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Die Ehefrau als Erbtochter im Recht von Gortyn Als Erbtochter, πατρδιδκος, galt in Gortyn eine Tochter, die, ohne Vater oder Bruder vom selben Vater 1 ), das ganze Familienvermögen erbte oder es allenfalls mit Schwestern teilte. Wen eine solche Tochter ehelichen sollte, hatte der Gesetzgeber eindeutig geregelt: sie war mit dem nächsten Verwandten ihres Vaters zu verheiraten, ihrem ältesten noch lebenden Onkel oder dem ältesten noch lebenden Sohn ihres ältesten aber bereits verstorbenen Onkels 2 ). Entgehen konnte sie dieser Pflicht nur, wenn sie den Nächstberechtigten mit knapp der Hälfte ihres Vermögens abfand 3 ). Ob diese Bestimmungen nicht nur die unverheiratete, sondern auch die verehelichte Erbtochter banden, ob sie also nicht nur für die ledige, sondern auch für die Frau galten, die, bevor sie durch den Tod von Vater oder Bruder zur Erbtochter wurde, einen anderen als den Nächstverwandten geheiratet hatte, ist umstritten. Für sie, die erst als Ehefrau Erbtochter wurde, legte der Gesetzgeber in col. 8, 20 30 folgendes fest: Αί δέ κα πατρός δόντος ε άδελπιΰ πατρδιδκος γένεται, ai λείοντος όπυίεν δι εδδκαν με λείοι όπυίε9αι, αι κ'ίστετέκνδται, διαλακόνσαν τδν κρεμάτδν άι εγρατται [&λλ]δι όπυιέ9[δ τα/ς πυλα]ς], vac. al δε τέκνα με εϊε, πάντ εκονσαν τ δι έπιβάλλοντι όπυίε&α ι, αϊ κ Éi, αϊ δέ μέ, αι εγρατται. „Wird eine Frau Erbtochter, die (bereits) von ihrem Vater oder Bruder ver- geben wurde, und will derjenige, dem sie sie gaben, verheiratet sein, 4 ) sie aber nicht, dann soll sie, sofern sie schon Kinder zur Welt gebracht hat, den genannten Teil vom Vermögen erhalten und einen anderen Mann aus der Phyle ehelichen. Gibt es aber keine Kinder, soll sie das ganze Vermögen haben und den Nächstberechtigten ehelichen, wenn es einen gibt; gibt es indessen keinen, wie (in col. 8, 8 —12) vorgeschrieben." Nach fast einhelliger Auffassung der älteren Forschung mußte sich aufgrund dieser Bestimmung wenigstens die kinderlose Ehefrau in dem Augenblick, da sie zur Erbtochter wurde, von ihrem Mann scheiden lassen, um den nächsten Verwandten zu heiraten. Habe sie dies vermeiden wollen, habe sie — nicht anders als die unverheirate- te Erbtochter — ihn als Nächstberechtigten mit knapp der Hälfte ihres Vermögens abfinden müssen 5 ). Gegen diese Deutung erhoben in jüngster Zeit A. Maffi und E. Ruschenbusch schwerwiegende Einwände 6 ). So berechtigt ihre Kritik auch ist, so wenig überzeugen indessen ihre Argumente und Lösungen 7 ). Nach Ruschenbusch verpflichtete der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung schon deswegen keine Frau dazu, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, weil er von ') Col. 8,40-42. 2 ) Col. 7, 15-24. 3 ) Col. 7, 52-8, 8. 4 ) Zu dieser Übersetzung s. u. Anm. 22. 5 ) So etwa E. Zitelmann, in: F. Bücheler/E. Zitelmann, Das Recht von Gortyn, Frankfurt 1885,154—155; im übrigen s. u. Anm. 22. Anders, soweit ich sehe, nur A. Gemoll, Das Recht von Gortyn, Striegau 1889, 21 mit Anm. 17. 6 ) A. Maffi, Le mariage de la patröoque „donnée" dans la Code de Gortyne (col. VIII, 20 - 30), RD 65,1987, 507-525;E.Ruschenbusch,Die verheiratete Frau als Erbtochter im Recht von Gortyn, ZRG Rom. Abt. 108, 1991, 287-289. 7 ) M a f f i , R D 65, 1987, 519, gibt dies ausdrücklich zu: „Je me rendre compte que l'interprétation que je propose est compliquée et ne trouve pas de correspondance explicite dans le texte de la loi." Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 9/19/13 12:54 PM

Die Ehefrau als Erbtochter im Recht von Gortyn

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Die Ehefrau als Erbtochter im Recht von Gortyn

Als Erbtochter, πατρδιδκος, galt in Gortyn eine Tochter, die, ohne Vater oder Bruder vom selben Vater1), das ganze Familienvermögen erbte oder es allenfalls mit Schwestern teilte. Wen eine solche Tochter ehelichen sollte, hatte der Gesetzgeber eindeutig geregelt: sie war mit dem nächsten Verwandten ihres Vaters zu verheiraten, ihrem ältesten noch lebenden Onkel oder dem ältesten noch lebenden Sohn ihres ältesten aber bereits verstorbenen Onkels2). Entgehen konnte sie dieser Pflicht nur, wenn sie den Nächstberechtigten mit knapp der Hälfte ihres Vermögens abfand3).

Ob diese Bestimmungen nicht nur die unverheiratete, sondern auch die verehelichte Erbtochter banden, ob sie also nicht nur für die ledige, sondern auch für die Frau galten, die, bevor sie durch den Tod von Vater oder Bruder zur Erbtochter wurde, einen anderen als den Nächstverwandten geheiratet hatte, ist umstritten. Für sie, die erst als Ehefrau Erbtochter wurde, legte der Gesetzgeber in col. 8, 20 — 30 folgendes fest:

Αί δέ κα πατρός δόντος ε άδελπιΰ πατρδιδκος γένεται, ai λείοντος όπυίεν δι εδδκαν με λείοι όπυίε9αι, αι κ'ίστετέκνδται, διαλακόνσαν τδν κρεμάτδν άι εγρατται [&λλ]δι όπυιέ9[δ τα/ς πυλα]ς], vac. al δε τέκνα με εϊε, πάντ εκονσαν τ δι έπιβάλλοντι όπυίε&α ι, αϊ κ Éi, αϊ δέ μέ, α ι εγρατται.

„Wird eine Frau Erbtochter, die (bereits) von ihrem Vater oder Bruder ver-geben wurde, und will derjenige, dem sie sie gaben, verheiratet sein,4) sie aber nicht, dann soll sie, sofern sie schon Kinder zur Welt gebracht hat, den genannten Teil vom Vermögen erhalten und einen anderen Mann aus der Phyle ehelichen. Gibt es aber keine Kinder, soll sie das ganze Vermögen haben und den Nächstberechtigten ehelichen, wenn es einen gibt; gibt es indessen keinen, wie (in col. 8, 8 —12) vorgeschrieben."

Nach fast einhelliger Auffassung der älteren Forschung mußte sich aufgrund dieser Bestimmung wenigstens die kinderlose Ehefrau in dem Augenblick, da sie zur Erbtochter wurde, von ihrem Mann scheiden lassen, um den nächsten Verwandten zu heiraten. Habe sie dies vermeiden wollen, habe sie — nicht anders als die unverheirate-te Erbtochter — ihn als Nächstberechtigten mit knapp der Hälfte ihres Vermögens abfinden müssen5). Gegen diese Deutung erhoben in jüngster Zeit A . Maf f i und E. Ruschenbusch schwerwiegende Einwände6). So berechtigt ihre Kritik auch ist, so wenig überzeugen indessen ihre Argumente und Lösungen7).

Nach R u s c h e n b u s c h verpflichtete der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung schon deswegen keine Frau dazu, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, weil er von

' ) Col. 8 , 40 -42 . 2) Col. 7, 15-24 . 3) Col. 7, 5 2 - 8 , 8. 4 ) Zu dieser Übersetzung s. u. Anm. 22. 5) So etwa E. Z i t e l m a n n , in: F. Büche l e r/E . Z i t e l m a n n , Das Recht von

Gortyn, Frankfurt 1885,154—155; im übrigen s. u. Anm. 22. Anders, soweit ich sehe, nur A . G e m o l l , Das Recht von Gortyn, Striegau 1889, 21 mit Anm. 17.

6) A . M a f f i , Le mariage de la patröoque „donnée" dans la Code de Gortyne (col. VI I I , 20 - 30), R D 65,1987, 5 0 7 - 5 2 5 ; E . R u s c h e n b u s c h , D i e verheiratete Frau als Erbtochter im Recht von Gortyn, Z R G Rom. Abt. 108, 1991, 287-289.

7) M a f f i , R D 65, 1987, 519, gibt dies ausdrücklich zu: „Je me rendre compte que l'interprétation que je propose est compliquée et ne trouve pas de correspondance explicite dans le texte de la loi."

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vornherein allein von solchen Frauen gesprochen habe, die beim Tode ihres Vaters bereits verwitwet waren: Nur bei einer Witwe habe er damit rechnen müssen, daß sie Kinder hätte haben können. Eine Frau hingegen, die sich von ihrem Mann scheiden ließ oder — als Erbtochter — hätte scheiden lassen müssen, habe keine Kinder „haben" können; Kinder aus einer geschiedenen Ehe seien nach col. 3, 44ff. und col. 4, 23 ff. vielmehr grundsätzlich beim Vater geblieben. Verpflichtete der Gesetzge-ber aber nur die Witwe, den nächsten Verwandten zu heiraten, zwang er keine verheiratete Frau zur Scheidung.

Gegen diese Deutung spricht viel: Col. 4, 23 — 27, die Bestimmung, nach der der Vater die Gewalt über die Kinder und

über die Verteilung des Familienvermögens haben sollte, bezieht sich auf die bestehende, nicht auf die aufgelöste Ehe8). Auf diese Bestimmung kann Ruschenbusch sich daher nicht stützen, wenn er die Frage zu klären versucht, welcher von zwei geschiedenen Ehepartnern die Gewalt über die Kinder hatte.

Dagegen trifft zwar zu, daß die geschiedene Frau ihr nachgeborenes Kind nach col. 3, 44—49 dem ehemaligen Gatten anbieten mußte; normalerweise übernahm demnach tatsächlich der Vater die Gewalt über die Kinder aus einer geschiedenen Ehe. Doch kannte der Gesetzgeber keineswegs nur die Regel, sondern auch die Ausnahme: Verweigerte der Vater die Annahme des Kindes, sollte seine Frau entscheiden können, ob sie es aussetzen oder aufziehen wollte. In diesem Fall sollte es also ihrer, nicht seiner Gewalt unterstehen. Nachdem er in col. 3,44—49 dies festgelegt hatte, konnte der Gesetzgeber in col. 8, 20 — 30 keinesfalls, wie Ruschenbusch unterstellt, als selbstver-ständlich voraussetzen, daß eine geschiedene Frau keine Kinder haben könne, im Gegenteil: Hatte der Ehegatte zugleich mit dem Interesse an seiner Frau auch das an seinen Kindern verloren, dürften wenigstens die Nachgeborenen sogar recht häufig in die Gewalt der Mutter gekommen sein.

Ansetzen kann die Kritik indessen an einem noch früheren Punkt: Schon Ruschenbuschs grundlegende Annahme, nach der in col. 8, 20 — 30 auch d i e Frau als kinderlos gegolten habe, die zwar ein Kind geboren, es aber nicht in ihrer Gewalt hatte, widerspricht dem Wortlaut des Gesetzes. Bezeichnete der Gesetzgeber die mit Kindern gesegnete Frau als eine Frau, die Kinder „entbunden hatte" (έστετέκνοται), meinte er zweifellos nicht allein die, die Kinder in ihrer Gewalt9), sondern grundsätzlich jede, die Kinder zur Welt gebracht hatte.

Ebenso kraß spricht gegen Ruschenbuschs Deutung, daß der Gesetzgeber selbst festlegte, wer als Erbtochter gelten und damit den Heiratsbestimmungen unterliegen sollte, daß sich seine Beschreibung mit der von Ruschenbusch aber durchaus nicht deckt: Nach col. 8, 40 — 42 sollte d i e Tochter als Erbtochter gelten, die keinen Vater oder Bruder von demselben Vater hatte. Hätte, wie Ruschenbusch (S. 289) meint, „nur eine Frau ohne (Ehe-)Mann ... als Erbtochter" gelten sollen, hätte der Gesetzgeber dies sagen müssen.

8) Dazu vgl. J. K o h l e r / E . Z i e b a r t h , Das Stadtrecht von Gortyn, Göttingen 1912, 10—11. Die abweichenden Deutungen dieser Bestimmung, die sich etwa bei Z i t e l m a n n , Das Recht 117 u. 135; G e m o l l , Das Recht 15 mit Anm. 1, und E. R a b e l , Elterliche Teilung, Labeo 7,1961, 65, finden, berühren diesen Sachverhalt nicht.

9) Vgl. seine Wortwahl in col. 4, 23 — 27.

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Ein letzter Einwand : Den ganzen Abschnitt hatte der Gesetzgeber unter die Klausel gestellt: „Will derjenige", dem Vater oder Bruder die Frau zur Gattin gegeben hatten, „verheiratet sein, sie aber nicht...". Daß der Ehemann schon verstorben und seine Frau mithin Witwe sein könnte, Schloß er damit von vornherein aus.

Dies sieht auch Ruschenbusch. Seine Zuflucht nimmt er zu der Behauptung, daß der Wille des Ehemannes eigentlich gar keine Rolle gespielt habe, denn nach Z. 27 f. habe er grundsätzlich keinen Anspruch auf das Vermögen der Erbtochter, unabhängig davon, ob er die Ehe oder die Scheidung gewollt habe. Die Worte, mit denen der Gesetzgeber den Willen des Mannes berücksichtigte, seien daher nichts als eine „stumpfsinnige Übernahme"10).

Der Gordische Knoten ist damit freilich eher durchschlagen als gelöst: Zum einen überzeugt eine Deutung, die den zu deutenden Text zur „stumpfsinnigen Übernahme" erklärt, nicht recht; und zum anderen nahm der Gesetzgeber auf den Willen des Ehemannes durchaus Rücksicht: Nicht nach Z. 27 — 28, wohl aber nach Z. 24—26 sollte er knapp die Hälfte vom Vermögen der Erbtochter erhalten, wenn sie sich scheiden lassen wollte, er aber nicht"). Diese Bestimmung ist vordem Hintergrund von col. 2, 45 — 52 zu sehen: Wurde eine Ehe geschieden, erhielt der Mann normalerweise nicht die Hälfte des Vermögens seiner Frau, sondern nur die Hälfte dessen, was es während ihrer Ehe an Erträgen eingebracht hatte. Eben dies sollte offenbar auch dann gelten, wenn er sich von ihr scheiden ließ12), obwohl sie nachträglich zur Erbtochter aufgestiegen und damit — vergleichsweise — reich geworden war. Doch dürften nur wenige Ehemänner diesen Wunsch geäußert haben : Nachdem ihre Frauen unerwartet reich geworden waren, mußte ihnen ihre Ehe eigentlich noch attraktiver als früher

10) ZRG Rom. Abt. 108, 1991, 289. ") Daß diese Bestimmung zwar vorsah, das Vermögen zu teilen, wie in col.

7, 52 —8, 7 festgelegt (vgl. dazu jetzt auch R. Se a l ey , Woman and Law in Classical Greece, Chapel Hill 1990, 64f., anders freilich R u s c h e n b u s c h , ZRG Rom. Abt. 108,1991, 289), daß der etwas kleinere Teil aber nicht etwa dem nächsten männlichen Verwandten, sondern dem Ehemann zustand, sah bereits Z i t e l m a n n , Das Recht 154: „Sie hat die Wahl entweder die Ehe fortzusetzen oder gegen die oben gedachte Abfindung, die diess Mal an den E h e m a n n gezahlt wird, frei zu sein" (Sperrung Z i t e l m a n n ) . Anders etwa R. F. W i 11 e t s, The Law Code of Gortyn, Berlin 1967, 72 z. St. (mit weiterer Literatur); wieder anders M a f f i , RD 65, 1987, 516 — 517. Nach Maffi fiel der Teil des Vermögens, den die scheidungswillige Erbtochter abgeben mußte, an ihren epiballon. Nur weil er durch diesen Teil bereits abgefunden worden sei, habe der Gesetzgeber der geschiedenen Frau die Möglichkeit bieten können, sich, von weiteren Verpflichtungen frei, einen anderen Mann aus der Phyle zu suchen. Doch irrt Maffi aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn er voraussetzt, daß überhaupt ein epiballon hätte abgefunden werden müssen. Rechte anmelden konnte ein epiballon nur, wenn es eine Erbtochter gab; gab es keine, hatte er auch keine Ansprüche. Eben dieser Fall lag hier vor, da die Erbtochter, wie R u s c h e n b u s c h sagt, „ihre Aufgabe als Beschafferin eines Erben bereits erfüllt hat und also eigentlich keine Erbtochter mehr ist": ZRG Rom. Abt. 108,1991, 287. Auch M a f f i sieht dies an anderer Stelle richtig; a. O. 521 : „Donc, si la patrôoque a des enfants, les épiballontes n'ont aucun droit sur l'héritage." Dennoch verleitet ihn die Tatsache, daß der Gesetzgeber die epiballontes hier überging, zu der Vermutung, daß die Erbtochter nicht einem beliebigen Mann, sondern lediglich einem jüngeren als dem nächstberechtigten epiballon „versprochen" worden sei (a. O. 510).

12) Dies zu M a f f i , RD 65, 1987, 510: „... on ne comprend pas très bien ce qui pourrait arriver si c'était le mari qui voulait divorcer contre la volonté de sa femme."

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S. Link, Die Ehefrau als Erbtochter in Gortyn 417

erscheinen. Aus der Sicht der Frauen stellte sich der Fall freilich anders dar: Daß sie vor dem neuen Hintergrund vor allem dann, wenn sie bereits Kinder in die Welt gesetzt hatten und daher frei sein sollten, sich nach Belieben einen Mann aus der Phyle zu wählen, darauf pochen würden, die alte Ehe aufzulösen, weil sie sich nunmehr eine bessere Partie versprachen, ist ein naheliegender Gedanke. Gestand der Gesetzgeber für diesen Fall ihrem ersten Mann die Hälfte ihres Vermögens zu, schützte er also die nachträglich gefährdete Familie13); um sie schützen zu können, ohne andererseits wieder den Ehemann zu sehr zu begünstigen, unterschied er danach, ob die Frau oder der Mann die Scheidung wünschte'4). Wie wichtig ihm diese Unterscheidung war, geht deutlich genug daraus hervor, daß er zu einer unerwartet umständlichen, dafür aber sehr genauen Wendung griff („will derjenige, dem sie sie gaben, verheiratet sein, sie aber nicht"), statt — wie in col. 2, 45—46 — einfach davon zu sprechen, daß Ehemann und Ehefrau geschieden wurden.

Mit einem Wort: Alles spricht gegen die Annahme von Ruschenbusch, die Bestimmung, nach der schon früher einmal verheiratete Erbtöchter erneut heiraten mußten, habe sich nur auf Witwen bezogen.

Ebensowenig überzeugt die Deutung von M a ff i ; daß seine Argumentation mehrere Fehler aufweist, betonte schon Ruschenbusch, ohne sie im einzelnen aufzuzeigen15). Nach Maffi, dem Ruschenbusch in diesem Punkte folgt, gibt den Ausschlag, daß der Gesetzgeber von einer Frau sprach, die vom Vater oder Bruder „vergeben", nicht etwa von einer, die von einem der beiden „verheiratet" worden war. Zwischen diesen Begriffen habe er unterschieden, um auszudrücken, daß die Frau vom Vater oder Bruder nur „versprochen" worden sei16); versprochen worden sei sie nicht dem ältesten, sondern einem jüngeren Mann aus dem Kreis der nächstberech-tigten Verwandten"). Heiratsfähig geworden, habe sie entscheiden können, ob sie ihn ehelichen wollte oder nicht; habe sie sich gegen ihn entschieden, sei sie nach den vorhergehenden Bestimmungen dem ältesten zugewiesen worden. Mehr als dies habe der Gesetzgeber nicht bestimmt ; mehr als die Verehelichung der „versprochenen" Frau habe er nicht geregelt. Daher habe er auch keine verheiratete Frau dazu gezwungen, sich scheiden zu lassen, um den nächsten Verwandten zu ehelichen.

Für diese Deutung spricht wenig, gegen sie erheben sich zumindest zwei schwere Bedenken:

Daß der Gesetzgeber zwischen „heiraten" und „geben" unterschied, weist durchaus nicht darauf, daß die vom Vater oder Bruder „vergebene" Frau nur „versprochen", nicht auch verehelicht worden sei. Wenigstens der Wortlaut selbst stützt diese Deutung

") Daß er allein die Ehe schützte, aus der bereits Kinder hervorgegangen waren, entspricht der auch sonst erkennbaren Ansicht, nach der eine Ehe erst durch Kinder qualifiziert und zur .richtigen' Familie wurde; dazu s. H. J. W o l f f , Marriage Law and Family Organisation in Ancient Athens, Traditio 2, 1944, 46 — 50; J. M o d r z e -j e w s k i , La structure juridique du mariage grec, in: P. D. D i m a k i s (Hg.), Symposion 1979, Köln 1983, 6 3 - 6 5 . 69.

I4) Anders freilich auch M a f f i , RD65,1987, 510: „Aucun besoin de préciser:... 'si son mari ne veut pas divorcer'".

") RD 65, 1987, 287. ,δ) Diese Lösung freilich schon vorgezeichnet von G e m o l l . Das Recht 21 mit

Anm. 16 und 17, und M o d r z e j e w s k i , Symposion 1979, 46 — 48. ") M a f f i , RD 65, 1987, 508. 510. 512-515 ; vgl. o. Anm. 11.

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nicht: Eine Tochter zu „vergeben" heißt nicht nur dem verbreiteten Gebrauch1 8), sondern vor allem auch der inneren Logik nach, sie aus der eigenen Hand zu geben und somit zu verheiraten; schwerlich heißt „vergeben", sie jemandem in Aussicht zu stellen und ihr selbst die Entscheidung darüber zu überlassen, ob sie ihn wirk-lich heiraten wollte oder nicht. D a ß athenische Redner bisweilen auch dann von „geben" sprachen, wenn die Frau den Mann noch nicht ehelichte"), kann schwer-lich als Gegenargument gelten: Da in Athen auch die nur „versprochene" Tochter mitsamt ihrem H a b und G u t in die Hausgewalt des Mannes geriet, dem sie ver-sprochen worden war, konnten die Redner in Athen auch dann, wenn die Hochzeit noch nicht sofort vollzogen wurde, in einem viel prägnanteren Sinn von „geben" sprechen, als es der gortynische Gesetzgeber, der j a keine Gewalt des Mannes über die Frau und ihr Vermögen kannte20), je gekonnt hätte.

Dazu kommt , daß leicht zu erklären ist, weshalb der Gesetzgeber nicht davon sprach, daß der Vater oder der Bruder die F rau „verheiratet", sondern davon, daß sie sie „vergeben" hat te : „Heiraten" konnte allein der Bräutigam, „geheiratet werden" allein die Braut. Wollte der Gesetzgeber sagen, daß ihr Vater oder ihr Bruder sie „verheiratet" hatte — (und eben dies mußte er sagen, um ganz deutlich zu machen, daß sie zur Zeit ihrer Heirat noch keine Erbtochter gewesen war21) —, fehlte ihm das entsprechende Wort. Allein aus diesem Grund sprach er davon, daß einer von beiden sie „vergab"22).

Schwererwiegend: Der Gesetzgeber hatte in col. 7 , 1 5 — 18 klar genug best immt: „Die Erbtochter soll mit dem Bruder des Vaters verheiratet werden, und zwar dem ältesten der lebenden." Hätte , wie Maffi23) und Ruschenbusch2 4) vermuten, der sterbende Vater oder Bruder sie vom Totenbett aus, das heißt, unmittelbar bevor er starb und sie Erbtochter wurde, schnell noch einem anderen als dem Nächst-

18) Vgl. etwa Hdt . 6, 71, 2; Aristot. pol. 1270a 2 6 - 2 7 . " ) M a f f i , R D 65, 1987, 514. 20) Col. 4, 2 3 - 2 7 ; dazu s. o. Anm. 8. 21) Dies zu M a f f i , R D 65, 1987, 510: „Aucun besoin de préciser: 'si elle a été

donnée par son père ou son f rère . . . ' " . 22) Vor diesem Hintergrund kann der Ausdruck, nach dem eine bereits „ver-

gebene" Tochter möglicherweise nicht „verehelicht sein" wollte, tatsächlich, wie W i l l e t s noch einmal betonte und G. P. E d w a r d s ' Untersuchung bestätigte (Meaning and Aspect in the Verb όπύιω, Minos NS 20 — 22, 1987, 173 — 181, bes. 175 — 177), nur so gedeutet werden, daß sie nicht „(mehr) verehelicht sein", d . h . nicht „verehelicht bleiben" wollte; so bereits Z i t e l m a n n , Das Recht 154 mit Anm. 26, gefolgt von J. u. T. B a u n a c k , Die Inschrift von Gor tyn, Leipzig 1885, 112; ebenso H. L e w y , Altes Stadtrecht von Gor tyn auf Kreta , Berlin 1885, 19; F. B e r n h ö f t , Die Inschrift von Gortyn, Stuttgart 1886, 2 6 - 2 7 ; H. J. R o b y , L Q R 2, 1886, 149; so offenbar auch A. C. M e r r i a m , Law Code of the Kretan Gor tyna , AJA 2, 1886, 29; J. K e e l h o f f , Het inschrift van Gor tyna in Kreta , Nederlandsch Museum 7, 1887, 42; K o h l e r / Z i e b a r t h , Das Stadtrecht 19; anders G e m o l l , Das Recht 21 mit Anm. 16; M a f f i , R D 65, 1987, 512; R u s c h e n -b u s c h , Z R G Rom. Abt . 108, 1991, 288. W i l l e t s ' Erläuterung (The Law Code 72 z. St.), die auch die Meinung der älteren Kommenta toren widerspiegelt, ist freilich irrig: „The mat ter is presented in this way because the married woman, by becoming an heiress, has acquired a quite new status, as a result of which her marriage has to be reaff irmed."

23) R D 65, 1987, 5 1 4 - 5 1 5 . 24) Z R G Rom. Abt . 108, 1991, 288.

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berechtigten versprochen und so vollendete Tatsachen geschaffen, hätte er diese Bestimmung dem Buchstaben nach zwar befolgt, dem Geist nach aber verletzt. Daß der Gesetzgeber die Rechtsbeugung in col. 8, 20 — 30 anerkannt haben soll, ist ganz unwahrscheinlich — zumal jeder Hinweis darauf fehlt, daß er hier eine Ausnahme von seiner früheren Regel hätte machen wollen.

Und schließlich ist durchaus nicht einzusehen, weshalb der Gesetzgeber damit hätte rechnen sollen, daß eine Tochter, die nur „versprochen" nicht auch ver-ehelicht gewesen wäre, Kinder gehabt hätte25), oder umgekehrt, daß eine Tochter, die — sei es als Witwe, sei es als geschiedene Frau — bereits Kinder gehabt hätte, noch hätte „versprochen" werden sollen. War die Frau bislang unverheiratet gewesen, könnte es für ihren Vater oder Bruder zwar nahegelegen haben, sie einem anderen als dem Nächstberechtigten zu versprechen; in diesem Fall aber hätte sie noch keine Kinder gehabt. Hatte sie, etwa als Witwe, bereits Kinder, gab es keinen Grund mehr, sie jemandem zu versprechen, denn sie durfte nach Z. 26 — 27 ohnehin jeden Mann aus der Phyle ehelichen, den sie für sich gewinnen konnte.

Daß weder die eine noch die andere der beiden neuen Lösungen überzeugt, liegt vor allem daran, daß sie beide den Fehler der älteren Forschung wiederholen, den logischen Aufbau der Bestimmung zu verzerren. Anders als den älteren Kommentatoren fehlt ihnen dazu freilich jeder Grund: Während die älteren — wenig-stens zum Teil sogar bewußt26) — gegen die Struktur des Textes verstießen, um in Gortyn ein Scheidungsgebot wiederfinden zu können, das sie von Athen her kannten27), bezweifelten Maffi und Ruschenbusch ja eben dies. Die aufgezwungene und sinnverzerrende Struktur der älteren Kommentatoren überlebte jedoch deren Sachdeutung und verstellte auch den jüngeren noch den Blick auf die nächstliegende Lösung:

Unter welchen Voraussetzungen der Gesetzgeber einer Frau welche Pflichten auferlegte, drückte er in einer dreigliedrigen Folge von Bedingungssätzen aus: Wenn eine verheiratete Frau — so die Struktur — (1.) nachträglich Erbtochter wird, wenn sie sich (2.) von ihrem Mann scheiden lassen will, und wenn sie (3 a) Kinder hat, dann soll sie einen Teil des Vermögens haben. Zu dieser letzten Bedingung, zu (3 a), und nicht etwa zu (2), gab es eine Alternative: Und wenn sie (3b) keine Kinder hat, dann soll sie das ganze Vermögen haben und den nächsten Verwandten ehelichen. Mit anderen Worten : Die Pflicht, den nächsten Verwandten zu ehelichen, trat nicht schon dann ein, wenn die verheiratete Frau kinderlos war und nachträglich Erbtochter wurde, sondern erst dann, wenn sie, nachdem sie in kinderloser Ehe Erbtochter geworden war, beschloß, sich scheiden zu lassen. Einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Fall, daß eine verheiratete Tochter Erbtochter wurde, und dem, daß sie sich scheiden lassen wollte, gab es ganz offensichtlich nicht; keinesfalls mußte sie sich gar scheiden lassen (oder wenigstens ihren nächsten Verwandten nach col. 7, 52 — 8, 8

:5) So bereits Ζ i t e 1 m a η η, Das Recht 154 mit Anm. 23 ; M a ff i s Einwand, RD 65, 1987, 113, überzeugt nicht.

26) Vgl. u. Anm. 28. 27) Zu diesem Scheidungsgebot vgl. indessen jetzt R u s c h e n b u s c h , Bemerkungen

zum Erbtochterrecht in den solonischen Gesetzen, Symposium 1988, 1990, 17 — 18, und M a f f i , E' esista l'aferesi dell' epikterosl, Symposium 1988, 1990, 2 1 - 3 6 . 40.

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abfinden), weil sie Erbtochter geworden war28). Im Gegenteil: Auch dann, wenn sie nachträglich Erbtochter wurde, blieb sie selbstverständlich mit dem Mann verheiratet, dem sie früher angetraut worden war. Nur wenn sie sich freiwillig irgendwann einmal von ihm scheiden ließ, und wenn sie bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Kinder zur Welt gebracht hatte, an die sie das Vermögen ihres Vaters hätte weiter-geben können, sollte sie erneut heiraten, und zwar — wie auch die noch niemals verheiratete Erbtochter — den nächsten Verwandten. Schon der Steinmetz dürfte dies freilich nicht recht verstanden haben oder sich unsicher gewesen sein — weshalb sonst sollte er die Bedingungen (1) bis (3 a) direkt aneinandergebunden, zwischen (3 a) und (3 b) aber einen — seinerseits freilich wieder zu kleingeratenen — Textabstand gelassen haben?

Folgt man dieser Deutung, tritt auch die Gliederung der achten Kolumne klar vor Augen : Zunächst regelte der Gesetzgeber die Rechte und Pflichten der unverheirateten Erbtochter, in Zeile 20 — 30 die der geschiedenen, und in Zeile 30 — 36 die der verwitweten. Eine sonst nicht belegte vierte Kategorie von Frauen, die Gruppe der „versprochenen" Erbtöchter, führte er hier ebensowenig ein, wie er die zweite Kategorie, die geschiedenen Erbtöchter, vergaß29).

Paderborn S t e f a n L i n k

28) An dieser Meinung hielt Ζ i t e 1 m a η η , obwohl er die Struktur des Textes richtig erkannte, ausdrücklich und gegen den Wortlaut fest; Das Recht 154f. mit Anm. 28: „Die Worte des Gesetzes sind incorrect gestellt."

29) So aber, durch seine Deutung gezwungen, M a f f i , RD 65, 1987, 508. 520. 524.

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