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Editorial Mit der Entwicklung der hochtechnisierten apparativen Medizin hat die Be- schreibung des einzelnen Falles (Fallstudie, Kasuistik) einen immer gerin- geren Wert in der medizinischen Literatur erhalten. Nicht subjektive ,,wei- che" Daten sind gefragt, sondern objektive ,,harte" Daten. Demgem/iB ge- nieBt die prospektive kontrollierte randomisierte Studie gegenw~irtig in der klinischen Forschung sehr hohes Ansehen, gefolgt vonder prospektiven nicht-randomisierten Studie, der retrospektiven Kohortenstudie und der Fall-Kontroll-Studie. Ganz unten in der Wertsch~itzung rangiert die Kasui- stik. Mannebach weist in seinem Artikel aberzeugend darauf hin, dab die pro- spektiven Studien bei allen ihren St/irken auch Schw~ichen besitzen k6n- nen: Ein Selektionsbias kann zuweilen dazu ftihren, dab solche Studien ftir bestimmte Personengruppen wie ~iltere Patienten und Frauen nicht repr/i- sentativ sind, weil die Daten wie z. B. in der bertihmten MRFIT-Studie (Mul- tiple Risk Factor Intervention Trial) nur an M/innem gewonnen wurden [1]. Dartiber hinaus kann es bei rein quantitativen Betrachtungsweisen dazu kommen, dab der Mythos der statistischen Signifikanz Fragen der klinischen Relevanz verdr~ingt. Dieses Problem kann z. B. bei klinischen Therapie- studien auftreten, bei denen der Unterschied von Therapieeffekten aufgrund der groBen Zahl von Probanden bzw. Patienten statistisch signifikant wird, ohne dab dieser Unterschied aber ftir die Patienten irgendeine klinische Re- levanz h~itte. Selbstverst~indlich wtirden daher gute klinische Studien sol- che Gesichtspunkte schon beim Studiendesign berficksichtigen. Interessanterweise haben viele medizinische Fachzeitschriften die Publi- kation von Kasuistiken angeblich wegen deren schlechter Qualit~it einge- stellt. Andere haben far die Ver6ffentlichung yon Fallstudien Kriterien ge- fordert, die diese als Sammlungen medizinischer Monstrosit/iten und Ku- riosit/iten entarten lassen. Die Vernachl/issigung der Kasuistik hat zur Folge, dab der durch die pers6nlichen Variablen des einzelnen Kranken gebildete Erfahrungskomplex verlorengeht, welcher zu neuen Therapieans/itzen ftihren kann [2]. Wie Mannebach im Rekurs auf die Wissenschaftstheorie yon Thomas Kuhn [3] darlegt, sind es aber genau diese Einzelbeobachtun- gen, die die Widerspriiche einer bestimmten medizinischen Theorie often- baren k6nnen und, wenn sie eine bestimmte kritische Zahl angenommen haben, das gerade herrschende Paradigma in Frage stellen. Im weiteren Ver- lauf des Wissenschaftsprozesses k6nnen solche Einzelbeobachtungen dann alternative Hypothesen generieren und schlieBlich zu einem Paradigmen- wechsel beitragen bzw. eine Wissenschaft tiberhaupt erst ins Leben rufen wie die theoretischen Konstrukte der Psychoanalyse durch ftinf sehr de~ taillierte Einzelfallbeschreibungen. Einzelfallbeschreibungen k6nnen tiber Fallsammlungen zu Fallregistern f0hren, wie etwa der yon Mannebach angeftihrte 1936 publizierte Atlas der Z. f. Gesundheitswiss., 4. Jg. 1996, H. 3 195

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Editorial

Mit der Entwicklung der hochtechnisierten apparativen Medizin hat die Be- schreibung des einzelnen Falles (Fallstudie, Kasuistik) einen immer gerin- geren Wert in der medizinischen Literatur erhalten. Nicht subjektive ,,wei- che" Daten sind gefragt, sondern objektive ,,harte" Daten. Demgem/iB ge- nieBt die prospektive kontrollierte randomisierte Studie gegenw~irtig in der klinischen Forschung sehr hohes Ansehen, gefolgt vonder prospektiven nicht-randomisierten Studie, der retrospektiven Kohortenstudie und der Fall-Kontroll-Studie. Ganz unten in der Wertsch~itzung rangiert die Kasui- stik.

Mannebach weist in seinem Artikel aberzeugend darauf hin, dab die pro- spektiven Studien bei allen ihren St/irken auch Schw~ichen besitzen k6n- nen: Ein Selektionsbias kann zuweilen dazu ftihren, dab solche Studien ftir bestimmte Personengruppen wie ~iltere Patienten und Frauen nicht repr/i- sentativ sind, weil die Daten wie z. B. in der bertihmten MRFIT-Studie (Mul- tiple Risk Factor Intervention Trial) nur an M/innem gewonnen wurden [1]. Dartiber hinaus kann es bei rein quantitativen Betrachtungsweisen dazu kommen, dab der Mythos der statistischen Signifikanz Fragen der klinischen Relevanz verdr~ingt. Dieses Problem kann z. B. bei klinischen Therapie- studien auftreten, bei denen der Unterschied von Therapieeffekten aufgrund der groBen Zahl von Probanden bzw. Patienten statistisch signifikant wird, ohne dab dieser Unterschied aber ftir die Patienten irgendeine klinische Re- levanz h~itte. Selbstverst~indlich wtirden daher gute klinische Studien sol- che Gesichtspunkte schon beim Studiendesign berficksichtigen.

Interessanterweise haben viele medizinische Fachzeitschriften die Publi- kation von Kasuistiken angeblich wegen deren schlechter Qualit~it einge- stellt. Andere haben far die Ver6ffentlichung yon Fallstudien Kriterien ge- fordert, die diese als Sammlungen medizinischer Monstrosit/iten und Ku- riosit/iten entarten lassen. Die Vernachl/issigung der Kasuistik hat zur Folge, dab der durch die pers6nlichen Variablen des einzelnen Kranken gebildete Erfahrungskomplex verlorengeht, welcher zu neuen Therapieans/itzen ftihren kann [2]. Wie Mannebach im Rekurs auf die Wissenschaftstheorie yon Thomas Kuhn [3] darlegt, sind es aber genau diese Einzelbeobachtun- gen, die die Widerspriiche einer bestimmten medizinischen Theorie often- baren k6nnen und, wenn sie eine bestimmte kritische Zahl angenommen haben, das gerade herrschende Paradigma in Frage stellen. Im weiteren Ver- lauf des Wissenschaftsprozesses k6nnen solche Einzelbeobachtungen dann alternative Hypothesen generieren und schlieBlich zu einem Paradigmen- wechsel beitragen bzw. eine Wissenschaft tiberhaupt erst ins Leben rufen wie die theoretischen Konstrukte der Psychoanalyse durch ftinf sehr de~ taillierte Einzelfallbeschreibungen.

Einzelfallbeschreibungen k6nnen tiber Fallsammlungen zu Fallregistern f0hren, wie etwa der yon Mannebach angeftihrte 1936 publizierte Atlas der

Z. f. Gesundheitswiss., 4. Jg. 1996, H. 3 195

angeborenen Herzfehler von Maude Abbott. Auch andere Register wie Krebsregister oder das AIDS-Fallregister der Centers for Disease Control and Prevention in den USA oder des Robert-Koch-Instituts in Deutschland stellen sehr wertvolle Datenbasen for die Erforschung epidemiologischer und klinischer Fragestellungen dar. f,)ber das erworbene Immundefekt- syndrom (AIDS) ist die medizinische Offentlichkeit in den USA und Deutschland erstmalig anhand von Einzelfalldarstellungen informiert wor- den [4-6]. Sp/iter haben publizierte Fallsammlungen von verstorbenen AIDS-Patienten anhand autoptischer Untersuchungen selbstkritische Auf- schltisse dartiber gegeben, welche Diagnosen zu Lebzeiten dieser Patien- ten klinisch nicht gestellt worden sind, wodurch weitere Einblicke in das Krankheitsgeschehen und eine verbesserte Diagnostik erm6glicht wurden [7].

Anhand yon ibm selbst durchgefiihrten Literaturrecherchen zeigt Manne- bach auf, dab die meisten Fallberichte in der kardiologischen Literatur in- haltlich einer prozeduren-orientierten technischen Medizin verhaftet sind, w/ihrend vergleichsweise ethische Fragen und Aspekte der Lebensqualit/it eher vernachl~issigt werden. Erst in der seit 1992 im New England Journal of Medicine ver6ffentlichten Artikelserie ,,Clinical Problem Solving" wer- den jeden Monat anhand von konkreten Kasuistiken Aspekte der/irztlichen Entscheidungsfindung er6rtert, von denen einige unter dem Motto einer neuen/irztlichen Bescheidenheit stehen: nicht Gesundheitsmaximierung um jeden Preis, sondern Schadensminimierung als Richtschnur grztlichen Han- delns.

M6glicherweise ktindigt sich hier ein zuktinftig zu erwartender Paradig- menwechsel in der medizinischen Wissenschaft an, indem die teilweise bio- mechanisch reduzierte Medizin den einseitig auf die Organebene gerichte- ten Blick wieder im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtungsweise auf den leidenden Patienten in seiner Mitwelt und Umwelt erweitert und die Me- dizin als Multidisziplin auger ihren naturwissenschaftlichen auch ihren so- zialwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisdimensionen ge- recht wird. Damit wird die Kasuistik als Erkenntnismethode m6glicherweise wieder den ihr zustehenden Stellenwert in der medizinischen Forschung zurtickerobern.

Interessanterweise lebt ja die Wissenschaft der Bev61kerungsmedizin oder Epidemiologie, die die Verteilung von Krankheiten in der Bev61kerung, de- ren Ursachen und Pr/ivention zum Gegenstand hat, von der Differenzie- rung und Stratifizierung, indem bestimmte Aussagen fiir bestimmte Bev61- kerungsgruppen, z. B. nach Alter und Geschlecht, spezifiziert werden, da- mit sie wie bei der Kasuistik auf einzelne Personen angewendet werden k6n- nen. Insofern haben wit es hier mit einem Kontinuum zu tun, vom Indivi- duum fiber Gruppen von Individuen (Schichten = Strata, Cluster), in denen bestimmte Erkrankungen geh/iuft beobachtet werden, zur Pr/ivalenz in gr6geren Bev61kerungen, z. B. eines Landes.

Vom wissenschaftstheoretischen Aspekt her schlage ich vor, dab wir Paul Feyerabend mit seinem Buch ,,Against Method" [8] folgen und eine Be- reicherung des medizinischen Erkenntnisgewinns darin sehen, dab neben quantitativen Betrachtungsweisen, wie z. B. in der Epidemiologie und na-

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turwissenschaftlichen Medizin tiblich, gleichberechtigt qualitative Metho- den erw~inscht sind, von denen eine die Kasuistik ist.

Neben der Medizin k rnnen Kasuistiken auch liar die Disziplin der Ge- sundheitswissenschaften (Public health) eine besondere Bedeutung haben. Im Gegensatz zu der zuvor erw~ihnten Darstellung von seltenen und auger- gewrhnlichen F/illen ginge es hier vielmehr um den ,,allt~iglichen" Fall mit seiner Relevanz f~ir bevrlkerungsmedizinische, gesundheitsrkonomische und ethische Aspekte. So verstanden krnnen Falldarstellungen interessante Aufschltisse tiber Ver~inderungen und zeitliche Trends von Erkrankungen und deren Risikofaktoren geben.

Die klassische wie moderne Bedeutung der Kasuistik ftir eine Medizin der Zukunft besteht in ihrer Betonung der Anamnese (Krankengeschichte), w~ihrend die gegenw~irtige Medizin offenbar durch eine Abwertung der Falldarstellung in der klinischen Forschung und mitunter eine Vernachl~is- sigung der Anamnese in der praktischen/irztlichen T/atigkeit charakterisiert ist. Dabei kann - wie gezeigt - eine gute Kasuistik tiber einen h rh e r en in- tellektuellen und wissenschaftlichen Gehalt verftigen als so manche quan- titative Betrachtung derselben Erkrankung mit grogen Fallzahlen.

Analog stellt eine gute Anamnese die Voraussetzung ftir einen intelligen- ten arztlichen EntscheidungsprozeB dar, um der Patientin/dem Patienten unnrt ige belastende und teure Untersuchungen, Folgeuntersuchungen und ggf. Therapien zu ersparen. Auch aus methodischen Grtinden ist ein blin- des Screening, sei es aus Unsicherheit oder im Sinne einer ,,Absicherungs- medizin", wegen des geringen Vorhersagewertes ftir die Krankheit bei po- sitiven oder negativen Testergebnissen kontrainduziert. Dies ist von be- sonderer Relevanz vor dem Hintergrund einer zunehmenden technischen Machbarkeit in der heutigen Apparatemedizin und der damit zusammen- hangenden Kostenexplosion im Gesundheitswesen, welche ein verntinfti- ges Krankhei tsmanagement (disease management) erfordern.

Literatur

[1] Neaton JD. Serum cholesterol level and mortality findings for men screened in the Multiple Risk Factor Intervention Trial. Arch Intern Med 1992; 152:1490-1500.

[2] Begemann H. Therapie als Wissenschaft. Dtsch Med Wschr 1988; 113: 1198-1203. [3] Kuhn T. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt: Suhrkamp

1989. [4] Gottlieb MS. Pneumocystis carinii pneumonia and mucosal candidiasis in

previously healthy homosexual men: evidence of a new acquired cellular immunodeficiency. New Engl J Med 1981; 305:1425.

[5] Friedmann-Kien AE. Kaposi's sarcoma and pneumocystis pneumonia among homosexual men - New York City and California. MMWR 1981; 30: 305.

[6] Kr~imer A. Besondere gastrointestinale Manifestationen einer generalisierten Zytomegalie-Virus-Infektion bei einem Patienten mit erworbenem Immun- defektsyudrom. Dtsch med Wschr 1985; 110(12): 462-468.

[7] Kr/amer A. Kritische Analyse klinischer und autoptischer Befunde bei Patien- ten mit Aids. AIFO 1987; 10: 576-582.

[8] Feyerabend PK. Against Method. London: Verso 1993.

Prof. Dr. Alexander Kr/imer, Universit~it Bielefeld, Fakult~it fiir Gesundheitswis- senschaften, AG Bevrlkerungsmedizin und biomedizinische Grundlagen, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld

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