februar 2009 begrüßendie Teilnehmer die im Dezember 2008 in Oslo von94 Ländern unterzeichnete Konvention gegen den Ein-satz von Streubomben. Die Implementierung dieses Do-kuments wird als eine wichtige Errungenschaft angese-hen, da es sich gegen die Produktion, den Gebrauch, denBesitz sowie den Handel dieser Waffen ausspricht. DieStaaten werden dazu ermuntert, sich für die Ratifizierung,die Teilnahme und die Umsetzung dieser Konvention ein-zusetzen. Die anhaltende Produktion, Weiterverbreitungund Lagerung solcher Waffen wird von den Parlamenta-riern kritisiert, da diese Waffen unendliches Leid über dieBetroffenen in den Einsatzgebieten bringen.

Die Bundeswehr hat Streumunition nie eingesetzt. Be-reits 2001 hat die Bundeswehr damit begonnen, Streumu-nition aus ihren Arsenalen zu entfernen. Das deutschefrühzeitige Engagement, seit 2004 aktiv im Rahmen desVN-Waffenübereinkommens wie auch im Oslo-Prozessseit dessen Beginn Ende 2006, hat die diplomatischen Be-mühungen für ein globales Einsatzverbot entscheidendmitgeprägt. Bereits im März 2006 hat die Bundesregie-rung mit einer „8-Punkte-Position“ erste konkrete Maß-nahmen zu einem einseitigen Verzicht Deutschlands aufStreumunition beschlossen. Damals hat sich Deutschlandverpflichtet, auf Neubeschaffungen zu verzichten und Mo-delle mit Blindgängerraten über einem Prozent zu ver-

nichten. Dies gab einen wichtigen Impulse für die inter-nationalen Verhandlungen.

Der Oslo-Prozess zu Streumunition wurde im Februar2007 von Norwegen außerhalb des VN-Kontextes eröff-nete. 107 Teilnehmerstaaten, 21 Beobachterstaaten sowie200 NGO-Vertreter nahmen daran teil. Das Übereinkom-men wurde anschließend am 3. Dezember 2008 in Oslovon 94 Staaten, darunter auch Deutschland, unterzeich-net. Mit der Unterschrift Tunesiens am 12. Januar 2009haben inzwischen 95 Staaten das Übereinkommen unter-zeichnet.

Ein großes Defizit des gesamten Prozesses ist, dassmehrere Länder mit großen Streumunitionsbeständen wiedie USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Brasilien,Korea und Israel das Übereinkommen bisher nicht unter-zeichnet haben. Es bleibt zu hoffen, dass durch den Regie-rungswechsel in den Vereinigten Staaten PräsidentObama auch in diesem wichtigen Politikfeld eine Wendein Amerika einleitet und damit auch die anderen Staaten,die das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben, mit-reißt und eine gemeinsame Lösung gefunden wird, die vonallen akzeptiert wird.

Das jetzige Abkommen ist sehr weitreichend. Das istgut und notwendig. Nicht nur Einsatz, sondern auch Ent-wicklung, Herstellung, Lagerung sowie Import und Ex-port von Streumunition aller Typen werden in dem neuenÜbereinkommen untersagt. Das Verbot umfasst sämtlichebislang zum Einsatz gekommenen Streumunitionstypen.Die vorhandenen Bestände von Streumunition sind inner-halb von acht Jahren zu vernichten, in besonderen Fällenkann diese Frist zweimal um je vier Jahre verlängert wer-den. Die Hilfe für die Opfer früherer Einsätze und die Un-terstützung betroffener Staaten werden gestärkt.

Die Verhandlungen waren sehr schwierig, da die Vor-stellungen der unterschiedlichen Staaten sehr verschie-den waren, die Interessen stark auseinandergingen. VieleRegelungen des Verhandlungstextes sind teilweise iden-tisch mit entsprechenden Bestimmungen der Ottawa-An-tipersonenminen-Konvention von 1997 bzw. bauen hier-auf auf. Dennoch musste in dem Übereinkommen eineReihe komplexer Fragen gelöst werden, die sich, andersals bei den Antipersonenminen, hier in wesentlich kontro-verserer Form stellten. Ich möchte einige Beispiele nen-nen. Interoperabilität: Wie kann und darf militärisch mitNicht-Vertragsstaaten gemeinsam agiert werden? Defini-tion: Welche alternativen Waffen dürfen genutzt werden?Rückwirkung von Räumverpflichtungen etc.

Um die Ratifizierung noch in dieser Legislaturperiodesicherzustellen, hat die Bundesregierung in der Kabinetts-sitzung am 21. Januar 2009 einen entsprechenden Ge-setzentwurf beschlossen. Nach positivem Votum des Bun-desrates am 6. März 2009 liegt der Gesetzesentwurf nundem Bundestag vor. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustim-mung. Sind wir damit schon am Ziel? Nein, leider nochnicht. Wir müssen den Verhandlungsprozess in die Verein-ten Nationen tragen. Es muss uns gelingen, gemeinsammit der großen Mehrheit der Vertragsstaaten des VN-Waf-fenübereinkommens, im VN-Rahmen für ein ambitionier-tes Protokoll zu Streumunition zu kommen, das natürlichnicht im Widerspruch zum Oslo-Übereinkommen über

Zu Protokoll gegebene Reden

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Hans Raidel

Streumunition stehen darf und eine klare Verbotsregelungenthalten muss. Es muss ein entsprechendes Protokoll alsein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem letztendlichweltweiten Verbot von Streumunition gefunden werden.

Auf der Basis eines entsprechenden Mandates aus demJahre 2007 fanden 2008 insgesamt sieben Verhandlungs-wochen zur dringlichen Frage der humanitären Auswir-kungen von Streumunition statt. Da erhebliche Differen-zen unter den Vertragsstaaten nicht ausgeräumt werdenkonnten, wurde von den Mitgliedstaaten Ende 2008 be-schlossen, die Bemühungen um ein Zusatzprotokoll zumVN-Prozess zum Thema Streumunition 2009 fortzusetzen.Die erste Verhandlungsrunde hat bereits im Februarstattgefunden, allerdings ohne nennenswerte Fortschrittein der Sache. Die Aussichten, die weiterhin bestehendenDifferenzen zu wesentlichen Elementen wie Definitionund Verbotsumfang im April 2009 auszuräumen und zueinem für alle betreffenden Mitgliedstaaten akzeptablenErgebnis zu gelangen, werden als eher gering einge-schätzt. Eine substanzielle Regelung zu Streumunition imVN-Prozess wäre jedoch insofern wichtig, als hier auchdie oben genannten Staaten mit großen Streumunitionsbe-ständen eingebunden sind, die in Dublin nicht teilgenom-men haben. Diese stehen einem umfassenden Verbot nachdem Modell von Dublin/Oslo leider weitgehend ableh-nend gegenüber.

Wir müssen mit allen uns zur Verfügung stehendenMitteln bei allen Nicht-Teilnehmerstaaten des Oslo-Pro-zesses aktiv für die Universalisierung des Übereinkom-mens werben. Am 25. und 26. Juni 2009 wird in Berlin inKooperation mit Norwegen eine Fachkonferenz zu Art. 3des Übereinkommens über Streumunition durchgeführt,der die Zerstörung vorhandener Bestände festlegt. Zudieser Konferenz werden alle Besitzerstaaten von Streu-munition, die das Übereinkommen gezeichnet haben, so-wie weitere an dem Thema interessierte Zeichnerstaateneingeladen werden. Die Konferenz in Berlin wird daswichtigste Zusammentreffen zum Thema Streubomben indiesem Jahr sein und eine gute Möglichkeit bieten, denVertrag auf internationaler Ebene zu stärken. Ich hoffe,dass sie dazu beiträgt, den Ratifizierungsprozess in denUnterzeichnerstaaten zu beschleunigen. Ich möchte dasAuswärtige Amt auffordern, die Konferenz auch für Staa-ten zu öffnen, die die Konvention nicht unterzeichnet ha-ben, jedoch Streumunition lagern. Insbesondere eine Ein-ladung an die Vereinigten Staaten könnte dazu beitragen,dass die Obama-Regierung dazu ermutigt würde, ihrebisherige ablehnende Haltung zu ändern.

Andreas Weigel (SPD): „2009 muss ein Jahr des Aufbruchs sein für die inter-

nationale Sicherheits- und Abrüstungspolitik.“ Dieseklare Richtungsvorgabe von Außenminister Frank-WalterSteinmeier bei der Münchener Sicherheitskonferenz An-fang Februar bezieht sich nicht zuletzt auf die angestrebteInkraftsetzung und Universalisierung des Streumuni-tionsverbots.

Die deutsche Vorreiterrolle und insbesondere die ge-schickte und geduldige Verhandlungsführung des Aus-wärtigen Amtes haben maßgeblich dazu beigetragen,

dass sich im Mai 2008 rund hundert Staaten auf ein Ver-bot geeinigt haben, welches nicht nur den Einsatz, son-dern auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerungsowie den Im- und Export von Streumunition aller Typenumfasst. Das fortgesetzte intensive Werben des Ministers– insbesondere gegenüber Staaten, die dem Verbot nochnicht beigetreten sind – verdient die volle Unterstützungdieses Hauses.

Internationale abrüstungspolitische Bemühungen wa-ren seit Ende des Kalten Krieges nicht gerade erfolgsver-wöhnt. Die im vergangenen Jahr erzielte Einigung auf einumfassendes Verbot von Streumunition stellt da einenhöchst erfreulichen und ermutigenden Wendepunkt dar.Zu Beginn des Jahres 2009 ist nun – auch dank des Amts-antritts der neuen US-Administration – viel Rückenwindfür eine Wiederbelebung von Abrüstung und Rüstungs-kontrolle zu spüren. Diesen Rückenwind gilt es weiter zuverstärken.

Das im vergangenen Jahr international ausgehandelteVerbot von Streumunition sollte schnellstmöglich in Krafttreten und Wirksamkeit entfalten. Das ist das Ziel desheute hier von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz-entwurfs.

Der Bundesrat hat bereits Anfang März vorbehaltlos„grünes Licht“ für den Gesetzentwurf signalisiert. WirParlamentarierinnen und Parlamentarier sollten ihn nunin den kommenden Wochen ebenfalls zügig beraten undmit breitem Rückhalt versehen. Entscheidend ist dabeigar nicht so sehr, dass wir damit das Streumunitionsver-bot hierzulande gesetzlich verankern, sondern vielmehrdie internationale Signalwirkung, die von einer raschenRatifizierung Deutschlands ausgehen kann.

Das im Mai 2008 in Dublin von rund 100 Staaten ge-troffene Übereinkommen tritt erst in Kraft, wenn es min-destens 30 Staaten ratifiziert haben. Eine zügige deutscheRatifizierung im ersten Halbjahr 2009 hätte Vorbildcha-rakter und könnte so ganz wesentlich zu zweierlei beitra-gen: erstens dass das Streumunitionsverbot bis Ende desJahres international Gültigkeit erlangt und zweitens dassweitere Staaten zu einem raschen Vertragsbeitritt ermu-tigt werden.

National ist das umfassende Streumunitionsverbot inDeutschland ohnehin bereits seit vergangenem Mai wirk-sam. Noch vor Abschluss der internationalen Verhand-lungen am 30. Mai wurden sämtliche Streumunitionsbe-stände der Bundeswehr per ministeriellen Erlass außerDienst gestellt.

Das Verbot von Streumunition wird zu Recht als bedeu-tender Meilenstein zur Weiterentwicklung humanitärerRüstungskontrolle gewürdigt. Denn damit wird eineWaffe geächtet, deren Einsatz verheerende Auswirkungenhat und der bis in die jüngste Vergangenheit ganz über-wiegend Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Splitterbom-ben verursachen weit verstreut Blindgänger und fordernso häufig auch lange nach Kriegsende noch zahlreicheunschuldige Menschenleben.

Dass das Streumunitionsverbot von nahezu allen ge-wichtigen EU- und NATO-Staaten mitgetragen wird, sen-det ein starkes Signal an diejenigen Länder aus, die noch

Zu Protokoll gegebene Reden

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Andreas Weigel

an einer Produktion und Verwendung von Streumunitionfesthalten. Die erhoffte stigmatisierende Wirkung aufStaaten, die auf Splitterbomben bislang nicht verzichtenwollen, zeigt derweil erste Früchte. So bedrückend derneuerliche Kriegsausbruch im Gaza-Streifen rund umden Jahreswechsel auch war, so lässt sich zumindest fest-halten, dass Israel, anders als zwei Jahre zuvor im Liba-non, wenigstens auf den Einsatz von Streumunition ver-zichtet hat.

Auch in den USA gibt es bezüglich einer Neupositio-nierung zur militärischen Notwendigkeit von Streumuni-tion Bewegung. US-Präsident Obama hat vergangeneWoche ein Gesetz unterschrieben, das den Export von inden USA produzierter Streumunition drastisch ein-schränkt und zudem die Vorrangigkeit humanitärer Er-wägungen – also des Schutzes von Zivilisten – betont.

Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Men-schenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht da-durch sogar einen grundlegenden Wandel in der US-Po-sition zu Streumunition heraufziehen. Präsident Obamasollte nun allerdings auch tatsächlich, so wie in seinemWahlkampf angekündigt, weitere Einschränkungen fürden Einsatz von Streumunition durch das US-Militär aufden Weg bringen.

Der Erfolg des Streumunitionsverbots beruht – wieauch das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antiperso-nenminen – auf einem richtungsweisenden Verhandlungs-ansatz. Wenn gleichgesinnte Regierungen, Parlamenteund zivilgesellschaftliche Netzwerke in lange blockiertenRüstungskontroll- und Abrüstungsfragen ihre Kräfte bün-deln, dann können Sie eine Menge bewegen und öffentli-chen Druck erzeugen.

In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklichdas beharrliche Engagement zivilgesellschaftlicher Or-ganisationen würdigen, die sich auch weiterhin konstruk-tiv für eine Universalisierung des Streumunitionsverbotseinsetzen. So haben etwa die Cluster Munition Coalitionund das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erstkürzlich umfassendes Material für Parlamentarier indenjenigen Ländern zusammengestellt, die dem Verbotbislang noch nicht beigetreten sind, damit diese gegen-über ihren jeweiligen Regierungen mit Nachdruck füreine Zeichnung eintreten können.

Erst gestern hat zudem im Hauptquartier der VereintenNationen in New York eine Konferenz zur Ausweitung desStreumunitionsverbots stattgefunden. Unter Anwesenheitvon staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vertretern aus75 Staaten haben mit der Demokratischen RepublikKongo sowie Laos zwei der am meisten von Streumuni-tion betroffenen Länder das Verbot unterzeichnet bzw. imFalle von Laos sogar bereits ratifiziert.

Das Auswärtige Amt plant für Ende Juni eine Konfe-renz, die sich an sämtliche Vertragsstaaten des Streumu-nitionsverbots richtet und bei der konkrete Umsetzungs-schritte wie die Vernichtung vorhandener Beständeberaten werden sollen. Es wäre dabei durchaus beden-kenswert, ob man zu dieser Konferenz nicht auch Nicht-vertragsstaaten einlädt, die über signifikante Streumuni-tionsbestände verfügen. Vonseiten des Parlaments sollten

wir uns jedenfalls unbedingt darum bemühen, die deut-sche Ratifikation im Vorfeld dieser Konferenz abzuschlie-ßen.

Im Bundestag haben wir die deutsche Verhandlungs-führung zu Streumunition in den vergangenen Jahrenintensiv begleitet und mit geprägt. Die schnelle Ratifizie-rung des Streumunitionsverbots wurde bereits im Dezem-ber mit einem ohne Gegenstimme verabschiedeten Koali-tionsantrag auf den Weg gebracht.

Mit dem Antrag haben wir das Bundesverteidigungs-ministerium zudem dazu aufgefordert, die Fachaus-schüsse des Parlaments detaillierter über die Entwick-lung und Erprobung von neuen Munitionstypen zuunterrichten. Wir werden als Abgeordnete auch künftig inder Pflicht stehen, dafür Sorge zu tragen, dass die mitdem Streumunitionsverbot etablierten Kriterien eingehal-ten und nicht verwässert werden.

Florian Toncar (FDP): Die heutige Debatte behandelt ein Thema, das wir in

diesem Hause regelmäßig in den letzten drei Jahren teilssehr kontrovers behandelt haben. Es geht um das Verbotvon Streumunition. Streumunition ist eine Waffe, die groß-flächige Zerstörungen verursacht und wegen ihrer hohenBlindgängerquote auch nach dem Ende von Konflikteneine langfristige Bedrohung der ansässigen Bevölkerungdarstellt. Vor allem spielende Kinder wurden in der Ver-gangenheit Opfer dieser heimtückischen Gefahr.

Seit längerem schon haben wir auf nationaler wie in-ternationaler Ebene über ein Verbot dieser grausamenWaffen debattiert. Umso mehr freut es mich, dass dieserDiskussionsprozess Früchte trägt und wir uns nun mit derkonkreten Umsetzung des am 3. Dezember 2008 in Oslounterzeichneten „Übereinkommens über Streumunition“befassen. Dieses verpflichtet Deutschland als Unter-zeichnerstaat, seine gesamte Streumunition zu entsorgen.

Mit der heutigen Vorlage des Gesetzentwurfs wird einwichtiger Schritt zur Ratifizierung des Abkommens durchDeutschland getan. Er schafft die Voraussetzung dafür,dass die notwendigen Schritte zur Umsetzung eingeleitetwerden. Insbesondere wird ein Rahmen für die Finanzie-rung der Maßnahmen geschaffen. So sollen für die Ver-nichtung der deutschen Streumunition 40 Millionen Eurozur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel werden imregulären Haushaltsplan des Bundesministeriums derVerteidigung eingestellt werden. Der Verteidigungsaus-schuss des Deutschen Bundestages hat das Verteidi-gungsministerium gebeten, bis Ende Mai 2009 einen de-taillierten Kosten-, Zeit- und Arbeitsplan zur Vernichtungder deutschen Streumunition auszuarbeiten und dem Par-lament vorzulegen. Dann werden wir genauere Einzelhei-ten zu den konkreten Arbeitsschritten erfahren. Fernersieht der jetzige Gesetzentwurf 500 000 Euro für denHaushalt des Auswärtigen Amtes vor, um einen Beitragfür die vorgesehenen Treffen der Vertragsstaaten zu leis-ten. Diese Kosten teilt Deutschland sich anteilsmäßig mitden anderen Staaten gemäß dem angepassten Beitrags-schlüssel der Vereinten Nationen. Es ist insgesamt erfreu-lich, dass die Bundesregierung ausreichend Mittel zur

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Florian Toncar

Verfügung stellt, um diese wichtigen Aufgaben zu erfül-len.

Die FDP hat diesen nunmehr fast drei Jahre andau-ernden Prozess unterstützt und ist stets für ein umfassen-des Verbot von Streumunition eingetreten. Von daher sindwir erfreut, dass jetzt konkrete Schritte erkennbar wer-den. Trotz dieser positiven Entwicklung möchte ich je-doch auch einige kritische Worte zur Rolle der Bundesre-gierung in diesem Prozess anbringen.

In der Denkschrift zum Übereinkommen erweckt dieBundesregierung den Eindruck, dass sie von Beginn an zuden Vorreitern beim Verbot von Streumunition gezählthabe. Dies ist nicht der Fall. Das möchte ich an dieserStelle klar unterstreichen. Die Bundesregierung sowie dieFraktionen von CDU/CSU und SPD waren bis zur ent-scheidenden Verhandlung im Mai 2008 in Dublin der Auf-fassung, dass nur „für die Zivilbevölkerung gefährliche“Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einemProzent unter das Verbot fallen sollte. Die vermeintlichzuverlässigere Streumunition mit einer Blindgängerratevon unter einem Prozent sollte ausgenommen werden.Auch wenn es erfreulich ist, dass die Bundesregierungletztendlich von diesem Vorhaben abgerückt ist, wirkt esunglaubwürdig, wenn sie sich in der Denkschrift als Vor-reiter darstellt. Vielmehr sah sie sich gezwungen, demDruck anderer Regierungen sowie der Organisationender Bürgergesellschaft nachzugeben und ihren Wider-stand gegen ein umfassendes Streumunitionsverbot auf-zugeben. Vom 25. bis 26. Juni 2009 wird in Berlin eineweitere Streumunitionskonferenz stattfinden. Es wäresehr zu begrüßen, wenn bis dahin die Ratifikation diesesAbkommens durch Deutschland erfolgt wäre. Die FDPwird sich für eine rasche Beratung und Verabschiedungdieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen des DeutschenBundestages einsetzen.

Da der vorliegende Gesetzentwurf auch die Aufwen-dung finanzieller Mittel vorsieht, ist nun die Bundesregie-rung am Zug, möglichst schnell einen Überblick über dietatsächliche Verwendung dieser Gelder zu liefern. Dieswird dem Parlament die Ratifikation des Übereinkom-mens zum Verbot von Streumunition erleichtern. Sobalddie Ratifikation vollzogen ist, muss die Bundesregierungaktiv auf diejenigen Staaten zugehen, die dem Streumuni-tionsverbot noch nicht beigetreten sind. Dazu zählenderzeit auch noch acht NATO- bzw. neun EU-Staaten.Bundeskanzlerin Merkel und BundesaußenministerSteinmeier stehen hier in der Pflicht, politisches Kapitalzurückzuerlangen, welches in der Startphase des Ver-handlungsprozesses leichtfertig von deutscher Seite ver-spielt wurde, als man Ausnahmen für vermeintlich unge-fährliche Streumunition schaffen wollte. Die FDP wirdgenau beobachten, welches Engagement die Bundesre-gierung an den Tag legen wird, wenn es darum geht, fürden Beitritt weiterer Staaten zum Streumunitionsverbot zuwerben.

Um es anderen Staaten zu erleichtern, dem Verbotsab-kommen beizutreten, sollte die Bundesregierung darüberhinaus prüfen, in welchem Rahmen sie abrüstungswilli-gen Staaten helfen kann, die mit dieser Aufgabe jedochtechnisch überfordert sind. Art. 6 des Verbotsvertrages

sieht dafür umfangreiche Möglichkeiten vor. Deutschlandhat bereits vergleichbare technische Unterstützung ge-leistet. Die fachgerechte Vernichtung großer Streumuni-tionsbestände aus militärischen Arsenalen stellt eine er-hebliche technische Herausforderung dar. Deutschlandkann hier seine umfangreichen technischen Kenntnissebei der Entsorgung alter Munitionsbestände einbringen.Dies würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Abrüs-tungspolitik stärken und wäre ein konkreter Beitrag fürFrieden und Entwicklung in der Welt.

Inge Höger (DIE LINKE): Streumunition ist eine der heimtückischsten Waffen,

die moderne Rüstungsingenieure je entwickelt haben.Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann einganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von Gemü-segärten und Feldern zur tödlichen Falle machen. Dassdie Streumunitionsblindgänger teilweise noch Jahrzehntenach einem Konflikt explodieren können, macht dieseWaffe zu einem ganz entscheidenden Hindernis für Wie-deraufbau und Entwicklung nach Kriegen und Bürger-kriegen. Verstümmelte Menschen, Alte und Junge, Frauenund Kinder sind der sichtbare und spürbare Preis, denMenschen in den Einsatzgebieten von Streumunition fürdiese Form der Kriegsführung bezahlen.

Deswegen ist es ein großer zivilisatorischer Fort-schritt, wenn nun die Ächtung dieser Waffe einen recht-lich verbindlichen Charakter bekommt. Es ist ein Fort-schritt, wenn am Sitz der Vereinten Nationen in New Yorknun ein Staat nach dem anderen durch seine Unterschriftdie Konvention zum weltweiten Verbot von Streumunitionunterzeichnen kann.

Die Verabschiedung des „Gesetzes zu dem Überein-kommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“ ist dieVoraussetzung, dass auch die deutsche Regierung dasVerbot der Streumunition ratifizieren kann. Die FraktionDie Linke begrüßt diesen längst überfälligen Schritt aus-drücklich. Dass wir überhaupt über ein verbindlichesVerbot von Streumunition abstimmen können, ist das Ver-dienst zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure, wieetwa „Handicap International“ oder das „Aktionsbünd-nis Landmine“, die in unermüdlicher Arbeit auf die Pro-blematik der Streumunition hingewiesen und den Oslo-Prozess zum Verbot der Munition zum Laufen gebrachthaben.

Die Dynamik, die durch diese Diskussionen ausgelöstwurde, kann niemand mehr rückgängig machen. Nun istauch in den USA, wo die Administration bis jetzt gegenalle Einschränkungen bei Einsatz und Verkauf der tödli-chen Waffensysteme opponiert hatte, ein Schwenk vollzo-gen worden. In einem Nachtragshaushalt, den US-Präsi-dent Barack Obama in der letzten Woche unterzeichnete,ist eine Regelung enthalten, die künftig den Export vonStreubomben aus den USA verbietet. Da die USA zu denwichtigsten Exporteuren dieser Waffe gehören, ist diesein entscheidender Schritt. Es könnte deswegen nur eineFrage der Zeit sein, bis sich die Einsicht durchsetzt, dassWaffen, die zu grausam zum Exportieren sind, auch vonder eigenen Armee nicht eingesetzt werden sollten.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Inge Höger

All diese Entwicklungen sind wichtige Schritte in dierichtige Richtung. Allerdings bleibt noch viel zu tun, biseine vollständige und globale Ächtung sämtlicher For-men von Streumunition durchgesetzt ist.

Die Regelungen der Streumunitionskonvention unddes hier debattierten Gesetzes enthalten noch zahlreicheLücken und Ausnahmeregelungen. Diese sind aus huma-nitären Erwägungen nicht akzeptabel. So wird Munitionvom Verbot ausgenommen, wenn sie weniger als zehnexplosive Submunitionen enthält, oder Munition, die miteinem elektronischen Selbstzerstörungsmechanismusausgestattet ist. Dabei ist nicht gesichert, dass dieseSelbstzerstörung auch wirklich unter allen Bedingungenzuverlässig funktioniert.

Dass die Ausnahmeregelungen ihren Weg in die Geset-zestexte gefunden haben, ist maßgeblich die Schuld derdeutschen Regierung. Die Bundesregierung hat in denVerhandlungen über das Oslo-Abkommen die Interessender deutschen Rüstungsindustrie vertreten und mit massi-vem Druck solche Ausnahmeregelung durchgesetzt. So-genannte Zielpunktmunition, deren Definition exakt aufdas Diehl-Produkt „Smart 155“ zutrifft, gilt nicht alsStreubombe. Der Bundesregierung geht es also explizitum den Erhalt von Absatzmöglichkeiten für die deutscheRüstungsindustrie.

In Österreich fällt sogenannte Zielpunktmunition be-reits seit 2007 unter das Streubombenverbot. In denVerhandlungsdokumenten der Genfer UNO-Abrüstungs-konferenz wurde Zielpunktmunition unter dem Titel „Aus-nahmen für weiterhin erlaubte Streumunitionstypen“ ge-führt. Diese umstrittene Definition hat nun auch zujuristischen Problemen für einen Journalisten geführt,der nach dem Urteil eines Münchner Gerichtes nun dieStreumunition „Smart 155“ nicht mehr als „Streumuni-tion“ bezeichnen darf. Internationale Militärexpertenzweifeln zwar, dass Smart wirklich alle Bedingungen derKonvention erfüllt. Sie verweisen auf negative Erfahrun-gen mit vergleichbarer Munition im Irakkriegseinsatz, dieBlindgänger hinterließ. Trotzdem vertraute das Münch-ner Gericht den Herstellerangaben.

Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass sieendlich die Interessen der Menschen und nicht diejenigender Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Politikstellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu ratifi-zieren, sondern auch die Vernichtung der Lagerbeständein Angriff zu nehmen und die Beteiligung an Einsätzen,bei denen auch Streumunition eingesetzt wird, definitivauszuschließen.

Die Linke wird ebenfalls sehr genau und kritisch ver-folgen, welche Pläne für sogenannte alternative Flächen-munition entwickelt werden. Es darf nicht sein, dass dieeine grausame Waffe gegen andere grausame Systemeausgetauscht wird. Wir treten gegen Auslandseinsätze derBundeswehr ein und sehen deswegen keinerlei Bedarf fürFlächenmunition – welcher Art auch immer.

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben nicht vergessen: Diese Bundesregierung

war in der Frage der Streumunitionspolitik mit ihrer Hal-

tung lange Zeit Bremser einer umfassenden und raschenÄchtung. Umso erfreulicher ist es, dass man sich im Maivergangenen Jahres auf einen Kurswechsel eingelassenhat und im Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo-Abkommens gehörte. Die grüne Bundestagsfraktion be-grüßt, dass die Bundesregierung dem Parlament nun bin-nen vergleichsweise kurzer Zeit den Gesetzentwurf zurRatifizierung des Osloer Streumunitionsabkommens vor-legt.

Wir möchten, dass das Abkommen so schnell wie mög-lich in Kraft tritt. Obwohl es eine Reihe offener Fragengibt, auf die ich später eingehen werde, sind wir an einerzügigen Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag in-teressiert. Wir werden der Bundesregierung keine Steinein den Weg legen, sondern konstruktiv mitwirken. Ichdenke, es wäre ein gutes Zeichen, wenn die Bundesregie-rung, sozusagen beseelt vom Geist der Abrüstung, die Ur-kunde zu Pfingsten hinterlegen könnte. Das macht sichauch für den bevorstehenden Wahlkampf gut. Dann kannman von abrüstungspolitischen Sündenfällen, ich nennehier nur den indischen Nukleardeal, die Nichtratifizie-rung des AKSE-Vertrags und die verheerende Rüstungs-exportpolitik, ein wenig ablenken.

Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wirin den vorangegangenen Debatten oder in unseren parla-mentarischen Anfragen und Anträgen zum Thema zu Pro-tokoll gegeben haben. Das kann man nachlesen. LassenSie mich zunächst nur noch einmal betonen, wie wichtigdieses Zeichen von Oslo auch über den Streumunitions-bereich hinaus ist. Im Abrüstungsbereich ist die weitge-hende Ächtung dieser besonders grausamen Waffe einLicht in der Finsternis. Das Oslo-Abkommen stärkt dieHoffnung, dass auch hier ein Wandel möglich ist.

Dass die größten Streumunitionsstaaten, wie die USA,Russland, China, Indien, Pakistan usw., nicht dabei sindund damit nur etwa 10 Prozent der weltweiten Beständeunter das Abkommen fallen, ist zweifellos ein Manko.Aber wir sind zuversichtlich, dass sich künftig kein Staatmehr erlauben kann, diese Waffen einzusetzen, ohne alsSchurkenstaat an den Pranger gestellt zu werden. Wir ha-ben das schon im Georgienkrieg gesehen. Und wir wissenaus der Landminenerfahrung, dass solche Abkommenauch auf Nichtmitglieder eine hemmende Wirkung entfal-ten. Die Ankündigung der US-Administration, künftigeine restriktivere Exportpolitik im Bereich der Streumuni-tion verfolgen zu wollen, ist sicherlich eine erste, wennauch nicht hinreichende Reaktion auf Oslo.

Der von Norwegen eingeleitete Prozess zeigt uns: DerAnsatz, immer auf die USA oder andere zu warten, hilftuns oft nicht weiter. Die USA und andere führende Ak-teure mitzunehmen, ist zweifellos wichtig. Aber wir dür-fen uns, gerade wenn es um Fragen humanitärer Rüs-tungskontrolle geht, nicht ausbremsen oder elementareStandards verwässern lassen. Der Ottawa- und Oslo-Prozess zeigen, dass wir in bestimmten Bereichen mit ei-nem Avantgarde-Ansatz wesentlich erfolgreicher sind.Daraus müssen wir für die Zukunft – zum Beispiel im Be-reich von Uranmunition oder Atomwaffen – Lehren zie-hen. Und es wäre gut, wenn Deutschland mit zu den Vor-reitern und nicht zu den Bremsern gehören würde.

Zu Protokoll gegebene Reden

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Winfried Nachtwei

Zur Erinnerung sei nur gesagt: Wir Grüne haben unsimmer gegen die Augenwischerei von vermeintlich unge-fährlicher Streumunition gewehrt und uns für eine rascheÄchtung jeglicher Streumunition ausgesprochen. Was unshier die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenals ungefährliche Streumunition unterjubeln wollten, warhaarsträubend. Und wir waren es auch, die – übrigens alseinzige Fraktion im Bundestag – schon früh gefordert ha-ben, nicht nur auf den mühsamen Weg über die VN-Waf-fenkonvention zu setzen, sondern dem Ottawaer Modellzu folgen. Ziel muss es sein, das Oslo-Übereinkommen zueinem universell gültigen Abkommen mit größtmöglicherMitgliedschaft zu machen. Die Standards sind jedenfallsgesetzt. Ein neues VN-Waffenprotokoll zu Streumunitionkann und darf nicht hinter den Osloer Konsens zurückfal-len.

Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einigen kriti-schen Punkten Stellung nehmen und unsere Erwartungendarlegen.

Sie wissen, dass wir uns bei der Definition, ab wannman von Streumunition sprechen kann, für eine möglichstumfassende Lösung eingesetzt haben. Die Bundesregie-rung hat mit Erfolg durchgesetzt, dass wir jetzt eine wei-chere Definition haben, die die sogenannte Punktzielmu-nition wie die von Diehl und Rheinmetall hergestellteSMArt-Munition erlaubt. Die Bundesregierung ist nun inder Pflicht, zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Muni-tion auch unter ungünstigsten Bedingungen nicht den-noch wie Streumunition wirkt und das Leben von Zivilis-ten bedroht. Im Übrigen, das sei hier erlaubt, habe ichkein Verständnis dafür, dass ein Rüstungsunternehmen,das in nicht unerheblichem Umfang Mittel aus dem Bun-deshaushalt erhält, einen Journalisten vor Gericht zerrt,nur weil er eine Meinung vertritt, die dem Unternehmennicht passt.

Obwohl 18 der 26 NATO-Staaten und 19 der 27 EU-Staaten die Konvention unterzeichnet haben, hat sich dieBundesregierung für eine Ausnahmeklausel für Bündnis-partner eingesetzt. Wir haben große Bedenken, dass der„Artikel 21“ dazu führt, dass andere Staaten Streumuni-tion einsetzen und wir nichts dagegen unternehmen oderuns gar unterstützend beteiligen. Wir begrüßen, dass sichdie Bundesregierung in der Denkschrift dafür einsetzt,dass die Bündnispartner auf den Einsatz von Streumuni-tion verzichten und dem Abkommen beitreten. Allerdingsuntergräbt die gleichzeitige Ankündigung, dass man imRahmen der Befehlsstruktur Befehle zum Streumuni-tionseinsatz ohne Vertragsverstoß weitergeben könne,diese Zusicherung. Dies erschwert uns die Zustimmungzu dem Gesetzentwurf. Der Deutsche Bundestag und dieBundesregierung sollten unmissverständlich klarstellen:Es ist nach dem Oslo-Abkommen kein Zeichen von Bünd-nisfähigkeit, wenn Bündnispartner weiterhin diese beson-ders verheerend wirkenden Streuwaffen einsetzen und wirwegschauen oder gar die Einsatzbefehle weitergeben.Die Bundesregierung muss in der NATO und in der EUdarauf hinwirken, dass Streumunition nicht mehr zum zu-lässigen Waffenarsenal auch im Rahmen von bündnisge-meinsamen Operationen gehört.

Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung imDezember unter anderem aufgefordert, das Oslo-Abkom-men in Deutschland binnen vier Jahren umzusetzen. Wirerwarten, dass die Bundesregierung die in Deutschlandvorhandenen Streumunitionsbestände offenlegt, zügigvernichtet und auch anderen Staaten bei der Vernichtungihrer Bestände und Opferfürsorge behilflich ist. Deutschedürfen sich nicht mehr an der Entwicklung, Herstellung,Lagerung, dem Erwerb und dem Einsatz dieser Waffenbeteiligen. Das heißt für uns: auch keine Zulieferung vonstreumunitionsrelevanten Komponenten. Wir erwarten,dass es auch hinsichtlich der Investmentpolitik klareRichtlinien gibt, sich nicht mehr an Projekten zu beteili-gen, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und denEinsatz von Streumunition unterstützen.

Lassen Sie mich zum Schluss all jenen danken, diedazu beigetragen haben, dass es zu diesem Abkommenund zum Kurswechsel innerhalb der Bundesregierung ge-kommen ist. Unser Dank geht dabei ausdrücklich auch anNichtregierungsorganisationen wie landmine.de undHandicap International, die sich beharrlich für dieseswichtige Thema eingesetzt und im besten Sinne Lobbyar-beit betrieben haben. Lassen Sie uns weiterhin gemein-sam und entschieden für die rasche und weltweite Umset-zung dieses Abkommens werben.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 16/12226 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-gelung der abfallrechtlichen Produktverant-wortung für Batterien und Akkumulatoren

– Drucksachen 16/12227, 16/12301 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN

Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen

– Drucksache 16/11917 – Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Gesundheit

Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunktennehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Redender Kolleginnen und Kollegen Michael Brand, CDU/CSU, Gerd Bollmann, SPD, Horst Meierhofer, FDP, EvaBulling-Schröter, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bünd-nis 90/Die Grünen.

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Michael Brand (CDU/CSU): Mit der Umsetzung der Richtlinie der EU aus dem

Jahre 2006 durch die Neuregelung des Gesetzes zur Neu-regelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung fürBatterien und Akkumulatoren wird ein weiterer und einwichtiger Schritt beim umweltschonende Umgang mitden für den Verbraucheralltag wie für die Industrie dyna-misch an Bedeutung zunehmenden Einsatz von mobilerVersorgung mit elektrischer Energie durch Batterien undAkkus getan.

Dass wir angesichts aktueller umweltrelevanter De-batten um Umweltprämien, Energiesparleuchten undBiokraftstoffe auch die kleinen und großen „Helferlein“im privaten und wirtschaftlichen Alltag mit besondererSorgfalt im Blick auf deren Lebensende – oder neu-deutsch „end of cycle“ – betrachten, gehört zu denGrundvoraussetzungen einer von der CDU/CSU verfoch-tenen Linie, die eine Fortentwicklung der auf Ressour-censchonung und ökologische Sensibilität ausgerichtetensozialen Marktwirtschaft verfolgt.

Dazu zählt auch die weitere Reduzierung der Schad-stoffgehalte in den Produkten, hier Cadmium, sowie dieKennzeichnungspflicht, die für die Käufer eine klare An-gabe zu Schadstoffgehalt und Kapazität beinhaltet.

Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wir indiesem Zusammenhang ebenso im Ausschuss beraten.Wie nicht selten sind in diesen Anträgen prinzipiell rich-tige mit operativ falschen Ansätzen und Zielen vermischtworden. Doch dazu wird man sich im Ausschuss und beiden Schlussberatungen näher austauschen können.

Da beim Stand der Technik bei der Produktion vonBatterien und Akkus wertvolle, knappe sowie sehr um-weltschädliche Ressourcen verbraucht werden, sollen mitder Umsetzung der EU-weit gültigen Richtlinie Abfall-stoffe besser als bislang erfasst werden, um Ressourcendurch Rohstoffrückgewinnung zu schonen und hohe Um-weltbelastungen deutlich zu reduzieren. So werden durchdie vorgesehene Steigerung der Sammelquote bereits bis2012 auf mindestens 35 Prozent sowie bis 2016 auf dann45 Prozent weitere, zusätzliche regulatorische Anreizezur Sammlung und Wiederverwertung gegeben und einedie Umwelt belastende Entsorgung von Altbatterien wei-ter eingeschränkt.

Dass wir in Deutschland dabei auf ein seit 10 Jahrenerprobtes System der GRS aufsetzen können, in dem pri-vate Wirtschaft und kommunale Entsorgungsträger eineinsgesamt gut funktionierende, wenn auch verbesse-rungsfähige Erfassungs- und Sammelstruktur für Altbat-terien installiert und im Dauerbetrieb umgesetzt haben,kann in diesem Zusammenhang positiv verbucht werden.

Wenn in der Umsetzung des Gesetzes nun Fragen sei-tens der Produzenten aufgeworfen werden und von dieserSeite eine Beibehaltung der von den Kommunen bzw. denöffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern heute er-brachten Leistungen im Zusammenhang mit der Samm-lung von Altbatterien verlangt wird, ist dies eine interes-sante ordnungspolitische Einlassung, der wir in denAusschussberatungen im Detail noch werden nachgehenmüssen.

Es ist aus Sicht der CDU/CSU zweifelsfrei so, dass dieLeistungen der Kommunen bei der Erfassung und Samm-lung von Altbatterien wie auch der von Elektroaltgeräteneinen willkommenen, weil stabilisierenden Beitrag zumUmweltschutz wie zum Recycling und zur Ressourcen-schonung in diesen Bereichen darstellen. Insofern ist dieHaltung der beteiligten Wirtschaft, sich lieber mit den öf-fentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern als mit demHandel auseinandersetzen zu wollen, sehr nachvollzieh-bar.

Dennoch wird zu prüfen sein, inwiefern Teile der sys-temisch bei den Herstellern zu verortenden Produktver-antwortung von diesen auf Dauer auf die öffentlicheHand und somit auf die Allgemeinheit der Beitragszahlervon kommunalen Entsorgungsgebühren übergewälztwerden sollen. Insofern ist sicher der Punkt einer ver-pflichtenden Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Ent-sorgungsträger an der Erfassung bzw. Sammlung trotzoder gerade wegen der anerkannten Erfolge der öffent-lich-rechtlicher Entsorgungsträger genau zu prüfen. Esist für die CDU/CSU nicht ausgemacht, dass die öffentli-che Hand hier Aufwand und Kosten tragen soll, die ange-sichts der zu erwartenden weiteren Dynamik beim Einsatzvon Batterien und Akkus eher steigen als sinken dürften.

In den Beratungen der kommenden Wochen werdenwir hier Fragen zu beantworten und zu entscheiden ha-ben, die nicht mit dem Hinweis auf geringe Kostenanteileder Kommunen abgetan sein dürften. Wir erwarten dieDarstellung der unterschiedlichen Positionen und derdamit zusammenhängenden Erläuterungen zu den jewei-ligen Kosten mit großem Interesse.

Allerdings, und auch das wird in den Beratungen eineRolle spielen, werden wir als CDU/CSU nicht tatenloseinem Konzentrationsprozess durch eine zu enge Ausle-gung der Produktverantwortung folgen können. Wir wol-len Innovation in Logistik und Recycling durch wettbe-werbsoffene Strukturen. Insofern ist beispielsweise dieunternehmensinterne und Wettbewerb ausgrenzende Aus-gabe und Rücknahme von Batterien zum Beispiel im Kfz-Bereich nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Wirwollen einen differenzierten, qualitativ wettbewerbsfähi-gen und ökologisch verantwortbaren Mix an Lösungenund Marktbeteiligten. Dies scheint nicht immer im Inte-resse aller zu liegen, weswegen hier besonderes Augen-merk erforderlich erscheint.

Wir übersehen dabei nicht, dass es im Rahmen von In-ternationalisierung und Globalisierung nicht nur Kosten-senkungen für die Produkte, sondern eben auch Wettbe-werbsverzerrungen zulasten qualitativer Produkteentstehen können. Wir wollen dezidiert nicht einer Über-schwemmung des Marktes mit leistungsschwachen, unterzweifelhaften oder gar völlig indiskutablen Produktions-bedingungen und ökologisch katastrophalen Bedingun-gen hergestellten Batterien oder Akkus untätig zusehen.Dies wäre gegen die Interessen der Verbraucher, und eswäre eine ökologische Sünde, der wir durch sinnvolle undangemessene Regulierung einen Riegel vorschieben kön-nen.

Dass der Bundesrat Änderungen am vorgelegten Ge-setzentwurf wünscht und die Bundesregierung ihrerseits

Zu Protokoll gegebene Reden

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Michael Brand

gestern eine Gegenäußerung beschlossen hat, zeigt eben-falls einen klaren Beratungsbedarf auf. Insofern bleibendie beteiligten Ressorts auf Bundesebene wie die Kolle-ginnen und Kollegen aus den Ländern aufgefordert, denzuständigen Ausschüssen ihre Positionen und die ent-sprechenden Argumente vorzutragen.

Die Situation nach der gestrigen Gegenäußerung derBundesregierung ist Anlass zu weiteren Abstimmungsge-sprächen, die wir als CDU/CSU wachsam und konstruk-tiv begleiten. Wir werden dabei sicherlich so zügig voran-gehen, dass wir das Ziel des Inkrafttretens des neuenGesetzes in diesem Jahr in jedem Falle erreichen werden.

Den beteiligten Kreisen sei von dieser Stelle aus emp-fohlen, nicht nur den Dialog mit der Exekutive in Bundund Ländern zu pflegen. Sich mit guten Argumenten undnatürlich auch kritischen Anmerkungen an das Parla-ment zu wenden, ist der Sache sicher selten abträglich.Die CDU/CSU für ihren Teil hat sich Rat von fachkundi-gen Beobachtern eingeholt, tut dies weiter und lädt herz-lich dazu ein, auch in diesem Thema von weitreichenderpraktischer Konsequenz vertrauensvoll und offen denDialog zu suchen.

Am Ende sollte unserer Auffassung nach eine Rege-lung stehen, die – wie gute Batterien oder besser noch:gute, wiederverwertbare Akkus – eine lange Reichweiteim operativen Dauerbetrieb ermöglicht.

Die CDU/CSU begibt sich sozusagen frisch aufgela-den in die kommenden Beratungen, um mit der nötigenEnergie und hoher Ausdauer zu beraten. Die Kapazitätdafür haben wir sicherlich, und wir laden zum fachlichenDialog ein.

Gerd Bollmann (SPD): Mit dem heute eingebrachten Batteriegesetz wollen

wir die umweltverträgliche Entsorgung von gebrauchtenBatterien und Akkumulatoren neu regeln. Damit setzenwir die entsprechenden europäischen Richtlinien vom6. September um.

Nach Angaben der Bundesregierung wurden 2006rund 1,5 Milliarden Gerätebatterien in Verkehr gebracht,dabei lag der Anteil an wiederaufladbaren Batterien beiungefähr 10 Prozent. Zukünftig wird die Zahl neuer Bat-terien durch den steigenden Einsatz elektrischer und elek-tronischer Geräte stark ansteigen. Auch neue, von uns ge-wollte Anwendungsgebiete, wie die Energiespeicherungund Hybridfahrzeuge, wirken sich, vor allem im Bereichder Industriebatterien, verbrauchssteigernd aus.

Dabei dürfte es jedem klar sein, dass gebrauchte Bat-terien nicht so einfach in die Hausmülltonne geworfenwerden können. Altbatterien müssen vollständig und ge-trennt von anderem Müll gesammelt, abgeholt und umwelt-verträglich behandelt oder recycelt werden. In Deutsch-land haben wir bereits durch die Batterieverordnung,aber auch durch freiwillige Teilnahme von Kommunen,ein gut funktionierendes Rücknahmesystem. Ebenso sindinfolge der technischen Innovation heutige Batterienweitgehend frei von Blei, Cadmium und Quecksilber.Bundesweit gibt es über 170 000 Sammelstellen. Insge-samt rund 400 000 Behälter stehen in Supermärkten,

Universitäten, Unternehmen, öffentlichen Gebäuden undauf Recyclinghöfen zur Verfügung. Aber auch im Bereichder Batterieentsorgung sind Verbesserungen möglich.

Mit dem vorliegenden Entwurf des „Gesetzes zur Neu-regelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung fürBatterien und Akkumulatoren“ setzen wir nicht nur dieBatterierichtlinie um, sondern wir verbessern Gesund-heitsschutz, Sammlung und stoffliche Verwertung sowiedie ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Dabeiwerden funktionierende Rücknahme- und Entsorgungs-strukturen beibehalten. Unser Ziel ist es, das bereits be-stehende System zu schützen und weiter zu verbessern.Für den Bürger bleibt alles beim Alten.

Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf istmeiner Meinung nach sehr gut. Insbesondere die wei-tere Einschränkung für den Einsatz gefährlicher Stoffewie Cadmium und Quecksilber in Batterien ist sehr be-grüßenswert. Sie dient sowohl dem Gesundheits- als auchdem Umweltschutz. Positiv ist ebenfalls, dass erstmalsverbindliche Sammelziele für Altbatterien – 35 Prozentbis 2012 und bis 2016 45 Prozent – festgelegt werden.

Verantwortlich für die Rücknahme und Verwertungsind die Hersteller. Die SPD begrüßt, dass mit diesem Ge-setz Hersteller und Vertreiber eindeutig verpflichtet wer-den, Altbatterien zurücknehmen und umweltverträglichzu entsorgen. Die Vertreiber müssen für die Bürger deut-lich sichtbar Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen ein-richten. Die Hersteller müssen dann die Altbatterien ab-holen und weitgehend stofflich verwerten. Diese Aufgabekönnen die Hersteller über das bereits bestehende ge-meinsame Rücknahmesystem der Industrie oder über her-stellerindividuelle Rücknahmesysteme, quasi Selbstent-sorger, bewerkstelligen. Mit dieser Regelung wird fürdiesen speziellen Abfallbereich die ungeteilte Produkt-verantwortung von Herstellern und Vertreibern durchge-setzt. Eine Abwälzung der Verantwortung und Kosten aufKommunen und Bürger wird verhindert. Damit ist ein so-zialdemokratisches Ziel in der Abfallpolitik zumindestteilweise erreicht worden.

Dies bedeutet aber nicht, dass die den Bürgern be-kannten, von vielen Kommunen eingerichteten Rückgabe-möglichkeiten nun verboten sind. Die Kommunen könnenfreiwillig ihre bewährten Sammelsysteme beibehalten.Ich appelliere an die Kommunen, dies auch zu tun. VieleBürger haben sich daran gewöhnt. Es ist ein Akt der Bür-gerfreundlichkeit und des freiwilligen Umweltschutzes,der jeder Stadt gut zu Gesicht steht. Ein solches freiwilli-ges Engagement von Kommunen dürfen Hersteller undVertreiber jedoch nicht zum Vorwand nehmen, ihre Auf-gaben zu vernachlässigen. Forderungen aus der Wirt-schaft, die Kommunen zum Sammeln zu verpflichten, leh-nen wir ab.

Die Einhaltung gesetzlicher Auflagen, Gebote undVerbote muss aber auch bezüglich der Durchführung kon-trolliert werden. Dazu wird ein zentrales Melderegisterfür die Batteriehersteller beim Umweltbundesamt einge-richtet. Zugleich wird dem Umweltbundesamt die Verfol-gung bestimmter Bußgeldbestände bei Verstößen gegendie Meldepflicht und bestimmte Grundpflichten der ab-fallrechtlichen Produktverantwortung übertragen. Eine

Zu Protokoll gegebene Reden

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Gerd Bollmann

zentrale, länderübergreifende Verfolgung von Trittbrett-fahrern wird so sichergestellt. Auch die betroffenen Wirt-schaftskreise haben sich dafür eingesetzt. Diese Regelungist notwendig. Denken Sie daran, welche Probleme dieTrittbrettfahrer im Bereich der Verpackungsverordnungbewirkt haben.

Nun hat der Bundesrat unter anderem folgende Ände-rung beschlossen: Die herstellerindividuellen Rücknah-mesysteme, also Selbstentsorger, sollen nicht genehmigt,sondern nur angezeigt werden. Eine eigenständige Buß-geldnorm soll es nicht geben, also keine Bußgelder gegenVerstöße. Ich kann nachvollziehen, dass die Bundeslän-der Verwaltungsaufwand und Bürokratie gering haltenwollen. Das darf aber nicht dazu führen, dass der Vollzuggar nicht kontrolliert und Verstöße nicht geahndet wer-den. Man stellt ja auch kein Verkehrsschild mit Tempobe-grenzung auf und schreibt gleichzeitig daneben: Verstößewerden nicht bestraft. Gerade auch vor dem Hintergrundder Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung ist einwirksames ordnungsrechtliches Instrument zur Errei-chung unserer abfallpolitischen Ziele notwendig. Ichhabe hier bereits mehrfach erwähnt: Bürokratieabbaudarf nicht missverstanden werden. Bürokratieabbau istkein Aussetzen der Vollzugskontrolle. Wir erleben es beiden Skandalen um illegale Abfallentsorgung in Ton- undKiesgruben. In manchen Bereichen findet eine fatale Ent-wicklung statt. Lassen Sie es mich ganz drastisch sagen:Ohne Kontrollen beim Verzug brauchen wir uns nicht derMühe einer Gesetzgebung zu unterwerfen. Ohne Über-prüfung auf Einhaltung ist ein Gesetz nur Schein. Geset-zestreue Bürger und Firmen sind die Benachteiligten, inunserem Fall auch die Umwelt. Ich appelliere daher andie Vollzugsbehören und an die Länder, Bürokratieabbaunicht mit Personalabbau und völligem Verzicht auf Kon-trollen zu verwechseln. In dem konkreten Fall stimme ichder Bundesregierung zu, die in ihrer Gegenäußerung zurStellungnahme des Bundesrates diesen Änderungs-wunsch ablehnt.

Insgesamt bin ich der Meinung, dass der Gesetzent-wurf der Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft dientund mit unseren abfallpolitischen Zielen übereinstimmt.

Horst Meierhofer (FDP): Die Sammlung und das Recycling von Altbatterien

sind bei uns in Deutschland bereits heute eine Erfolgs-geschichte. Die Sammelquote alter Batterien liegt mitmehr als 41 Prozent schon heute höher, als die EU for-dert, und auch der Schadstoffgehalt der Batterien wurdein den letzten Jahren drastisch reduziert. Hinzu kommt:Die gewerbliche Wirtschaft verfügt seit langem über ge-festigte und leistungsfähige Strukturen zur Rücknahmealter Batterien. Kurz: Eigentlich gibt es bei uns keinenÄnderungsbedarf. Doch, wie so oft in der Umweltpolitik,geht es auch bei dem Entwurf für das Batteriegesetz, denwir heute diskutieren, um die Umsetzung Brüssler Vorga-ben, und die sind aus europäischer Perspektive durchauszu begrüßen. Schließlich gibt es in einigen Mitgliedstaa-ten in puncto vernünftiger und umweltgerechter Entsor-gung von Altbatterien noch einiges zu tun.

Unsere Kritik richtet sich deshalb auch weniger gegendas Umsetzungsgesetz als solches. Im Gegenteil: Wir be-grüßen vor allem, dass das Bundeskabinett, was dieÜbertragung der Herstellerpflichten auf den Handel an-belangt, noch einmal nachjustiert hat. Der ursprünglicheVorschlag des BMU, dem Handel immer dann die Pflich-ten der Hersteller zu übertragen, wenn diese ihre Markt-teilnahme nicht ordnungsgemäß anzeigen, wäre nicht nurüber die Vorgaben des Europarechts, sondern auch weitüber das politisch Vertretbare hinausgeschossen. Die jet-zige Einschränkung auf vorsätzliches und fahrlässigesHandeln seitens der Händler ist unserer Ansicht nachweitaus sachgerechter.

Auch begrüßen wir die Idee nach einer aussagekräfti-gen, eindeutigen und verständlichen Kennzeichnung vonBatterien – so wie die FDP das ja generell für die Pro-duktkennzeichnung fordert. Schließlich spielt für unsLiberale auch die souveräne Entscheidung der Konsu-menten eine wichtige Rolle. Wir sind der Meinung, öko-logische Produktverantwortung darf nicht nur einseitigals Produzentenverantwortung verstanden und mit demErlass möglichst strenger Vorschriften für bestimmteProdukte gleichgesetzt werden, wie dies zum Beispiel beiden Glühbirnen unlängst der Fall war, sondern mussauch den mündigen Verbraucher mit einbeziehen.

Doch gerade vor diesem Hintergrund hätten wir unsdie Kennzeichnung, wie sie in der Richtlinie und demzu-folge eben auch im nationalen Umsetzungsgesetz vorge-sehen sind, schon etwas transparenter gewünscht. Dasbisher bestehende Kennzeichen der durchgestrichenenMülltonne zukünftig um die chemischen Symbole „Hg“bei mehr als 0,0005 Prozent Quecksilber, „Cd“ bei mehrals 0,002 Prozent Cadmium und „Pb“ bei mehr als0,004 Prozent Blei zu ergänzen, ist für uns alles andereals verständlich. Im Gegenteil: Es geht an der Lebens-wirklichkeit der Menschen und an ihren konsumrelevan-ten Entscheidungen vorbei. Doch auch hier sind die Wür-fel in Brüssel leider bereits gefallen, und die nationaleEbene muss umsetzen.

Zum Antrag der Grünen: Wir Liberale halten es fürfalsch, für Batterien noch strengere Regulierungen odergar eine Pfandpflicht einzuführen, wie Frau Kotting-Uhlfordert. Angesichts der geringen Preise herkömmlicherHaushaltsbatterien würde dies lediglich dem Handel eineähnlich hübsche Zusatzeinnahme bescheren, wie wir diesschon vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen,ohne dass das ökologisch etwas bringt.

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Wenn die Bundesregierung bei der Vorlage ihres Ent-

wurfs eines Batteriegesetzes (BattG) betont, dieserRechtsakt sei nur eine 1:1-Umsetzung der entsprechen-den EU-Richtlinie, so verzichtet sie in diesem Bereich derAbfall- und Produktpolitik auf eine Vorreiterrolle in derEU. Mehr noch: In zentralen Details ist der Entwurfsogar ein Rückschritt. Denn wie kann es sein, dass fürGeräte-Altbatterien lediglich Rücknahmequoten von35 Prozent bis zum Jahr 2012 gefordert werden, wo dochin der Praxis schon 2007 rund 40 Prozent erreicht wur-den? Hier sind mindestens 70 Prozent gefordert. Die

Zu Protokoll gegebene Reden

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Eva Bulling-Schröter

Sammelquoten könnten noch weiter erhöht werden, in-dem die Pfandpflicht von Starterbatterien auf alle Batte-rien ausgedehnt würde – auch hier Fehlanzeige im Ge-setzentwurf.

Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter an-derem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobilerEndgeräte der Bedarf an ökologisch problematischenEinwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegenist – und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sindparallel energische Schritte, um den Einsatz von Einweg-batterien zugunsten von langlebigen wieder aufladbarenAkkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindernzwei bis drei Prozent mehr Akkus in den entsprechendenAnwendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Dochvon solchen Regelungen ist im künftigen Gesetz nichts zulesen.

Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produktpo-litik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in Bat-terien und Akkus zu reduzieren und einen hohen Anteilstofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat dieBundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen, etwabei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerkzeugen,durchlöchern das weitgehende Verbot des Einsatzes vonQuecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnahmen sind nichtzu verstehen, denn es gibt bereits Alternativen für denEinsatz der gefährlichen und umweltbelastenden Stoffe.Bei der Verwertung fordert die Linke anspruchsvolleQuoten für die stoffliche Verwertung sowie – angesichtsder hohen Schadstoffbelastung – die „bestverfügbareTechnik“ als Standard bei den Verwertungsverfahren an-stelle des vorgesehenen „Standes der Technik“.

Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlungvon Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Ge-setz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknahme-weg für Altbatterien für entsprechende Elektrogerätenicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von derRücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach§ 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Akkusunsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren. Sinnvol-lerweise müsste also hier ein grundsätzliches Verbot desfesten Einbaus – etwa über eine Stichtagsregelung – dievorgesehene Lösung flankieren.

In diesem Sinne unterstützen wir im Grundsatz den An-trag der Grünen. Über Details wird noch im Ausschuss zureden sein.

Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Umweltdebatte ist seit Jahren von der Energiedis-

kussion gekennzeichnet. Einige Verbesserungen bei derEnergieeffizienz wurden auch erreicht. Aber ein Feld be-reitet immer noch erhebliche Sorgen: die Energiespeiche-rung. Sie ist nur mit einem hohen Aufwand bei einer ge-ringen Effizienz möglich. Das ist ja gerade auch daswesentliche Hindernis bei den erneuerbaren Energienund der Elektromobilität. Klassische Batterien und ihrewiederaufladbare Spielart, die Akkumulatoren, funktio-nieren auf der Basis der Elektrolyse und brauchen dazueine Vielzahl von metallischen Stoffen. Von diesen Ein-satzstoffen sind die meisten toxikologisch gefährlich, alsogiftig oder zumindest als sehr bedenklich eingestuft.

Die zum Speichern notwendige Masse macht ebenfallsProbleme. Beispiel Elektrofahrzeuge: Die Batterien al-leine sind oft schwerer als das Gesamtfahrzeug ohneAkku. Auch das mobile „Immer-und-Überall-Erreichbar-Sein“ braucht tragbare Energiespeicher. Seit dem Sieges-zug der Informations- und Kommunikationstechnologiensind daher immer mehr kleine Batterien im Einsatz. In derFolge gab es einen Sinneswandel bei der ökologischenFolgeabschätzung. Galten Batterien in den 1980er-Jah-ren noch als harmlos, erklärte das UmweltbundesamtEnde der 1990er-Jahre die Batterien als d i e bedeut-same Quelle für den Schwermetalleintrag in den Haus-müll. Gerade Akkus weisen einen hohen Anteil von Nickelund Cadmium auf. Neben einer Reduzierung des Queck-silbergehaltes in Zink/Kohle- und Alkali/Mangan-Batte-rien zielte deshalb zunächst eine Selbstverpflichtung derBatteriehersteller und – als das nichts half – 2001 dieBatterieverordnung auf die Getrenntsammlung von Bat-terien ab. Die Rücknahmepflicht haben die Hersteller inEigenverantwortung über eine Stiftung geregelt – das Ge-meinsame Rücknahmesystem Batterien (GRS). Sie funk-tioniert ähnlich wie die sogenannte EAR, die Stiftung fürdas „Elektro-Altgeräte Register“, die durch das Elektro-nikgerätegesetz 2005 nötig wurde. Diese industrielle Stif-tungskonstruktion ist übrigens deutlich fähiger als daskomplizierte System bei der Verpackungsrücknahme.

Nun liegt der Entwurf eines Gesetzes mit dem viel ver-sprechenden Titel „Zur Neuregelung der abfallrechtli-chen Produktverantwortung für Batterien und Akkumula-toren“ vor. Dieser Entwurf wird seinem Titel jedoch inkeiner Art und Weise gerecht. Im Klartext: Er ist eineFarce. Schon das Ziel ist viel zu eng gefasst: Es beinhaltetkeinen Vorschlag zur Umweltentlastung. Noch in der EU-Richtlinie zu Batterien – 91/157/EWG – heißt es: „DieUmweltbelastungen durch Batterien und Akkumulatorensind auf ein Mindestmaß zu beschränken, um so zuSchutz, Erhaltung und Erhöhung der Qualität der Um-welt beizutragen.“ Demzufolge müsste das zu schaffendeGesetz den Rahmen für eine Reduktion von Umweltbelas-tungen stecken und damit Forderungen zur Energieeffi-zienz und zur Nutzungsintensität und -dauer beinhalten.Es ist völlig klar, dass das bloße Bekenntnis zum Sammelnund Verwerten von Altbatterien nicht reicht! Geradezuabsurd ist es, wenn die geforderte Sammelquote unter-halb des Status quo liegt. Es wirkt lächerlich, wenn indem Gesetzentwurf gefordert wird, bis zum Jahr 2012eine Sammelquote von 35 Prozent zu erreichen. Nach An-gaben der GRS, dem Gemeinsamen Rücknahmesystem,wurden bereits 2007 über 40 Prozent der Altbatterien ge-sammelt und einer Verwertung zugeführt. Wozu brauchenwir ein Gesetz, das weniger fordert, als heute – bei allerUnvollständigkeit der Erfassung – bereits erreicht wird?

Nicht viel anders sieht es bei der Schwermetallbegren-zung aus. Es macht keinen Sinn, Knopfzellen vom Verbotdes Einsatzes von Quecksilber auszunehmen, weil geradesie einen hohen Quecksilberanteil aufweisen. Die Aus-nahmeregelung vom Verbot des Cadmiumeinsatzes fürschnurlose Elektrowerkzeuge ist ebenfalls kontraproduk-tiv, sind diese „Power Tools“ doch anteilsmäßig dergrößte Verwendungszweck von Cadmiumbatterien. Dabeigibt es bereits gleichartige Elektrowerkzeuge, deren Ak-

Zu Protokoll gegebene Reden

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Sylvia Kotting-Uhl

kumulatoren den Grenzwert von Cadmium einhalten. SeitJahren kooperiert das Umweltbundesamt mit Batterie-herstellern, um Substitutionen schließlich auch für Spe-zialanwendungen zu realisieren. Bündnis 90/Die Grünenfordert deshalb, keine Ausnahmen von Schadstoffbegren-zungen im Batteriegesetz zuzulassen. Und: Wir wolleneine Begrenzung der mengenmäßig dominierenden Ein-wegbatterien mit derzeit 90 Prozent. Denn um die Spei-cherleistung einer Reduktion von Einwegbatterien um20 Prozent zu kompensieren, ist lediglich ein Zuwachsvon 2 bis 3 Prozent an wieder aufladbaren Batterien er-forderlich. Die Substitution von Einweg- durch Mehrweg-batterien ist zudem ganz im Sinne der EU-Richtlinie zurVermeidung der Umweltverschmutzung, IVU, und desKonzeptes der Integrierten Produktpolitik. Beide Regel-werke sind darauf angelegt, Umweltbelastungen entlangder ganzen Herstellungslinie zu reduzieren.

Alte Batterien sollen umweltverträglich verwertet wer-den. Dazu ist eine Verdoppelung der bisherigen Sammel-quote erforderlich. Deutschland kann das schaffen. Eslässt sich leicht erreichen, wenn ein Pfand erhoben wird,so wie wir es in unserem Antrag „Schadstoffbelastungdurch Batterien begrenzen“, Drucksache 16/11917, vor-schlagen.

Was die wirklich zweckdienlichen Schritte zur abfall-rechtlichen Produktverantwortung bei Batterien und Ak-kumulatoren wären, haben wir in dem hier zur Debattegestellten grünen Antrag benannt. Den Entwurf des Bat-teriegesetzes lehnen wir in der vorgelegten Form ab. Diegröbsten Mängel am Gesetzentwurf werden die Grünendurch Änderungsanträge im Fachausschuss zu heilenversuchen, und ich freue mich auf eine hoffentlich inhalt-lich getragene parlamentarische Auseinandersetzung.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

Drucksachen 16/12227, 16/12301 und 16/11917 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 e auf:

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stif-tung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“

– Drucksache 16/12230 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien (f)Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss

Die Reden nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sichum die Reden der Kolleginnen und Kollegen MonikaGrütters, CDU/CSU, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, SPD,Hans-Joachim Otto, FDP, Petra Pau, Die Linke, VolkerBeck, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/12230 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkmarUwe Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. KlausW. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis,Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD

Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortsetzung ei-nes Erfolgsprogramms

– Drucksache 16/12284 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss

Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh-men wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden derKolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, Ernst Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP,Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 16/12284 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-destages auf morgen, Freitag, den 20. März 2009, 9 Uhr,ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

(Schluss: 22.03 Uhr)

1) Anlage 82) Anlage 9

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Anlagen zum Stenografischen Bericht

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Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-sammlung des Europarates

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

19.03.2009

Brüderle, Rainer FDP 19.03.2009

Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

19.03.2009

Granold, Ute CDU/CSU 19.03.2009

Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 19.03.2009

Hinz (Essen), Petra SPD 19.03.2009

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

19.03.2009

Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 19.03.2009*

Korte, Jan DIE LINKE 19.03.2009

Kunert, Katrin DIE LINKE 19.03.2009

Laurischk, Sibylle FDP 19.03.2009

Lehn, Waltraud SPD 19.03.2009

Lintner, Eduard CDU/CSU 19.03.2009*

Lips, Patricia CDU/CSU 19.03.2009

Merz, Friedrich CDU/CSU 19.03.2009

Reichenbach, Gerold SPD 19.03.2009

Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 19.03.2009

Schily, Otto SPD 19.03.2009

Dr. Schmidt, Frank SPD 19.03.2009

Scholz, Olaf SPD 19.03.2009

Segner, Kurt CDU/CSU 19.03.2009

Tauss, Jörg SPD 19.03.2009

Wolff (Wolmirstedt), Waltraud

SPD 19.03.2009

Zimmermann, Sabine DIE LINKE 19.03.2009

Anlage 2

Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung

– des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelungdes Datenschutzaudits und zur Änderungdatenschutzrechtlicher Vorschriften

– der Beschlussempfehlung und des Berichtszu der Unterrichtung: Tätigkeitsbericht2005 und 2006 des Bundesbeauftragten fürden Datenschutz und die Informationsfrei-heit – 21. Tätigkeitsbericht –

(Tagesordnungspunkt 13 a und b)

Petra Pau (DIE LINKE): Darüber ist zu sprechen:

Erstens. Wir diskutieren heute über einen Bericht desBundesbeauftragten für Datenschutz. Der Bericht istrund zweieinhalb Jahre alt, also asbach-uralt. Inzwischenwurde ein Datenskandal nach dem anderen publik. Wirkönnten also genauso über die Bundesligasaison 2005/2006 debattieren. Das wäre möglicherweise sogar span-nender, aber ebenso brotlos.

Zweitens. Brotlos ist es auch deshalb, weil bisherkeine Debatte des Bundestages über einen Bericht desBundesbeauftragten für Datenschutz wirklich zu Konse-quenzen geführt hat. Bestenfalls haben die Fraktionengemeinsam Mängel beklagt. Aber immer nur nach demMotto: „Gut, dass wir mal darüber geredet haben!“ Mehrwar nie.

Drittens. Der Bericht des Datenschutzbeauftragtenenthält viele Warnzeichen. Ich nenne nur Stichworte:Vorratsdatenspeicherung, Antiterrordatei, biometrischeDaten in Ausweisen und Pässen. Ich könnte die Liste derDatenrisiken fortsetzen, aber übergreifend ist: Alle War-nungen wurden verlässlich in den Wind geschlagen.

Viertens. Deshalb wiederhole ich für Die Linke nurZweierlei: Das Amt des Datenschutzbeauftragten mussaufgewertet werden – politisch, personell und finanziell.Und wir brauchen endlich ein Datenschutzrecht des21. Jahrhunderts. Beides wird durch die Union unddurch die SPD bislang blockiert. Darüber wäre endlichzu sprechen.

Fünftens. Mit zur Debatte steht der Entwurf für einDatenschutzauditgesetz. Dazu wird es demnächst aucheine Anhörung von Experten geben. Heute mache ich le-diglich darauf aufmerksam, dass vielen der Gesetzent-wurf nicht weit genug geht. Zu den Kritikern gehörenDatenschützer und Verbraucherschützer. Die FraktionDie Linke teilt deren Bedenken.

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Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Faire Wettbewerbs-bedingungen für Öffentlich Private Partner-schaften schaffen (Tagesordnungspunkt 15)

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Öffentlich-privatePartnerschaften, kurz ÖPP, verfolgen das Ziel, durcheine langfristige Zusammenarbeit zwischen öffentlicherHand und privater Wirtschaft Infrastruktur effizienterbereitstellen zu können. Sie sind die Alternative zur kon-ventionellen Bereitstellung durch die öffentliche Handauf der einen und materieller Privatisierung auf der an-deren Seite.

Andere Länder, allen voran Großbritannien, habenmit dieser Form der Beschaffung sehr gute Erfahrungengemacht. In Deutschland stehen wir gerade auf Bundes-ebene mit diesem Ansatz noch am Anfang. Das Poten-zial ist längst noch nicht ausgeschöpft. Das Besonderean öffentlich-privaten Partnerschaften ist der sogenannteLebenszyklusansatz. Das bedeutet, dass planen, bauen,betreiben und finanzieren eines Projektes in einer Handliegen. Die Vorteile eines solchen Ansatzes sind offen-sichtlich: Ist jemand nicht nur, wie im Fall der konven-tionellen Beschaffung, für die Planung oder das Baueneines Gebäudes verantwortlich, sondern auch für das Be-treiben, dann berücksichtigt derjenige auch die Heraus-forderungen, die das Betreiben mit sich bringt. Das zeigtsich zum Beispiel bei der Wahl der Fenster, die er reini-gen lassen muss oder bei der Auswahl von langlebigenBaumaterialien. Der Lebenszyklusansatz von ÖPP ver-langt eine ausgewogene Risikoverteilung über die Ver-tragslaufzeit. Wenn der Private über die gesamte Projekt-laufzeit Risiken trägt, hat er ein eigenes Interesse anoptimierten Kosten, Terminen und Qualitäten. Das führtzu Synergieeffekten und vor allem zu Kostenersparnis-sen, von denen der Bund, die Länder und die Gemeindenprofitieren. Denn angesichts geringer finanzieller Spiel-räume sind neue Wege und Lösungen gefragt, um denSpagat zwischen einer guten Infrastruktur und solidenFinanzen zu schaffen.

Aber ein ÖPP-Projekt bringt nicht nur Vorteile für dieöffentliche Hand, sondern vor allem auch für den Nut-zer: Die Menschen können sich durch die vertraglichenRegelungen auf eine zügige Umsetzung verlassen, undgleichzeitig wird durch ÖPP langfristig eine Instandhal-tung und Unterhaltung auf hohem Niveau sichergestellt.

Um die Vorteile, die ÖPP-Projekte bieten, wirkungs-voll nutzen zu können, sind die Rahmenbedingungen fürÖPP in den letzten Jahren verbessert worden: Im Som-mer 2008 ist mit der Gründung der PartnerschaftenDeutschland ein weiterer Schritt zur Förderung von ÖPPgemacht wurden. Die Kompetenzen und das Know-howsollen dort gebündelt werden. Die Erfahrungen aus bis-herigen Projekten können so effektiv genutzt werden.

Trotzdem gilt es, die Rahmenbedingungen weiter zuverbessern, denn aufgrund der Effizienzvorteile vonÖPP können auch die Haushaltsgrundsätze Sparsamkeitund Wirtschaftlichkeit besser erfüllt werden. Deshalb ist

es konsequent anzuregen, dass ÖPP auch in der Bundes-haushaltsordnung ausreichend berücksichtigt werden:Wann immer geprüft wird, welches die wirtschaftlichsteVariante ist, muss auch die Möglichkeit einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit einbezogen werden. Stellt sichheraus, dass Private eine staatliche Aufgabe besser er-bringen, müssen auch Private damit beauftragt werden.

Im Umkehrschluss bedeutet dies nicht, dass sich dieöffentliche Hand grundsätzlich für ÖPP entscheidenmuss. Es ist wichtig, dass ein sorgfältiger Vergleich aufBasis von Marktpreisen für alle Realisierungsvariantenvorgenommen wird. ÖPP muss aber eine dieser mögli-chen Varianten sein. Insofern ist die Festschreibung inder Bundeshaushaltsordnung, die der Antrag „FaireWettbwerbsbedingungen für ÖPP schaffen“ vorsieht,richtig.

In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dasses sinnvoll ist, noch weitere Änderungen der Bundes-haushaltsordnung vorzunehmen, um die Bedingungenfür ÖPP zu erleichtern. Derzeit zwingt die Bundeshaus-haltsordnung dazu, die Finanzierungskosten von ÖPP indem entsprechenden Fachetat zu etatisieren. Das führt zueiner deutlichen Benachteiligung gegenüber der konven-tionellen Beschaffung. Bei der konventionellen Variantewerden die gesamten Finanzierungskosten im Einzelplan60 etatisiert. Diese Ungleichbehandlung muss beseitigtwerden. Sie führt in den einzelnen Ressorts dazu, dasssich gegen ÖPP entschieden wird, da die Finanzierungs-kosten bei anderen Ausgaben eingespart werden müssen.Wenn ÖPP eine mögliche Realisierungsvariante ist, dannmüssen wir auch dafür sorgen, dass die Wettbewerbsbe-dingungen für alle Varianten gleich sind. An diesemPunkt besteht Nachholbedarf.

Aber nicht nur die Haushaltsordnung ist der Grundfür die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen.Eine weitere Benachteiligung fällt besonders ins Ge-wicht: Öffentlich-private Partnerschaften sind aufgrunddes Lebenszyklusansatzes mitunter effizienter als diekonventionelle Beschaffung. Trotzdem ist ÖPP für denHaushalt des Auftraggebers nicht immer die kostengüns-tigere Variante, weil die Finanzströme dem entgegenste-hen: Vergibt zum Beispiel eine Kommune personalinten-sive Aufträge im Rahmen von ÖPP, muss Umsatzsteuerbezahlt werden. Diese wird aber nicht vollständig an dieKommune zurückgeführt. Wenn die Kommune hingegeneigenes Personal beschäftigt, fällt keine Umsatzsteueran. Deshalb lohnen sich besonders personalintensiveÖPP-Projekte für die Kommune häufig nicht, obwohl siegesamtstaatlich und auch für den Nutzer sinnvoll wären.Diese Umsatzsteuerproblematik ist ein eindeutiger Wett-bewerbsnachteil für ÖPP. Wie groß diese Nachteile sind,ist derzeit nicht genau zu bestimmen. Aus diesem Grundwird die Bundesregierung aufgefordert, in einem Mo-dellversuch zu klären, in welchem Ausmaß es zu Be-nachteiligungen kommt, und zu prüfen, wie die Umsatz-steuerproblematik bei ÖPP-Projekten gelöst werdenkann.

Der Antrag für faire ÖPP-Wettbewerbsbedingungenhat schließlich noch einen anderen Bereich im Auge, indem die Wettbewerbsbedingungen für ÖPP verbessert

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werden sollen. Bei der Finanzierung von Fernstraßen,die von Privaten im Rahmen von ÖPP ausgebaut wer-den, brauchen wir mehr Refinanzierungsflexibiliät. Über-nimmt ein Privater den Ausbau und Betrieb eines Auto-bahnabschnittes, bekommt er zur Refinanzierung fürdiesen Abschnitt vom Staat die entsprechende Maut. Beibesonders teuren Abschnitten rechnet sich das A-Modellnicht. Um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen, ist es des-halb sinnvoll, die mit einem Projekt in einem unmittel-baren Zusammenhang stehenden Teilstücke eines Bau-werkes oder einer Strecke in die Mautanteile miteinzubeziehen und damit für die privaten Unternehmenattraktiver zu gestalten.

Besonders im Fernstraßenbau zeigen sich die Vorteilevon ÖPP. Der private Projektträger hat aufgrund der Ab-hängigkeit von den Mauteinnahmen ein großes Interessean einer schnellen Fertigstellung des gesamten Projek-tes. Dies ist wiederum im besonderen Interesse des Nut-zers, der ebenfalls durch den schnellen Ausbau profitiertund keine jahrelangen Baustellen und Staus in Kauf neh-men muss.

Es ist eindeutig, dass öffentlich-private Partnerschaf-ten eine Vielzahl von Vorteilen für die öffentliche Hand,die Privatwirtschaft und für die Nutzer bieten. Deshalbmüssen die Rahmenbedingungen für ÖPP weiter verbes-sert werden, damit diese Vorteile auch wirklich genutztwerden können.

Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): ImSommer 2005 hat der Deutsche Bundestag ein ÖPP-Be-schleunigungsgesetz beschlossen. Dieses Gesetz hatwichtige Verbesserungen für die Betroffenen und Ent-bürokratisierungen gebracht. Die Beschlussfassung fielnoch unter die rot-grüne Regierungszeit, und ich erkennediese Leistung ausdrücklich an. Wir haben als damaligeOppositionspartei den Gesetzgebungsprozess positiv be-gleitet und eigene Anregungen eingebracht. Aber einwichtiger Punkt wurde damals vergessen oder besserausgedrückt: Wir hatten damals noch nicht den richtigenAnsatz für die Lösung dieses speziellen Problems gefun-den. Es ist das Problem der umsatzsteuerlichenUngleichbehandlung zwischen staatlich erbrachtenDienstleistungen und den Dienstleistungen, die privateUnternehmen im Rahmen einer öffentlich-privaten Part-nerschaft erbringen. Ein Wirtschaftlichkeitsvergleich– und das wollen wir mit diesem Antrag erreichen – istfür den Bauherren oder Auftraggeber aber nur dannrealisierbar, wenn diese steuerliche Ungleichbehandlungaufgehoben ist.

Öffentliche-private Partnerschaften sind kein Allheil-mittel. Damit sind nicht alle wirtschaftlichen und fiskali-schen Probleme lösbar. Aber ich freue mich, dass sich infast allen Fraktionen die Kenntnis durchgesetzt hat, dassder Staat nicht alles selber machen muss. Im Gegenteil.Das Bauen von Gebäuden und deren Bewirtschaftungkönnen private Unternehmen in der Regel kostengünsti-ger. Deswegen muss unser Denken und Handeln freierwerden. Wir brauchen Vorrang für privatwirtschaftlichesHandeln. Da, wo bürokratische, vergaberechtliche odersteuerrechtliche Vorschriften eine Kooperation zwischen

der öffentlichen Hand und einem privaten Investor, oder– was mir noch viel wichtiger ist – zwischen der öffentli-chen Hand und einem privaten Betreiber behindern,müssen wir als Gesetzgeber tätig werden und die Rah-menbedingungen schnellstens verändern.

Angesichts der zu erwartenden erheblichen zusätzli-chen Belastungen des Staates durch die Bewältigung derWeltwirtschaftskrise sind neue innovative, effizienzstei-gernde und damit kostensparende Beschaffungsmetho-den erforderlich, mit denen Pflichtaufgaben des Staatesfinanziert und abgewickelt werden können.

Ich bitte den Bundestag heute um Zustimmung zudiesem Antrag und bitte Herrn BundesfinanzministerPeer Steinbrück, dass er anschließend einen entsprechen-den Gesetzentwurf zügig vorlegt. Zusätzlich wollen wirmit der Änderung des Fernstraßenprivatfinanzierungsge-setzes die Bedingungen für die Erstellung von Verkehrs-sonderbauten erleichtern. Auch dieses Gesetzesvorhabensoll noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden.Die Große Koalition wird bei diesem wichtigen Themaihre Handlungsfähigkeit beweisen und im Interesse derSteuerzahler und der betroffenen Unternehmen schnellhandeln.

Dr. Michael Bürsch (SPD): Die derzeitigen Kon-junkturprogramme mit ihren Investitionen in öffentlicheInfrastruktur werden nichts an der Erkenntnis ändern:Der Staat ist aktuell und auch künftig alleine nicht mehrin der Lage, den erheblichen Bedarf an öffentlicher In-frastruktur zu decken. Darum muss über die traditionelleArbeitsteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft neunachgedacht und die Frage nach neuen Modellen gestelltwerden. Öffentliche-private Partnerschaften – kurz ÖPP –geben hierauf eine Antwort.

ÖPP sind ein neuer und – bei sorgfältiger Planungund Durchführung – auch erfolgreicher Weg, öffentlicheInfrastruktur und Dienstleistungen effizienter bereitzu-stellen. Internationale und inzwischen auch deutsche Er-fahrungen bestätigen, dass durch ÖPP Effizienzgewinnein Höhe von 10 bis 20 Prozent erzielt werden können,ohne die Qualitätsstandards zu reduzieren. Die Effi-zienzsteigerungen entstehen vor allem durch Einsparun-gen bei den Kosten für den gesamten Lebenszyklus– Planung, Bau, Unterhalt, Verwertung –, durch Aus-schluss von Kostenüberschreitungen und kürzere Bau-zeiten, durch kostengünstigeren Betrieb der ÖPP-Pro-jekte während der Vertragslaufzeit sowie eine optimaleRisikoverteilung.

Ziel und Voraussetzung für den Erfolg von ÖPP ist,dass alle Beteiligten profitieren: die Politik, die Verwal-tung, die Bürger, der private Investor, der private Betrei-ber. Wesentliche Instrumente für die erfolgreiche Gestal-tung einer ÖPP sind ein Wirtschaftlichkeitsvergleichmöglicher Handlungsoptionen und eine interessenge-rechte und faire Vertragsgestaltung.

Um es klar zu sagen: ÖPP sind keine neue Form derPrivatisierung öffentlicher Aufgaben und sie haben über-haupt nichts mit aberwitzigen, unverantwortlichen Steu-ersparmodellen mancher Kommunen wie Cross Border

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Leasing zu tun, die jetzt zunehmend gegen die Wandfahren. Sie sind vielmehr ein dritter Weg zwischen derBereitstellung öffentlicher Infrastruktur und Dienstleis-tungen durch die öffentliche Hand selbst auf der einenSeite und der reinen Privatisierung auf der anderen Seite.Der Staat zieht sich bei ÖPP nicht aus der Verantwortungzurück, für ein hohes Niveau öffentlicher Leistungen zusorgen. Der Staat entscheidet über die Art und den Um-fang der Leistungen, er entscheidet über ihre Qualität. Ersetzt den Kostenrahmen fest. Auch während der gesam-ten Projektlaufzeit behält er die Kontrolle über das mitder ÖPP-Projektgesellschaft vereinbarte Leistungs-niveau. Der Staat verfügt über eine abgestufte Palettevon Interventionsoptionen einschließlich Strafzahlungenoder Ausstieg aus dem Vertrag für den Fall, dass Ver-träge nicht eingehalten werden.

Ziel von richtig verstandener ÖPP ist eine Projekt-realisierung vom Anfang bis zum Ende. Der gesamte Le-benszyklus einer öffentlichen Leistungserstellung vonder Planung, dem Entwerfen, dem Bauen, Betreiben, In-standhalten, Verwerten und Finanzieren wird Gegen-stand der ÖPP. Durch den Wirtschaftlichkeitsvergleichauf der Basis der konventionellen Realisierung ist die öf-fentliche Verwaltung gezwungen, sich über die wahrenKosten einer über den Lebenszyklus betrachteten Leis-tungserstellung klar zu werden. Deshalb ist ÖPP auchmehr als ein bloßes Finanzierungsinstrument. ÖPP ist ei-ner der wesentlichen Treiber für die Modernisierung desStaates.

Mit dem vorliegenden Antrag soll insbesondere einProblem aus dem Bereich des Umsatzsteuerrechts gelöstwerden. Erbringt die öffentliche Hand hoheitliche Leis-tungen mit eigenem Personal, so unterliegen diese Leis-tungen nicht der Umsatzbesteuerung. Werden derartigeLeistungen aber im Rahmen von ÖPP erbracht, so wer-den sie beim privaten Projektpartner mit dem vollenUmsatzsteuersatz von 19 Prozent belastet. Damit kommtes zu einer Diskriminierung von ÖPP gegenüber derkonventionellen Leistungserstellung durch die öffentli-che Verwaltung. Je höher der Personalkostenanteil ander Leistungserstellung ist, desto stärker schlägt dieseDiskriminierung zu Buche.

Das nicht gelöste Umsatzsteuerproblem für ÖPP istverteilungspolitisch ungerecht, es werden dadurch fal-sche Anreize gesetzt, eine Leistungssteigerung der öf-fentlich Hand behindert, die Expansion von ÖPP aufpersonalintensive Bereiche verhindert: Die Gemeinde,die mit ÖPP effizienter arbeitet, Steuern spart und mehrfür ihre Bürgerinnen und Bürger herausholt, wird da-durch „bestraft“, dass sie mit der gewählten ÖPP-Lö-sung gleichzeitig Umsatzsteuermehrbelastungen zu tra-gen hat, die anderen Gemeinden für eben dieselbenLeistungen nicht zu tragen haben. Da die Beschaffungs-varianten „konventionelle Realisierung“ und „ÖPP“ imWettbewerb stehen, wird die ÖPP-Variante aufgrund derUmsatzsteuermehrbelastung diskriminiert und es werdenEntscheidungen getroffen, die für alle Beteiligten nach-teilig sind. Die Gemeinde, die den ÖPP-Weg wählt, trägtzu einer zusätzlichen Finanzierung des Bundeshaushalts,der Länderhaushalte und der Kommunalhaushalte bei.

Sie selber kann jedoch mit keinem nennenswerten Rück-fluss rechnen. Personalkostenintensive ÖPP werdenkaum eine Chance haben, sich gegen konventionelleLeistungserstellungen der öffentlichen Hand durchzuset-zen, wenn sie aufgrund der Umsatzsteuermehrbelastun-gen bereits von Anfang an mit Kostennachteilen in derGrößenordnung von fünf und mehr Prozent rechnenmüssen. Faktisch wirkt die Umsatzsteuerpflicht fürÖPP-Projekte damit als Expansionshindernis, das nichtim Interesse des Bürgers, des Steuerzahlers und auch desStaates sein kann.

Hier setzt das Modellprojekt an, das der Bund in dennächsten fünf Jahren mit einigen Ländern durchführenwird. Ziel ist die Erstattung von nachgewiesenen Um-satzsteuermehraufkommen an private ÖPP-Projektträ-ger. Am Ende wird sich zeigen, ob auf diesem Wegegleiche Augenhöhe zwischen öffentlicher und privaterLeistungserbringung erreicht werden kann.

Zusammen mit den beiden gesetzgeberischen Ele-menten des Antrags im Bereich des Haushaltsrechts unddes Fernstraßenbaus verspreche ich mir von den geplan-ten Maßnahmen eine weitere Verbesserung der Rahmen-bedingungen für ÖPP. Ausgelöst durch die Wirtschafts-und Finanzkrise, hat im Moment die öffentliche Finan-zierung von Infrastruktur deutlich Vorrang. Aber ich binsicher: Der Ruf nach öffentlich-privaten Partnerschaftenwird bald schon wieder lauter erschallen. Denn derModernisierungsbedarf in öffentlicher Infrastruktur inDeutschland beträgt über 700 Milliarden Euro.

Ulrike Flach (FDP): Als Liberale muss ich hier nichtbeweisen, dass wir ÖPP- und PPP-Modelle für wichtigeInstrumente zur kostengünstigen und effizienten Erbrin-gung von Leistungen halten. Wir haben uns schon fürPPP ausgesprochen, als auf der Seite der Sozialdemokra-ten noch der Untergang des Abendlandes befürchtetwurde, wenn der Staat nicht selbst ein Gebäude errichtet,sondern es einen privaten Investor errichten lässt unddann mietet.

Ihr Antrag, der vor zwei Tagen noch gar nicht vorlag,erweckt den Eindruck, hier wird der Koalitionsvertragnoch einmal ausgekehrt und geschaut: Was hat man ver-einbart? Was geht überhaupt noch in dieser Koalition derErmatteten? Und da hat offenbar jemand im Koalitions-vertrag (Seite 15) gelesen, dass die Koalition die Beseiti-gung der Diskriminierung von PPP im Fernstraßenbau-privatisierungsgesetz vordringlich anpacken will. Na ja,so vordringlich kann sie nicht gewesen sein, dass Sie da-mit so lange gewartet haben. Also wird das noch durch-gewunken, das ist Kehraus-Politik kurz vor dem Son-nenuntergang.

Wir halten die Vorschläge, die Sie zur Änderung derBundeshaushaltsordnung machen, für akzeptabel, aberwir sind sehr kritisch, was Ihr Modellprojekt angeht. Esmacht stutzig, dass dafür nur ein Betrag von 10 Millio-nen Euro jährlich eingestellt werden soll. Ich werde denVerdacht nicht los, dass Sie bereits ein konkretes Projekthaben, das schnell noch abgesegnet werden soll. DerWert ist so gering, das macht mich einfach misstrauisch.

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Und auch die Konstruktion des Modellvorhabens istnicht die ÖPP-Konstruktion, die wir uns vorstellen. Sieschaffen nämlich einen Subventionstatbestand, indemdie Gebietskörperschaften, die am Modellprojekt teil-nehmen, ihren PPP-Projektträgern die Umsatzsteuer-Mehrbelastung als Projektförderung zurückerstatten.Auch das wirkt, als ob es da sehr konkrete Bewerbergibt. Auch die Festlegung, dass mindestens drei Länderteilnehmen müssen, macht stutzig.

Wir wollen PPP als echte Wettbewerbspartnerschaft.Es wäre doch ein Leichtes, eine bestimmte Leistung aus-zuschreiben. Offenbar findet sich aber für die gesuchteLeistung nur dann ein privater Partner, wenn er die Um-satzsteuer zurückerhält oder wenn es sonst eine Subven-tion gibt. Dies einen Modellversuch zu nennen, erscheintmir äußerst verdächtig. Wenn Sie wirklich PPP steuer-lich besserstellen wollen, dann ändern Sie das Umsatz-steuergesetz und stellen die privaten PPP-Partner vonder Umsatzsteuer frei. Das wird aber Herr Steinbrücknicht mitmachen, denn bei einer Investitionssumme von875 Millionen Euro im Jahr 2007 würde das einen erheb-lichen Umsatzsteuerverlust bedeuten. Was Sie jetzt ma-chen, verzerrt aber den Wettbewerb, indem der Staatdem Privaten die Steuern rückerstattet. Das verdirbt eherdie Sitten, als dass es PPP fördert. Wir lehnen deshalbden Antrag ab.

Ulla Lötzer (DIE LINKE): Was Sie hier vorlegen mitIhrem Antrag zu öffentlich-privaten Partnerschaften, istschon ein starkes Stück. Weil eine Gebietskörperschaftkeine Umsatzsteuer zahlen muss, soll jetzt in einem Mo-dellversuch den Privaten die Umsatzsteuer zurückerstat-tet werden. Geht’s noch? Wie kann man ideologisch soverbohrt sein, dass man auf Teufel komm raus öffentli-che Gelder in die Taschen Privater umschaufeln will!

Bevor Sie hier weiter das Hohelied auf die Privatisie-rung singen, sollten Sie sich endlich mit den realenFolgen vor Ort auseinandersetzen. Öffentlich-privatePartnerschaften sind kein wirksames Instrument, den„Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeitbesser gerecht zu werden“, wie Sie in Ihrem Antragschreiben. ÖPP verteilen die Gewinne an die Privatenund die Risiken auf die öffentliche Hand. Außer den In-vestoren verdienen sich die Beraterfirmen eine goldeneNase. Und ganz nebenbei wird die kommunale Demo-kratie ausgehebelt und werden die Verträge als „strenggeheim“ eingestuft.

Die ÖPP-Projekte in Deutschland sind noch nicht soalt, aber schon jetzt zeigt sich, dass die Versprechungenvielfach gelogen sind. Nehmen wir das BildungszentrumOstend in Frankfurt. Hier wurden Zusatzkosten ver-schwiegen und es wurde billigst gebaut. Da die Stadt dieStrom-, Heiz- und Wasserkosten selbst zahlen muss,wurde vom Investor kein Geld für Sparvorrichtungenausgegeben. Effiziente Verglasung, Bewegungsmelder,Wasserstoppuhren – Fehlanzeige. Das ist kein Einzelfall:Die Kölner Messehallen, die Schulsanierungen im Land-kreis Offenbach, das Mautsystem von Toll Collect – im-mer bleibt die öffentliche Hand auf den Zusatzkostenund auf allen Risiken sitzen.

Sagt Ihnen das Instrument „Forfaitierung mit Ein-redeverzicht“ etwas? Ich will Ihnen dieses gerne be-

nutzte Instrument mal erläutern: Im Rahmen eines ÖPP-Projektes übernimmt der Investor den Bau oder die Sa-nierung eines Gebäudes. Die Kommune verpflichtet sichim Gegenzug dazu, 25 Jahre Miete an den Investor zuzahlen. Kaum ist die Unterschrift der Kommune unterdem ÖPP-Vertrag, geht der Investor mit ihm zur Bank.Der Bank verkauft er die Forderung für die 25 JahreMiete und lässt sie sich pauschal auszahlen. Das ist dieForfaitierung. Das heißt, obwohl die Kommune formalnicht selbst einen Kredit aufgenommen hat, steht siejetzt bei der Bank in der Kreide und zwar zu den Zinssät-zen, die der Private zahlen muss, nicht etwa zu den güns-tigeren Bedingungen für Kommunalkredite. Die Kom-mune verpflichtet sich, im Gegenzug pünktlich immerdie volle Miete zu bezahlen, unabhängig davon, ob derInvestor mangelhaft arbeitet oder gar pleitegeht. Das istder Einredeverzicht. Wenn Sie das als Erfolg bezeichnen –ich bezeichne das als Verlagerung von Problemen in diefolgenden Legislaturperioden und als eine Potenzierungder Risiken und Kosten.

Eine Besonderheit der öffentlich-privaten Partner-schaften ist das Cross Border Leasing. Mit diesem Ge-schäftsmodell sind die Kommunen heute schon badengegangen. Das Vorgehen war das gleiche: umfangreicheGeheimverträge, Verlagerung aller Risiken auf die deut-schen Gebietskörperschaften. Warnungen, die es bei Ab-schluss der Verträge gab, wurden einfach in den Windgeblasen. Nun drohen infolge der Finanzkrise den Steu-erzahlern zusätzliche Kosten in zigfacher Millionen-höhe.

Aus Erfahrungen sollte man klug werden. Deshalblehnen wir Ihren Antrag ab und fordern Sie auf, die För-derung von ÖPP-Projekten zu stoppen.

Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Öffentlich-private Partnerschaften sind als Alternativezu herkömmlichen Beschaffungsformen der öffentlichenAuftraggeber in den vergangenen fünf Jahren erheblichwichtiger geworden. Nach einer Veröffentlichung derPPP-Task-Force beim Bundesministerium für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung wurden bis Mai 2008 bundes-weit 97 ÖPP-Projekte mit einem Investitionsvolumenvon 3,5 Milliarden Euro an Investoren vergeben.

Grundsätzlich halten wir ÖPPs für ein interessantesModell zur effizienteren Umsetzung von Beschaffungs-maßnahmen. Wir brauchen aber einen richtigen Ord-nungsrahmen, um bei jedem Projekt genau zu prüfen,wie es sich am wirtschaftlichsten umsetzen lässt. Dabeisind wir für eine konkrete Betrachtung am jeweiligenFall: Ist ÖPP, ist rein privatwirtschaftliches oder ist reinstaatliches Handeln angebracht und wirtschaftlich?

Wir müssen sichere Investitionen ermöglichen undfür Vertrauen sorgen. Oft kann ein Beschaffungsauftragnach Ausschreibung am effizientesten von einem Privat-unternehmen durchgeführt werden. Aber auch durch ge-nuin staatliche Infrastruktur können Aufgaben häufigsparsam durchgeführt werden. Die Ergänzung der Bun-deshaushaltsordnung, die Sie vorschlagen, unterstützenwir in diesem Sinne. Es ist wichtig, einen einheitlichenMaßstab für Wirtschaftlichkeitsvergleiche zu schaffen.

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Auch die Umsatzsteuerfrage ist in diesem Zusam-menhang von hoher Wichtigkeit. Die umsatzsteuerlicheBenachteiligung gegenüber staatlicher Eigenleistung istein großes Problem bei ÖPP-Projekten. Ein Modellvor-haben, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, ist daher mei-nes Erachtens sinnvoll, um einen Umgang mit diesemProblem zu finden.

Ein aktueller Bericht des Rechnungshofes in Baden-Württemberg, der diese Woche vorgelegt wurde, zeigtaber auch deutlich, dass die Effizienzrenditen von über10 Prozent für ÖPP-Projekte, wie sie bisher wiederholtangenommen wurden, in bestimmten Bereichen in Ba-den-Württemberg kaum zu realisieren waren. Es liegtnahe, anzunehmen, dass die Lage in Baden-Württem-berg den einen oder anderen Rückschluss auf die Ge-samtproblematik erlaubt.

ÖPP-Projekte können nicht von vornherein als diewirtschaftlichere Variante angesehen werden. Deshalbbenötigt man eine belastbare Vergleichsbasis für die Ent-scheidung zwischen einem ÖPP-Modell und einer staat-lich durchgeführten Variante. Insbesondere bei den ÖPP-Projekten der zweiten Generation, die neben Planung,Finanzierung und Bauen auch den Betrieb umfassen, istes aufgrund der Kosten für die Risikovorsorge und derlangen Vertragslaufzeiten schwierig, Vergleiche mit ei-ner Eigenrealisierung hinsichtlich der Wirtschaftlichkeitanzustellen. Daher muss ein sorgfältiger Vergleich aufBasis von Marktpreisen für alle Realisierungsvariantenvorgenommen werden. Der Rechnungshof kam zum Er-gebnis, dass in Baden-Württemberg auch ÖPP-Projekteumgesetzt wurden, obwohl diese letztendlich teurer wa-ren als eine Eigenleistung des Staates. Außerdem warnter vor einer steigenden Vorbelastung künftiger Haushaltedurch ÖPP-Projekte bei Vertragslaufzeiten von üblicher-weise 20 bis 30 Jahren, der sogenannten grauen Ver-schuldung. Das muss uns bei der Diskussion um ÖPPsbewusst sein.

Trotz unserer Zustimmung zu den Änderungen derBundeshaushaltsordnung und des Modellvorhabens leh-nen wir den Antrag insgesamt ab: Durch die Novellie-rung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzesdoktern Sie an einem Problem herum, statt zuzugeben,dass das F-Modell bisher gescheitert ist. Die Novellie-rung wäre unnötig, wenn der Verkehrsfluss bei den Pro-jekten realitätsnäher berechnet worden wäre. Eine an-dere Möglichkeit sehe ich in Konzessionsmodellen mitvariabler Laufzeit. Durch den von Ihnen vorlegten Vor-schlag kann die Wirtschaftlichkeit eines Projektes nurunmaßgeblich verbessert werden.

Anlage 4

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts: Pakistan und Afghanistan stabilisie-ren – Für eine zentralasiatische regionaleSicherheitskonferenz (Tagesordnungspunkt 16)

Holger Haibach (CDU/CSU): Zum zweiten Mal inFolge beschäftigen wir uns in einer Sitzungswoche desDeutschen Bundestages mit Pakistan und Afghanistan.

Das ist gerade angesichts der schwierigen Lage und dersich überschlagenden Ereignisse in Pakistan in den ver-gangenen Wochen und Tagen dringend geboten.

Ob der Antrag der Linken zu diesem Thema aller-dings dabei sehr hilfreich ist, kann mit Recht bezweifeltwerden. Denn es ist hier wie mit allem: Die Lösung desProblems beginnt mit der Betrachtung der Realität. Undwenn man da bereits die falschen Erkenntnisse gewinnt,dann kann es auch keine richtigen Lösungen geben.

Was fordern Sie in Ihrem Antrag? Ich will es einmaletwas platt zusammenfassen: Wir setzen alle in dieserRegion an Konflikten beteiligten Staaten an einen Tisch,nehmen noch die Paschtunen hinzu, lassen die alle mit-einander beraten. Dann fügen Sie noch ein paar ziemlichallgemeine und wohlklingende Forderungen wie dienach der Unterstützung bei der Demokratisierung Pakis-tans hinzu, mahnen väterlich das Ende von Rüstungs-exporten an, würzen das Ganze mit der bei Ihnen obliga-torischen USA-Kritik: Und schon herrscht himmlischerFrieden auf Erden.

Wohlgemerkt: Vieles von dem, was Sie hier vorschla-gen, ist nicht falsch. Aber das liegt daran, dass Ihre For-derungen sehr allgemein sind, und nicht daran, dass manaufgrund ihrer Gedankentiefe sofort zustimmen müsste.

Auf der anderen Seite wird Ihr Antrag aus meinerSicht auch nicht annähernd der Komplexität der Lage,gerade in Pakistan, gerecht. Worum geht es? Ihr Antragträgt zwar Afghanistan und Pakistan im Titel, beschäftigtsich aber überwiegend mit der Lage in Pakistan unddann mit ihren Auswirkungen auf die Situation inAfghanistan. Dagegen ist auch nichts einzuwenden.Wenn man allerdings Pakistan in besonderer Weise inden Blick nimmt, dann ergeben sich zwei Konsequen-zen: Erstens ist der Titel Ihres Antrags falsch, denn Pa-kistan liegt definitiv nicht in Zentralasien. Das wäre abernoch zu verschmerzen. Wichtiger ist, dass Sie bei demText Ihres Antrags die inneren Verhältnisse in Pakistanim Grunde überhaupt nicht in Betracht ziehen.

Dazu gibt es aber allen Grund. Pakistan ist durch dasEinlenken von Präsident Zadari im Streit um die Wieder-einsetzung des Obersten Richters Chaudry gerade nocheinmal so an einem das gesamte Land lahmlegendenStreik und an vermutlich blutigen Auseinandersetzungenzwischen Truppen der Regierung und des Präsidentenund Anhängern Chaudrys und des OppositionsführersSharif entgangen. Die Macht des gewählten Präsidentenist so weit erodiert, dass nicht einmal der gegen Sharifverhängte Hausarrest tatsächlich durchgesetzt wurde.Nach einer Umfrage des International Republican Insti-tute sprechen sich inzwischen 59 Prozent der befragtenPakistani für Oppositionsführer Sharif als Präsidentenaus, nur 19 Prozent für den Amtsinhaber.

Die wirtschaftliche Lage des Landes kann nur als ka-tastrophal bezeichnet werden. Ohne die Unterstützungder internationalen Gemeinschaft wäre das Land nichtmehr „lebensfähig“. Zudem musste die Zentralregierungihre erfolglosen Bemühungen einstellen, die Taliban imLande militärisch erfolgreich zu bekämpfen. Dies hattezur Folge, dass im Swat-Tal und anderen Regionen, das

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war Teil der Verhandlungslösung, die Scharia das seithe-rige Rechtssystem abgelöst hat. Entgegen anderen Zusa-gen haben dort die regionalen Führer – nicht durch dieSchließung, aber durch eine wesentlich effektivereMethode, nämlich Abbrennen der Schulen – dafür ge-sorgt, dass zum Beispiel der Unterricht für Mädchen er-schwert wurde. Und es steht zu befürchten, dass dies erstder Anfang der Repressalien ist.

Mit ein wenig regionaler Zusammenarbeit und einbisschen USA-Kritik ist es also nicht getan. Dafür bietenSie dann die Forderung auf: „Pakistan vermehrt bei sei-nen Demokratisierungsbemühungen unterstützen.“ Einebeeindruckende Forderung! Leider bleibt die Linke dieAntwort auf die Frage schuldig, wie dieses hehre Ziel er-reicht werden soll. Und wieso „vermehrt“? In der Zeit, inder dieser Antrag geschrieben wurde, hat diese Bundes-regierung, unterstützt durch die sie tragenden Fraktionenvon CDU/CSU und SPD, gehandelt. Vertreter der Bun-desregierung haben Vorschläge zur Verbesserung derLage gemacht, darüber hinaus wurden entsprechendeMittel zur Demokratisierung aus den Etats der betroffe-nen Ministerien zugesagt und bereitgestellt. Deutschlandarbeitet engagiert und an führender Stelle in der interna-tionalen Gruppe der „Freunde des demokratischen Pa-kistans“ mit.

Auch die Idee der „zentralasiatischen“ regionalenSicherheitskonferenz scheint noch sehr unausgegoren.Im Antrag der Linken wird die Beteiligung aller mögli-chen regionalen Akteure gefordert, bis hin zu den Pasch-tunen. Gleichzeitig betonen Sie zu Recht die Existenzganz anderer, schon Jahrzehnte währender Konflikte,wie etwa der Auseinandersetzung um und in Kaschmir.Warum soll den Kaschmiris das verwehrt werden, wasden Paschtunen Ihrer Ansicht nach doch erlaubt seinsoll?

Weiterhin stellt sich die Frage, wie Sie sich die Ein-bindung der internationalen Staatengemeinschaft vor-stellen, deren Präsenz vor Ort Sie doch sonst immer kri-tisieren. Welche Rolle sollen die USA, Großbritannienund etwa Deutschland spielen? Welche Aufgabe hat dieUN hierbei?

Es ist völlig unbestreitbar, dass eine engere Einbin-dung sämtlicher regionalen Akteure dringend gebotenist, denn ohne diese werden sich stabile Verhältnisse inder Region nicht herstellen lassen. Aber dazu braucht esmehr als eine Idee oder Antrag im Deutschen Bundestag.Wenn eine solche Konferenz, noch dazu als ständigeEinrichtung, durchgeführt werden soll, dann bedarf eshierzu sorgfältiger Planungen und Konsultationen. Denneine Konferenz, die in einem Fehlschlag endet und dabeivielleicht noch ohnehin vorhandene Differenzen ver-schärft, wäre ein großer Rückschlag für die friedlicheBeilegung von Konflikten in dieser Region.

Schließlich stellt sich die Frage, ob es für eine solcheEinrichtung Vorbilder gibt. Man könnte dabei an dieKSZE/OSZE denken. Allerdings wäre auch hier zu er-wägen, ob das, was in Europa funktioniert, ohne Weite-res auch an anderer Stelle erfolgreich ist, zumal die Ver-hältnisse in Europa der 70er-Jahre völlig andere warenals die heutigen zwischen Pakistan, Afghanistan, Indien

und den anderen Partnern, die zu beteiligen wären. Stan-den sich bei der KSZE zwei Machtblöcke und politischeSysteme gegenüber, die aber beide bereit waren, aufWaffengewalt zu verzichten, so haben wir es im jetzigenFall mit einer Region zu tun, die gerade durch inner- undzwischenstaatliche kriegerische Auseinandersetzungengekennzeichnet ist.

Noch ein Wort zur Rolle der USA: Man mag zur Ver-wendung beziehungsweise zur Ausweitung der Verwen-dung von Drohnen auf dem Staatsgebiet Pakistans in densogenannten Tribal Areas und darüber hinaus stehen,wie man will. Aber eines darf jedenfalls festgehaltenwerden: Als Pakistan in der vergangenen Woche und indieser Woche nahe am Rand von bürgerkriegsähnlichenZuständen mit unabsehbaren Folgen aufgrund der Nicht-Wiedereinsetzung von Richter Chaudry war, hat der pa-kistanische Minister Nabeel Gaboo die Abwendung derKrise mit folgenden Worten kommentiert: „Die Eini-gung haben Amerika, die Armee und Allah herbeige-führt.“ Und es ist der amerikanische GeneralstabschefMike Mullen gewesen, der seinen pakistanischen Amts-kollegen mehr als einmal von einem gewaltsamen Ein-greifen in die gegenwärtigen Konflikte abgehalten hat.Mancher von uns ist mit einer pauschalen Kritik an derHaltung und den Handlungsweisen der USA schnell beider Hand. Manchmal wendet sich aber auch diese Pau-schalität gegen den, der diese Kritik angebracht hat.

Wenn wir neben der „Afghan Ownership“ auch eine„Pakistan Ownership“ ernsthaft vorantreiben wollen,dann ergeben sich daraus für mich drei Konsequenzen.Erstens dürfen wir die vor Ort Handelnden nicht aus derVerantwortung entlassen, indem wir Entscheidungen fürsie treffen. Zweitens müssen wir sie aber auch mit dendafür notwendigen Voraussetzungen ausstatten. Unddrittens bedarf es eines Ansatzes, der die regionalenAkteure und die internationale Gemeinschaft einbindet.Genau an dieser Stelle greift der vorliegende Antrag zukurz. Er ist pauschal und wird den Aufgabenstellungennicht gerecht. Deshalb werden wir ihn ablehnen.

Detlef Dzembritzki (SPD): Die Situation in Pakistanbietet ohne Zweifel Anlass zu Sorge, aber auch – wennman die Entwicklungen der letzten Tage mit einbezieht –zu vorsichtigem und verhaltenem Optimismus.

Sosehr wir uns als Abgeordnete des Deutschen Bun-destages – ich schließe hier ausdrücklich das ganze Hausmit ein – gefreut haben, dass der Übergang von einerMilitär- zu einer zivilen Regierung im September 2008in Pakistan gelungen ist, so sehr waren wir zumindest inmeiner Fraktion von Anfang an in Sorge und zwar da-rüber, dass sich die neuen „Koalitionsmehrheiten“ in Pa-kistan nicht mit Entschiedenheit um die eigentlichen He-rausforderungen in ihrem Land gekümmert haben,nämlich die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, denEnergiemangel und Infrastrukturdefizite. Der monate-lange Streit zwischen Zardari und Sharif, zum Beispielum die Aufhebung der Amnestiegesetze und die Wieder-einsetzung der Richter, führte zu einem Entwicklungs-stillstand und Verwerfungen zwischen den „Wahlsie-gern“.

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Insofern möchte ich den Kolleginnen und Kollegenvon der Linkspartei durchaus zugestehen, dass auch siedie ernste Sorge haben, dass der Weg in eine friedlicheZukunft für dieses in der Region so wichtige Landschwierig sein wird. Ich nehme dennoch für mich undmeine Fraktion in Anspruch, dass wir immer betont ha-ben, dass nur mit einem regionalen Ansatz unter Einbe-ziehung von Afghanistan, Pakistan, Iran, aber auch In-dien und China eine Lösung der Konflikte möglich ist.Es reicht nicht, jetzt so zu tun, als genüge es, sich aufeine solche Konferenz zu fokussieren, als sei dies dieeinzige Lösung. Es ist schon etwas komplizierter!

Natürlich haben auch wir ernste Sorgen um Pakistan.Lassen Sie mich die Herausforderungen in einigen kur-zen Sätzen skizzieren: Pakistan als Nuklearmacht wirdvon seinen Nachbarn Afghanistan und Iran eher kritischbetrachtet. Pakistan und Afghanistan teilen eine lange,sehr schwierige Geschichte. Wenn man – wie sicher ei-nige Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses – die Ge-legenheit hatte, mit Vertretern dieser beiden Nationen zusprechen, so fällt das tiefsitzende Misstrauen auf beidenSeiten sofort auf. Ohne die grundsätzliche Bereitschaftbeider Staaten, aufeinander zuzugehen, wird mittelfristigkein regionaler Nachbarschaftsprozess gelingen. Wir ha-ben in der Vergangenheit einige ermutigende Zeichenauf diesem Weg gesehen, und wir hoffen, dass beide Sei-ten diesen Weg weiter gehen.

Ich bin deshalb dankbar, dass AußenministerSteinmeier bereits im Juni 2007 in Potsdam eine Initiativegestartet hat, um beide Länder an einen Tisch zu bringen.Es wird in Zukunft in der Region nur dann Frieden geben,wenn beide Seiten bereit sind, Schritte zu gehen, die überdas hinausgehen, was momentan vorstellbar erscheint.Dabei wird die gemeinsame, 2 400 Kilometer langeGrenze, die faktisch nicht zu sichern ist, eine Rolle spie-len. Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht: DieGrenze wurde willkürlich durch die Kolonialherren ge-zogen. Dies kann aber nicht bedeuten, alte Streitigkeitenwieder aufzuwärmen: Auch hier müssen Pakistan undAfghanistan aufeinander zugehen. Es ist bekannt, dassdie Grenzgebiete als Rekrutierungsgebiete für afghani-sche und pakistanische Taliban dienen. Es gibt darüberhinaus auch Erkenntnisse, dass international operierendeTerrorgruppen diesen Rückzugsraum nutzen.

Unabhängig davon, wie wir als Parlamentarier dieneue pakistanische Regierung bewerten: Die Problemesind immens. Jede demokratische Regierung wird auchin naher Zukunft mit den Problemen Islamisierung, Ein-kommensunterschiede, Armut und wirtschaftlicheSchwierigkeiten zu kämpfen haben. Die jetzige Regie-rung Pakistans bietet zumindest die Chance, dass wir alsEuropäer mit Unterstützung, Know-how und Ressourcendem Land beim eigenen Aufbau behilflich sind, aberauch den regionalen Dialog weiter fördern, zum Beispielim Rahmen der Ende September 2008 gegründetenGruppe „Freunde des demokratischen Pakistans“. Ein-seitige Militärschläge helfen sicher nicht weiter – sieverstärken nur die ohnehin vorhandene Abneigung ge-gen den Westen, die in Pakistan weit verbreitet ist undsich insbesondere auf die USA bezieht.

Wirtschaftlich steckt Pakistan in einer erheblichenKrise. Dank eines von der Bundesregierung mit Nach-druck unterstützten Beistandskredits des IWF in Höhevon 7,6 Milliarden US-Dollar konnte im Herbst des Jah-res 2008 ein finanzieller Zusammenbruch des Landesabgewendet werden. Über die Bewältigung der Wirt-schaftskrise hinaus wird die Überwindung der großenEinkommensunterschiede innerhalb des Landes – auchzwischen Stadt und Land – die zentrale Herausforderungfür die demokratische pakistanische Regierung sein. DieBundesregierung ist durch die Gesellschaft für Techni-sche Zusammenarbeit, GTZ, auf diesen Gebieten schonjetzt mit Vorhaben zu Grundbildung, Gesundheit undEnergie tätig. Insgesamt wurde die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit mit Pakistan bei den Regierungs-verhandlungen im vergangenen Jahr verdoppelt. Aus un-serer Sicht setzt die Bundesregierung hier die richtigenSchwerpunkte: Hilfen für die Wirtschaft, insbesonderedurch Mikrokredite; Beratung der örtlichen Verwaltungund Investitionen in die Bildung. Gerade dem Bildungs-bereich sollte aus unserer Sicht in Zukunft noch mehrAufmerksamkeit gewidmet werden. Schließlich ist einBildungssystem für alle Heranwachsenden in Pakistandie beste Garantie gegen die Madrassen, islamistischeKoranschulen, die bereits Kinder indoktrinieren und dieoft nur deshalb frequentiert werden, weil staatlicheSchulen nicht existieren oder zu teuer sind. Armutsbe-kämpfung, Entwicklung und Bildungsmöglichkeitensind die effektivsten, langfristig wirkenden Maßnahmengegen eine drohende Radikalisierung der Bevölkerung.

Die EU hat letztes Jahr die Armutsbekämpfung zumwichtigsten Ziel ihrer Länderstrategie in Pakistan er-klärt. Dabei konzentriert sich die EU in ihrer Zusam-menarbeit auf die ländliche Entwicklung, den nachhalti-gen Umgang mit natürlichen Ressourcen, denBildungssektor und die Qualifizierung staatlichen Perso-nals.

Sosehr wir die Hand reichen zum Dialog und zurHilfe, so sehr müssen wir unsere Ablehnung von gefähr-lichen Kompromissen wie der Wiedereinführung derScharia im Swat-Tal zum Ausdruck bringen. Wir sind inPakistan wie in anderen Teilen der Welt für eine Ent-wicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe, für Verhand-lungen auch mit schwierigen Partnern, für Respekt ge-genüber Traditionen und Werten. Dieser Ansatz findetjedoch da seine Grenzen, wo Menschenrechte unter an-derem von Frauen und Minderheiten buchstäblich mitFüßen getreten werden.

In der Vergangenheit hat auch der pakistanische Ge-heimdienst ISI eine sehr problematische Rolle gespielt.Teile des ISI bildeten einen Staat im Staat und unter-stützten die Entstehung und Entwicklung der Taliban,weil man sich von einem instabilen Afghanistan einenZugewinn an Macht versprach und die Taliban als mög-liche Bündnispartner für eine Auseinandersetzung mitIndien sah. Bis heute ist nicht eindeutig festzustellen,wie stark die Verbindungen zwischen Politik und ISIsind und auf welchen Feldern der ISI nach wie vor ver-sucht, seinen Einfluss zu sichern und die Entscheidun-gen der demokratisch gewählten Regierung Pakistans zubeeinflussen. Hier bleibt die Bundesregierung aufgefor-

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dert, weiterhin energisch auf eine effektive Kontrolle desGeheimdienstes zu dringen.

Sicherlich stellen die Stammesgebiete im Grenzgebietzu Afghanistan, die sogenannten Federally AdmisteredTribal Areas, FATA, neben der sehr schlechten Wirt-schaftslage eine sehr große Herausforderung für Pakis-tan dar. Das pakistanische Militär hat hier einen hohenPreis bezahlt. Pakistanische Gesprächspartner, insbeson-dere Vertreter der Regierung, verweisen immer wiederauf diesen Beitrag im Kampf gegen den internationalenTerrorismus. Aus unserer Sicht war das Vorgehen derRegierung Musharraf und auch das der Bush-Adminis-tration zu sehr auf militärisches Vorgehen beschränkt.Auch ist die pakistanische Armee strukturell überhauptnoch nicht auf die Herausforderungen des internationa-len Terrorismus und der asymmetrischen Kriegsführungeingestellt. Die pakistanische Armee ist immer noch aufeinen potenziellen Großkonflikt mit Indien ausgerichtet.Ohne eine deutliche Neuausrichtung wird die pakistani-sche Armee auch in Zukunft keinen Beitrag zu einer Be-kämpfung von Terrorgruppen in den Stammesgebietenleisten können.

Gleichzeitig sollte die Bundesregierung bei ihrenKontakten zu den pakistanischen Partnern auch weiter-hin mit Nachdruck darauf dringen, die Rückkehr der Ar-mee in die Kasernen zu unterstützen und ihren direktenEinfluss auf die Politik zurückzudrängen. Erfreulichfestzustellen ist, dass im aktuellen Konflikt zwischenOpposition und Präsident das Militär sich nicht hat in-strumentalisieren lassen. Das spannungsgeladene Ver-hältnis zu Indien hat sich seit Amtsantritt der neuen pa-kistanischen Regierung leicht verbessert. So hat diepakistanische Regierung angekündigt, die Doktrin desErsteinsatzes von Nuklearwaffen nicht länger aufrecht-zuerhalten. Weitere Signale deuten darauf hin, dass diepakistanische Seite an einer Normalisierung der Bezie-hungen zu Indien interessiert ist. Die Bundesregierungsollte alles tun, um Pakistan auf diesem Wege zu unter-stützen. Überhaupt könnte eine engere wirtschaftlicheKooperation mit den Nachbarn – insbesondere mit In-dien und China, aber auch mit den zentralasiatischenStaaten sowie dem Iran – zur Stabilisierung der pakista-nischen Wirtschaft beitragen. Diese Zusammenarbeit aufwirtschaftlichem Gebiet könnte in Kombination mit Ko-operation auf anderen Gebieten zum Schlüssel für einfriedliches – oder zumindest friedlicheres – Miteinanderin der Region beitragen.

Aber auch auf politischem Terrain gibt es in der letz-ten Zeit Anzeichen, die eine friedliche Lösung möglich– oder möglicher – erscheinen lassen. Es gibt in Pakistanzunehmend Kräfte, die die Islamisierung des Landesnicht nur rhetorisch ablehnen, sondern auch bereit sind,diesen Tendenzen mutig entgegenzutreten. Dazu gehörtfür viele Experten auch Ministerpräsident Gilani, dersich jüngst für die tatsächliche Wiedereinsetzung desobersten Richters Chaudhry einsetzte. Präsident Zardarihatte die zunächst im Wahlkampf versprochene Wieder-einsetzung behindert. Auch ist ermutigend, dass Zehn-tausende Richter und Anwälte nicht nur damals unterMilitärherrscher Musharraf demonstrierten, sondernauch jetzt in der Demokratie bereit waren, für die freie

Berufsausübung ihrer Kollegen zu demonstrieren. Auchdas Militär hat diesmal hinter den Kulissen für Demo-kratie und Rechtsstaat Partei ergriffen. So hat ArmeechefKayani seinem Präsidenten Zardari frühzeitig signali-siert, dass dieser im Falle einer Eskalation nicht mit derUnterstützung durch die Armee rechnen könne. Dies istdas erste Mal in der jüngsten pakistanischen Geschichte,dass ein Armeechef aufseiten der Demokratie steht.

Bei aller Wachsamkeit gegenüber islamitischen Ten-denzen sollten wir diese Anzeichen auch als Hoffnungverstehen, dass Pakistan seine Angelegenheiten durch-aus aus eigener Kraft bewältigen kann. Wir sollten Pa-kistan auf diesem Wege weiter unterstützen.

Hellmut Königshaus (FDP): Der Ansatz des hiereingebrachten Antrages ist nicht falsch. In Afghanistanhaben wir es nicht mit einem nur nationalen Konflikt zutun, der an den Grenzen des Landes endet. Nicht zuletztPakistan fällt dabei eine bedeutende Rolle zu. Das Landist ein entscheidender Faktor bei der politischen Stabili-sierung Afghanistans. Die pakistanische Regierung hatderzeit offenkundig keine wirksame Kontrolle über dienordwestlichen Grenzprovinzen, in denen 3,5 MillionenEinwohner leben. Stattdessen üben diese Kontrolle ex-tremistische, terroristische und kriminelle Kräfte aus, dieaus dem Grenzgebiet auch nach Afghanistan eindringen,um dort ebenfalls ihren Einfluss auszubauen. Der Ver-such der pakistanischen Regierung, diese Gebiete militä-risch wieder zurückzugewinnen, ist zumindest vorerstgescheitert. Trotz seiner komplizierten innenpolitischenLage darf Pakistan die Kontrolle über diese Region je-doch nicht dauerhaft aus der Hand geben. Der Afghanis-tan-Konflikt ist zwar ein regionaler Konflikt, aber seineUrsachen sind im gesamten zentralasiatischen Raum an-gesiedelt, und er entfaltet auch dort seine Wirkungen.

Eine Sicherheitskonferenz für die Region kann inso-weit zur Lösung der dortigen Probleme beitragen, abersicherlich nicht allein. Dem Antrag fehlen insoweit er-gänzende Maßnahmen und Schritte, die über die Einbe-rufung einer Sicherheitskonferenz hinausgehen. Auchaktuelle Bezüge und geopolitische Konsequenzen feh-len. Zudem ist der Antrag mit seiner verkürzenden Artder Darstellung auch ungeeignet, die Probleme hinrei-chend zu beschreiben und die vorgeschlagenen Lösungs-ansätze nachzuvollziehen.

Die neue US-Administration hat begriffen, dass derKonflikt in Afghanistan längst kein ausschließlich af-ghanischer mehr ist und dass die gesamte Region in derGefahr steht, politisch zu kollabieren. Deshalb sprichtsie mittlerweile von „AfPak“, wenn sie auf die Regionschaut. Das Engagement der US-Administration zeigtnoch einmal deutlich, dass Pakistan essenziell für dieStabilität der gesamten Region ist. Nicht zuletzt mitBlick auf die pakistanischen Nuklearwaffen müssen wirmit unseren Partnern gemeinsam handeln, neue Kon-zepte entwickeln und umsetzen.

Dafür müssen wir aber zunächst die gleiche Sprachesprechen. Dieser Ansatz ist auch im vorliegenden Antragzu finden. Allerdings ignoriert er die Möglichkeit, dasseine solche Konferenz auch scheitern könnte. Und er

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geht auch nicht hinreichend auf die nachfolgendenSchritte ein, sollte eine solche Sicherheitskonferenz fürdie Region erfolgreich verlaufen. Welche Bedeutungwerden die erreichten Ergebnisse haben? Wer verfolgtdie Umsetzung der Vorgaben? Welche Konsequenzenhat die Nichteinhaltung der vereinbarten Vorgaben?

Und damit sind wir bei einem Kernproblem der deut-schen Politik in diesem Bereich; während die USA mitder Ernennung Richard Holbrookes zum Sonderbeauf-tragten für Pakistan und Afghanistan auf diese Kompe-tenzfrage reagiert haben, schafft es die Koalition nichteinmal, sich auf einen Sondergesandten für die Regionzu einigen, der für die gesamte Bundesregierung sprichtund handelt. Im Ergebnis haben wir jetzt einen „Beauf-tragten des Auswärtigen Amtes“, der nur für seinen Mi-nister und sich selbst sprechen darf. So sieht also dievielbeschworene „vernetzte Sicherheit“ in der Realitätdieser Bundesregierung aus. Das hat auch der Beauf-tragte selbst, der ein hervorragender Diplomat ist, sonicht verdient. Es ist traurig, dass ein so wichtigesThema ganz offenkundig allein zu Wahlkampfzweckenmissbraucht wird. Insgesamt lähmt der Wahlkampf mitt-lerweile offenbar die Bundesregierung so stark, dass un-sere außenpolitische Handlungsfähigkeit gefährdet ist.Wir werden so zum Gespött unserer Partner. Das darf sonicht weitergehen.

Eine Sicherheitskonferenz, wie der Antrag sie fordert,kann nur mit einer durchsetzungsfähigen Leitung vonErfolg gekrönt sein. Hillary Clinton hat beispielsweisefür den nächsten NATO-Gipfel gleich auch eine Afgha-nistan-Konferenz einberufen. Diese Handlungsfähigkeitvermisst man leider bei der Bundesregierung. Wir brau-chen jetzt aber gemeinsames und entschlossenes Han-deln aller Partner, um in der Region Fortschritte zu erzie-len. Denn Afghanistan entwickelt sich zurzeit nicht indie richtige Richtung. Auch sieben Jahre nach dem Sturzder Taliban kommt Afghanistan nicht zur Ruhe. Nach ei-nigen vielversprechenden Ansätzen zur Demokratisie-rung und Stabilisierung droht das Land unter den An-schlägen der islamistischen Kämpfer wieder im Chaoszu versinken. Die allgegenwärtige Gewalt und die wirt-schaftliche Stagnation haben in der Bevölkerung einKlima der Hoffnungslosigkeit geschaffen. Eine aktuelleUmfrage zeigt die Zweifel der Afghanen. Unter der all-täglichen Erfahrung von Krieg, Gewalt, Korruption undArmut ist auch das anfangs große Vertrauen in USA undNATO in Resignation umgeschlagen. Das ist das Ergeb-nis einer großen repräsentativen Umfrage, die dasAfghan Institute for Social and Public Opinion Researchim Auftrag von ARD, ABC und BBC durchgeführt hat.Es ist zu befürchten, dass sich die Lage im Laufe desJahres noch einmal verschlimmert, wenn nicht entschie-den gegengesteuert wird.

Der Präsidentschaftswahlkampf macht 2009 zu einemEntscheidungsjahr für Afghanistan. Die neue US-Admi-nistration hat auf die veränderten Vorzeichen bereits re-agiert und ein deutlich verstärktes Engagement inAfghanistan angekündigt. Nun ist auch die Bundesregie-rung gefordert, ihre Afghanistanpolitik zu verstärken,damit 2009 zu einem erfolgreichen Jahr für das Landund für die Region wird.

Die UN-Hilfsorganisationen legten Ende 2008 einenÜberblick über die humanitäre Situation in Afghanistanvor. Die Situation der afghanischen Bevölkerung habesich 2008 verschlechtert, heißt es darin. Die Gründe fürdie Verschlechterung seien in der Hauptsache in derZunahme der Kämpfe, den gestiegenen Nahrungsmittel-preisen und einer akuten Dürre zu sehen. Zu denbekannten Schwierigkeiten tritt verschärfend das Trink-wasserproblem hinzu. Es ist also eindeutig, dass das in-ternationale Engagement für den Wiederaufbau nichtausreicht. Auch die deutschen Beiträge sind im Ver-gleich zu den Leistungen anderer Geber, etwa Kanadas,immer noch viel zu gering. Eine verstärkte entwick-lungspolitische Zusammenarbeit würde auch die Akzep-tanz für die deutsche Präsenz in Afghanistan erhöhenund damit auch die Sicherheit unserer Soldatinnen undSoldaten.

Der Ernst der Lage in Afghanistan zeigt, dass wir allekeine Zeit zu verlieren haben. Die Bundesregierungmuss Schluss machen mit ihrem Wahlkampfgezänk undsich gemeinsam und verstärkt für Afghanistan und dieRegion einsetzen. Der Antrag der Linken ist dabei leiderkeine wirkliche Hilfe.

Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Gerade einenMonat ist es her, dass wir im Bundestag über einen An-trag des Bündnisses 90/Die Grünen diskutiert haben, dernoch zur Zeit der Bush-Administration konzipiert warund die gleiche Frage wie heute aufwarf: Was ist für dieStabilisierung Pakistans notwendig? Ein Jahr zuvor hattees demokratische Wahlen in Pakistan gegeben, dieebenso hoffen ließen wie der Wahlsieg Barack Obamas.Doch nichts ist von dieser Hoffnung geblieben. Pakistanist in keiner guten Verfassung, aber nicht erst seit der Er-mordung Benazir Bhuttos, den Attentaten, die bis aufden Norden Indiens übergreifen, der Einrichtung derScharia in den Grenzgebieten zu Afghanistan auf Druckder Taliban und der Wiedereinstellung der aus dem Amtgejagten Richter unter dem Druck der Straße. Das ist nurder oberflächliche Ausdruck einer seit langem schwelen-den tiefen Krise dieses Landes. Pakistan ist seit langemgezeichnet durch eine dramatische Abwärtsentwicklungder Wirtschaft und das ebenso dramatische Anwachsender Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Fun-damentalisten in den Grenzgebieten zu Afghanistan. Da-hinter tritt der immer noch ungelöste Streit mit Indienum Kaschmir zurzeit in den Hintergrund – er kann jeder-zeit zu neuer gefährlicher Gewalt eskalieren. Pakistan,von den USA als wichtigster Verbündeter gegen den in-ternationalen Terrorismus finanziert und hochgerüstet,ist selbst schon lange zur Quelle des Terrorismus gewor-den.

Es ist klar, dass nicht nur die USA ein vitales Inte-resse daran haben müssen, dass dieser instabile Staatnicht noch weiter zerfällt und sich durch einen erneutenMilitärputsch radikalisiert. Denn dieser Prozess bleibtnicht auf Pakistan begrenzt. Der Souveränitätszerfall Pa-kistans würde auch die Desintegration Afghanistans be-schleunigen und die Gewalt in der Region würde enormeskalieren. Die Folge wäre die zwangsläufige Auswei-tung der Interventionen auf weitere Provinzen Pakistans,

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wie sie die USA soeben schon für den Einsatz vonKampfdrohnen angekündigt haben.

Was kann man dagegen tun? Aus den USA kommtwieder das alte Rezept: 4 bis 5 Milliarden US-Dollarseien unmittelbar notwendig, 1 Milliarde davon für Poli-zei und Militär. Gerade hatte Pakistan 7,6 MilliardenUS-Dollar vom Internationalen Währungsfonds bekom-men. Alle Militärputsche sind mit Milliarden US-Dollarfür die Rüstung belohnt worden. Eines ist daher sicher:Weitere Finanzmittel werden in einem Land mit170 Millionen Einwohnern, in dem eine schmale Schichtüber märchenhaften Reichtum verfügt, die Mehrheitaber in sozialem Elend lebt, nicht die erhoffte Stabilisie-rung bringen. Eine solche Gesellschaft kann man nichtmit Geld sanieren.

Man wird dieser Gesellschaft darüber hinaus auchnicht mehr Sicherheit geben, wenn man weitere17 000 Soldaten in das benachbarte Afghanistan sendetund gleichzeitig die Kampfzonen auf pakistanischemTerritorium ausweitet. Was Afghanistan in sieben JahrenKrieg nicht sicherer gemacht hat, wird auch Pakistankeine Sicherheit bringen.

Viele soziale, ökonomische und politische Maßnah-men wären notwendig, um Pakistan die notwendige ge-sellschaftliche Stabilität zu bringen. Allerdings be-schränken sich Instabilität und steigende Gewalt nichtauf Pakistan, sondern haben die ganze Region ergriffen.Deshalb wird Pakistan nicht so schnell aus sich selbstheraus Stabilität entwickeln – die Probleme sind zu kom-plex und eben nicht auf seine Grenzen beschränkt.

Von außen gibt es bestimmt kein Patentrezept. EineKrise, die nicht auf ein nationales Territorium begrenztist, muss mit einem internationalen Konzept bekämpftwerden. Es müssen die Staaten zusammengeführt wer-den, die direkt oder indirekt von dieser Krise gefährdetwerden. Deshalb erneuern wir noch einmal unseren Vor-schlag einer Konferenz, die die Staaten der Region vonIran über Afghanistan bis China und Indien mit Pakistanan einen Tisch holt, um ein gemeinsames, auf wechsel-seitiger Unterstützung basierendes Sicherheitskonzeptzu entwickeln. – Übrigens wurde solch eine Konferenzjüngst auch in einem Bericht eines US-amerikanischenThink Tanks zu Pakistan gefordert. Sicherheit kann nurmithilfe und der Verpflichtung der Staaten der gesamtenRegion erreicht werden. Und nehmen Sie die neue Ge-sprächsbereitschaft der US-Administration ernst und sa-gen Sie ihr, sie möge die Souveränität Pakistans achtenund von der Ausweitung ihrer Kampfeinsätze Abstandnehmen – aus politischen und aus rechtlichen Gründen.

Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Vor einem halben Jahr hatten wir Grüne an dieser Stelleeine Aktuelle Stunde beantragt mit dem Titel „Pakistanstabilisieren, Völkerrecht beachten“. Damals gab esHoffnung. Es hatte einen demokratischen Machtwechselim Land gegeben. Wir alle warben um Unterstützung derinternationalen Gemeinschaft dafür, die RegierungZardari-Gilani handlungsfähig zu machen. Die Hoffnungist noch da, die Euphorie von damals ist allerdings sehrschnell vergangen – vor allem in Pakistan selbst.

Im Nordwesten von Pakistan, im Swat-Tal, bestim-men inzwischen Scharia-Gerichte anstatt staatlicher In-stitutionen, was richtig und was falsch ist. In Waziristanerleben wir eine zunehmende Talibanisierung und einenZerfall der staatlichen Strukturen, keine 200 Kilometervon Islamabad entfernt. Aber auch in der Hauptstadtzeigt sich Erschreckendes. Die erbitterten Kämpfe zwi-schen den beiden verfeindeten Parteien, der PakistanPeoples Party (PPP) und der Muslim Liga, lähmen dieInnenpolitik.

Es ist unglaublich: Bislang haben wir gehofft, Gene-ral Musharraf zugunsten demokratischer Kräfte ein fürallemal los zu sein. Jetzt scheint die Situation so verfah-ren, dass ausgerechnet er sich wieder als „Retter in derNot“ anbieten kann. Ich appelliere an den PräsidentenZardari und an den Oppositionsführer Sharif, ihre altenGrabenkämpfe endlich ruhen zu lassen und sich zumWohle Pakistans zu einer demokratischen Zusammenar-beit durchzuringen!

Wenn man der gestrigen Ausgabe der New York Timesglauben darf, droht allerdings noch mehr Ungemach.Dort wird von geradezu kontraproduktiven Planungender US-Administration berichtet. Angeblich will sie diebisherigen völkerrechtswidrigen Luftschläge in Pakistannicht nur fortsetzen, sondern sie sogar auf weitere Ge-biete des Landes ausweiten. Gegen diese Luftschläge ha-ben wir uns in zahllosen Anträgen und nicht zuletzt inder Aktuellen Stunde ausgesprochen. Eine Ausweitungdieser Angriffe würde zu nichts anderem als zu einerweiteren Eskalation der Gewalt und einer weiterenSchwächung der staatlichen Institutionen Pakistans füh-ren.

In dem hier zu beratenden Antrag macht es sich dieLinke sehr einfach. Sie fordern eine Regionalkonferenz.Ohne Zweifel muss eine solche Konferenz Bestandteildes regionalen Lösungsansatzes sein, keine Frage. Aller-dings wurde der Antrag inzwischen von der Realitätüberholt: Eine Afghanistan-Konferenz findet statt, Endedes Monats in Den Haag. Mit dabei werden viele Ak-teure aus der Region sein, nicht nur Staaten, sondernauch Nichtregierungsorganisationen und Hilfsorganisa-tionen. Die Zusammensetzung dieser Konferenz zeigtzumindest eine teilweise Abkehr von der bisherigen Au-ßenpolitik der Bush-Ära durch den US-PräsidentenBarack Obama und seine Außenministerin HillaryClinton. Die Vereinten Nationen spielen eine wichtigereRolle als bisher. Der Ansatz ist tatsächlich regional undrichtig, das heißt, man sucht gemeinsam mit den Betei-ligten und deren Nachbarn nach einer Lösung. Und dieshoffentlich unter Beteiligung Irans.

Eine Konferenz alleine wird allerdings nicht ausrei-chen, um die zahlreichen und unterschiedlichen Streit-fragen im Verhältnis zwischen Pakistan und Afghanistansowie zwischen Pakistan und Indien zu lösen. Dazu sindlangfristiger angelegte regionale Initiativen notwendig,die Vertrauen schaffen. Und es braucht übergreifendeÜberlegungen zu regionalen Entwicklungsstrategien,Versöhnungsinitiativen und eine dauerhafte Sicher-heitskooperation in der Region.

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Es wäre völlig falsch, Pakistan ausschließlich aus derPerspektive der Situation in Afghanistan zu betrachten.Pakistan ist ein selbstständiges Land mit über 160 Mil-lionen Einwohnern, ein sehr wichtiges Land in der Re-gion und nicht zuletzt eine Atommacht. Sie aber, meineDamen und Herren von der Linksfraktion, machen wie-der einmal deutlich, dass Sie in der Außenpolitik keinInteresse für Details haben. Sie nutzen das Thema vor al-lem, um Ihre populistische Forderung nach dem soforti-gen und unverantwortlichen Abzug der Bundeswehr ausAfghanistan zu transportieren. Das ist weder sachge-recht, noch ist es der Ernsthaftigkeit der Situation in Pa-kistan angemessen. Wir lehnen Ihren Antrag daher ab.

Diese Substanzlosigkeit des Antrags der Linksfrationentlässt die Bundesregierung allerdings nicht aus derPflicht, uns endlich zu erklären, welche Strategie sie fürPakistan verfolgt. Doch die Koalition ist mittlerweile au-genscheinlich in allen Feldern handlungsunfähig. Essteht zu befürchten, dass sie auch diese wichtige Fragenicht beantwortet.

Anlage 5

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzeszur Änderung des Strafgesetzbuches – Anhe-bung der Höchstgrenze des Tagessatzes beiGeldstrafen (Tagesordnungspunkt 17)

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU): Wie ein Lindwurm schlängelt sich die Bezeich-nung des Gesetzes, das wir in erster Lesung beraten,über zwei Zeilen: Entwurf eines Gesetzes zur Änderungdes Strafgesetzbuches – Anhebung der Höchstgrenze desTagessatzes bei Geldstrafen. Zwei Zeilen, die auf denPunkt gebracht bedeuten: mehr Belastungsgleichheit beiGeldstrafen. Eine Geldstrafe, die ein Strafgericht fest-setzt, ist nur dann gerecht, wenn sie bei gleicher Tat den„kleinen Mann“ nicht stärker belastet als den gut Situier-ten.

Das geltende Recht nimmt bei der Verhängung vonGeldstrafen ohnehin schon Ungleichgewichtigkeiten inKauf. Wird ein Familienvater zu einer Geldstrafe verur-teilt, wird der unschuldige Rest der Familie mitbelastet.Außerdem besteht die Möglichkeit, das Strafübel derGeldstrafe straflos auf Dritte abzuwälzen. Wer eine frei-giebige, vermögende Tante hat, spürt die Last einerGeldstrafe nicht. Außerdem wird das Vermögen privile-giert. Es darf bei der Bemessung der Geldstrafe nur ein-geschränkt herangezogen werden (Bay NJW87, 2029).

Eine Ungleichgewichtigkeit besteht aber auch in derPrivilegierung von Straftätern mit außergewöhnlich ho-hem Einkommen, sofern sie zu einer Geldstrafe verurteiltwerden. Das bei der Geldstrafenbildung zu berücksichti-gende Tagesnettoeinkommen ist nämlich bei 5 000 Eurogedeckelt. Bis zum 2. StrRG vom 4. Juli 1969 wurdeeine Geldstrafe als sogenannte Geldsummenstrafe aus-geworfen. Die Bürger verstanden nicht, warum bei glei-cher Tat ein Verurteilter 500, der andere 5 000 DM zah-

len musste. Seit dem Jahr 1969 gilt nunmehr dassogenannte Tagessatzprinzip. Die Geldstrafe wird nichtmehr in einem Betrag festgesetzt, sondern in Tagen ge-mäß § 40 Abs. 1 des Strafgesetzbuches von fünf Tagenbis 360 Tagen. Nach diesem ersten Zumessungsschrittfolgt der zweite, in dem das tägliche Nettoeinkommendes zu Verurteilenden ermittelt wird. Dabei sind Unter-haltsverpflichtungen zu berücksichtigen, aber Belastun-gen aus Vermögensbildung nicht und Erträge ausVermögen nur eingeschränkt. Das Gericht kann die Ver-mögens- und Einkommenslage schätzen (§ 40 Abs. 3 desStrafgesetzbuches). Durch den zweiten Zumessungs-schritt wird sichergestellt, dass Gering- und Besserver-dienende ihren Einkommensverhältnissen angemessengleiche Vermögensopfer erbringen müssen.

Die Höhe eines Tagessatzes beträgt mindestens 1,höchstens 5 000 Euro. Bei den höchstmöglich verhäng-baren 360 Tagessätzen ergibt sich daraus eine gesetzli-che Höchstgeldstrafe von 1,8 Millionen Euro, der rech-nerisch ein Monatsnettoeinkommen von 150 000 Eurozugrunde liegt. Nun gibt es aber immer mehr Personen,deren Monatsnettoeinkommen diesen Betrag deutlichübersteigt. So entsteht eine Belastungsungleichheit zwi-schen Arm und Reich. Während selbst der Sozialhilfe-empfänger von seinem eigentlich pfändungsfreien Ein-kommen zur Geldstrafenzahlung herangezogen werdenkann, profitiert der Großverdiener von der Deckelungder Tagessatzhöhe auf 5 000 Euro. Dieses Ungleichge-wicht beseitigt der Gesetzentwurf dadurch, dass dieObergrenze der Tagessatzhöhe nach § 40 Abs. 2 Satz 3des Strafgesetzbuches von 5 000 auf 30 000 Euro ange-hoben wird. Damit kann Belastungsgleichheit bis zu ei-nem monatlichen Nettoeinkommen von 600 000 Eurohergestellt werden.

Dieses Gesetz wird zu nicht unerheblichen Mehrein-nahmen bei den Ländern führen. Die Höhe der Mehrein-nahmen lässt sich nicht einmal grob schätzen. Führt aberdie Gesetzesänderung in Deutschland auch nur in fünfFällen zu einer fiktiven Verurteilung von 180 Tagessät-zen á 30 000, Euro ergibt sich daraus eine Mehrein-nahme von 27 Millionen Euro. Damit lässt sich eine vonden Ländern nachhaltig abgewiesene Forderung der Op-ferschutzorganisation Weißer Ring umsetzen, dass näm-lich auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 des EU-Rah-menbeschlusses vom 15. März 2001 10 Prozent derGeldstrafen Opferschutzzwecken zugeführt werden soll-ten. Das wäre nicht nur vor dem Hintergrund des am22. März jedes Jahres anstehenden Tages des Kriminali-tätsopfers eine nicht nur noble Geste. Finanzierbar wäreaber auch die von Kollegen Danckert und mir in unserenReden im Deutschen Bundestag vom 12. Februar 2009erhobene Forderung, einem in U-Haft genommenen Be-schuldigten ab dem Zeitpunkt seiner polizeilichen Fest-nahme (und nicht wie nach bestehendem Recht des§ 140 Abs. 1 Ziff. 5 StPO erst nach dreimonatiger Unter-suchungshaft) einen Pflichtverteidiger beizuordnen.Dies sind zwei rechtspolitische Forderungen, denen mei-nes Erachtens der Vorrang vor fiskalischen Interessender Länder eingeräumt werden muss. Darauf sollten wirin der Ausschussberatung unser Augenmerk lenken.

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Dr. Peter Danckert (SPD): Wir beraten heute Abendin zweiter und dritter Lesung den „Gesetzentwurf derBundesregierung zur Anhebung des Tagessatzes beiGeldstraftaten“. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfsoll die Obergrenze eines Tagessatzes bei Geldstrafenvon bisher 5 000 Euro auf maximal 20 000 Euro angeho-ben werden. Im Zuge der parlamentarischen Beratungenhaben wir die Obergrenze sogar noch auf 30 000 Euroerhöht. Damit stellen wir sicher, dass es auch in Zukunftkein Gerechtigkeitsdefizit im Bereich der Geldstrafengibt.

Das Tagessatzsystem basiert auf dem Gedanken derBelastungsgleichheit und damit dem Grundsatz der ma-teriellen Gerechtigkeit. Die Anzahl der Tagessätze spie-gelt den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat wider. Beieiner Einzeltat kann das Gericht maximal 360 und meh-reren Taten maximal 720 Tagessätze verhängen. DieHöhe des Tagessatzes soll die Belastungsgleichheit si-cherstellen und bemisst sich an den wirtschaftlichen Ver-hältnissen des Täters. Ein Tagessatz entspricht daher inder Regel dem Nettoeinkommen, das dem Täter durch-schnittlich an einem Tag zur Verfügung steht.

Was ist der Hintergrund für diese in meinen Augennotwendige Initiative von Bundesjustizministerin Bri-gitte Zypries zur Anhebung der Höchstgrenze eines Ta-gessatzes bei Geldstrafen? Im Kern geht es darum, Tätermit sehr hohen Einkünften bei der Bemessung der Geld-strafe angemessen erfassen zu können. Seit 1975 ist dassogenannte Tagessatzsystem, mit dem die Höhe einerGeldstrafe festgelegt wird, nicht verändert worden. Vordem Hintergrund der Einkommensentwicklung in denletzten gut 30 Jahren ist die Höchstgrenze des Tagessat-zes von 5 000 Euro nicht mehr zeitgemäß und angemes-sen. Während 1975 ein Tagesnettoeinkommen oberhalbdieser Grenze (damals 10 000 DM) die große Ausnahmedarstellte, mehren sich heute die Fälle, in denen das Ein-kommen des Täters dieses Höchstmaß überschreitet –und zwar deutlich. Spitzenverdiener mit einem Jahres-nettoeinkommen von 6 Millionen Euro trifft somit dieGeldstrafe weniger hart als einen Geringverdiener. Dasist nicht gerecht! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurfschaffen wir die Voraussetzung, dass die Geldstrafe je-den Täter mit gleicher Wirkung trifft. Wir wollen, dassdie Strafe den unterschiedlichen wirtschaftlichen Ver-hältnissen der Täter angepasst wird. Es ist in meinen Au-gen nur gerecht, wenn dem einkommensstarken Tätergrundsätzlich ein vergleichbares finanzielles Opfer ab-verlangt wird wie dem einkommensschwachen Täter.

Aufgrund von verfassungsrechtlichen Bedenken ha-ben wir davon abgesehen, die Obergrenze für einen Ta-gessatz ganz aufzuheben. Im Rahmen der parlamentari-schen Beratungen haben wir allerdings die derzeitigeObergrenze von 5 000 Euro nicht nur wie im Regie-rungsentwurf vorgesehen auf 20 000 Euro, sondern auf30 000 Euro erhöht. Durch eine Anhebung der Höchst-grenze auf ein Tagesnettoeinkommen von 30 000 Eurowerden auch Täter der höchsten Einkommensgruppe an-gemessen erfasst. Zukünftig kann als höchste möglicheGeldstrafe ein Betrag in Höhe von 10,8 Millionen Eurobei einer Einzeltat und von 21,6 Millionen Euro beimehreren Taten verhängt werden; die bisherigen Höchst-

grenzen liegen bei 1,8 bzw. 3,6 Millionen Euro. Dankder Neuregelung geht es auch Besserverdienenden anden Kragen. Und das ist auch gut so!

An dem Grundsatz, dass die schuldangemesseneStrafe nach der Anzahl der Tagessätze zu bemessen istund nicht nach deren Höhe, ändert der vorliegende Ge-setzentwurf nichts. Was sich ändert, ist, dass jetzt auchein Generaldirektor mit einem Jahresnettoeinkommenvon mehreren Millionen Euro, der Steuern in größeremUmfang hinterzogen hat, eine Geldstrafe zu zahlen hat,die auch ihn – jedenfalls im Ansatz – schmerzhaft trifft.Damit schaffen wir mehr Gerechtigkeit.

Gestatten Sie mir zum Abschluss noch folgende Be-merkung. Die Financial Times titelte gestern „FallZumwinkel schreckt ab“. Die Steuerskandale des ver-gangenen Jahres haben bei den Deutschen zu einer leichtverbesserten Steuermoral geführt: Mittlerweile 57 Pro-zent der Bevölkerung sagen, sie würden „auf keinen FallSteuern hinterziehen“. Vor allem die Angst vor Entde-ckung und Strafe schrecke ab. Das ist doch mal eineMeldung, die die Gerichte, die Staatskasse und nicht zu-letzt uns Rechtspolitiker freuen dürfte.

Jörg van Essen (FDP): Mich wundert, dass wirheute über ein Gesetz eine Debatte führen müssen, beidem wir in den Beratungen Einigkeit hatten. Mehr noch:Die in der letzten Sitzungswoche vom Bundesjustiz-ministerium vorgelegte Formulierungshilfe passierte denRechtsausschuss ohne Debatte. Alle Fraktionen habenzugestimmt – nur Die Linke hat sich enthalten. Wiesonun die heutige Debatte? Ist es nicht so, dass wir sehrviel dringendere Dinge haben als die – in der Tat überfäl-lige – Angleichung von Geldstrafen an die heutige Le-benswirklichkeit?

Selbstverständlich – daran möchte ich hier keinenZweifel lassen – sieht auch die FDP-Bundestagsfraktiondie Notwendigkeit einer Anpassung der Höchstgrenzefür Geldstrafen. Der Tagessatz liegt derzeit bei höchs-tens 5 000 Euro. Diese Höchstsumme ist seit Jahrzehn-ten gleich geblieben. Die 1975 eingeführte Regelung istim Lichte der Lebenswirklichkeit im Jahr 2009 damit inder Tat ungerecht. Dabei soll das in § 40 StGB normiertezweiaktige System der Festlegung der Zahl der verwirk-ten Tagessätze und ihrer Höhe gerade sicherstellen, dassdie Geldstrafe nicht nur dem Unrechts- und Schuldgehaltder Tat entspricht, sondern diese Strafe jeden Täter unge-achtet seiner finanziellen Leistungskraft grundsätzlichmit gleicher Wirkung trifft. Es ist daher nur recht undbillig, einem Täter mit einem hohen Nettoeinkommenein vergleichbares finanzielles Opfer abzuverlangen wieeinem einkommensschwachen Täter. Die Anhebung derstrafrechtlichen Tageshöchstsätze ist somit folgerichtig.Damit wird der Entwicklung der vergangenen JahreRechnung getragen, dass die Menschen heute über einweitaus höheres Nettoeinkommen verfügen, als diesnoch in den 70er-Jahren der Fall war.

Ich verhehle nicht, dass ich im Lichte des zuvor Ge-sagten auch Sympathien für den Ansatz des Bundesratesund auch des DAV hatte, die Obergrenze vollkommenaufzuheben. Dies hätte den Vorteil, dass eine erneute

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Anpassung des § 40 StGB künftig nicht mehr notwendigwerden würde. Auch würden mit der vollständigen Auf-hebung der Obergrenze alle Straftäter – auch mit extremhohen Einkommen – nach ihrer vollen Leistungsfähig-keit belastet werden. Die FDP-Bundestagsfraktionnimmt aber den Hinweis der Bundesregierung aufArt. 103 Abs. 2 GG – Bestimmtheitsgrundsatz – sehrernst. Es wäre nichts erreicht, wenn wir hier eine Rege-lung schaffen würden, die Gefahr liefe, mit dem Grund-gesetz unvereinbar zu sein. Der Rechtsprechung desBundesverfassungsgerichts ist unbedingt Rechnung zutragen.

Der von dem Bundesjustizministerium vorgelegteKompromissvorschlag ist ein guter und gangbarer Weg.Mit der jetzt gefundenen Regelung steigt der möglicheHöchstbetrag einer Geldstrafe auf 10,8 Millionen Eurobei einer Einzeltat und auf 21,6 Millionen Euro bei Tat-mehrheit. Das sind keine Peanuts!

Ich möchte die Gelegenheit aber nutzen, auf die in derletzten Woche von dem Deutschen Institut für Wirt-schaftsforschung, DIW, vorgestellte Studie zu 40 JahrenStrafrechtsreform zu sprechen kommen. Diese zeigt zumeinen die weiter zunehmende Bedeutung von Geldstra-fen. Sie zeigt damit, dass dieses Gesetzgebungsverfahrenin der Praxis Bedeutung hat. Zum anderen kommt dieStudie aber in meinen Augen zu einem sehr alarmieren-den Befund: Die Autoren der Studie kamen so unter an-derem zu dem klaren Schluss, dass es auf Täter negativwirke, dass zunehmend Verfahren eingestellt werden.Das Problem ist: Seit der Strafrechtsreform 1969 hat dieZahl der Verfahrenseinstellungen massiv zugenommen.Vor diesem Ergebnis dürfen wir die Augen nicht ver-schließen! Die Überschrift „Verbrechen lohnt sich zuoft“ einer Tageszeitung zu der Studie hat mich sehr be-unruhigt.

Abschreckend wirken nach Erkenntnissen der Studievor allem hohe Aufklärungs- und Verurteilungsraten.Daher ist es essenziell, dass wir bei den Ermittlungsbe-hörden nicht den Rotstift ansetzen. Dass dabei gar nichtso sehr die Härte des Urteils die Kriminalitätsentwick-lung beeinflusst – das sage ich ganz bewusst in Richtungder Vertreter der Unionsfraktionen –, habe ich übrigensmit großem Interesse gelesen. Dieses werden wir beimanch kommender Diskussion über Strafrahmenver-schärfungen im Hinterkopf haben müssen. Vielmehrkommt die Studie zu dem klaren Ergebnis, dass Strafver-urteilung dann wirkt, wenn auf die Straftat die Strafe aufdem Fuße folgt. Eine Feststellung, die ich auch aufgrundmeiner Erfahrung als früherer Oberstaatsanwalt nur un-eingeschränkt bestätigen kann. Hoher Verfolgungsdruckwirkt besser als hohe Strafrahmen. Wichtig ist gerade beijungen Menschen, dass die Strafe auf dem Fuße folgt.

Umso schlimmer ist es, wenn bei leichten und mittle-ren Delikten laut der Studie immer mehr Verfahren ein-gestellt werden. Die hohen Zahlen der Verfahrenseinstel-lungen sehe ich mit großer Sorge. VorschnelleVerfahrenseinstellungen sind das falsche Signal an dieTäter und ein Schlag ins Gesicht für die Opfer. Dies giltumso mehr, als im Bereich der „kleinen Sünden“, alsoim Ordnungswidrigkeitenrecht, unbarmherzig zuge-

schlagen wird. Es ist heute leichter, bis in den Bereichder mittleren Kriminalität ungeschoren mit einer Verfah-renseinstellung wegen Geringfügigkeit ohne Geldauf-lage davonzukommen als nach einem völlig belanglosenkleinen Verstoß im Straßenverkehr. Auch da wird dieGerechtigkeit auf den Kopf gestellt. Es wird Zeit, dasswir den Abschnitt Rechtsfolgen der Tat im Strafgesetz-buch und im Ordnungswidrigkeitenrecht noch einmalgenauer unter die Lupe nehmen. Hier besteht Hand-lungsbedarf.

Ulrich Maurer (DIE LINKE): Mit dem vorliegendenGesetzentwurf der Bundesregierung sollte das Höchstmaßfür einen Tagessatz bei einer Geldstrafe von 5 000 Euroauf 20 000 Euro angehoben werden. Die Beschlussemp-fehlung des Rechtssauschusses sieht nunmehr eine An-hebung auf 30 000 Euro vor. Wir werden uns enthalten,weil nicht einsichtig ist, warum es überhaupt eine Ober-grenze gibt und weiter geben soll. Richtig wäre deren er-satzlose Streichung gewesen.

Die Höhe eines Tagessatzes orientiert sich an den per-sönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters.Dabei soll das Gericht in der Regel das durchschnittlicheNettoeinkommen, das der Täter an einem Tag hat oderhaben könnte, zugrunde legen. Dies zielt auf die Herstel-lung von Opfergerechtigkeit bzw. -gleichheit. Der „Rei-che“ soll durch die Strafe möglichst gleich hart getroffenwerden wie der „Arme.“ Dieses Ziel – das hat die Bun-desregierung zutreffend erkannt – ist mit einem Höchst-betrag von 5 000 Euro nicht zu erreichen. Man brauchtsich lediglich die absurden Auswüchse bei der Manager-vergütung in Erinnerung zu rufen. Es gibt Menschen, diedeutlich mehr als 5 000 Euro pro Tag verdienen.

Es gibt aber (leider) auch Menschen, die mehr als30 000 Euro pro Tag verdienen, besser gesagt: bekom-men. Dass diese Menschen nicht nach ihrer tatsächlichenLeistungsfähigkeit belangt werden sollen, ist grob unge-recht. Die materiell Privilegiertesten in dieser Gesell-schaft werden durch die künstliche Deckelung derHöchstgrenze nochmals begünstigt. Dabei wird der„Reiche“ die Geldstrafe ohnehin stets leichter verkraftenals der „Arme“, weil er über Möglichkeiten verfügt, dieder „Arme“ nicht hat. Er hat Rücklagen und Ersparnisse,einsetzbares sonstiges Vermögen, Sicherheiten für eineKreditaufnahme und so weiter. Warum also die unan-ständig Reichen durch eine Obergrenze zusätzlich privi-legieren? Für unsere Fraktion sind keine überzeugendenGründe erkennbar.

Die von der Bundesregierung vorgebrachten verfas-sungsrechtlichen Scheinargumente wurden vom Bundesratin seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf aus zutreffen-den Gründen zurückgewiesen. Die in Bezug genommeneEntscheidung des Verfassungsgerichts zur Vermögens-strafe lässt sich auf den hier interessierenden Bereichnicht übertragen. Die Haltung der Bundesregierung wärenur verständlich, wenn sie annähme, dass Menschen miteinem Tageseinkommen von über 30 000 per se nichtkriminell werden oder sich jedenfalls der Strafverfol-gung erfolgreich entziehen können.

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Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Einevon einem Strafgericht verhängte Freiheitsstrafe trifft je-den Straftäter gleich. Ein Jahr Freiheitsentzug belastetjeden gleich, zumindest dem Grundsatz nach; denn Frei-heit und Lebenszeit sind grundsätzlich gleich viel wert.Bei einer Geldstrafe ist dies völlig anders. 1 000 EuroGeldstrafe sind für einen Armen sehr viel und für einenReichen sehr wenig. Deshalb haben wir in Deutschlandein zweistufiges Geldstrafensystem. Zuerst wird dieGeldstrafe einem Freiheitsentzug angenähert und erst ineiner zweiten Stufe in Geld umgerechnet. In der erstenStufe entscheidet das Gericht über die schuldangemes-sene Strafe von – in diesem Fall – 100 Tagen bzw. Ta-gessätzen. Danach wird das Tagesnettoeinkommen er-mittelt und mit der Anzahl der Tage multipliziert. ImErgebnis ist ein Jahr Freiheitsstrafe immer ein Jahr Frei-heitsstrafe, aber 1 000 Euro Geldstrafe für einen könnensehr wohl das Gleiche sein wie 15 000 Euro für einenanderen.

Das geltende Recht kennt eine Höchstgrenze der Ta-gessätze von 360 und eine Höchstgrenze eines einzelnenTagessatzes, also ein höchstes zu berücksichtigendes Ta-gesnettoeinkommen von 5 000 Euro. Diese Regelungbevorzugt alle Straftäter, die mehr als 5 000 Euro täglichnetto einnehmen. Dies war vor Jahren ein Randproblem,ist es aber heute nicht mehr. Deshalb begrüßen wir Grü-nen den Gesetzentwurf, mit dem die Höchstgrenze desTagesnettoneinkommens auf 30 000 Euro angehobenwird.

Auf eine völlige Aufhebung der Obergrenze desHöchstsatzes hat die Bundesregierung verzichtet, umeventuellen Zweifeln an dem Bestimmtheitsgrundsatzim Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und der diesbezügli-chen Rechtsprechung des BundesverfassungsgerichtsRechnung zu tragen, obwohl sie selbst von diesen Zwei-feln nicht sehr überzeugt ist.

Das sehen der Deutsche Richterbund und der Deut-sche Anwaltsverein anders. Sie meinen, dass eine zif-fernmäßige Begrenzung der Tagessatzhöhe nicht erfor-derlich sei und auch vom Bundesverfassungsgerichtnicht gefordert werde. Zur Vorhersehbarkeit der Strafereiche es aus, wenn die Tagessatzanzahl durch das Ge-setz bestimmt bleibe. Der DAV sieht bei Beibehaltungder Obergrenze sogar die Gefahr, dass auf unbeschränkteGeldauflagen ausgewichen wird und damit wieder mehrkurze Freiheitsstrafen verhängt werden.

Verlassen wir doch einmal die intellektuell hochinteres-sante Verfassungsdebatte und mühen uns hinab in die Re-alität der Praxis. Bei einer Tagessatzhöhe von 30 000 Eurosprechen wir von einem monatlichen Nettogehalt von900 000 Euro. Das entspricht einem Jahreseinkommenvon 10 800 000 Euro netto. Dieses Einkommen hat wederein Josef Ackermann mit einer Jahresvergütung von brutto13,2 Millionen Euro noch ein Klaus Zumwinkel mit einemEinkommen von gut 4 Millionen Euro brutto. Selbst an-dere Spitzenmanager mit einem Jahresnettoeinkommenvon 6 Millionen Euro bleiben mit einem Tagessatz von16 667 Euro weit unter der Höchstgrenze im Gesetzent-wurf; nicht zu vergessen, dass wir hier von Gehälternsprechen, die 0,001 Prozent der Bevölkerung erhalten.

Ob diese Spitzengehälter auch verdient sind, will ich indieser Debatte nicht bewerten.

Eine Anhebung der Höchstsätze ist wichtig und rich-tig. Die Höchstgrenze von 30 000 Euro reicht aus, umselbst sehr hohe Einkommen abzudecken und eine ge-rechte Strafe zu verhängen. Wir werden diesem Gesetzdeshalb zustimmen.

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz: Mit dem Ihnen heute vorliegen-den Gesetzentwurf wollen wir die Höchstgrenze des Ta-gessatzes bei Geldstrafen von 5 000 auf 30 000 Euroanheben. Hierbei handelt es sich nur scheinbar um eineeher unbedeutende Änderung in unserem Sanktionensys-tem. Tatsächlich bedeutet diese Änderung: wieder mehrGerechtigkeit bei der Verhängung von Geldstrafen unddamit mehr Gerechtigkeit bei der Anwendung unseresStrafrechts. Ich freue mich daher, dass der Entwurf beiden Beratungen im Rechtsausschuss eine breite und überdie Koalitionsgrenzen hinausgehende Zustimmung er-fahren hat.

Was ist nun der Hintergrund der Anhebung des soge-nannten Tagessatzes? Wir wollen mit der Anhebung derHöchstgrenze des Tagessatzes auch Täter mit sehr hohenEinkünften bei der Bemessung der Geldstrafe wieder an-gemessen erfassen können. Es handelt sich hierbei umein Vorhaben, das wir unter anderem vor dem Hinter-grund des „Mannesmann-Verfahrens“ und der „Liech-tenstein-Affäre“ angestoßen haben. Sollte sich aber he-rausstellen, dass strafrechtlich relevantes Fehlverhaltenvon Spitzenmanagern mitursächlich war für die aktuelleFinanz- und Wirtschaftskrise, wäre dies ein weiterer Be-leg dafür, dass die vorgeschlagene Änderung notwendigist, um künftige Vorkommnisse dieser Art – Strafver-schärfungen können natürlich immer nur für die Zukunftwirken – noch angemessener ahnden zu können.

Dabei möchte ich allerdings gleich zu Beginn einmögliches Missverständnis ausräumen: Selbstverständ-lich ändert der Entwurf nichts an der geltenden Rechts-lage, wonach bei besonders schweren Taten eine Frei-heitsstrafe zu verhängen ist. Es geht also nicht etwadarum, dass sich reiche Täter von einer an sich gebote-nen Freiheitsstrafe „freikaufen“ können. Mit dem Vor-schlag stellen wir vielmehr sicher, dass in den Fällen, indenen das Gericht eine Geldstrafe für angemessen undausreichend hält, es auch in Zukunft kein Gerechtig-keitsdefizit hinsichtlich der konkreten Höhe dieser Strafegibt.

Zum Verständnis der Änderung möchte ich kurz dasim deutschen Strafrecht seit langem geltende sogenannteTagessatzsystem erläutern: Eine gerechte Geldstrafe hatnicht nur dem Schuldgehalt der Tat zu entsprechen, siesoll auch jeden Täter gleich schwer treffen. Deshalbmuss der einkommensstarke Täter für dieselbe Tat eineinsgesamt höhere Geldstrafe zahlen als der einkommens-schwache. Daher bemisst das Gericht bei der Bestim-mung der Geldstrafe die Zahl der Tagessätze amUnrechts- und Schuldgehalt der Tat; die Höhe des Tages-satzes legt es hingegen unter Berücksichtigung der wirt-schaftlichen Verhältnisse des Täters fest. Dabei geht es

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in der Regel von dem Nettoeinkommen aus, das der Tä-ter durchschnittlich an einem Tag erzielt oder erzielenkönnte.

Belastungsgleichheit und damit materielle Gerechtig-keit können wir hier nur erreichen, solange nicht das täg-liche Nettoeinkommen des Täters die Obergrenze einesTagessatzes – womöglich deutlich – übersteigt. Ein Spit-zenverdiener mit einem Jahresnettoeinkommen von über3 Millionen Euro und damit einem Tagesnettoeinkom-men von fast 9 000 Euro kann den derzeitigen Höchst-satz von 5 000 Euro in der Regel zwar auch nicht aus derberühmten „Portokasse“ bezahlen. Diese Sanktion ist fürihn aber nicht mehr vergleichbar spürbar wie für einendurchschnittlich verdienenden Täter, dessen Tagesnetto-einkommen von, sagen wir, 100 Euro durch einen ent-sprechenden Tagessatz von 100 Euro voll aufgezehrtwird.

Die Erhebungen des Statistischen Bundesamts bele-gen nun – zusätzlich zu den eingangs erwähnten Ein-zelfällen –, dass die seit 1975 im Kern unveränderteTagessatzobergrenze von 5 000 Euro – 1975 waren es10 000 DM – der heutigen Entwicklung von Spitzenein-kommen nicht mehr gerecht wird. Danach kann manselbst bei zurückhaltender Bewertung davon ausgehen,dass sich die Zahl der Personen, die über ein täglichesNettoeinkommen von mehr als 5000 Euro verfügen, inden letzten dreißig Jahren mindestens verachtfacht hat.Während 1974 nur das Einkommen von 88 Steuerpflich-tigen klar über dieser Grenze lag, waren dies in den letz-ten Jahren deutlich mehr als 700 Personen. Natürlichwird es trotz dieses Anstiegs auch in Zukunft nur wenigeEinzelfälle geben, in denen wir es mit Straftätern in die-ser extremen Einkommensklasse zu tun haben. Ich haltees aber für wichtig, dass unser Strafrecht gerade auch beidiesen wenigen, zumeist sehr publikumswirksamen Ein-zelfällen verdeutlicht, dass es besonders einkommens-starke Täter keinesfalls privilegiert, sondern auch hiereine angemessen hohe Strafe ermöglicht.

Die vorgesehene Versechsfachung der Tagessatzober-grenze von 5 000 auf 30 000 Euro wird dies gewährleis-ten. Sie wird im Ergebnis dazu führen, dass als höchstemögliche Geldstrafe zukünftig ein Betrag von 10,8 Mil-lionen Euro bei einer Einzeltat und von 21,6 MillionenEuro bei mehreren Taten verhängt werden kann. Nur alsVergleich, ohne dass ich damit natürlich diese Berufs-gruppe unter den Verdacht stellen will, eine potenzielleTätergruppe zu sein: Nach einer aktuellen Studie desBundesanzeigers liegt das durchschnittliche Bruttoein-kommen eines Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Unter-nehmens doch deutlich darunter, nämlich bei etwa5 Millionen Euro, inklusive Boni, was bei steuerlichenAbzügen von etwa der Hälfte circa 2,5 Millionen Euronetto bedeuten dürfte.

Von einer völligen Aufhebung der Obergrenze habenwir hingegen bewusst abgesehen. Wir wollen damit et-waige Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit derNeuregelung von vorneherein ausschließen. In seinerrecht restriktiven Entscheidung zur Vermögensstrafe– BverfG-Urteil vom 20. März 2002 (2 BvR 794/95) –hat das Bundesverfassungsgericht nämlich verlangt, dass

der Gesetzgeber dem Strafrichter bei der Strafzumes-sung grundsätzlich eine „fallunabhängige abstrakte Be-lastungsobergrenze“ vorgeben müsse. Konkret zu § 43 aStGB hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit mo-niert, dass dieser auf einen „seinem Betrag nach vonvornherein festgelegten Strafrahmen“ verzichte. Zwarsprechen gute Gründe dafür, dass trotz dieser Vorgabenauch eine völlige Aufhebung der Obergrenze keinenVerstoß gegen das Bestimmtheitsgebot darstellen würde.Denn die vom Bestimmtheitsgrundsatz geforderte Fest-legung der Grenzen der Rechtsfolgen wird bei der Geld-strafe in erster Linie durch die Vorgabe eines festenRahmens für die Zahl der Tagessätze erfüllt. Dennochwollten wir hier kein Risiko eingehen, zumal die jetztvorgesehene deutliche Erhöhung – ich hoffe, dies habenmeine Ausführungen verdeutlicht – auch bei Tätern mitsehr hohen Einkommen in Zukunft wieder eine weitest-gehend belastungsgleiche Bestrafung ermöglichen wird.

Anlage 6

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung desEinlagensicherungs- und Anlegerentschädi-gungsgesetzes und anderer Gesetze

– Antrag: Reform der Anlegerentschädigungin Deutschland

– Beschlussempfehlung und Bericht: Verbrau-cherschutz auf den Finanzmärkten stärken

(Tagesordnungspunkt 19 a bis c)

Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Den unsvorliegenden Gesetzesentwurf möchte ich in zweiAbschnitte unterteilen: Der erste Teil ist die Umsetzungeiner EU-Richtlinie vom Dezember 2008. Mit ihr soll-ten, vor dem Hintergrund der Finanzkrise, Anleger vonSparguthaben und anderer Einlagen besser abgesichertwerden. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Aufstockung dergesetzlichen Mindestdeckung für diese Einlagen. Sie sollab dem 30. Juni 2009 50 000 Euro statt zuvor 20 000 Eurobetragen. Die bisherige 10-prozentige Selbstbeteiligungfällt komplett weg. Des Weiteren prüft die EU eine wei-tere Erhöhung der Mindestabdeckung auf 100 000 Euro.

Eine zusätzliche Maßnahme wird sein, dass die Aus-zahlungsfristen an Sparer im Entschädigungsfall starkverkürzt werden sollen, von zuvor drei Monaten auf nun20 Werktage, in besonderen Fällen höchstens 30 Werk-tage.

Dieser Teil des Entwurfes entspricht größtenteils derEU-Richtlinie und ist also entsprechend umzusetzen. Inmeinen Augen ist das nicht sehr problematisch, LassenSie mich aber trotzdem noch ein paar Anmerkungendazu machen.

Erstens. Ich bin der Meinung, der komplette Wegfall deruns bekannten Selbstbeteiligung in Höhe von 10 Prozentim Falle einer Entschädigung sollte zumindest diskutiertwerden. Die Abschaffung lähmt meiner Meinung nachdie Eigenverantwortung bei der Auswahl der Finanz-

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anlage. Es werden beim Kauf bestimmter Produkte Garan-tieversprechungen suggeriert, die nur die Bereitschaftstärken, ein höheres Risiko einzugehen. Eine Entschädi-gungseinrichtung werde im Notfall ja schon einspringen.Ich sehe hier eine ganz problematische Denkweise! DiePleite des Wertpapierhandelsunternehmens Phoenix istdafür das beste Beispiel. Auch hier wurden Anleger mitunseriösen Garantieversprechungen gelockt und betro-gen.

Zweitens. Die Verkürzung der Frist, in der eine Insol-venz durch die Behörden festgestellt wird, soll sich auffünf Tage reduzieren. Das finde ich schon sehr knapp. Dasgilt auch für die Auszahlungsfrist von maximal 30 Tagen.Es ist zu prüfen, ob ein geordnetes Entschädigungsver-fahren mit dieser kurzen Frist überhaupt möglich ist.

Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil des Entwurfeskommen, zur Reform der Entschädigungseinrichtungenin der deutschen Finanzwirtschaft. In meinen Augensollte dieser Teil von der doch relativ unproblematischenUmsetzung der EU-Richtlinie getrennt und in einem ei-genen Gesetz verabschiedet werden. Warum?

Ich sehe hier noch einigen Diskussionsbedarf, denn dasThema Anlegerentschädigung ist einfach sehr komplex.Außerdem ist das Problem Phoenix, bei dem Anleger aufbetrügerische Weise getäuscht und mit Garantieverspre-chungen gelockt wurden, immer noch nicht gelöst. Solange können wir auch nicht eine Anlegerentschädigungs-einrichtung – genauer die Entschädigungseinrichtung fürWertpapierhandelsunternehmen, kurz EdW – reformieren.Mindestens drei gerichtliche Verfahren sind noch anhän-gig und die Entschädigungsmodalitäten immer nochnicht richtig geklärt. Erst muss dieses Problem gelöst sein,dann kann auch die entsprechende Einrichtung reformiertwerden.

Dieser Teil des Gesetzesentwurfes hat noch einigeweitere kritische Punkte: Erstens. Es soll unter anderemein sogenanntes risikoorientiertes Beitragssystem einge-führt werden, mit dem sich die Entschädigungseinrichtun-gen in Zukunft finanzieren sollen. Eine gute Idee, aberwelche Höhe werden diese Beiträge wohl haben? Gibt eseinen Grundbeitrag plus einen Anteil vom Umsatz? Aberwas ist mit den kleinen Wertpapierunternehmen? Zu hoheBeiträge können schnell die Existenz gefährden. Daskönnte kritisch werden. Deshalb sollte uns recht bald einVorschlag für eine geplante Beitragsordnung vorliegen.

Zweitens. Der Entwurf enthält keine Versicherungs-lösung für Vermögensverwalter. Das sind Institutionen,die im Auftrag Vermögen verwalten und anlegen. Wa-rum keine Versicherungslösung? Nach Aussagen desBundesfinanzministeriums wäre diese nicht konform mitEU-Recht. Das ist nach meinen Informationen nicht nach-vollziehbar. Eine Zwangsmitgliedschaft für Vermögens-verwalter, wie sie die EU-Richtlinie vorsieht, bedeutetdoch nicht, dass diese nicht durch eine Versicherung er-setzt werden könnte. Solch eine Haftpflichtversicherungist in den meisten freien Berufen schon längst üblich undvorgeschrieben. Das wäre auch für die Vermögens-verwalter ein geeignetes Modell. Eine solche Haft-pflichtversicherung muss weiter geprüft werden.

Drittens. Wie sieht es mit der Nachhaftung für ausge-schiedene Mitglieder aus? Was passiert nach Festsetzungdes Entschädigungsfalls? Dieser Punkt ist weiter unklar.

Die nächsten Gespräche werden zeigen, wie wir inDeutschland die Einlagensicherung und Anlegerentschä-digung noch besser reformieren können.

Jörg-Otto Spiller (SPD): Der große Themenkom-plex „Lehren aus der Finanzmarktkrise“, also etwas pau-schal gesagt: die Frage nach dem international zu verab-redenden und national umzusetzenden Regelwerk, daszur Wiederherstellung von Stabilität und Vertrauen ge-eignet ist, wird den Bundestag in den nächsten Monatenund vermutlich über die Wahlperiode hinaus noch aus-giebig beschäftigen. Bei dem Teilaspekt des Sparer- undEinlagenschutzes, um den es im vorliegenden Gesetzent-wurf geht, ist der Entscheidungs- und Handlungsbedarferfreulicherweise weitaus geringer. Denn die Kunden-einlagen bei deutschen Kreditinstituten sind seit langemso gut abgesichert wie kaum irgendwo sonst auf derWelt. Bei nahezu allen deutschen Kreditinstituten gehtdie Einlagensicherung auch wesentlich über das Maß hi-naus, das Gesetz und EU-Richtlinie als Mindestabsiche-rung vorschreiben.

Einer unbeschränkten Garantie unterliegen die Kun-denforderungen an Sparkassen und Genossenschaftsban-ken. Denn alle Sparkassen haben sich verpflichtet, fallsnötig, füreinander einzustehen und keine Sparkasse in-solvent werden zu lassen. In diesen Haftungsverbundsind übrigens auch die Landesbausparkassen einbezo-gen. Ganz ähnlich konzipiert ist die Bestandssicherungder Genossenschaftsbanken. Die meisten – allerdingsnicht alle – privaten Banken gehören freiwillig dem Ein-lagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscherBanken an. Auch er bietet ein sehr hohes Maß an Absi-cherung. Geschützt sind alle Einlagen von sogenanntenNichtbanken, also von Privatpersonen, Wirtschaftsunter-nehmen und öffentlichen Stellen. Zu den gesichertenGuthaben gehören neben den Sicht-, Spar- und Termin-einlagen auch auf den Namen lautende Sparbriefe, aller-dings keine Inhaberpapiere wie zum Beispiel Inhaber-schuldverschreibungen und -zertifikate.

Summenmäßig gibt es formal eine Begrenzung. ProKunde werden Einlagen bis zu insgesamt 30 Prozent deshaftenden Eigenkapitals seiner Bank garantiert. In derPraxis heißt das, der Schutz ist summenmäßig so gut wieunbegrenzt. Denn schon die kleinste Bank in Deutsch-land benötigt, um überhaupt zugelassen zu werden, einEigenkapital von 5 Millionen Euro. Selbst bei einem sokleinen Institut gilt also ein Schutz von 1,5 MillionenEuro pro Kunde. Die gesetzlich bisher vorgeschriebeneMindestgarantie von bis zu 20 000 Euro pro Kunde istwesentlich geringer. Für die Kunden der meisten deut-schen Banken wird sich materiell also durch die Neure-gelung nichts ändern.

Vor allem soll mit dem Gesetzentwurf die Änderungder EU-Einlagensicherungsrichtlinie in deutsches Rechtumgesetzt werden, auf die sich die EU im Dezember2008 aufgrund der weltweiten Finanzmarktkrise geeinigthat. Spätestens ab dem 30. Juni 2009 soll die Mindest-

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deckung für Einlagen auf 50 000 Euro angehoben unddie bisherige Selbstbeteiligung von Anlegern in Höhevon 10 Prozent abgeschafft werden. Ab dem 31. Dezem-ber 2010 ist eine weitere Anhebung auf 100 000 Euround eine Verkürzung der Auszahlungsfrist auf höchstens30 Arbeitstage vorgesehen.

Der Gesetzentwurf zielt auch darauf ab, die Entschädi-gungseinrichtungen in Deutschland krisenfester zu ma-chen. Er enthält verbesserte Regelungen zur Früherken-nung von Risiken und der Schadensprävention. Um dieGefahr des Eintritts eines Entschädigungsfalls bessereinzuschätzen, werden die Entschädigungseinrichtun-gen verpflichtet, bei den ihnen zugeordneten Institutenregelmäßig Prüfungen vorzunehmen.

Frank Schäffler (FDP): Vor etwas mehr als einemJahr haben wir hier den Antrag der FDP-Fraktion „Kon-sequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix GmbH“– Bundestagsdrucksache 16/5786 – diskutiert. Die An-legerentschädigungsrichtlinie der EU, die Grundlage fürdas deutsche System der Anlegerentschädigung ist, be-trifft die Verbindlichkeiten aus Wertpapiergeschäften.Die deutsche Umsetzung im Einlagensicherungs- undAnlegerentschädigungsgesetz ist jedoch nicht tragfähig,wie der Fall Phoenix zeigt. Bereits vor einem Jahr wardie Untätigkeit der Koalition in diesem Entschädigungs-fall mit 30 000 betroffenen Anlegern skandalös. Den-noch wurde unser Antrag von allen Fraktionen abge-lehnt. Seitens der Koalition wurde auf ein Gutachtenverwiesen, das man abwarten wolle. Sie haben das Gut-achten nicht nur abgewartet, sondern direkt nach derVorlage des Gutachtens, das umfassenden Reformbedarfbei der Anlegerentschädigung nachgewiesen hat, weitergewartet.

Was die Bundesregierung für die heutige Beratungvorgelegt hat, ist – soweit es die Anlegerentschädigungbetrifft – ein reines Mini-Reparaturgesetz. Die Bundes-regierung hat in Person der Entschädigungseinrichtungder Wertpapierhandelsunternehmen, EdW, vor demVerwaltungsgericht Berlin im September 2008 eine kra-chende Niederlage erlitten. Die Erhebung der Sonderbei-träge bei den Zwangsmitgliedern der EdW ist rechtswi-drig. Darauf reagiert die Bundesregierung nun mitkleinen Korrekturen im Bereich der Anlegerentschädi-gung. Das Grundproblem, dass die EdW nicht tragfähigist, wird dadurch nicht gelöst. Selbst wenn die Erhebungder Sonderbeiträge auf dieser Grundlage vor Gericht Be-stand hätte, wäre die EdW dennoch nicht in der Lage, dieEntschädigung im Fall Phoenix zu finanzieren. Wir for-dern daher eine umfassende Reform der Anlegerentschä-digung.

Wir fordern aber auch, dass die Bundesregierung end-lich ein Konzept vorlegt, wie der Fall Phoenix gelöstwerden kann. Die Bundesregierung steht deshalb in derVerantwortung, weil sie das unzureichende deutscheAnlegerentschädigungsgesetz und die Schlamperei derBundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin,politisch zu vertreten hat. Sie muss handeln, damit dieUnsicherheit über drohende existenzgefährdende Son-

derbeiträge endlich von den EdW-Mitgliedern genom-men wird.

Sie muss auch handeln, damit die betroffenen Anlegerendlich ihr Geld bekommen. Diese Menschen wolltenauf Nummer sicher gehen und haben sich auf die Aus-sage, 20 000 Euro seien gesetzlich geschützt, verlassen.Diese Anleger dürfen Sie nicht länger im Regen stehenlassen. Das Verhalten seitens der Bundesregierung und derKoalition ist nicht hinnehmbar: Statt einer vernünftigenEntschädigung gibt es nur Teilentschädigungen, die wieim Lotterieverfahren innerhalb von zweieinhalb Jahrenausgezahlt werden sollen. Wer Glück hat, bekommt seinGeld jetzt, wer Pech hat, muss warten. Aber dasSchlimmste ist, dass Sie tatenlos zusehen, wie diese Bür-ger nun Post vom Finanzamt bekommen: Sie sollen ihrverlorenes Geld auch noch versteuern. Das zeigt die Ab-surdität der Politik dieser Koalition.

Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Bundesregierungwill die gesetzlich gesicherte Mindestsumme für Spar-einlagen und Wertpapiere erhöhen. Ab dem 30. Juni2009 sollen 50 000 Euro pro Person garantiert sein, abdem 1. Januar 2011 sogar 100 000 Euro. Bisher lag dergesicherte Betrag bei maximal 20 000 Euro.

Gewöhnlich mag man denken, wir hätten es mit ei-nem Fortschritt zu tun. Tatsächlich jedoch ist es nicht derVerbraucherschutz, der dieses Gesetz angestoßen hat.Wir laufen sogar Gefahr, als Steuerzahlerinnen und Steu-erzahler zur Kasse gebeten zu werden. Um diesenZusammenhang zu verdeutlichen, erzähle ich zunächstetwas zum Hintergrund des Gesetzes. Anschließendkomme ich auf die entscheidende Frage, wie zahlungsfä-hig die Einlagen- und Wertpapiersicherung ist. DieseFrage bekommt umso mehr Gewicht, als wir uns in einerKrise befinden.

Zum Hintergrund des Gesetzes: Die Finanzwelt stecktbereits mitten in der Krise, da verkündet KanzlerinAngela Merkel in ihrer Regierungserklärung: „Kein Spa-rer muss um seine Einlagen fürchten. Diese Zusage gilt.“Das war am 7. Oktober 2008. Nach diesem Versprechenfrage ich mich, warum wir über ein Gesetz reden, dashinter diese Zusage zurückfällt. Aber es soll nicht meineAufgabe sein, die Widersprüche der Regierung zu recht-fertigen. Fakt ist: Die Europäische Kommission will nuneinen Wettlauf um die besten Garantien verhindern unddeshalb die Mindestsumme europaweit anheben. DasZiel dabei lautet: Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen,damit sie ihr Geld bei den Banken lassen. Denn für dieBanken wäre es möglicherweise fatal, würden Kundin-nen und Kunden zuhauf ihre Konten räumen.

Doch unumgänglich stellt sich hier die folgendeFrage: Wie zahlungsfähig ist die Einlagen- und Wertpa-piersicherung? Und: Wer zahlt, wenn der Sicherungs-fonds erschöpft ist? Alle deutschen Einlagensicherungenzusammengenommen – gesetzliche wie freiwillige –könnten keinen Einlagenverlust bei der Deutschen Bankauffangen. Weltweit ist kein Einlagensicherungssystemin der Lage, Schieflagen bei größeren Geldhäusern zubeheben. Die Fonds sind einzig dazu angelegt, Schwie-rigkeiten bei kleinen und mittleren Instituten auszuglei-

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chen. Wie sollen sie da krisentauglich sein? Der Jahres-beitrag je Kreditinstitut ist hierzulande nicht mehr als einsymbolischer Obolus: 0,008 Prozent der Verbindlichkei-ten gegenüber Kundinnen und Kunden. Bei der Wertpa-piersicherung ist es ähnlich.

Symbolisch bleiben auch die im Gesetzentwurf vor-gesehenen Nachbesserungen zum Fondsvolumen der ge-setzlichen Einlagensicherung. Zwar soll der Fonds Son-derbeiträge fordern und Kredite aufnehmen dürfen. Füranfallende Zins- und Tilgungszahlungen können wie-derum Sonderzahlungen erhoben werden. Doch alles zu-sammen darf das Fünffache des Jahresbeitrags nichtüberschreiten. Mehr sei nicht zumutbar. Der unbe-schränkte Rest wird stattdessen den Steuerzahlerinnenund Steuerzahlern zugemutet, wenn verlorene Einlageneingefordert werden. Geht es um Bürgerinnen und Bür-ger, handelt die Regierung nach dem Motto: Den letztenbeißen die Hunde. Geht es um die Regulierung von Ban-ken, handelt sie – trotz blumiger Rhetorik – zahnlos.

Die Linke hat einen zusätzlichen Sicherungsfonds fürprivate Finanzinstitute vorgeschlagen, den diese selbstfinanzieren: Die Finanzinstitute könnten sich untereinan-der vor Insolvenz schützen und damit automatisch zumErhalt der Einlagen beitragen. Alle anderen Parteien ha-ben diesen Antrag als unnötig abgelehnt. Wer allerdingsStabilität will, kommt nicht umhin, glaubwürdig undkonsequent zu regulieren. Er kommt nicht umhin, Ein-kommen sozial gerecht zu verteilen, statt Vermögensbla-sen zu produzieren und zu erhalten. Er kommt nicht um-hin, die Sozialisierung von Verlusten zu verhindern. Daswäre wahrer Schutz der Bürgerinnen und Bürger, ob alsVerbraucherin oder als Steuerzahler.

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung eines Ge-setzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anle-gerentschädigungsgesetzes (EAEG) macht es sich zurAufgabe, das deutsche System der Sicherungseinrich-tungen auf eine europarechtskonforme und finanzielltragfähige Grundlage zu stellen. Dazu sollen einerseitsdie aktuellen Vorgaben der europäischen Richtlinie2009/14/EG vom 11. März 2009 zur Änderung der Ein-lagensicherungssysteme im Hinblick auf die Deckungs-summe und Auszahlungsfrist umgesetzt werden. Ande-rerseits sollen neben der Einlagensicherung auchNachbesserungen am System der Anlegerentschädigungbei Wertpapierdienstleistungen erfolgen.

Diese Zielvorgaben begrüßen wir außerordentlich.Eine Reform des unübersichtlichen und unpraktikablenSystems der deutschen Einlagensicherungs- und Anleger-entschädigung fordern wir Grüne seit langem. Sie istüberfällig. Im Bereich der Anlegerentschädigung durchdie Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandels-unternehmen (EdW) hat die Bundesregierung bereits inAusschusssitzungen im Frühjahr 2007 konzediert, dasEAEG sei unzulänglich. Seitdem ließen Nachbesserun-gen auf sich warten.

Bei der Einlagensicherung hat die Finanzmarktkriseeindrucksvoll bewiesen, dass das bestehende Systemebenfalls mangelhaft ist und einer grundlegenden Über-

arbeitung bedarf. Die politische Erklärung der Bundes-regierung einer Garantie für die Spareinlagen der Bürge-rinnen und Bürger im Oktober 2008 mochte vorläufigeSicherheit suggerieren. Sie ersetzt aber keinesfalls einerechtlich verbindliche Lösung zugunsten der Bürgerin-nen und Bürger. Auch enthält eine solche politische Zu-sicherung keinerlei Aussage darüber, auf welchem Wegeeine solche Absicherung sinnvoll und über die akuteNotlage hinaus tragfähig installiert werden kann.

Der nun im Gesetzentwurf vorgeschlagene Weg zurVerbesserung des jetzigen Systems der Einlagensiche-rung und Anlegerentschädigung vermag in keiner Weisezu überzeugen. Diese punktuellen Änderungen sindFlickschusterei und Garant dafür, dass das System beimnächsten Ausfall eines Institutes aus dem Einlagen- oderWertpapieranlagebereich erneut kollabiert. Leidtra-gende solcher halbherzigen Änderungsvorschläge sinddie Bürgerinnen und Bürger, Investoren und Kommu-nen, die bei kommenden Turbulenzen um die Sicherheitihres Geldes bangen müssen, statt sich auf eine zeitnaheEntschädigung verlassen zu können.

Lassen Sie mich zunächst einige Punkte hinsichtlichder vorgesehenen Änderungen im Bereich der Einlagen-sicherung ausführen, bevor ich mich den Vorschlägenzur Reformierung der EdW zuwende. Dass die De-ckungssumme von der EU zunächst auf 50 000 Eurohochgesetzt wird und insbesondere der Selbstbehalt derSparer von 10 Prozent entfällt, ist eine vertrauensbil-dende Maßnahme, die wir begrüßen. Auch dass die Aus-zahlungsfrist verkürzt wird, sehen wir als positive Stär-kung des Verbraucherschutzes auf Finanzmärkten.

Fraglich ist jedoch, ob eine schlichte Anhebung derDeckungssumme – ohne die Tragfähigkeit des Systemszu überdenken – eine geeignete Lösung des Problemsdarstellt. Diese Frage stellt sich insbesondere bei derweiteren vorgesehenen Anhebung auf 100 000 Euro abdem Jahr 2011. Es mutet fast wie ein Freud’scher Ver-sprecher an, wenn die EU-Richtlinie 2009/14/EG dazuin Erwägungsgrund drei ausführt, dass diese Aufsto-ckung davon abhängig gemacht wird, ob eine zu erstel-lende Folgenabschätzung zu dem Schluss gelangt, dasseine solche Erhöhung für alle Mitgliedstaaten finanzielltragbar ist. Hier zeigt sich implizit die Annahme, dasssolche Summen die Tragfähigkeit der Sicherungssys-teme überfordern könnten und im Zweifel doch wiederder Staat einzuspringen hat. Wir werden uns hier im par-lamentarischen Verfahren dafür einsetzen, dass konkretfestgelegt wird, wie ein System auszusehen hat, das auseigener Kraft solche Entschädigungssummen bewerk-stelligen kann.

Dass es gegenwärtig jedenfalls nicht funktioniert, hatder Fall der Lehman Brothers Bankhaus AG offenbart,zu dessen Behebung der Einlagensicherungsfonds derdeutschen Banken Garantien des Sonderfonds Finanz-marktstabilisierung (SoFFin) in Anspruch nehmenmusste. Und auch die aktuellen Probleme bei der Aus-zahlung der Gelder von deutschen Kundinnen und Kun-den der isländischen Kaupthing Bank führen vor Augen,dass das System nicht ausreichend durchdacht ist bezie-hungsweise schlichtweg nicht adäquat funktioniert. Zu-

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gegeben ist der Staatsbankrott Islands und die Finanz-marktkrise eine außergewöhnliche Situation. Aber dasMindeste, was man von der Bundesregierung fordernmuss, ist, dass die gesammelten Erfahrungen genutztund für eine Reform des EAEG fruchtbar gemacht wer-den. Diese Konsequenzen sucht man im vorliegendenGesetzentwurf indes vergeblich.

Das gleiche Bild ergibt sich bei Betrachtung desjeni-gen Teils des EAEG, der die Änderungen bei der Ent-schädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunterneh-men, EdW, enthält. Hier muss bei Nachbesserungen derPräzedenzfall Phoenix Kapitaldienst GmbH den Orien-tierungsmaßstab bilden. Die Anleger von Phoenixwarten seit über vier Jahren auf die Entschädigungsleis-tungen durch die EdW, und die EdW-pflichtigen Wert-papierdienstleister wurden durch plötzlich erhobeneSonderbeiträge oder die nunmehr angedachte Finanzie-rung mittels Darlehensaufnahme an den Rand der Insol-venz geführt. Dass ein solches System dem Grunde nachvöllig verkehrt und mit hoher Wahrscheinlichkeit gar eu-roparechtswidrig konzipiert ist, muss auf der Hand lie-gen. Die Bundesregierung beschreibt den Handlungsbe-darf allerdings überraschend wie folgt: „Auch hat dieEntschädigungspraxis gezeigt, dass eine Konkretisie-rung der bestehenden Regelungen über die Finanzierungder Entschädigungseinrichtung sinnvoll ist.“ (Gesetzent-wurf Seite 1, A. Problem und Ziel). Das ist eine Verken-nung der Tatsachen. Es bedarf keiner Konkretisierungenbestehender Regelungen. Es bedarf eines komplettenÜberdenkens der bestehenden Strukturen des deutschenSicherungssystems zumindest im Bereich der Entschädi-gungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen.Die EdW scheint für sich gesehen nicht finanziell tragfä-hig. Das aber war und ist Vorgabe der EU-Richtlinie. In-dem die Bundesregierung die explizite Möglichkeit derKreditaufnahme bei fehlender Entschädigungsmassevorsieht, wird das Problem lediglich in die Zukunft ver-lagert. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Bundes-regierung hier diverse aufgezeigte Lösungsansätze eineseigens in Auftrag gegebenen Gutachtens nicht berück-sichtigt.

Auch ein weiteres Zuwarten unter Verweis auf derzeitlaufende Konsultationsverfahren der EU im Bereich derEntschädigungseinrichtung bei Wertpapierdienstleisternverbietet sich. Denn erstens resultieren die Probleme derEdW vor allem aus den nationalen Besonderheiten desgrundsätzlich sinnvollen Aufbaus des Bankensystems indrei Säulen. Und zweitens ist durch die Finanzmarkt-krise die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass es bei dender EdW zugehörigen Unternehmen zeitnah zu weiterenAusfällen kommt. Schließlich zeigt der Gesetzentwurfzur Änderung des EAEGs auch keine Lösung für dasProblem, dass die Entschädigungszahlungen im FallPhoenix auch deshalb seit vier Jahren auf sich wartenlassen, weil Auszahlungen unter Hinweis auf das nochlaufende Insolvenzverfahren zurückgehalten wurden.Das EAEG muss dringend festschreiben, dass Auszah-lungen unabhängig von laufenden Insolvenzverfahrenmöglich sind. Es ist den Betroffenen nicht zumutbar,Jahre auf die Entschädigung zu warten, nur weil Rechts-streitigkeiten im Insolvenzverfahren noch anhängig sind;

dies schon deshalb nicht, weil Forderungen aus der In-solvenzmasse erfahrungsgemäß nur zu marginalen Tei-len befriedigt werden können.

Kurzum, wir begrüßen den Ansatz der EU, durch eineReform der Einlagensicherung das durch die Finanz-marktkrise gebeutelte Vertrauen der Bürgerinnen undBürger wieder herzustellen. Der vorliegende Gesetzent-wurf der Bundesregierung enthält aber nicht die notwen-digen Konzeptverbesserungen, um die ambitioniertenVorgaben der EU – höhere Einlagendeckung und kurz-fristige, unbürokratische Auszahlungen – praxistauglichumzusetzen. Auf diesem Weg geht man nicht gestärktaus der Krise hervor, sondern zementiert Strukturen aufhöherem Niveau, die sich bereits als nicht funktionsfähigentlarvt haben.

Der Vollständigkeit halber sei abschließend ange-merkt, dass wir die vorgesehene Neuregelung in § 7Wertpapierhandelsgesetz begrüßen, die den grenzüber-schreitenden Informationsaustausch der Aufsichtsbehör-den bezüglich der Handelsplätze für Strom, Gas und an-dere Waren stärkt. Eine rein nationale Aufsicht wird derStruktur dieser Märkte nicht gerecht.

Anlage 7

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurStärkung der Sicherheit in der Informationstech-nik des Bundes (Tagesordnungspunkt 21)

Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir zählen heutemehr als 1,4 Milliarden Internetnutzer weltweit – weitüber 40 Millionen davon in Deutschland. Damit hat sichdie Zahl der Menschen, die regelmäßig im Internet un-terwegs sind, seit 2000 weit mehr als verdoppelt. Alleindas zeigt, wie stark sich die Informations- und Telekom-munikationswelt in den letzten Jahren verändert hat.Wirtschaftliche Aktivitäten und staatliches Verwaltungs-handeln sind in hohem Maße von einer funktionierendenIT-Infrastruktur abhängig. Genau das trifft auch auf dieprivate Nutzung zu. Die Informations- und Kommunika-tionstechnologie ist mittlerweile eine zentrale Vorausset-zung für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Vonihr sind weitere Infrastrukturen etwa in den BereichenEnergie- und Wasserversorgung oder auf dem Verkehrs-sektor abhängig. Deshalb stellen gezielte kriminelle An-griffe auf die IKT-Infrastruktur eine ganz erhebliche Ge-fahr dar. Die Attacke auf das Computersystem Estlands2007 zeigt, welch schwerwiegende Folgen solche An-griffe haben können. Vor zwei Jahren wurden in Estlanddie Websites von Regierung und Parlament manipuliertund lahmgelegt. Außerdem wurde das IT-System einerder größten Banken des Landes gestört, sodass der Zah-lungsverkehr für zwei Tage ausgesetzt werden musste.Weitere Bereiche waren betroffen.

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-tionstechnik – über das wir heute sprechen – ist als IT-Dienstleister des Bundes für die IT-Sicherheit inDeutschland zuständig. Das Bundesamt für Sicherheit in

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der Informationstechnik untersucht und bewertet Sicher-heitsrisiken und schätzt vorausschauend auch die Auswir-kungen neuer Entwicklungen ab. Dazu muss es auch zu-künftig die notwendigen Kompetenzen haben. Internet-Banking, e-Commerce, e-Government, diverse Kommu-nikationsplattformen und soziale Netzwerke im Internetsind neben der reinen Informationsbeschaffung schonlange Bestandteil fester Alltagsgewohnheiten rund umden Erdball. Angesichts der rasanten Entwicklung derletzten Jahre auf diesem Sektor ergeben sich Aufgabenund Erwartungen an das BSI, die sich in der heute gülti-gen gesetzlichen Grundlage nicht mehr widerspiegeln.Das BSI-Errichtungsgesetz wurde 1990 verabschiedet,ist 1991 in Kraft getreten und seither im Wesentlichenunverändert geblieben. Deshalb wollen wir mit demheute von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzent-wurf die Rechtsgrundlage für die Arbeit des BSI refor-mieren und an die Anforderungen von heute und morgenanpassen. Damit wird das BSI auch in Zukunft zu einemhohen Sicherheitsstandard für die IT-Struktur des Bun-des und darüber hinaus beitragen können.

Sichere und verfügbare Kommunikationsnetze sindfür staatliches Verwaltungshandeln unverzichtbar, des-halb schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurfdie Grundlage für einheitliche Sicherheitsstandards undklare Kompetenzen im Bereich IT-Systeme innerhalbder Bundesverwaltung.

Das BSI wird befugt, technische Vorgaben und ver-bindliche Mindeststandards für die Sicherung der Infor-mationstechnik innerhalb der Bundesverwaltung zu ma-chen. Das betrifft auch Richtlinien für die Beschaffungvon IT-Produkten. Darüber hinaus werden die heuteschon existierenden Regelungen zur Zertifizierung durchdas BSI modernisiert und neben der reinen Produktzerti-fizierung auch auf die Zertifizierung von Personen undDienstleistungen ausgeweitet. Das BSI kann so privateIT-Dienstleister prüfen und zertifizieren sowie derenEignung und Zuverlässigkeit bestätigen. Das ist fürWirtschaft und Verwaltung gleichermaßen von Bedeu-tung, kaufen doch Unternehmen und zunehmend auchBehörden Komplettlösungen, die bis zur vollständigenAuslagerung der IT reichen. Die Prüfung von Kompe-tenz und Vertrauenswürdigkeit eines Dienstleisters wirdhier einen erheblichen Qualitätsschub bewirken.

In diesem Zusammenhang mit diesen Vorgaben wirddas BSI innerhalb der Bundesverwaltung Maßnahmenumsetzen können, um Gefahren, die von Schadprogram-men auf die Kommunikationsinfrastruktur von Bundes-behörden ausgehen, abzuwehren. Bisher war das BSIlediglich beratend tätig ohne eigene Befugnisse, die esermöglichen würden, ohne Anforderung aktiv zu wer-den. Das soll jetzt geändert werden. Darüber hinaus solldas BSI als zentrale Meldestelle des Bundes für IT-Sicherheit Informationen über Sicherheitslücken, Schad-programme und neue Angriffsmuster sammeln und aus-werten und diese Erkenntnisse an die betroffenen Stellenweitergeben.

Die Entwicklung der Informations- und Kommunika-tionssysteme hat nicht nur positive Seiten – darüber le-sen wir jeden Tag. 1983 wurde im Rahmen einer wissen-

schaftlichen Arbeit das erste Computervirus entwickelt,das dann – einmal eingespeist – Programme eigenstän-dig veränderte. Heute wird davon ausgegangen, dasszwischen 60 000 und 100 000 Computerviren existieren,die sich über das World Wide Web innerhalb kurzer Zeitverbreiten können. Hinzu kommen weitere Computer-schädlinge wie Trojanische Pferde oder Würmer. Nichtnur die Zahl von Schadprogrammen ist aus meiner Sichtbesorgniserregend, sondern auch ihre neue Qualität. Im-mer häufiger werden Schadprogramme nicht mehr dazuverwandt, unmittelbaren Schaden anzurichten, der be-merkbar wird. Vielmehr verbreiten sich solche Pro-gramme unbemerkt und zielen darauf, Daten dauerhaftauszuspionieren, um etwa Passworte, Kreditkarteninfor-mationen oder Zugangsdaten zu erhalten, die dann bei-spielsweise an andere Kriminelle verkauft werden. DerBekämpfung dieser Form der Internetkriminalität wirdin einer Zeit, in der digitale Informationen eine immergrößere Bedeutung haben, notwendigerweise ein höhe-rer Stellenwert zukommen müssen.

Deshalb sieht der vorliegende Gesetzentwurf auchÄnderungen des Telekommunikationsgesetzes und desTelemediengesetzes vor. Im Telekommunikationsrechtwird die Bundesnetzagentur im Benehmen mit dem BSIund dem Bundesdatenschutzbeauftragten in der Lagesein, Sicherheitsanforderungen für Anbieter von Tele-kommunikations- und Datenverarbeitungssystemen zuerstellen. Diese sollen Grundlage für die Sicherheitskon-zepte von Telekommunikationsprovidern werden. Hier-durch soll der Schutz des Fernmeldegeheimnisses auchdurch technische Maßnahmen gewährleistet werden.

Durch eine Änderung des Telemediengesetzes wirdTelemediendienstanbietern die Befugnis eingeräumt,Nutzungsdaten für Zwecke der Sicherheit ihrer techni-schen Einrichtungen zu erheben und zu verwenden. ImGegensatz zu den Telekommunikationsprovidern, dieentsprechende Daten zum Erkennen, Eingrenzen oderBeseitigen von Störungen erheben können, besteht hierbei den sogenannten Telemedienanbietern, also etwaauch den Betreibern von Internetseiten, eine Rechtslü-cke. Das ist ein erhebliches Problem, das immer mehr anBedeutung gewinnt, denn Angriffe auf Telemedienange-bote nehmen zu, sei es, um Internetangebote zu manipu-lieren oder angebotene Leistungen zu stören. Eine erheb-liche Gefahr besteht hier aber nicht nur durch dieSchädigung von angebotenen Diensten. Vielmehr sindimmer häufiger sogenannte Drive-By Infections zubeobachten, also dass auf PCs der Besucher einer Seiteheimlich Schadprogramme installiert werden, die sichdann weiter verbreiten. Das heißt, die Angriffsstrategienverändern sich und damit auch die Sicherheitsziele vonDienstanbietern. Es geht nicht mehr nur um Selbstschutzgegen Manipulationen oder Verfügbarkeitsstörungen,sondern heute müssen Systeme auch gegen Angriffe ge-schützt werden, die diese Systeme nur als Zwischensta-tion nutzen. Zur Erkennung und Abwehr bestimmterAngriffe ist also die kurzfristige Speicherung und Aus-wertung der Nutzungsdaten notwendig. Durch die Ände-rung des Telemediengesetzes soll auch für diese FälleRechtssicherheit geschaffen werden. Die strenge Zweck-bindung der Daten nach dem Telemediengesetz bleibt

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dabei unangetastet. Eine Datenverarbeitung ist nur zu-lässig, soweit und solange dies für die Absicherung derTechnik tatsächlich erforderlich ist.

IT-Sicherheit ist eine dynamische Aufgabe mit sichverändernden Anforderungen und Problemen. Mit demvorliegenden Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in derInformationstechnik des Bundes stellen wir sicher, dassdas BSI in Zukunft in der Lage ist, seine Aufgabe erfolg-reich zu erfüllen. Es wird ein Beitrag geleistet zu mehrSicherheit in der Informations- und Kommunika-tionstechnologie.

Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Jeder von uns hatgemerkt, ohne PC läuft hier nichts. Das gilt aber nichtnur für den Bundestag, das gilt für unsere gesamte Ge-sellschaft, für die Verkehrsmittel (siehe Ausfall derComputer bei der Deutschen Bahn im Februar), für un-sere bargeldlosen Zahlungen, für die Versorgung mitEnergie oder Wasser.

Wir sind abhängig von der Sicherheit unserer Infor-mations- und Kommunikationstechnologie. Und werkümmert sich maßgeblich um diese Sicherheit? Soweites den Bund und die Bundesbehörden betrifft: das BSI.Was ist das? Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor-mationstechnologie. Kurz gesagt BSI. Das BSI wurde1991 gegründet. Vorläufer war Mitte der 1950er-Jahredie Zentralstelle für das Chiffrierwesen, die dem BNDunterstellt war. Und direkter Vorgänger war die Zentral-stelle für die Sicherheit in der Informationstechnik, die1989 aus der Zentralstelle für das Chiffrierwesen (ZfCh)hervorging. Seit 1991 heißt diese Bundesbehörde nunBSI, ist mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern demBundesministerium des Innern (BMI) unterstellt und be-schäftigt sich mit der Sicherheit in Anwendungen, kriti-schen Infrastrukturen und dem Internet, mit Kryptogra-fie und Abhörsicherheit, mit Zertifizierung, Zulassungund Konformitätsprüfungen sowie mit neuen Technolo-gien.

Nun hat sich seit 1991 der Internetverkehr und dieGefahrenlage quantitativ und qualitativ verändert. DasSchadens- und Katastrophenpotenzial, die Verletzlich-keit des Staates und der Gesellschaft ist immens ange-stiegen. Verändern muss sich deshalb auch der Schutzvor Computerattacken. Der vorliegende Gesetzesent-wurf will darauf eine Antwort geben.

Dass die Bundesregierung die Chance ergreift, sichgegen Cyberattacks zu wehren, ist notwendig und erfor-derlich. Dass man neuartige, bisher unbekannte An-griffsmuster erkennen muss, steht ebenfalls außer Zwei-fel. Es ist deshalb ein sinnvolles Vorhaben, dafür neueGrundlagen zu legen. Die erste Frage muss sein: Kannder Bund seine EDV so aufstellen, dass eine möglichstgeringe Gefahr durch Schadprogramme entsteht?

Ist eine Bündelung der EDV richtig, wie wir sie beider Telekommunikationsüberwachung nunmehr im Bun-desverwaltungsamt vornehmen? Wird dadurch der Staatnicht noch stärker angreifbar? Damit will ich zum Aus-druck bringen, dass man präventiv nicht erst ansetzen

muss bei Befugnissen für das BSI, sondern bereits imVorfeld.

Mit diesem Gesetzesentwurf wird das ganze BSI-Er-richtungsgesetz abgelöst. Es soll etwas völlig Neues ent-stehen. Das BSI soll Gefahrenabwehrbehörde, Prüfbe-hörde, Zertifiziererbehörde und Anbieter von IT-Sicherheitsprodukten sein. Alles wird beim BSI zentrali-siert. Kann das richtig sein? Der Gesetzesentwurf gehtdavon aus, dass alle eingehenden Datenverkehre beiBundesbehörden (mit Ausnahme Bundespräsidialamt,Bundestag, Bundesrechnungshof etc.) automatisch ge-scannt werden und die Protokolldaten für eine gewisseZeit gespeichert werden. Ist es notwendig, dass dieseDatenverkehre offen gespeichert werden, oder könntendiese nicht auch pseudonymisiert oder anonymisiertwerden? Geht es in erster Linie um die Gefahrenabwehr,dann kommt es weniger auf den Adressaten an. Geht esum die Feststellung der Täter und deren Hintermänner,dann muss man natürlich die Adressaten rückverfolgenkönnen. Der vorliegende Gesetzesentwurf hat dies nichtbefriedigend gelöst.

Soll das BSI bei der Weitergabe von Daten an Straf-verfolgungsbehörden und Verfassungsschutz (§ 5Abs. 4) so weit gehen dürfen, dass auch nicht erheblicheStraftaten gemeldet werden können, wenn sie mittels Te-lekommunikation begangen wurden? An welche Krimi-nalitätsbereiche denkt man hierbei? Ist hier nicht eineAushöhlung von Art. 10 GG zu erwarten?

Interessant finde ich, dass auch die Datenverkehre desBundesamtes für Datenschutz und Informationstechnikgescannt werden sollen. Hier fehlt das Fingerspitzenge-fühl. Der Bürger muss mit dem Datenschutzbeauftragtenuneingeschränkt und unbeeinträchtigt kommunizierendürfen. Deshalb muss man hier für andere Lösungen sor-gen.

In § 5 Abs. 6 regelt der Gesetzentwurf den Kernbe-reich privater Lebensgestaltung. Danach soll das BMIdiesen Kernbereichsschutz gewährleisten. Es wird keinegenaue Funktionsstelle genannt. Es kann aber doch nichtsein, dass es irgendjemand aus dem Innenministeriummacht, Fahrbereitschaft oder Pforte. Hier ist der Gesetz-entwurf schlampig. Mit diesem minimalen Kernbe-reichsschutz fällt man in Zeiten zurück, in denen diesvor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurOnlinedurchsuchung Rechtsauffassung im Innenministe-rium gewesen sein könnte. Aber heute ist das dochlängst überholt. Weshalb man im Zusammenhang mitdiesem Gesetzesentwurf in Art. 3 auch noch das Teleme-diengesetz ändern will, ist für mich nicht nachvollzieh-bar. Eine pauschale Befugnisnorm für Diensteanbietersollte vermieden werden. Ohne intensive und breite Aus-einandersetzung, juristisch, technisch und ökonomisch,kann ich diesem Gesetzesentwurf nicht zustimmen.

Petra Pau (DIE LINKE): Kein Freibrief zur Überwa-chung.

Erstens. Man versuche sich unsere Gesellschaft, ins-besondere die Wirtschaft, aber auch die Verwaltung ohnemoderne Informationstechnik vorzustellen. Es wird

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nicht gelingen. Denn ohne moderne Informationstechnikständen „alle Räder still“, um ein altes Bild zu bemühen.Deshalb ist es nachvollziehbar, dass der Bund für seineInformationstechnik höchste Sicherheitsstandards an-strebt.

Zweitens. Das ist der Sinn des vorliegenden Gesetz-entwurfs und des Bundesamtes für Sicherheit in der In-formationstechnik (BSI). Der Gesetzentwurf umfasst invier Artikeln zwölf Paragrafen mit zahlreichen Unter-punkten. Sie alle scheinen einleuchtend, auch wenn sienicht auf den ersten Blick überschaubar sind. Insofernkönnte man meinen: „Je sicherer, desto besser!“ Wäre danicht ein versteckter Pferdefuß.

Drittens. Fast alles, was geregelt werden soll, betrifftdie interne Informationstechnik und die inneren Infor-mationssysteme des Bundes. Sofern weitere Behördenbetroffen sein könnten, werden die Kompetenzen desBSI beschrieben bzw. Grenzen gesetzt. Auch das klingtvertrauenswürdig. Allerdings nur bis zum Verweis aufdas Telemediengesetz, konkret § 15 Abs. 9.

Viertens. Dort heißt es:

Soweit erforderlich, darf der Diensteanbieter Nut-zungsdaten zum Erkennen, Eingrenzen oder Besei-tigen von Störungen seiner für Zwecke seinesDienstes genutzten technischen Einrichtungen erhe-ben und verwenden.

Hier geht es nicht mehr um interne Systeme von Bundes-behörden, sondern um allgemeine Anbieter von Internet-leistungen, und die können Google, Yahoo oder andersheißen.

Fünftens. Im Klartext: Das Gesetz zur internenSicherheit des Bundes ermächtigt externe Anbieter, Nut-zungsdaten zu erheben, zu speichern und gegebenenfallsweiterzumelden. Damit würde das Surfverhalten von In-ternetnutzern registriert und kontrolliert, und das allesohne konkreten Verdacht. Das wäre ein Freibrief zurÜberwachung aller Internetnutzer. Einem solchen Ge-setzentwurf wird die Fraktion Die Linke nicht zustim-men.

Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Ära Schäuble wird als die Ära der neuen zentralenÜberwachungs- und Kontrollbehörden in die Annaleneingehen. Das belegt auch dieses vorliegende Gesetz.

Bisher war das Bundesamt für die Sicherheit in derInformationstechnik vor allem für die Prüfung von IT-Strukturen, von Programmen und Geräten zuständig. Eshatte also vor allem eine forschende und beratendeFunktion. In dieser Funktion hat das Amt auch weithinanerkannte Arbeit geleistet und zur Verbesserung derSicherheit der Informationsverarbeitung im öffentlichen,aber auch im privaten Bereich viel beigetragen.

In seinem angestammten Bereich soll das BSI neueKompetenzen bekommen. Es soll Warnungen zu be-kannten Sicherheitsproblemen veröffentlichen, Vorga-ben für IT-Systeme des Bundes machen und nationaleZertifizierungsstelle im IT-Bereich werden. Das ist imPrinzip zu begrüßen, denn eine Stärkung der IT-Sicher-

heit ist angesichts der Sensibilität der verarbeiteten Da-ten und des immer noch wachsenden IT-Einsatzes einwichtiges Ziel. Aber schon hier stellen sich Fragen: DasBSI „kann“ nach dem Entwurf Warnungen zu Sicher-heitslücken veröffentlichen. Es sollte doch zumindestder Regelfall sein, dass es über solche Lücken infor-miert! Natürlich sind gewisse Ausnahmen und eine ge-wisse Flexibilität im Verfahren erforderlich – zum Bei-spiel zuerst den Hersteller zu warnen und eine Lösung zuentwickeln. Es fragt sich auch, warum der Rat der IT-Be-auftragten der Ministerien eine so starke Rolle bekom-men soll. Es muss doch selbstverständlich sein, dassBundesbehörden in der Pflicht sind, die Vorgaben desBSI, die ja nicht leichtfertig gemacht werden, umzuset-zen. Hier ist zu befürchten, dass ressorteigene Prioritätenallzu oft über die Sicherheitsbelange gestellt werden.Wenn man IT-Sicherheit ernst meint, ist das zu wenig.

Besonders kritisch müssen aber die neuen Analyse-und Überwachungskompetenzen des BSI gesehen wer-den. Das Amt erhält zur Gefahrenabwehr weitgehendeRechte, um die in der Kommunikation mit den Bundes-behörden anfallenden Daten zu analysieren. Aber dageht es nicht nur um harmlose Dinge, zum Beispiel umE-Mails von Bürgerinnen und Bürgern an Behörden.Hier weiß der Bürger, dass er mit dem Staat kommuni-ziert. Doch die Struktur des Internet ist so, dass die anden sogenannten Schnittstellen der Kommunika-tionstechnik des Bundes anfallenden Daten auch ohnejeden Zusammenhang mit den Bundesbehörden seinkönnen. Die gutwillige Lesart ist: Hier wird eine auto-matisierte Auswertung vorgesehen – sprich, die Kon-trolle eingehender Post durch Virenscanner. Wird etwasgefunden, darf der Absender identifiziert werden. Nur,wenn man genau das meint, dann muss man das auch soformulieren. Aber so wie es in diesem Entwurf steht,sind auch weit weniger harmlose Eingriffe möglich. Undwenn das gewollt ist, dann stimmt der häufig gemachteVorwurf, dass hier eine allgemeine E-Mail-Überwa-chungsbehörde geschaffen werden soll.

Und selbst bei dieser gutwilligen Lesart gibt es reich-lich Kritikpunkte: Warum werden die persönlichen Da-ten nicht pseudonymisiert? Wieso gibt es für die nicht-automatisierte Verarbeitung der persönlichen Daten kei-nen Richtervorbehalt? Wir sprechen hier immerhin vomLesen persönlicher Post, es geht also potenziell um kern-bereichsrelevante Inhalte! Und – ganz besonders frag-würdig – warum um alles in der Welt soll ausgerechnetdas BMI berechtigt werden, in Zweifelsfällen zu ent-scheiden, ob der Kernbereich betroffen ist oder nicht?Da fällt kaum noch auf, dass auch die Benachrichtigungder Betroffenen viel zu lax gehandhabt wird.

Es fragt sich auch ganz generell: Warum wird in die-sem Gesetz sehr wenig über die Pflicht der Behörden ge-sagt, zunächst die eigenen IT-Systeme optimal zu schüt-zen? Denn ob Schadsoftware oder sonstige Angriffewirken, hängt doch zuallererst davon ab. Da sollte esnicht die erste Maßnahme sein, den eingehenden Daten-verkehr zu filtern, sondern die Angriffsfläche zu reduzie-ren. Dann sind auch viel weniger Abwehrmaßnahmenund Eingriffe in den Datenverkehr erforderlich! Die per-sonenbezogenen Daten, die das BSI so erhebt, dürfen

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auch an Polizei- und Geheimdienstbehörden weitergege-ben werden. Das Problem liegt darin: Die Schwelle isthier viel zu niedrig gewählt! Denn es geht dabei nichtnur um schwere Verbrechen, sondern um jede Straftat,die mittels Telekommunikation begangen wird! Da wirddann aus der Behörde, die IT-Expertise sammeln sollte,endgültig eine Hilfsbehörde zur Strafverfolgung!

Neben diesen systematischen Mängeln springen zweiweitere Einzelpunkte ins Auge: Warum werden mancheunabhängigen Bundesbehörden wie das Bundespräsi-dialamt und der Rechnungshof ausgenommen – der ganzbesonders auf vertrauliche und integere Kommunikationangewiesene Bundesdatenschutzbeauftragte aber nicht?Schließlich enthält das Gesetz eine Änderung des Tele-mediengesetzes, die es Dienstanbietern erlaubt, Nut-zungsdaten über die normalen Zwecke hinaus zu spei-chern und zu verarbeiten, auch wieder begründet mit derAbwehr von Schadprogrammen und Ähnlichem, aberauch wieder zu weit und zu offen formuliert. Denn so,wie es jetzt im Entwurf steht, ist auch die Erstellung vonSurfprofilen möglich.

In dieser Form ist das Gesetz abzulehnen. Es hat zuviele Lücken und bietet unzulänglichen Schutz für dieBürgerinnen und Bürger.

Anlage 8

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des Gesetzes zur Errichtung einer„Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“ (Tagesordnungspunkt 39 e)

Monika Grütters (CDU/CSU): Vor zehn Jahren be-schloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Errich-tung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas.Vor zehn weiteren Jahren bereits war der „Förderkreiszur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten JudenEuropas“ gegründet worden. Heute debattieren wir da-rüber, die Verantwortung der daraus entstandenen Stif-tung um das Denkmal für die im Nationalsozialismusverfolgten Homosexuellen und das Denkmal für dieSinti und Roma zu erweitern sowie die Stiftung in dieübliche Struktur vergleichbarer Institutionen zu überfüh-ren.

Nach mehr als zehn Jahren kontroverser Debatte überdie Notwendigkeit eines eigenständigen Holocaust-Mahnmals in Berlin, über den Ort und die Form des Ge-denkens sowie nach fast vier Jahren seit der Eröffnungist die öffentliche Meinung einhellig: Weltweit gilt dasDenkmal für die ermordeten Juden Europas mittlerweileals Erfolg.

1,7 Millionen Gäste haben seit der Eröffnung im Mai2005 bis Ende letzten Jahres den Ort der Information desHolocaust-Mahnmals besucht. Im Spätsommer 2009wird der zweimillionste Besucher in der Ausstellung er-wartet. Die Zahl der täglichen Besucher des Stelenfeldeskann die Stiftung schon lange nicht mehr zählen. Seit2006 kamen rund 460 000 Besucher jährlich in den un-

terirdischen Ort der Information. Mehr als die Hälfte derInteressierten kommt aus Deutschland, die anderen vorallem aus Israel, Polen und den USA. An einigen Tagensind es weit mehr als 2 000 Gäste, die die Ausstellungbesichtigen. 2 300 Führungen, Workshops und Projekt-tage wurden in den vergangenen zwei Jahren an Schüler-und Erwachsenengruppen vermittelt.

Zum Vergleich: Zwischen 500 000 und 600 000 schätztdie Stiftung der Gedenkstätte Buchenwald die Zahl derjährlichen Besucher ihrer weiträumigen Anlage. Das In-teresse an betreuten Besuchen ist von 2002 bis 2008kontinuierlich um 15 000 Teilnehmer angestiegen. Auchdie geschätzte Besucherzahl der Gedenkstätte Sachsen-hausen in unmittelbarer Hauptstadtnähe ist im vergange-nen Jahr von 350 000 auf mehr als 400 000 gestiegen.Die Anzahl der Führungen, der Teilnehmer insgesamtund der Anteil ausländischer Besucher haben sich eben-falls signifikant erhöht. Die Befürchtungen, die Errich-tung eines zentralen Holocaust-Mahnmals könnenegative Auswirkungen auf die Wahrnehmung der au-thentischen Orte des nationalsozialistischen Verbrechenshaben, haben sich also keinesfalls bestätigt. Das Gegen-teil lässt sich eher vermuten: Wer die Berliner Mitte be-sichtigt, besucht heute selbstverständlich auch dasMahnmal für die ermordeten Juden. Das sind natürlichweit mehr Gäste, als diejenigen, die die außerhalb touris-tischer Zentren liegenden KZ-Gedenkstätten besuchen.Es ist naheliegend, dass das Interesse des einen oder an-deren Besuchers des Mahnmals für die KZ-Gedenkstät-ten erst durch dieses Erlebnis in Berlin geweckt wurde.

Eindrucksvoller als nüchterne Besucherzahlen berich-ten jedoch die Einträge im Gästebuch der Stiftung vomErfolg ihrer Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit:„Thanks for this impressing and shocking visit. Everystudent, every people should be here once, to not forget“,schrieb der damalige EU-Kommissar Franco Frattini.„Erschütternd und zutiefst beeindruckend! Die persönli-che Nähe durch die Dokumentation einzelner Opfer warfür mich am prägendsten“, notierte eine deutsche Besu-cherin. „Thank you for doing this, even though I believethis matter could never be forgotten“, hinterließ dieEnkelin von Isac Weizman aus Tel Aviv. Kindern desKindertransports hat der Besuch in der Ausstellung Auf-schluss über das Todesdatum der Eltern gegeben.

Auch das Ergebnis einer Schülerumfrage im Sommer2006 bestätigt das Denkmalsanliegen: Neun von zehnJugendlichen werteten den Mahnmalsbau als Zeichenvon Stärke und Selbstbewusstsein im Umgang mit derdeutschen Schuld. Der unterirdische Ort der Informationbeherbergt eine der eindrucksvollsten GedenkstättenBerlins. In der Konzentration auf Namen, Familienbio-grafien und Orte wird hier jüdisches Leben in ganzEuropa ebenso vergegenwärtigt wie dessen Zerstörungund Auslöschung. Unterstützt mit Mitteln des privatenFördervereins konnte die Stiftung inzwischen insgesamt8 400 Biografien recherchieren, die im Raum der Namenvor dem Vergessen bewahrt werden und auch im Internetzugänglich sind.

Ende vergangenen Jahres eröffnete die Stiftung dasVideoarchiv mit den Geschichten betroffener Zeitzeu-

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gen. Rund tausend Videozeugnisse der in der UniversitätYale gesammelten Erinnerungen Überlebender in derganzen Welt sind hier nun aufgearbeitet und digitalisierteinzusehen. Diese aktive Erinnerungsarbeit ist ebensowichtig wie das stille Gedenken. Denn der Moment istnicht mehr fern, an dem der letzte Überlebende ver-stummt sein wird.

In der kurzen Zeit des Dauerbetriebes beteiligte sichdie Stiftung darüber hinaus an der Erarbeitung zweierSonderausstellungen gemeinsam mit anderen Gedenk-stätten und Einrichtungen und veranstaltete eindrucks-volle Vortrags-, Gesprächs- und Zeitzeugen-Abende.Sechs verschiedene Workshops für Schülergruppen undzwei für größere Zielgruppen stehen neben Führungenund Projekttagen für das museumspädagogische Ange-bot des Denkmals.

Es ist nur folgerichtig, endlich umzusetzen, was be-reits seit Gründung der Stiftung vorgesehen war: dieGeschäftsordnung der anderen Denkmale durch die„Stiftung für das Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“ erledigen zu lassen. Mit der Kabinettsvorlagevom 14. Januar dieses Jahres sollen demnach in dieüberzeugende Stiftungsarbeit zur Erinnerung und Ver-söhnung mit den Opfern des nationalsozialistischen Ter-rors und ihren Angehörigen nun auch das räumlich undgestalterisch korrespondierende Mahnmal für die vomNationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und dasentstehende Mahnmal für die Sinti und Roma am nord-östlichen Rande des Tiergartens in die Denkmalsarbeitder vorhandenen Stiftung mit einbezogen werden.

Faktisch betreut die Stiftung bereits das Denkmal fürdie im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen.Die Feier zur Übergabe an die Öffentlichkeit am 27. Mai2008 wurde von der Stiftung organisiert. Technisch unter-stützt sie die dort im Rahmen des Berliner ChristopherStreet Days und des Gedenktages am 27. Januar stattfin-denden Veranstaltungen. Darüber hinaus zeichnet dieStiftung für Begleitmedien (Faltblatt und Materialien-band) verantwortlich und bemüht sich, das Denkmal inZusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin unddem LSVD in die Bildungsarbeit der Stiftung einzube-ziehen.

Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermor-deten Sinti und Roma soll bis September 2009 errichtetund der Öffentlichkeit übergeben werden. Der offizielleBaubeginn am 19. Dezember 2008 wurde von der Stif-tung organisiert. Ein entsprechendes Faltblatt zumDenkmal erstellt sie in Absprache mit BKM und demKünstler Dani Karavan bis zur Eröffnung.

Die Errichtung eigener Gedenkstätten für unter-schiedliche Opfergruppen des Nationalsozialismus folgtdem Respekt vor den Betroffenen und ihrem Wunschnach einer eigenen Form des Erinnerns und Gedenkens.Sowohl das Mahnmal für die ermordeten Juden Europasals auch die Denkmäler für die verfolgten Homosexuel-len und Sinti und Roma verdanken ihre Entstehung undUmsetzung in staatlicher Verantwortung jeweils einerbürgerschaftlichen Initiative und der engagierten Vertre-tung durch die Betroffenengruppen.

Dieses notwendige Miteinander gesellschaftlicherKräfte macht politisches Agieren auf dem Feld des Ge-denkens und Erinnerns aber auch so anspruchsvoll; dennhier sollte immer auch ein parteiübergreifender Aus-gleich der Ansichten und Interessen gesucht werden.Über alle strittigen Diskussionen über das Wie des Ge-denkens hinweg sollte der mittlerweile stabile Konsensnicht übersehen werden, in dem die Auseinandersetzungmit der Vergangenheit heute in der Bundesrepublik grün-det. Ich möchte dazu nur an die gemeinsame Entschlie-ßung der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDPund Bündnis 90/Die Grünen zur „Fortschreibung der Ge-denkstättenkonzeption des Bundes“ durch den Beauf-tragten der Bundesregierung für Kultur und Medien imHerbst vergangenen Jahres erinnern. Bei der organisato-rischen Einbindung der Denkmale für die verfolgtenHomosexuellen sowie die Sinti und Roma in die „Stif-tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ müs-sen natürlich die Vertreter der Opfergruppen gehört wer-den. Grundsätzlich sind jedoch eine gemeinsameVerwaltung, der Betrieb und die Pflege der Mahnmaleeine naheliegende Lösung. Die Individualität des jewei-ligen Gedenkens für die Betroffenengruppen und die öf-fentliche Wahrnehmung bleiben davon unberührt.

Über die Art der Einbindung der Vertreter einzelnerOpfergruppen in die betreuenden Gremien der Stiftungsollte noch einmal gemeinsam nachgedacht werden.Eine von einigen angeregte Änderung des Namens derStiftung kann ich mir allerdings nicht vorstellen.

Gleichzeitig mit der Erweiterung der Verantwortungsoll die Stiftung durch die Gesetzesänderung nach Been-digung der Aufbauphase des Denkmals für die ermorde-ten Juden Europas nun in die Organisationsstruktur ver-gleichbarer Einrichtungen überführt werden.

Der im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auf-trag, den Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenmanund den ergänzenden Ort der Information zu verwirkli-chen, wurde inzwischen in vollem Umfang umgesetzt.Zur Fortführung der erfolgreichen Stiftungsarbeit solldas Gesetz in einigen Punkten geändert und den Erfor-dernissen des Dauerbetriebes angepasst werden.

Dazu gehört neben anderem die Abschaffung desdreiköpfigen Vorstands. Seine Aufgaben sowie die derbisherigen Geschäftsführung sollen nun in dem neuenOrgan des Direktors oder der Direktorin zusammenge-führt werden. Damit wird die Stiftung wie auch an ande-rer Stelle üblich zukünftig von drei Organen geleitet:dem Kuratorium, einem Direktor oder einer Direktorinund dem Beirat. Darüber hinaus wird der engagierten,zumeist auf der Grundlage eingeworbener Spendenmit-tel des „Förderkreises Denkmal für die ermordeten Ju-den Europas“ bereits geleisteten Arbeit im Stiftungs-zweck Rechnung getragen. Die Stiftung erhält nun dengesetzlichen Auftrag, wechselnde Sonderausstellungen,Vortrags- und Seminarveranstaltungen durchzuführenund begleitende Publikationen im notwendigen Umfangzu erstellen. Damit erkennt die Bundesregierung die bis-herigen Stiftungsaktivitäten ausdrücklich an.

Die Auseinandersetzung um die Denkmale der ver-schiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen

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Terrorregimes macht deutlich: Nationales Gedenkenlässt sich weder amtlich formulieren, noch behördlichregeln. Gleichwohl sind Erinnern und Gedenken wederPrivatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewältigen.Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und dasheißt in staatlicher Gesamtverantwortung. In der Bun-desrepublik Deutschland ist mittlerweile eine zukunfts-weisende Erinnerungskultur gewachsen, die nicht seltenauch einen parteiübergreifenden Charakter zeigt. Dassollte auch in diesem Falle unser Anspruch sein.

Die Art und Weise, wie eine Nation, wie ein Staat seinVerhältnis zur Geschichte formuliert, gibt Auskunft übersein Selbstverständnis und prägt seine Identität. MitKonrad Adenauer möchte ich schließen, der 1952 dazubekannte: „Man muss das Gestern kennen, man mussauch an das Gestern denken, wenn man das Morgenwirklich gut und dauerhaft gestalten will. Die Vergan-genheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der Weltschaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man die Augenschließt, um sie zu vergessen.“ Deshalb ist die Bewah-rung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, einepolitische, also eine gemeinsame Aufgabe über Partei-und Fraktionsgrenzen hinweg.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Vor zehn Jahrenhaben wir die Errichtung des Denkmals für die ermorde-ten Juden Europas in Berlin beschlossen – eine der letz-ten Entscheidungen, die noch in Bonn getroffen wurden.Vorausgegangen war dem Beschluss eine langjährigeDebatte – die sich gelohnt hat, wie man wenige HundertMeter von hier entfernt besichtigen kann. Im Mai 2005wurde das Denkmal eröffnet. Bereits im ersten Jahr be-suchten mehr als eine Million Gäste das Stelenfeld.

Streitpunkt der Diskussion und ein wichtiger Punktdes damaligen Beschlusses war die Ergänzung desDenkmals durch einen Ort der Information. Selbst derArchitekt Peter Eisenman, der ursprünglich gegen dieseErweiterung war, ist mittlerweile längst von der Richtig-keit dieser Entscheidung überzeugt. Ohne den Ort derInformation hätte das Denkmal nicht seine Wirkung undseine Anziehungskraft entfalten können. Den Mitarbei-tern der Stiftung ist es auf sehr eindrückliche Art gelun-gen, an diesem nicht authentischen Ort an die Schreckendes NS-Terrors zu erinnern und ihn zu vergegenwärti-gen. Die jüdischen Opfer bekommen Namen und Ge-sicht, sodass das Grauen gerade für die jüngeren Genera-tionen nachvollziehbar wird. Mit dem Projekt „Lebenmit der Erinnerung. Überlebende des Holocaust erzäh-len“ werden das Wissen und die Erfahrungen der Zeit-zeugen, deren Zahl immer weiter abnimmt, gesichertund an die nachfolgenden Generationen vermittelt.

Die Sorge übrigens, das Mahnmal im Herzen derHauptstadt würde Besucher von den authentischen Ge-denkorten abziehen, hat sich nicht als zutreffend erwie-sen. Im Gesetz zur Errichtung der Stiftung wurde alsStiftungszweck im Abs. 1 die „Verwirklichung desGrundsatzbeschlusses des Deutschen Bundestages vom25. Juni 1999 (Drucksache 14/1238) zur Errichtung ei-nes Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ festge-schrieben. Der Bundestagsbeschluss ist umgesetzt, das

Denkmal seit vier Jahren fertiggestellt. Der ursprüngli-che Stiftungszweck ist damit hinfällig und es ist an derZeit, das Stiftungsgesetz entsprechend anzupassen. Dasist das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs.

„Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den natio-nalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas.Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle Opferdes Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigne-ter Weise sicherzustellen“, heißt es jetzt im § 2 desGesetzentwurfs. Aufgabe der Stiftung ist auch die Be-treuung des Denkmals für die im Nationalsozialismusverfolgten Homosexuellen, das im letzen Jahr einge-weiht wurde, und des Denkmals für die im National-sozialismus ermordeten Sinti und Roma, das, hoffent-lich, in diesem Jahr fertiggestellt wird.

Die anderen Änderungen sind im Wesentlichen An-gleichungen an die Strukturen vergleichbarer Einrich-tungen. So wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafftund die Aufgaben des bisherigen Vorstands und der Ge-schäftsführung werden in dem neuen Organ „Direktoroder Direktorin“ zusammengeführt. Allerdings müsste– analog zu vergleichbaren Einrichtungen – die Bestel-lung des Direktors für fünf statt für vier Jahre erfolgen.

Über diesen Punkt und über den Sinn einer Änderungdes Stiftungsnamens und der Besetzung des Kuratoriums– wie von den Grünen vorgeschlagen – sollten wir imAusschuss diskutieren.

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Die „Stif-tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ bedarfder Erweiterung. Wir setzen damit einen weiteren Steinin das Mosaik der Erinnerungs- und GedenkstättenarbeitDeutschlands ein. Die Wurzeln der heutigen Erweite-rung der „Stiftung Denkmal für die ermordeten JudenEuropas“ liegen im Denkmalsbeschluss des Bundestagesvom 25. Juni 1999. Damals beschloss der Deutsche Bun-destag das Holocaust-Mahnmal. Wie kaum ein zweitesgesellschafts- und geschichtspolitisches Ereignis in derBundesrepublik hat dieses Vorhaben in einer elf Jahredauernden Diskussion die Gemüter durch alle politi-schen Lager und sozialen Schichten bewegt.

Mit seinem Beschluss stellte der Deutsche Bundestaggleichzeitig fest: „Die Bundesrepublik Deutschlandbleibt verpflichtet, der anderen Oper des Nationalsozia-lismus würdig zu gedenken.“ Dies ist die Grundlage desDenkmals für die im Nationalsozialismus ermordetenSinti und Roma und des Denkmals für die im National-sozialismus verfolgten Homosexuellen.

Vor fast auf den Tag genau neun Jahren – am17. März 2000 – wurde die „Stiftung Denkmal für die er-mordeten Juden Europas“ errichtet. Stiftungszweck wardamals die Errichtung und Unterhaltung des Denkmals,eines Ortes der Erinnerung und des Gedenkens an bis zu6 Millionen Opfer. Nachdem die Stiftung in den Jahren2003 bis 2005 die Bauherrenfunktion ausübte, ist sienunmehr für den Betrieb des Denkmals als Ort des Ge-denkens, der Aufklärung und der Begegnung zuständig.Seit seiner Eröffnung im Jahr 2005 ist das Stelenfeld desArchitekten Peter Eisenman eine wahrlich vielbesuchte

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Stätte. Über 5,3 Millionen Menschen besuchten bisherdas Mahnmal und schon 1,5 Millionen Menschen warenGast des Dokumentationszentrums, welches erst imSommer 2008 durch das Videoarchiv ergänzt wurde.

Mitte Mai 2008 konnte das Denkmal für die im Natio-nalsozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffent-lichkeit übergeben werden. Im Sommer 2009 wird dasDenkmal für die im Nationalsozialismus ermordetenSinti und Roma endlich vollendet sein. Die „StiftungDenkmal für die ermordeten Juden Europas“ bekommtdamit neue Aufgaben; das Stiftungsgesetz muss durchdie Neuzugänge aktualisiert und an die Erfordernisse desDauerbetriebs angepasst werden.

Neben technischen Details, die ich hier nicht vertiefenmöchte, sind zwei Punkte hervorzuheben, die im neuenStiftungsgesetz verankert werden müssen und sicherlichunstrittig sind:

Erstens: Selbstverständlich muss der Stiftungszweckan seine erweiterten Aufgabenstellungen angepasst wer-den. Dagegen ist nichts einzuwenden. Zum einen ist esnotwendig, den Stiftungszweck beim Denkmal für dieermordeten Juden um die ständige Ausstellung im Ortder Information sowie Vortrags- und Seminarveranstal-tungen zu erweitern. Zum anderen müssen die beidenneuen Denkmäler mit unter die Obhut der Stiftung fal-len.

Zweitens wird der bisher neben dem Kuratorium exis-tierende Vorstand aufgelöst, und der ehemalige Vorstandsowie die Geschäftsführung werden im neuen Organ„Direktorin oder Direktor“ zusammengeführt.

Zwei Punkte, die durch den Gesetzesentwurf nicht an-gepackt wurden, bedürfen jedoch noch einmal einer Ver-tiefung:

Erstens gilt es, noch einmal zu überdenken, ob durchdie Erweiterung des Stiftungszweckes auch der Nameder Stiftung geändert werden müsste. Hier hat sich dieFDP-Fraktion noch kein abschließendes Urteil gebildet.Die Für und Wider werden wir sicherlich eingehend imAusschuss diskutieren und die Argumente der sich jetztschon positionierenden Gruppen einbeziehen.

Zweitens gilt es, zu bedenken, ob das Kuratorium mitErweiterung des Stiftungszwecks durch neue Mitgliederergänzt werden muss. Persönlich erachte ich es als prü-fenswert, ob das bisher schon 23-köpfige Gremium desKuratoriums erweitert werden sollte. Schon jetzt sitzenim Kuratorium alle Fraktionen des Deutschen Bundesta-ges, die Bundesregierung, das Land Berlin, der Förder-kreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.,der Zentralrat der Juden in Deutschland, die StiftungTopographie des Terrors, um nur einige zu nennen. Wirddieser Kreis erweitert, ist die Arbeitsfähigkeit des Gre-miums infrage zu stellen. In den kommenden Wochenfreue ich mich auf eine konstruktive Diskussion im fe-derführenden Ausschuss für Kultur und Medien.

Petra Pau (DIE LINKE): Die Linke stimmt zu. DasGesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermordetenJuden Europas“ soll verändert werden. De facto geht es

darum, den Stiftungszweck zu erweitern. Er sollzusätzlich das Denkmal für die durch das NS-Regime er-mordeten Homosexuellen umfassen, ebenso das für dieermordeten Sinti und Roma. Außerdem soll die interneStruktur der Stiftung „verschlankt“ werden. Auch dasentspricht den Vorschlägen, die das Kuratorium für dieStiftung bereits vor Jahresfrist beschlossen hatte. Siesind plausibel begründet. Die Fraktion Die Linke wirddem Gesetzentwurf daher zustimmen.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt durch-aus die Zielsetzung des zugrunde liegenden Gesetzent-wurfes: Die Aktualisierung des Stiftungszweckes imSinne einer Ausdehnung auf die Betreuung des Denk-mals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sintiund Roma sowie des Denkmals für die im Nationalsozia-lismus verfolgten Homosexuellen ist sinnvoll. Auch dieStrukturveränderung bei der Organisation der Stiftunghalten wir grundsätzlich für richtig.

Gleichwohl bin ich irritiert, dass der Gesetzentwurfweder mit der Opposition noch mit dem Zentralrat derJuden, dem Verband der Sinti und Roma oder dem Les-ben- und Schwulenverband besprochen wurde: Ich hattebereits in der letzten Kuratoriumssitzung zur Denkmals-befassung angeregt, dem neuen Aufgabengebiet auchdurch eine Anpassung des Namens der Stiftung Aus-druck zu verleihen. Ich gehe davon aus, dass wir diesenPunkt im anschließenden Ausschussverfahren erörternund gemeinsam lösen werden.

Im Ausschussverfahren muss auch geklärt werden,wie die von der Aufgabenerweiterung betroffenen Initia-tiven und Verbände im Kuratorium angemessen einge-bunden werden. Der Gesetzentwurf gibt hier bedauerli-cherweise keinerlei Hinweis. Er ist insofern aus meinerSicht lückenhaft. Das Kuratorium muss entsprechend er-weitert werden.

Die Gesetzesänderung muss auch haushalterischeKonsequenzen haben: Denn wenn die Stiftung tatsäch-lich zwei neue Denkmäler zur Betreuung hinzugewinnt,so muss sich dies auch bei der Mittelausstattung nieder-schlagen. Der Gesetzentwurf verliert auch darüber keinWort.

Ich gehe davon aus, dass wir die von mir angespro-chenen Punkte im Ausschussverfahren einvernehmlicheiner Lösung zuführen werden. Der Gegenstand des Ge-setzentwurfes eignet sich aus meiner Sicht ganz und garnicht für parteipolitische Reibereien.

Anlage 9

Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des Antrags: Programm „Stadt-umbau Ost“ – Fortsetzung eines Erfolgspro-gramms (Zusatztagesordnungspunkt 6)

Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Das Programm„Stadtumbau Ost“ hat sich bewährt. Bisher haben Bund,Länder und Gemeinden 2,5 Milliarden Euro aufgewen-

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det, um der spezifischen Probleme der ostdeutschenWohnungswirtschaft Herr zu werden. Mit diesen Mittelnist es gelungen, einen großen Schritt zum ansehnlichenund bezahlbaren Wohnraum, auch in Zeiten der Verstäd-terung und des Wegzugs, zu machen. So wurden alleinvon 2002 bis 2007 circa 220 000 Wohnungen vom Marktgenommen, die jetzt nicht mehr bewirtschaftet werdenmüssen oder erhöhte Kosten bei den Vermietern und da-mit bei den Mietern verursachen.

Der Wegzug und der damit verbundene Wohnungs-leerstand haben nicht nur zur Folge, dass die Vermieterund Wohnungsgesellschaften Einnahmen einbüßen müs-sen. Auch die technische Infrastruktur muss den neuenBedingungen angepasst werden, um die Kosten im Griffzu behalten. Und auch die soziale Infrastruktur ist davonbetroffen. Kindertagesstätten, Schulen, Arztpraxen undFreizeiteinrichtungen müssen wegen mangelnder Aus-lastung oder Rentabilität geschlossen werden. Das sindFaktoren, die die Lebens- und Wohnqualität negativ be-einflussen und den Wegzug noch beschleunigen.

Aber mit dem aktuell laufenden Programm ist esgelungen, nach und nach die Situation in den Griff zubekommen. Nach Anfangsschwierigkeiten waren dieKommunen und Wohnungsunternehmen immer besserin der Lage, mit dem Programm umzugehen.

Dabei müssen wir eine wesentliche Fehlentwicklungder DDR-Wohnungspolitik korrigieren. Die Mangel-wirtschaft hatte zur Folge, dass nur noch schnell mitminimalem Aufwand Plattenbausiedlungen an denStadträndern hochgezogen wurden. Stadtkerne und in-nerstädtische Wohnbebauung wurden dem Verfall preis-gegeben. Das ist ein Grund dafür, warum das Programm„Stadtumbau Ost“ von Anfang an als „lernendes Pro-gramm“ angelegt wurde.

In den vergangenen Jahren lag der Schwerpunkt aufdem Abriss, was vorrangig von großen Wohnungsunter-nehmen genutzt wurde, die Plattenbauten zu bewirt-schaften hatten. Der Abriss wird auch in Zukunft einwichtiger Faktor sein, aber nicht mehr so absolut imVordergrund stehen.

Trotzdem sind die strukturellen Probleme zwischenwestdeutschen und ostdeutschen Kommunen bzw. derWohnungswirtschaft noch zu unterschiedlich, um beideProgramme zusammenzuführen – zu vereinigen. Es bleibtaber für uns das Ziel! Wichtig ist der intensive Erfah-rungsaustausch, damit sich Fehler nicht wiederholen.

Wir wollen das Programm flexibler gestalten, damiteine zielgenaue Gestaltung zwischen Abriss und Aufwer-tung möglich ist. Außerdem eröffnen wir den Kommunenund Wohnungsunternehmen die Möglichkeit, nach Ihrerspezifischen Situation vor Ort zu handeln.

Ein Manko der letzten Jahre waren auch die nicht vor-handene Verbindlichkeit der Stadtentwicklungskonzepteund die Beteiligungsverfahren betroffener Akteure. Auchunter diesem Aspekt werden wir das – ich erwähnte es be-reits – „lernende Programm“ fortentwickeln.

Die aktuelle Evaluierung untermauert, dass die Innen-städte mit Aufwertungs- und Umgestaltungskonzepten

stärker berücksichtigt werden sollten. Dort sind auch diekleinteiligen Eigentümerstrukturen zu finden, die unteranderem die Urbanität einer Innenstadt ausmachen.Daher muss das Programm auch für den privaten Eigen-tümer besser nutzbar gemacht werden. Eine Möglich-keit, die es zu prüfen gilt, ist die Wiederbelebung derInvestitionszulage für diesen Bereich.

Zum Schluss möchte ich Sie darauf aufmerksam ma-chen, dass bisher 390 Kommunen in Ostdeutschland vondem Programm profitiert haben. Die graue Platte einerDiktatur – eines Unrechtsstaates – ist verschwunden. Dieverbliebenen Wohnviertel wurden attraktiv, bunt undfreundlich – so wie die Freiheit. Es ist auch gelungen,den der Heimat treu gebliebenen Bürgern nicht nur nochhöhere Lebenshaltungskosten zu ersparen – nein, wirkonnten das gesamte Stadt- bzw. Lebensumfeld in denKommunen positiv beeinflussen.

Mit dem vorliegenden Antrag will meine Fraktion dasProgramm „Stadtumbau Ost“ bis in das Jahr 2016weiterführen und die einzelnen Instrumente weiterentwi-ckeln. Ich möchte dafür werben, dass die nachfolgendenDiskussionen in den beteiligten Gremien zügig zumEnde gebracht werden. Das jetzige Programm läuft 2009aus, und die Fortschreibung ist, das habe ich auch in denGesprächen mit Kollegen gespürt, unstrittig. Deswegenkommt es jetzt darauf an, die Finanzierungsgrundlage imHaushalt ab 2010 festzuschreiben. Dabei muss auch dieAltschuldenproblematik der Wohnungsunternehmen, un-abhängig von der jetzigen Regelung bis 2013, weitereBeachtung finden.

Ich hoffe auf konstruktive und zielführende Beratun-gen in den Ausschüssen.

Ernst Kranz (SPD): Die ostdeutsche Wohnungswirt-schaft hatte mit der deutschen Einheit große Herausfor-derungen zu bewältigen. Die von den Kommunen über-nommenen Wohnungsbestände waren mit Altschuldenbelastet und zum Teil sanierungsbedürftig. Arbeits-marktbedingte Abwanderungen und allgemeiner Bevöl-kerungsrückgang führten zu überdurchschnittlichenWohnungsleerständen. Diese Entwicklung war für dieWohnungsunternehmen nicht vorhersehbar und häufigauch nicht zu beeinflussen, für den Wohnungsmarkt wareine solche Situation ebenfalls neu.

Die Bundesregierung hat deshalb im Jahr 2002 dasProgramm „Stadtumbau Ost“ aufgelegt. Im Vorfeld hatdie Bundesregierung die Kommission für den woh-nungswirtschaftlichen Strukturwandel, auch Lehmann-Grube-Kommission genannt, einberufen, die die Situa-tion analysiert und den Handlungsbedarf ermittelt hat.Die Kommission hat sehr klar die Forderung nach einerumfassenden Abbruchförderung durch Bund und Landerhoben.

So stellten Bund und Länder im Rahmen des Pro-gramms finanzielle Mittel für den Rückbau von Woh-nungen bereit; ebenso für die Aufwertung von Stadt-quartieren, wofür die Kommunen einen eigenen Anteilleisten müssen. Damit konnte die Lösung der Problemein Angriff genommen werden, die die Kommunen und

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ihre Wohnungsunternehmen alleine nicht hätten bewälti-gen können. Bis Ende 2007 haben sich 390 Kommunenmit über 820 Stadtumbaugebieten beteiligt. Inzwischenhat sich der Wohnungsmarkt sichtbar stabilisiert. BisEnde 2007 wurden rund 220 000 der 350 000 geplantenWohnungen vom Markt genommen. In den Quartierenist eine neue Lebensqualität entstanden und die Bevölke-rung steht nach anfänglichen Zweifeln zum Abrissvolu-men nun hinter dem Programm. Dies ist das Ergebnissowohl der Gutachter als auch der parallel vom Ministe-rium eingesetzten Lenkungsgruppe, die im Auftrag desBundesministeriums das Programm rechtzeitig vor sei-nem Ablauf im Jahr 2009 evaluiert haben. Deren Auf-gabe war es, Empfehlungen zu formulieren für dielaufende Umsetzung des Programms und dessen Fortset-zung sowie zukünftige Handlungsfelder und spezifischeSchwerpunkte des Programms für die Fortsetzung aufzu-zeigen. Laut Lenkungsgruppe hat die Anzahl leer-stehender Wohnungen kontinuierlich abgenommen, diewirtschaftliche Situation der Wohnungsunternehmen hatsich spürbar verbessert und indirekt hat sich dadurchauch die wirtschaftliche Situation privater Einzeleigen-tümer verbessert.

Zur Verbesserung der Gesamtsituation hat auch dieInvestitionszulage zur Modernisierung innerstädtischerAltbauquartiere in den Jahren 2002 bis 2004 beigetra-gen; genauso die befristete Befreiung von der Grunder-werbsteuer bei Fusionen von Wohnungsunternehmen inden Jahren 2004 bis 2006 sowie die Verankerung desStadtumbaus im Baugesetzbuch. Bei der Wohnumfeld-verbesserung durch Aufwertungsmaßnahmen war es ent-scheidend, dass die Mittel überwiegend für die Gestal-tung des Wohnumfelds und des öffentlichen Raumsinklusive der durch Rückbau freigewordenen Flächenund für Maßnahmen der Infrastruktur verwendet wur-den.

Die Lenkungsgruppe hat weiterhin festgestellt, dasses in unsanierten Gründerzeitgebieten deutliche Ent-wicklungsdefizite gibt. Es besteht weiterhin ein gesamt-städtischer Aufwertungsbedarf in den Handlungsfeldernöffentliche Räume, Grün-, Verkehrsflächen und Stadt-bildpflege; Aufwertungsprozesse benötigen ausreichendZeit, deshalb ist die Programmfortführung wichtig. Oftfehlen sinnvolle Nachnutzungen oder Investoren, Über-gangssituationen und Zwischennutzungen stellen einPlanungsprinzip dar.

Die Lenkungsgruppe hat auch diskutiert, inwieweiteine Zusammenführung der Programme Ost und Westsinnvoll ist, und kam zu dem Ergebnis, dass mit den ho-hen Leerständen aufgrund einst überzogener Wachstums-erwartungen und mit der jahrzehntelang verschlepptenSanierung von Altbauten noch vereinigungsbedingteSonderbedingungen vorhanden sind, die spezieller Re-gelungen bedürfen.

Wichtig für den Erfolg des Programms war, dass dasProgramm als „lernendes Programm“ angelegt war, sokonnte auf neu entstandene Probleme flexibel reagiertwerden: Es gab die Möglichkeit, Aufwertungsmittel fürden Rückbau einsetzen zu können. Es gab weiterhin dieMöglichkeit der Übernahme des kommunalen Anteils

durch private Investoren; so konnten die Kommune ent-lastet und private Investoren einbezogen werden. In be-sonders begründeten Einzelfällen konnte der kommunaleEigenanteil auf mindestens 10 Prozent reduziert werden.Für sanierungsbedürftige innerstädtische Altbauten, dieaus stadtplanerischen und Denkmalschutzgründen nichtabgerissen werden sollten, wurde eine Soforthilfe einge-richtet, indem 2005 und 2006 bis zu 3 Prozent, 2007 biszu 5 Prozent und seit 2008 bis zu 15 Prozent des Förder-volumens des Bundes auch für Sicherungsmaßnahmenan Altbauten ohne kommunalen Eigenanteil verwendetwerden können. Damit wird der Altbau vor dem Zerfallgerettet und Zeit gegeben, um eine geeignete Lösung zufinden.

Für die stadtumbaubedingte Anpassung der sozialenund technischen Infrastruktur hat der Bund für die Pro-grammjahre 2006 und 2007 zusätzlich je 20 MillionenEuro zur Verfügung gestellt. Für das Jahr 2008 wurden15 Millionen Euro und für das Jahr 2009 werden 10 Mil-lionen Euro für diesen Zweck bereitgestellt.

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Ab-rissfrist bei der Altschuldenhilfe verlängert hat. Für diebereits genehmigten Anträge sollten die Gebäude ur-sprünglich bis Ende 2010 abgerissen werden. Diese Fristwird nun bis zum 31. Dezember 2013 verlängert, um denUnternehmen die erforderliche Zeit einzuräumen. MitÄnderung der Altschuldenhilfeverordnung ist jetzt auchder Abriss von solcher Wohnfläche in die Entlastung miteinbezogen worden, die nach dem für die ursprünglicheAltschuldenhilfe maßgeblichen Stichtag, dem 1. Januar1993, erworben wurde. Dabei geht es vor allem umFälle, in denen das kommunale Wohnungsunternehmenim Interesse und im Auftrag der Stadt Immobilien er-worben hat, die entsprechend dem integrierten Stadtent-wicklungskonzept abzureißen sind, deren Eigentümeraber hierzu nicht bereit oder in der Lage waren. Die Un-ternehmen erhalten somit mehr Flexibilität bei der An-passung ihrer Abrissplanungen an den Stadtumbaube-darf.

In dem vorliegenden Antrag erkennen wir die Erfolgedes Programms an. Jetzt geht es darum, anhand der Be-standsaufnahme durch die Gutachter und die Lenkungs-gruppe sich Gedanken zu machen, was noch zu erledi-gen ist, das nicht ohne finanzielle Mittel vom Bundbewältigt werden kann. Im Großen und Ganzen halte iches für sinnvoll, das Programm, so wie es bislang ausge-staltet war, fortzuführen. Dabei sind die Erfahrungen, diegemacht wurden, genauso mit einzubeziehen wie der er-mittelte weitere Bedarf. So ist das Programm mindestensbis zum Jahr 2016 fortzuführen. Der finanzielle Förder-rahmen sollte so ausgestaltet werden, dass die genanntenAufgaben des für notwendig erachteten Rückbaus vonWohnungen, der Aufwertung von innerstädtischer Alt-baustruktur sowie der Pflege des Stadtbildes bewältigtwerden können.

Die bisherigen Ansätze zur Flexibilisierung des Pro-gramms sollten weiter verstärkt werden, um mit regio-nalspezifischen Vorgehensweisen auf die jeweilige örtli-che Situation eingehen zu können. Ich erachte es alssinnvoll, dass eine bedarfsgerechte Quote für die einzel-

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nen Städte und Kommunen weiter ermöglicht wird. DerVerteilungsschlüssel ist stärker problemorientiert festzu-legen. Neben den bisherigen Kriterien Wohnungsbestandund Einwohner sind Indikatoren zu verwenden, die dieBevölkerungsentwicklung in geeigneter Weise abbilden.Dabei ist stets die gesamte regionale Entwicklung miteinzubeziehen. Die Stadtumbauziele sind im Rahmen ei-ner überörtlichen Kooperation abzustimmen und in denPlanungen verbindlich zu berücksichtigen. Es ist ein ge-eigneter Weg zu finden, den immer noch großen Nach-holbedarf bei der Sanierung innerstädtischer Altbauquar-tiere zu bewältigen. Ziel muss es sein, die Identität derGesamtstadt aufzuwerten. Das erhöht nicht nur dieStandortqualität für die Bewohner, sondern gibt auch derWirtschaft wichtige Impulse.

Die Fördermittel sind möglichst effizient einzusetzen.Die Kommunen sind anzuhalten, ein gut durchdachtesUmbaumanagement zu schaffen. Die „TransferstelleStadtumbau Ost“ sollte dies auch weiterhin aufmerksambegleiten. Die „Experimentierklausel“, die die Über-nahme des kommunalen Anteils durch Dritte erlaubt,sollte dauerhaft in die Verwaltungsvereinbarung aufge-nommen werden. Neben den Wohnungsunternehmensind die privaten Investoren künftig in geeigneter Weisestärker mit einzubeziehen. Die Länder sind dazu anzu-halten, die Mittel im Rahmen der Wohnungsbauförde-rungsprogramme so einzusetzen, dass innerstädtischesWohneigentum in Neubau und Bestand sowie generatio-nengemischte Stadtquartiere gefördert werden und er-gänzend zum Stadtumbau wirken.

Ein mir besonders wichtiger Punkt ist es, die Verbind-lichkeit der Stadtentwicklungskonzepte insgesamt weiterzu stärken, um die Planungssicherheit für alle beteiligtenAkteure, insbesondere auch für die privaten Grundstücks-eigentümer und die Träger der Infrastruktureinrichtun-gen, zu erhöhen. Hierzu müssen die integrierten Stadt-entwicklungskonzepte unter Beachtung der dauerhaftweiter benötigten Wohnungsbestände und der Entwick-lung der Städte insgesamt weiter fortgeschrieben wer-den. Aufbauend auf dem integrierten Planungsansatz,der dem Stadtumbau zugrunde gelegt wurde, sind geeig-nete Beteiligungsverfahren zu finden, um zum einen denBürgerinnen und Bürgern die Rückbaumaßnahmen früh-zeitig zu erläutern und zum anderen die unterschiedli-chen Bedürfnisse von Bewohnern, Gewerbetreibenden,Händlern und anderen im Rahmen des Stadtumbaus stär-ker berücksichtigen zu können.

Aufgrund des Erfolgs der bereits früher vorhandenenergänzenden Instrumente sollte geprüft werden, inwie-weit und in welchem Rahmen diese aufgelegt werdenkönnen, um den Effekt des Programms „Stadtumbau Ost“insbesondere in den Kernproblemen zu erhöhen. Diesgilt für die Härtefallregelung nach § 6a Altschuldenhilfe-verordnung sowie für die Investitionszulage für Moder-nisierungsinvestitionen im Altbaubestand. Darüber hi-naus könnten dazu beitragen: eine bessere Informationder privaten Eigentümer und Investoren über die bereitsvorhandenen Möglichkeiten zur steuerlichen Absetzbar-keit sowie das Lösen der steuerlichen Probleme derVersorgungsunternehmen, wie zum Beispiel der Abzugs-fähigkeit von Rückbaumaßnahmen, der Bildung von

Rückstellungen, und zwar aufgrund ihrer Zuständigkeitzusammen mit den Finanzministerien der Länder, oderauch eine bessere Verzahnung der Förderprogramme derKfW mit den Förderinstrumenten der Stadtentwicklung– insbesondere gilt dies für das KfW-Wohneigentums-programm und das Wohnraummodernisierungspro-gramm sowie für die energetische Sanierung – undschließlich die Möglichkeit der Mobilisierung von priva-tem Kapital über neue Finanzierungsinstrumente für denStadtumbau.

Darüber hinaus fordern wir von den Ländern einenBericht über die Durchführung der Maßnahmen. In die-sem Bericht sollen nicht nur die besonders positiven Bei-spiele der Zusammenarbeit im Rahmen des Stadtumbausgeschildert werden, sondern auch angegeben werden, wodie Hürden liegen. Für das Jahr 2012 empfehlen wir derBundesregierung, einen Zwischenbericht vorzulegen,damit das Programm gegebenenfalls korrigiert werdenkann. Und rechtzeitig vor Ablauf des Programms, alsoim Jahr 2015, sollte wiederum eine Evaluierung durch-geführt werden, um Bilanz zu ziehen und das weitereVorgehen diskutieren zu können.

Zusammenfassend und abschließend möchte ich sa-gen, das Programm „Stadtumbau Ost“ ist ein Erfolgspro-gramm, und dennoch sind in den nächsten Jahren nochviele Aufgaben zu lösen. Ich halte eine Fortsetzung bis2016 deshalb für notwendig.

Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir sprechenheute über das bislang sehr erfolgreiche Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“, das seit seiner Einführungim Jahr 2002 eines der wichtigsten Instrumente derStadtentwicklungspolitik in den neuen Ländern ist. Da-bei stehen die Innenstadtentwicklung, der bedarfsorien-tierte Umbau, die Aufwertung der Stadtquartiere, aberauch immer noch der Wohnungsrückbau im Mittelpunkteiner nachhaltigen Strategie.

Die Evaluierung durch das Deutsche Institut für Ur-banistik (Difu) und das Institut für Stadtforschung undStrukturpolitik (IfS) bekräftigt, dass sich das Programm„Stadtumbau Ost“ in der Praxis bewährt hat. Demschließt sich auch die Stellungnahme der Lenkungs-gruppe an, die aus Vertretern von Bund, Ländern,Gemeinden, Verbänden, Wohnungsunternehmen undMietorganisationen besteht. Nun gilt es, das Stadtum-bauprogramm entsprechend der Evaluierungsergebnisseanzupassen, weiterzuentwickeln und die Förderrahmenzu überprüfen. Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrisekann es wesentlich zur Stabilisierung von Arbeitsplätzenbeitragen. Ich begrüße die Empfehlung der Gutachterund der Lenkungsgruppe, das Stadtumbauprogramm Ostals eigenständiges Programm im Bereich der Städte-bauförderung mindestens bis zum Jahr 2016 fortzuset-zen.

Für die FDP war und ist das Bauen im Bestand sowiedie Umnutzung leerstehender Gebäude verstärkt förde-rungswürdig. Vorhaben wie Abriss und Aufwertungmüssen dabei immer auf ihre Demografiefestigkeit über-prüft werden. Rückbau ist nach wie vor wichtig, um denWohnungsleerstand nicht wieder ansteigen zu lassen,

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wobei Wohnungsleerstände inzwischen sowohl in denneuen als auch den alten Bundesländern ein regionalesProblem sind. Bisher konnte der Leerstand in den Be-ständen des DDR-Wohnungsbaus reduziert und das Ent-stehen zusätzlicher Leerstände verhindert werden. Ausden mittelfristigen Prognosen zur Bevölkerungs- undHaushaltsentwicklung wird jedoch deutlich, dass insge-samt auf dem Wohnungsmarkt ein erneutes Ansteigender Leerstände droht, wenn der Rückbau nicht im selbenMaße fortgesetzt wird. So begrüße ich die Empfehlungder Gutachter und Lenkungsgruppe – zusätzlich zu denaus dem bisherigen Stadtumbauprogramm noch offenenRückbauzahlen – bis 2016 den Rückbau von weiteren200 000 bis 250 000 Wohnungen aus Mitteln der Städte-bauförderung zu unterstützen.

Nachdem die bisherigen Stadtumbauprogramme vorallem den Rückbau im Blick hatten, muss nun verstärktdie Aufwertung der städtischen Kerne und Stadtquartierezum Ziel werden. Bei der Aufwertung der Innenstädteund des innerstädtischen Altbaus können mittlerweilesichtbare Erfolge festgestellt werden. Die eingetretenenAufwertungseffekte in verschiedenen städtebaulich be-deutenden Teilräumen, zu denen auch zukunftsfähigePlattenbaugebiete zählen, beginnen vielerorts auf das ge-samte Stadtbild auszustrahlen. Innerstädtische Stadt-quartiere durchlaufen eine differenzierte Entwicklung.Trotz erster positiver Effekte besteht weiterer gesamt-städtischer Aufwertungs- und Gestaltungsbedarf.

Insbesondere der demografische Wandel bedeuteteine Herausforderung, aber auch eine Chance für dieStadtentwicklung. Eine Fortschreibung der gegenwärti-gen Entwicklung bedeutet, dass die Gesamtbevölkerungbis zum Jahr 2050 auf circa 68,5 Millionen sinkt. Dreivon vier deutschen Kreisstädten werden bereits im Jahr2020 weniger Einwohner zählen als heute. Noch stärkerfällt die Entwicklung außerhalb der Städte aus. Zugleichverschiebt sich bis zum Jahr 2050 die Relation der imArbeitsleben stehenden Bevölkerung zwischen 20- und64- zu den über 65-Jährigen dramatisch. Der Anteil von20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wirddann nur noch 60 Prozent, der Anteil der über 65-Jähri-gen hingegen bereits über 30 Prozent betragen. Indiesem Zusammenhang wird es eine große Herausforde-rung sein, vor allem altersgerechtes Wohnen zu garantie-ren.

Vor allem strukturschwache Städte und Regionenwerden von dieser Entwicklung betroffen sein, wo sichdiese Trends durch Abwanderung verstärken. Zugleichwerden insbesondere wirtschaftlich starke Regionenweiter wachsen. Die Stadtentwicklungsprogramme müs-sen in diesem Sinne angepasst und flexibilisiert werden.Wachstum und Schrumpfung bedeuten jeweils verschie-dene Herausforderungen, die es politisch zu gestaltengilt. Ziel muss es sein, die Zentren zu stärken, schrump-fende Städte zu stabilisieren und generell die Attraktivi-tät städtischen Wohnens und Arbeitens und damit die un-ter den Bedingungen des demografischen Wandels ausökologischen, ökonomischen und sozialen Gründensinnvolle und notwendige Reurbanisierung zu erleich-tern.

In vielen Fällen überschneiden sich die Stadterneue-rungsprogramme „Allgemeine Städtebauförderung“,„Stadtumbau Ost und West“, „Soziale Stadt“. Sie müs-sen hinsichtlich ihrer Zielsetzung, Zielerreichung undUmsetzung neu überprüft und sollten zu gegebener Zeitzu einem modernen Stadt- und Raumentwicklungspro-gramm zusammengefasst werden. Zur Beantragung ei-ner Förderung durch Mittel des Bundes genügt ein abge-stimmtes Stadt- und/oder Raumentwicklungskonzept,das die lokale Situation und Entwicklungsmöglichkeitenabbildet. Die Förderung erfolgt pauschal, der Einsatz derMittel obliegt den Kommunen. Eine Mitfinanzierung derProjekte durch Private ist wünschenswert und kann denkommunalen Eigenanteil ersetzen. – So weit zu unserenVorschlägen.

Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Im vorliegenden An-trag der Koalitionsfraktionen finden sich schon im Titeldrei Schlüsselwörter. Diese Schlüsselwörter sind „Stadt-umbau Ost“, „Erfolgsprogramm“ und „Fortsetzung“. Inder Logik der Regierungsfraktionen stellt sich das 2002begonnene Programm „Stadtumbau Ost“ als ein Er-folgsprogramm dar, das sich in der Praxis bewährt habeund das in diesem Sinne folgerichtig bis zum Jahr 2016fortgesetzt werden solle – wenn auch mit einigen Ände-rungen wie einer stärkeren Flexibilisierung desProgramms, einem stärker problemorientierten Vertei-lungsschlüssel und einer dauerhaften Aufnahme der„Experimentierklausel“ in die Verwaltungsvereinbarung,welche die Übernahme des kommunalen Anteils durchDritte erlaubt. Das alles klingt auf den ersten Blickschlüssig und glatt, sehr glatt sogar. Aber ist es auch so?

Wenden wir uns noch einmal den bereits erwähntenSchlüsselwörtern im vorliegenden Antrag zu, und gehenwir ans Entschlüsseln. Dazu habe ich jetzt ein paar Fra-gen: Stimmt die generelle Beschreibung des „Stadtum-bau Ost“ als Erfolgsprogramm überhaupt? Sollte es wiebisher fortgesetzt werden? Oder braucht es deutliche Än-derungen? Und vor allem frage ich: Erfolg für wen?

Ziel des zunächst für den Zeitraum 2002 bis 2009 an-gelegten Stadtumbauprogramms Ost war es, die Attrak-tivität der Städte in den neuen Bundesländern zu erhöhenund das damalige Überangebot an Wohnraum durch denAbriss von 350 000 Wohnungen zu reduzieren – euphe-mistisch als „Rückbau“ bezeichnet. Vor dem Hinter-grund rückläufiger Bevölkerungszahlen und hoher Leer-stände sollte die Kombination beider, sich allerdingszum Teil widersprechender Ziele die Zukunftsfähigkeitder ostdeutschen Städte sichern.

Aber schon zu Beginn des Stadtumbauprogramms äu-ßerten Praktiker die Meinung, dass das, was aus woh-nungswirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist, sich aus stadt-planerischer Sicht als eine Katastrophe erweisen kann –und umgekehrt. Zur Frage nach dem Erfolg des Pro-gramms gehört also auch die Frage, ob und, wenn ja, wiedieser dem Programm von Anfang an innewohnendeZielkonflikt gelöst wurde. Denn natürlich kann Abrissauch eine Chance sein, wenn er sich denn einem sinnvol-len gesamtstädtischen Leitbild unter- oder besser in einsolches einordnet. Unter „sinnvoll“ verstehe ich in die-

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sem Zusammenhang das Nutzen sich bietender Chancen –so zum Beispiel die Chance, die freiwerdende Fläche amStadtrand der Natur zurückzugeben, die jetzt verklei-nerte Stadt überirdisch als Stadt der kurzen Wege zu or-ganisieren und unterirdisch auch die technische Infra-struktur zurückzubauen. Das verringert letztlich diefinanziellen Belastungen ihrer Bewohnerinnen und Be-wohner.

Zudem darf man bei der Betrachtung des Stadtum-baus Ost und bei seiner Bewertung die große Dimensionder Herausforderung nicht vergessen: Fast ein Drittel derKommunen, die sich an diesem Programm beteiligen,hatten es mit einem gesamtstädtischen Wohnungsleer-stand von mehr als 15 Prozent zu tun. In 37 Städten stan-den sogar mehr als 20 Prozent, also ein Fünftel, allerWohnungen leer. Und obwohl inzwischen insgesamtmehr als 250 000 Wohnungen abgerissen wurden, wurdebisher lediglich ein weiteres Anwachsen des Leerstandesverhindert – womit wir wieder bei der Frage nach demErfolg wären. Denn der Erfolg des Stadtumbaupro-gramms Ost – was ja nicht ohne Grund so und nicht etwa„Abrissprogramm Ost“ heißt – kann nicht allein quanti-tativ und an wohnungswirtschaftlichen Kennzahlenorientiert gemessen werden, sondern es ist vor allemnach den qualitativen Ergebnissen gleich in doppelterHinsicht nach dem Platz des Menschen in diesem Pro-gramm zu fragen: Wie wurden und werden die Einwoh-nerinnen und Einwohner in die Vorbereitung und Reali-sierung des Stadtumbaus Ost einbezogen? Werden auchdie gehört, die letztlich in und mit den Resultaten lebenwerden? Und: Haben sich die Standortfaktoren verbes-sert? Was hat sich für die Menschen, für die Bewohne-rinnen und Bewohner, für die Mieterinnen und Mieter,konkret getan? Wie lebt es sich in den umgebauten Städ-ten in den neuen Bundesländern?

Insgesamt gesehen erweist sich die qualitative Bewer-tung in der Praxis als schwierig, aber dennoch machenauch aus linker Sicht eine Reihe überzeugender Stadt-umbauten wie in der Lutherstadt Wittenberg, in Cottbus,in Güstrow und Schwerin oder auch in Schwedt an derOder Mut und lassen an den Erfolg des Programms glau-ben. So hat sich gerade Dagmar Enkelmann, Erste Parla-mentarische Geschäftsführerin unserer Bundestagsfrak-tion, bei einer mehrstündigen Visite in Schwedt von denpositiven Seiten des Stadtumbaus Ost überzeugen kön-nen. Frau Dr. Enkelmann fügte hinzu: Angesichts desdemografischen Wandels und eines anhaltenden Weg-zugs unter anderem aus Schwedt bleibt die Aufgabe, denStadtumbau finanziell zu fördern, aktuell. KommunaleWohnungsgesellschaften beziehungsweise -genossen-schaften allein wären damit überfordert.

Unsere Vorschläge resultieren aber nicht nur aus Stu-dienreisen, sondern sind vor allem das Ergebnis intensi-ver Diskussionen auf drei Stadtumbaukonferenzen, diedie Fraktion Die Linke in dieser Legislaturperiode inzwei ostdeutschen Städten – Bitterfeld und Eisenhütten-stadt – sowie in Essen durchgeführt hat. Alle drei habenbestätigt, dass Stadtumbau nicht nur als wohnungs-wirtschaftliche Aufgabe gesehen werden kann, sondernals gesamtgesellschaftliche Herausforderung verstandenund behandelt werden muss.

Insgesamt gesehen kann der Stadtumbau Ost nur dannals eine Erfolgsgeschichte gelesen werden, wenn Zu-kunft nicht allein aus dem Abriss gewonnen werden soll.Es geht vielmehr um positive und für die Einwohnerin-nen und Einwohner nachvollziehbare Perspektiven ihrerjeweiligen Heimatstadt. Es geht um strategische gesamt-städtische Entscheidungen. Es geht um das Gestaltenund um das Erhalten und Schaffen von Identität. Und esgeht nicht zuletzt um das Thema Altschuldenentlastung.In diesem Zusammenhang nehmen wir die Formulierungdes vorliegenden Antrags sehr aufmerksam zur Kennt-nis, wonach die Bundesregierung auch aufgefordertwird, zu prüfen, „ob eine neue Antragstellung ähnlichder Härtefallregelung nach § 6 a Altschuldenhilfeverord-nung für eine befristete Zeit erforderlich und finanzier-bar ist“. An dieser Stelle möchte ich natürlich daran erin-nern, dass meine Fraktion gerade erst einen Antrag zurEntschuldung der ostdeutschen Wohnungsunternehmeneingebracht hat, dem Sie, meine Damen und Herren vonder Koalition, im Laufe des parlamentarischen Verfah-rens gern noch zustimmen können.

Auch wenn wir nicht in allen Fragen unbedingt einerMeinung mit dem Bundesverband deutscher Wohnungs-und Immobilienunternehmen, GdW, sind, teilen wir aus-drücklich dessen Auffassung, dass die entscheidendeFlankierung einer Neuauflage des Programms eine ab-schließende Regelung der Altschulden der Wohnungs-unternehmen sein müsse. Ohne eine Streichung der Alt-schulden bei Abriss der damit belasteten Wohnungenwürden die Wohnungsunternehmen nur in seltenen Aus-nahmefällen in der Lage sein, sich weiter am Stadtum-bau zu beteiligen. Die mögliche Folge aus GdW-Sicht:Das gewünschte neue Stadtumbauprogramm könnteseine Wirkung nicht entfalten, und ganze Wohnquartierewürden sowohl baulich als auch sozial erodieren.

Alles in allem bedeutet Erfolg im Stadtumbau Ost,solche Städte zu entwickeln, deren kommunale Struktu-ren funktionieren und in denen man gern bleiben will.Das ist das wohl wichtigste Kriterium für die Bewertungdes Stadtumbauprogramms. Und daher kann die Haupt-frage auch nur lauten: Ist es mit diesem Programm ge-lungen, Zukunft für die beteiligten Städte zu organisie-ren?

Aus unserer Sicht, aus Sicht der BundestagsfraktionDie Linke, sollte das Programm „Stadtumbau Ost“ wiebeantragt als eigenständiger Bereich der Städtebauförde-rung auch über das Jahr 2009 hinaus und mindestens bis2016 fortgesetzt werden. Gerade im Interesse der Zu-kunftsfähigkeit ostdeutscher Städte, gleichsam im Inte-resse urbaner Landschaften, sollte mehr als bisher Wertauf die menschliche und soziale Dimension dieses Um-baus gelegt werden. Im Sinne des auch von den Antrag-stellern hervorgehobenen „lernenden Programms“ istimmer wieder nach der Aufwertung der städtischenQuartiere zu fragen, statt lediglich Abrisszahlen zusam-menzuzählen.

Aus unserer Sicht darf bei aller Bedeutung finanziel-ler Fragen nicht allein das Geld die künftige Entwick-lung der Städte in Ostdeutschland bestimmen. ErstePriorität müssen vielmehr die Ansprüche, Bedürfnisse

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und Lebensgewohnheiten der Menschen, der Einwohne-rinnen und Einwohner, haben. Von einem Erfolg desProgramms kann dann gesprochen werden, wenn solcheMeinungen zu hören sind wie aus Cottbus, wo sich eineVertreterin des Mieterbundes folgendermaßen über denStadtumbau in Cottbus-Sachsendorf äußerte: Die Men-schen, die hier wohnen, wollen nicht mehr weg, weil siesich wohlfühlen.

Im Übrigen sind sinkende Einwohnerzahlen und da-her leerstehende Wohnungen schon längst kein alleinostdeutsches Problem mehr. Nach Expertenangabendürfte spätestens in zwei Jahrzehnten jede zweite deut-sche Stadt mit sinkenden Einwohnerzahlen konfrontiertsein. Daher erscheint es auch aus unserer Sicht durchausangebracht, beide Programme, „Stadtumbau Ost“ und„Stadtumbau West“, weiterzuentwickeln. Genügend Er-fahrungen aus den neuen Bundesländern, Erfolgsge-schichten und solche, die erst noch zum Erfolg geführtwerden müssen, bringt Ostdeutschland mit. Und hiergibt es einmal die Chance, dass der Osten Vorreiter fürden Westen sein kann.

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es istschon ein Kreuz mit dieser Großen Koalition. Einerseitsmüsste sie ja angesichts ihrer satten Mehrheit im Bun-destag vor Kraft und Energie strotzen und die Republikdurcheinanderwirbeln. Aber davon kann bei Schwarz-Rot keine Rede sein: Beide Körperhälften bewegen sichschon lange nicht mehr synchron zu- und miteinander.Und das führt bekanntermaßen zu dem Stillstand, denwir schon seit vielen Monaten erleben und erleiden müs-sen.

Und der betrifft auch das wichtige Thema „Stadtum-bau Ost“. Um der Legendenbildung vorzubeugen: Ichbrauche nicht zu betonen, dass meine Fraktion diesesProgramm entscheidend mit initiiert und geprägt hat.Wir haben uns immer dazu bekannt, dass das Programmauch über das Jahr 2009 verlängert werden muss. Aberdas bedeutet nicht, dass wir allem zustimmen, was zumBeispiel diese Koalition zum „Stadtumbau Ost“ zu sagenhat bzw. zu tun gedenkt. So frage ich mich, warum neunMonate seit der Evaluierung vergehen mussten, bevorwir uns wieder mit diesem Thema im Ausschuss be-schäftigen. Und ich frage mich des Weiteren, warum derheute debattierte Antrag es wieder einmal erst fünf Mi-nuten vor der Angst als Zusatzpunkt – und dazu noch alsProtokollrede – auf die Tagesordnung geschafft hat.

Als die Lehmann-Grube-Kommission 2001 ihre Zah-len über die Wohnungsleerstände in Ostdeutschland prä-sentierte, herrschte blankes Entsetzen, denn eine derartigkatastrophale Situation hatte niemand erwartet. Insofernwar es auch richtig, die Schwerpunkte in den ersten Jah-ren dort zu setzen, wo die Not am größten war. Das wa-ren die Leerstände der großen kommunalen und genos-senschaftlichen Wohnungsgesellschaften, die kurz vordem wirtschaftlichen Ende standen. Dabei kamen natür-lich einige Aspekte wie zum Beispiel die Aufwertung„unter die Räder“, die zwar von Anfang an im Pro-gramm angelegt waren und die für meine Fraktion min-destens genauso wichtig waren und sind. Diese Finan-

zierungsmöglichkeiten spielten eine geringere Rolle,weil bestimmte Vorgaben (zum Beispiel der zu hohe Ko-finanzierungsanteil der Kommunen) nicht praxistauglichwaren und erst durch die Erfahrungen vor Ort im Rah-men der jährlich mit den Ländern ausgehandelten Ver-waltungsvereinbarungen angepasst werden mussten. Daswar und ist der Vorteil eines „lernenden“ Programms,und ich wünschte mir, dass wir auch bei anderen Pro-grammen und Gesetzen diesen „lernenden“ Charakterstärken würden.

Eines ist jedoch Fakt, und daran wird auch die Verlän-gerung des Programms bis 2016 nichts ändern: DerLeerstandsdruck wird hoch bleiben, möglicherweisewerden der demografische Wandel und der weitere Zu-wachs an Wohngebäuden den Bedarf an Rückbaumaß-nahmen sogar noch erhöhen. Trotz dieser Erkenntnissefördert Schwarz-Rot weiterhin den Wohnungsneubauauf der grünen Wiese durch Eigenheimbau, sprichWohnriester. Und Kommunen leisten sich einen ruinösenWettbewerb um Zuzüge, indem Wohngebiete und billigeBaugrundstücke in direkter Nachbarschaft, Stichwort:„Speckgürtel“, miteinander konkurrieren. Dies alles ge-schieht mit Steuergeldern, die andererseits dann auch indie Hand genommen werden, wenn die dadurch indu-zierten Leerstände später vom Markt bereinigt werden.Das ist doch der Wahnsinn im Quadrat! Und ich will dieProbleme des ungebremsten Flächenverbrauchs und derimmer geringeren Tragfähigkeit öffentlicher Infrastruk-tureinrichtungen hier überhaupt nicht ansprechen.

Der Leerstand wird in Ostdeutschland unser ständigerBegleiter und auch eine stete Erinnerung an unser Hand-lungsversagen sein. Er wird uns viel mehr Geld kosten,als wir es heute auszusprechen wagen, und er wird unsdaher in den kommenden Jahren zwingend neue Lösun-gen abverlangen. Spätestens zu Beginn der nächstenFörderperiode 2009 bis 2016 muss nämlich geklärt wer-den, wie eine Regulierung des Wohnungsmarktes inschrumpfenden Regionen ohne überbordende Staatsin-tervention und den übermäßigen Einsatz von Steuergel-dern machbar ist.

Was Schwarz-Rot in diesem Zusammenhang immerwieder verschweigt, ist die Tatsache, dass die Mittel des„Stadtumbaus Ost“ zu einem großen Teil aus den über-proportionalen Leistungen des Bundes aus dem Korb IIdes Solidarpakts II stammen. Das heißt, die Bundes-regierung und die Große Koalition bejubeln sich für dieFortführung des Programms, aber sie verwenden Mittel,die für die Herstellung einer nachhaltigen und selbststän-digen wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschlandvorgesehen waren. Das Geld ist zu schade, um hausge-machte Fehlentwicklungen auf dem Wohnungsmarkt zukorrigieren. Wie stellen Sie sich das eigentlich nach demAuslaufen des Solidarpaktes im Jahre 2019 vor, und wiepasst das mit einer rigiden Sparpolitik zusammen, diespätestens nach dem Überstehen der aktuellen Wirt-schafts- und Finanzkrise keinen Haushalt ungeschorendavonkommen lassen wird?

Wir müssen uns also der Frage stellen: Was kann ab2016 eigentlich noch der Staat und was müssen dieEigentümer, das heißt kommunale, genossenschaftliche

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und freie Wohnungsbaugesellschaften und privateWohngebäudeeigentümer aus eigener Kraft leisten? Ge-rade die letztgenannte Gruppe ist mein großes Sorgen-kind und war häufig Leidtragende im bisherigenProzess, da sie häufig nicht einmal die benötigten Eigen-mittel zur Verfügung hatte, um am „Stadtumbau Ost“teilzunehmen. Die starken kommunalen und genossen-schaftlichen Akteure betrieben zudem zum Teil ihreLeerstandspolitik ohne Rücksicht auf die privaten Eigen-tümer, sodass in einigen Städten zum Teil absurd perfo-rierte Straßenzüge und Quartiere entstanden sind.Eigentlich hätte eine bessere Abstimmung zwischen denBetroffenen im Rahmen von integrierten Stadtentwick-lungsplänen solche Fehlentwicklung ausschließen müs-sen. Unsere Beobachtung war und ist jedoch, dass eszwar Stadtentwicklungspläne gab und gibt, aber dasssich viele Akteure nicht danach richten bzw. nicht da-nach gerichtet haben. Diese Missachtung der eigenenPlanung und die mangelhafte Partizipation der Betroffe-nen hat in vielen Orten zu Recht zu Protesten und erheb-lichen Konflikten geführt, die auch dadurch nicht gelöstwerden konnten, dass das Verhältnis zwischen Abrissund Aufwertung deutlich zugunsten der Aufwertung ver-schoben wurde. Denn damit bleiben die Probleme deskünftigen Leerstandes ungelöst.

Der „Stadtumbau Ost“ könnte allerdings durch die ge-stärkte Aufwertungskomponente eine wirkliche Chancesein, den ökologischen und klimagerechten Umbau derostdeutschen Städte zu befördern. Nur lebenswerteStädte werden in Zukunft eine Überlebenschance haben,und das heißt auch, dass wir sie demografiefest und ge-

nerationengerecht gestalten müssen. Dafür müssen dieAufwertungsmittel verwendet werden, denn es nützt unsnicht, wenn wir damit schön sanierten Leerstand in Alt-bauquartieren schaffen. Die Lebensbedingungen insbe-sondere für die schwächeren Stadtbewohner wie Kinderund Alte müssen daher signifikant verbessert und die At-traktivität der Klein-, Mittel- und Großstädte erhöht wer-den. Wir brauchen daher endlich den Paradigmenwech-sel weg von der autofreundlichen hin zur menschen- undbürgerfreundlichen Stadt. Ansonsten werden wir schnellan die Grenzen der Aufwertung stoßen, denn diese kannnur unter Beachtung aller Teilaspekte einer lebenswertenStadt erfolgreich sein.

Zu guter Letzt möchte ich noch auf das Dauerthema„Altschuldenhilfe“ im „Stadtumbau Ost“ eingehen. Wirwerden uns auch mit den gut gemeinten Vorschlägen ausdem Antrag der Großen Koalition dieses ewige Ärgernisnicht vom Hals schaffen. Der grundsätzliche Webfehleraus dem Einigungsvertrag bleibt erhalten und die beste-henden Rest-Altschulden werden durch Zins und Zinses-zins schon dafür sorgen, dass sie ein Dauerthema blei-ben. Hier fehlt einfach der Mut aufseiten der GroßenKoalition, einzugestehen, dass nur ein radikaler und ein-maliger schmerzhafter Schnitt dazu führen kann, dassdiese überflüssige Belastung ein für allemal der Vergan-genheit angehört. Ohne eine dauerhafte Klärung der Alt-schuldenproblematik wird es keine eigenwirtschaftlicheLösung der Leerstandsproblematik geben. Daher werdenBund und Länder immer wieder dafür in die Verantwor-tung gezogen. Und das wird uns noch viel Geld kosten.

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