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WS00-01-EinführungSprachwiss-1-5.doc 1 VON 26 Professor Dr. Wolfgang Wildgen Stand: WS 2000/2001 Fachbereich 10 Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft Vorwort Dieses Skriptum ist im Verlauf der wiederholten Einführungen in die Sprachwissen- schaft für Germanisten an der Universität Bremen entstanden. Eine Vorfassung, die jetzt überarbeitet und korrigiert wurde, stand einige Monate im Internet und auch diese Fassung wird jedes Jahr aktualisiert werden. Die Gesamtgliederung der Vorlesung umfasst drei Hauptteile, von denen die beiden ersten Teile in einer zweistündigen Veranstaltung im Wintersemester (mit Tutorien) Gegenstand des Unterrichts sind; der dritte Teil (noch nicht verfügbar) ist Gegen- stand einer halbsemestrigen Veranstaltung im Sommersemester, die auf eine Einfüh- rung in die Sprachgeschichte des Deutschen folgt. Der erste Teil beschreibt die Entstehung und Zielsetzung der Disziplin, die als „deut- sche Sprachwissenschaft“, „Linguistik des Deutschen“, „Germanistische Linguistik“ bezeichnet werden kann. Danach werden zuerst die Hauptgegenstände der Sprach- wissenschaft und der Semiotik vorgestellt. Anschließend werden die Wege zur mo- dernen Sprachwissenschaft im Überblick dargestellt, insbesondere wird diskutiert, was eine „Grammatik der deutschen Sprache“ leisten soll. Der erste Teil schließt ab mit einer Erörterung zur empirischen Basis der Sprachwissenschaft. Der zweite Teil behandelt in systematischer Weise eine (enge) Auswahl von Themen der Grammatikschreibung, wobei die traditionelle Ebenenteilung: Phonologie, Mor- phologie, Wortbildung, Lexikon, Syntax zugrunde gelegt wird. Damit die Studieren- den in den Tutorien und im Selbst-Studium die exemplarisch behandelten Stoff- gebiete erweitern können, wird durchgehend auf die neueste Auflage der Duden- Grammatik Bezug genommen, die zur Anschaffung empfohlen wird. 1 Von der Germanischen Philologie zur Germanistischen Linguistik 1.1 Vorstufen Seit der Konsolidierung der europäischen Nationalsprachen (Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch u.a.) als Kultur- und Wissenschaftssprachen im 16. Jh. gab es kontinuierlich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte. Der erste Ansatz war normativ im Sinne einer Sprachreinigung, einer Verbesserung der deutschen Sprache. Die Sprachgesellschaften des 17. Jh. ahmten ähnliche Initiativen in Italien (Accademia della Crusca, 1582 gegründet) und Holland (Rederijkerkamers) nach und hatten so poetische Namen wie: 1617 „Fruchtbringende Gesellschaft“ (Palmenorden) in Weimar

Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft · Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft Vorwort ... Diese romantische Suche nach den Wurzeln wird begleitet von einer Ablehnung

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WS00-01-EinführungSprachwiss-1-5.doc 1 VON 26

Professor Dr. Wolfgang Wildgen Stand: WS 2000/2001 Fachbereich 10

Einführung in die deutsche Sprachwissenschaft

Vorwort Dieses Skriptum ist im Verlauf der wiederholten Einführungen in die Sprachwissen-schaft für Germanisten an der Universität Bremen entstanden. Eine Vorfassung, die jetzt überarbeitet und korrigiert wurde, stand einige Monate im Internet und auch diese Fassung wird jedes Jahr aktualisiert werden.

Die Gesamtgliederung der Vorlesung umfasst drei Hauptteile, von denen die beiden ersten Teile in einer zweistündigen Veranstaltung im Wintersemester (mit Tutorien) Gegenstand des Unterrichts sind; der dritte Teil (noch nicht verfügbar) ist Gegen-stand einer halbsemestrigen Veranstaltung im Sommersemester, die auf eine Einfüh-rung in die Sprachgeschichte des Deutschen folgt.

Der erste Teil beschreibt die Entstehung und Zielsetzung der Disziplin, die als „deut-sche Sprachwissenschaft“, „Linguistik des Deutschen“, „Germanistische Linguistik“ bezeichnet werden kann. Danach werden zuerst die Hauptgegenstände der Sprach-wissenschaft und der Semiotik vorgestellt. Anschließend werden die Wege zur mo-dernen Sprachwissenschaft im Überblick dargestellt, insbesondere wird diskutiert, was eine „Grammatik der deutschen Sprache“ leisten soll. Der erste Teil schließt ab mit einer Erörterung zur empirischen Basis der Sprachwissenschaft.

Der zweite Teil behandelt in systematischer Weise eine (enge) Auswahl von Themen der Grammatikschreibung, wobei die traditionelle Ebenenteilung: Phonologie, Mor-phologie, Wortbildung, Lexikon, Syntax zugrunde gelegt wird. Damit die Studieren-den in den Tutorien und im Selbst-Studium die exemplarisch behandelten Stoff-gebiete erweitern können, wird durchgehend auf die neueste Auflage der Duden-Grammatik Bezug genommen, die zur Anschaffung empfohlen wird.

1 Von der Germanischen Philologie zur Germanistischen Linguistik

1.1 Vorstufen

Seit der Konsolidierung der europäischen Nationalsprachen (Italienisch, Spanisch, Französisch, Deutsch u.a.) als Kultur- und Wissenschaftssprachen im 16. Jh. gab es kontinuierlich eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der deutschen Sprache und ihrer Geschichte. Der erste Ansatz war normativ im Sinne einer Sprachreinigung, einer Verbesserung der deutschen Sprache. Die Sprachgesellschaften des 17. Jh. ahmten ähnliche Initiativen in Italien (Accademia della Crusca, 1582 gegründet) und Holland (Rederijkerkamers) nach und hatten so poetische Namen wie: 1617 „Fruchtbringende Gesellschaft“ (Palmenorden) in Weimar

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1643 „Teutschgesinnte Genossenschaft“ in Hamburg 1644 „Löblicher Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz/Pegnitzschäfer“ in Nürn-

berg 1656 „Elbschwanenorden“ in Lübeck.

Diese Arbeit schlug sich außer in konkreten Vorschlägen zur Sprachreinigung und zur Poetik in Wörterbüchern und Grammatiken der (hoch)deutschen Sprache nieder. So veröffentlichte 1641 Christian Gueintz mit Billigung der „Fruchtbringenden Gesell-schaft“ eine deutsche Grammatik unter dem Titel „Deutscher Sprachlehre Entwurf“. Noch im gleichen Jahr legte Justus Georg Schottel seine umfangreiche „Teutsche Sprachkunst“ vor (Umfang ca. 1500 Seiten). Mehrfach ergänzt erschien sie 1663 unter dem Titel „Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“. In dieser Schrift wird auch eine Genealogie des Deutschen versucht, d.h. eine Zusammen-fügung verschiedener Entwicklungsperioden. Jakob Grimm wird diesen Gedanken im 19. Jh. wieder aufgreifen. Die Tradition der Sprachgesellschaften und Sprachakade-mien wird heute durch die „Académie française“, die „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ und ähnliche Institutionen in anderen Ländern fortgesetzt.

Anfang des 18. Jh. schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz (noch in Französisch) seine « Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain », die erst posthum (1765) veröffent-licht wurden. Im Band über die Wörter wird auch die Gleichrangigkeit der deutschen mit den klassischen Sprachen behauptet und es werden Hinweise auf ihr Alter und ihre Verwandtschaft mit historischen Sprachstufen gegeben. In die philosophische Debatte über den Ursprung der Sprache griff 1772 Johann Gottfried Herder ein und sein 1784-1791 entstandenes Werk „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ entwirft eine Kulturanthropologie der Sprache. Die Grammatiker der deutschen Aufklärung schreiben in derselben Epoche auf der Basis der Literatur-sprache des 18. Jh. umfangreiche Grammatiken und Lexika. 1781 Johann Christoph Adelung „Deutsche Sprachlehre“ 1774-1786 Ders. „Versuch eines grammatisch-kritischen Wörterbuchs der Hoch-

deutschen Mundart, besonders aber der oberdeutschen“ (5 Bde.). Die theoretische Diskussion des 19. und teilweise des 20. Jh. wurde durch das Werk des großen Typologen und vergleichenden Sprachwissenschaftlers und Sprachphi-losophen Wilhelm von Humboldt (1767-1835) geprägt. Posthum erschien 1836 seine Schrift „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (vgl. für eine Zusammenfas-sung der beschriebenen Entwicklungen Agricola u.a., 1969, Bd. 1: 240-246).

1.2 Von der romantischen Sprachwissenschaft zu den Junggrammatikern

Mit der Entdeckung der Verwandtschaft zwischen den klassischen Sprachen (Grie-chisch, Latein) und Deutsch einerseits und den nordindischen Sprachen anderer-seits (besonders dem historischen Sanskrit, d.h. Altindischen), entstand der Impuls zur historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, welche das 19. Jh. dominieren sollte.

Als Ausgangspunkt kann Friedrich von Schlegels Schrift von 1808 „Über die Sprache und Weisheit der Inder. Ein Beitrag zur Begründung der Altertumskunde“ gelten.

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Schlegel gilt als einer der Begründer der Indogermanistik. Im Laufe des Jahrhunderts wird das vergleichende Paradigma in der Germanistik und Romanistik mit großem Erfolg angewandt. Der Klassiker der sich konstituierenden Disziplin Germanistik ist für die Sprachwissenschaft (teilweise auch die Literaturwissenschaft) Jakob Ludwig Carl Grimm (1785-1863). Gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm Carl Grimm (1786-1859) sammelte und publizierte er die „Kinder- und Hausmärchen“ (1812-1822). Jacob Grimm legte mit einer Serie von Werken den Grundstein zu einer erneuerten Wissenschaft der deutschen Sprache und Kultur: 1816/1818 erschienen die „Deut-schen Sagen“.

Seine Konzeption vom Gegenstand der Deutschen Sprachwissenschaft lässt sich aus der Vorrede zum ersten Band der Deutschen Grammatik, 1819, entnehmen (vgl. Arens, 1969, Bd. 1: 196 f.).

„Kein Volk auf Erden hat eine solche Geschichte für seine Sprache wie das deutsche. Zweitausend Jahre reichen die Quellen zurück in seine Vergangen-heit, in diesen zweitausend ist kein Jahrhundert ohne Zeugnis und Denkmal. Welche ältere Sprache der Welt mag eine so lange Reihe von Begebenheiten aufweisen, und jede an sich betrachtet vollkommenere, wie die indische oder griechische, wird sie für das Leben und den Gang der Sprache überhaupt in gleicher Weise lehrreich sein?“

Diese romantische Suche nach den Wurzeln wird begleitet von einer Ablehnung prä-skriptiver Gängelungen der Sprecher. In derselben Vorrede (S. IX f.) sagt Grimm:

„Jeder Deutsche, der sein Deutsch schlecht und recht weiß, d.h. ungelehrt, darf sich, nach dem treffenden Ausdruck eines Franzosen: eine selbsteigene, lebendige Grammatik nennen und kühnlich alle Sprachmeisterregeln fahren lassen.“

Aus diesem individualistischen Geist der romantischen Sprachwissenschaft folgt auch eine Aufwertung der Mundarten, „die um ihrer selbst willen untersucht, nicht als Ergänzungsmittel der gebildeten Sprachen betrachtet werden“ (ibidem: II f.). In die-sem Zusammenhang erwähnt Grimm dann die germanische und hochdeutsche Laut-verschiebung, die von den Junggrammatikern später als Gesetz bezeichnet wird.

Hauptwerke von Jakob Grimm (1785-1863):

1812 und 1815: Deutsche Märchen 1816/1818: Deutsche Sagen 1819/1837: Deutsche Grammatik 1828: Deutsche Rechtsaltertümer 1833: Deutsche Mythologie 1840-1860: Deutsche Weistümer

Diese Richtung, die in ihren Fortsetzungen die „Germanische Philologie“ (vgl. den „Grundriß der Germanischen Philologie“, Trübner, Straßburg) bildete, prägte die deutsche Sprachwissenschaft bis in die 60er Jahre. Die Konzeptionen von de Saus-sure (1916), Bloomfield (1933) und der Prager Schule (30er Jahre) fanden nach dem 2. Weltkrieg erst langsam Eingang in die germanistischen Lehrpläne. Seitdem hat auch die „Germanistische Sprachwissenschaft“ andere Konturen, obwohl die Ergeb-

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nisse der Philologie ihren Wert behielten (sie verloren lediglich ihre ausschließliche Relevanz).

Behaghels „Geschichte der deutschen Sprache“, 1916, beschreibt den Gegenstand der deutschen Sprachwissenschaft wie folgt (ibidem: 1):

„Die Geschichte der deutschen Sprache befaßt sich mit der Entwicklung der Sprache bei denjenigen Volksstämmen, die zusammen mit den Engländern und Friesen den westgermanischen Sprachstamm gebildet haben. Ein Teil dieser Stämme gibt frühzeitig die heimische Volksart auf und ist dann nicht mehr Gegenstand unserer Darstellung.“

Praktisch wird das Englische und das Friesische nicht berücksichtigt. Das nördliche Sprachgebiet umfasst das Niederfränkische, das seit dem selbstständigen Mittelnie-derländischen und der politischen Ablösung im 16. Jh. ausgegrenzt wird. Der östliche Teil umfasst in Behaghels Terminologie das Niedersächsische (bis nach Preußen; vgl. die Karte in Behaghel, 1916). Er sagt: „Den östlichen Zweig bezeichnet man auch als plattdeutsch, oder man beschränkt auf ihn allein die Bezeichnung nieder-deutsch“ (ibidem: 48). Behaghel schlägt „Niederdeutsch“ als Dachbegriff für Nieder-fränkisch und Niedersächsisch vor.

Demnach steht für die Germanische Philologie die Geschichte der deutschen Spra-che im Vordergrund. Germanisch heißt letztlich Westgermanisch mit Ausschluss des Englischen und Friesischen und (zu einem späteren) Zeitpunkt des Niederländi-schen. Das Plattdeutsche ist eindeutig Bestandteil des Gegenstandsfeldes. Die histo-rische Tiefe gibt Grimm mit 2 000 Jahren an, Behaghel (ibidem: 1) setzt mit dem 7. Jh. an: „(...) von da an besitzen wir Quellen der deutschen Sprache, die auf deut-schem Boden geschrieben sind.“ Da die ersten Quellen recht dürftig sind (meist Na-men, einzelne Wörter und Sätze), wird das Gotische (eine bereits im 1. Jahrtausend ausgestorbene ostgermanische Sprache) traditionellerweise in die Germanisten-Ausbildung miteinbezogen. Als Nachbarsprachen nennt Behaghel (ibidem: 4 f.) die romanischen Sprachen im Westen und Süden (heute: Französisch, Rätoromanisch, Ladinisch, Italienisch), die slawischen Sprachen (sie begrenzen den Raum des Deut-schen im Osten, wobei sich die Grenzverläufe historisch verändert haben) und einige Sprachinseln (etwa das Sorbische in der Lausitz und die [früheren] deutschen Sprachinseln in der Tschechischen Republik, Slowakei, Polen und Russland). Im Nordosten grenzte das Deutsche an die baltischen Sprachen, wobei in den Städten historisch eine Zweisprachigkeit Deutsch/Litauisch oder Deutsch/Lettisch herrschte (bis 1945). Eine Sprachinsel im Slawischen stellt das Ungarische dar, das zu den Finnougrischen-Sprachen gehört. Deutsch grenzt im Osten des heutigen Österreich an das Ungarische.

Im Norden wird das Deutsche vom Englischen (jenseits der Nordsee), vom Friesi-schen (auf den nordfriesischen Inseln) und vom Dänischen begrenzt.

Das Hochdeutsche, die heutige Schriftsprache, ist in einem komplizierten Aus-gleichsprozess in den ostdeutschen Siedlungsgebieten (Meißnerisch), aus den über-regional aktiven Kanzleien, den Druckersprachen (Ostmitteldeutsch und Gemeines Deutsch) hervorgegangen. Die ostmitteldeutsche Druckersprache wurde durch die Sprache der Luther-Bibel weiter geformt und ausgebreitet.

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Karte 1: Druckersprachen und Druckerstädte um 1500 und im zweiten Viertel des 17. Jh. (nach Moser, 1965)

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Die deutschen Dialekte und Regionalsprachen in ihrem Bestand um 1920 stellt die Karte 2 dar.

Karte 2: Einteilung der deutschen Dialekte und Regionalsprachen (aus: Brüchert, 1983: 13)

Die in der nationalen Besinnung auf die deutsche Sprache seit den Humanisten be-schworene Kontinuität des Deutschen, ist jedoch ein Konstrukt oder eine identitäts-stiftende Illusion. In althochdeutscher Zeit (ab 800 n. Chr.) gab es neben den immer vorhandenen kleinräumigen Sprechdialekten sogenannte Schreibdialekte mit schwa-cher Normierung: Das Mittelhochdeutsche war (ebenfalls mir regionalen Variationen) eine Literatursprache der Ritterhöfe und fahrenden Sänger und war längst ausge-storben und vergessen, als das Hochdeutsche ab dem 15. Jh. entwickelt wurde. Da-zwischen gab es das Mittelniederdeutsche als Schreibsprache der Hanse im Spät-mittelalter, das sich am Lübbischen orientierte. Es stellt die erste politisch relevante Spracheinheit im Gebiet der Hanse und Norddeutschlands dar. Diese Sprachform wurde dann als Schreibnorm im 16. und 17. Jh. von der ostmitteldeutschen Schrift-sprache verdrängt. Bis zur Mitte des 19. Jh., also bis zu Einführung und Umsetzung der allgemeinen Schulpflicht mit dem Hochdeutschen als Schriftsprache, gab es eine hochdeutsche Sprechsprache nur in sozialen Schichten, die sich aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen in ihrer Sprechsprache an der Schriftsprache orientierten

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(selbst Goethe hat mit Frankfurter Akzent gesprochen). Die sogenannte Sprachein-heit ist also eine Erscheinung, die in etwa zeitlich mit der nationalen Einheit (1871) Gestalt annimmt.

Fragen zur Diskussion im Plenum oder in den Tutorien:

1. Was ist der Sprachpurismus und stellt er ein vernünftiges Ziel dar?

2. Gibt es einen notwendigen Zusammenhang zwischen Spracheinheit und natio-naler Einheit?

Die deutsche Sprachwissenschaft hat als Gegenstand das soeben grob eingegrenzte Deutsche, seine Regionalsprachen (z.B. das Niederdeutsche) und seine Dialekte. Sonderfälle sind das Jiddische und das Plautdietsch der Mennoniten, die unter den besonderen Bedingungen einer religiösen Isolierung entstanden sind (vgl. zur näheren Bestimmung des Begriffs Germanistische Linguistik http://www.fb10.uni-bremen.de).

1.3 Drei Hinweise zu Berufsfeldern für Linguisten/Sprachwissenschaftler (Quelle: Linguistische Berufe. Ein Ratgeber zu aktuellen linguistischen Berufs-feldern [hg. von Michael Becker-Mrotzek u.a.], Peter Lang, Frankfurt a.M., 2000).

Die Autoren empfehlen besonders denjenigen, die ein Magisterexamen oder Diplom anstreben, die frühzeitige Erkundung von Praxisfeldern und deren Berücksichtigung bei der Studienplanung (Seminarauswahl, Referatsthemen). Sie behandeln die fol-genden Berufsfelder:

- Fortbildung, Personalarbeit Es geht um Training und Schulung in mündlicher und schriftlicher Kommunika-tion, Beratung und Planung bei der Personalentwicklung.

- Interkulturelles Training und Moderation Fremdsprachenkenntnisse allein genügen in internationalen Firmen nicht, es wird auch eine Art Mittlerfunktion zwischen den Kulturen gefordert.

- Presse / Medien / Public Relation Routinierter Umgang mit der Textproduktion (die Bild- und Tonelemente ein-schließt) und die Aufbereitung und Strukturierung von Information gehören in die-sen Tätigkeitsbereich.

- Technische Dokumentation Der Beruf des technischen Redakteurs verlangt außerdem technisches Sachwis-sen und Medienkompetenz.

- Computer / Software / Neue Medien Arbeitsmöglichkeiten bieten sich im Bereich der Hypertexte und Hypermedia und bei der Entwicklung von Lehr- und Lernsystemen an.

- Klinische Linguistik Dieses Feld entwickelt sich im Spannungsfeld von Logopädie (Behandlung auf Rezept) und approbierten Sprachtherapeuten. Es wird eine spezialisierte Ausbil-dung verlangt, bei der die Neuro- und Patholinguistik im Vordergrund steht (siehe entsprechende Studiengänge in Bielefeld und Aachen).

- Dolmetscher / Übersetzer

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Für Studierende mit Deutsch und einer Fremdsprache als Fach, ist z.B. das Übersetzen und Dolmetschen ins Deutsche eine mögliche (meist freiberufliche) Tätigkeit.

- Sprachunterricht Außer im Lehrerberuf sind Beschäftigungen als Sprachlehrer in Alphabetisie-rungskursen und für Deutsch als Fremdsprache möglich (vgl. DaZ [Deutsch als Zweitsprache]; in Bremen allerdings nur für LA).

2 Der Gegenstand der Sprachwissenschaft und der Semiologie (ausgehend von Ferdinand de Saussure)

Ferdinand de Saussure (1857-1913) gehörte zur Generation von Forschern, welche mit dem Ergebnis der um 1875 erfolgten Umwälzungen, die mit den Jung-Grammati-kern assoziiert werden, unzufrieden war. Eine neue „Wissenschaft“ mit klaren Grundlagen, Grundbegriffen, Methoden, Zielen und überzeugender Eingliederung der Wissenschaft von der Sprache in das Feld der anderen Wissenschaften war nicht im erhofften Ausmaß gelungen.1

Ferdinand de Saussure hatte 1879 (mit 21 Jahren) eine bedeutende Schrift über den indogermanischen Vokalismus geschrieben (» Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes »), das von der dominierenden deut-schen Indogermanistik erst über ein halbes Jahrhundert später ernsthaft rezipiert wurde. Seine Vorlesungen zur Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft (1906/07, 1908/09, 1910/11) wurden drei Jahre nach seinem Tod (1913) von mehre-ren Schülern nach Mitschriften zum « Cours de linguistique générale » zusammen-gefasst und publiziert (1916). Eine internationale Wirkung (jenseits der französischen Linguistik) entfaltete die Schrift erst, als in den 30er Jahren der Prager und dann der Kopenhagener Strukturalismus als Programm formuliert wurden. In Deutschland (vergleiche das Nachwort der 2. Auflage von Peter Polenz, 1967) hielt sich die philo-logisch- und vergleichend-historische Methode, die de Saussure kritisiert hatte, bis weit in die Nachkriegszeit und erst Mitte der 60er Jahre wurden die vielfältigen „Strukturalismen“ rezipiert, wobei insbesondere Bierwisch (1965) die moderne Ah-nenreihe mit de Saussure beginnen lässt (die von ihm vorgeschlagene Reihe geht weiter mit Sapir, Bloomfield, Trubetzkoy, Jakobson, Hjelmslev, Harris, Halle und en-det vorläufig mit Chomsky. Diese Epochenbildung wird implizit auch von mir zugrunde gelegt.

2.1 Saussures theoretischer Bezugspunkt

Ferdinand de Saussure kritisiert die Philologie, welche nur Hilfswissenschaft für Texteditionen und Historiker war und die rein vergleichende Sprachwissenschaft, welche Einzelzusammenhänge (Etymologien) anhäufte, ohne eine Vorstellung des Gesamtzusammenhangs, der eigentlichen Ziele und Methoden zu besitzen. Auch die organische Konzeption der Sprache, insbesondere bei August Schleicher (1821- 1 Weitere Vertreter dieser Generation waren der Schwede Adolf Noreen (1854-1925) und Hans

Georg von der Gabelentz (1840-1893).

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1868), wird abgelehnt. Als Neuansatz gilt Whitney‘s „The Life and Growth of Langu-age“ (1876 übersetzt) und die Schule der Junggrammatiker (Brugmann, Osthoff, Braune, Sievers, Paul, Leskien). Sie behandeln die Sprachwissenschaft als histori-sche Wissenschaft. Dennoch betrachtet de Saussure die „Grundprobleme der all-gemeinen Sprachwissenschaft“ als weiterhin ungelöst.

Ich will diese pauschale Kritik seiner Vorgänger bei de Saussure durch einen Blick in das Werk von Whitney und Paul (aus heutiger Sicht) überprüfen.

2.1.1 Whitney‘s „The Life and Growth of Language. An outline of linguistic science” (1875)2

Im letzten (XV.) Kapitel seines Buches „The science of language: conclusion” gibt Whitney zu, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft im Wesentlichen von deutschen Forschern geprägt worden sei, allerdings: „(...) die Forscher dieses Landes haben sich, (...) viel weniger darin, in dem was man die Wissenschaft der Sprache nennt, ausgezeichnet.“3 (Whitney, 1889: 318; Übers. W. Wildgen)4 Die Un-einigkeit und Unsicherheit der deutschen Sprachwissenschaft wird von Whitney sogar als Ursache einer allgemeinen Stagnation der Disziplin angesehen, da jeder-mann auf Impulse aus Deutschland wartete.

Whitney (1889: 4) gibt die folgende Bestimmung der Sprachwissenschaft (siehe Übersetzung des englischen Textes in der Fußnote)5:

“That science strives to comprehend language, both in its unity, as a means of human expression and as distinguished from brute communication, and in its internal variety of material and structure. It seeks to discover the cause of the resemblance and differences of languages, and to effect a classification of them ... It seeks to determine what language is in relation to thought, and how it came to sustain this relation (...) and even, if possible, how it came into ex-istence at all.”

Diese Fragen sind zwar alte Fragen, aber erst das 19. Jh. hat einen wissenschaft-lichen Weg zu ihrer Beantwortung gefunden. Damit hat sich die Sprachwissenschaft einen Platz unter den Nachbardisziplinen geschaffen. Gegen eine Vereinnahmung durch die Physik oder Psychologie verwahrt sich Whitney. Im Gegensatz zu de Saussure überwiegen bei Whitney prozessuale Aspekte. Dies zeigen nicht nur die Titelwörter „Leben und Wachstum“, sondern auch die Tatsache, dass das erste

2 William Dwight Whitney (1827-1894). 3 Whitney, 1899: 318: “But while Germany is the home of comparative philology, the scholars of that

country have, as we hinted above, distinguished themselves much less in that which we have called the science of language.”

4 „... the scholars of that country (Germany, W. Wildgen) have (...) distinguished themselves much less in that which we have called the science of language.“

5 „Diese Wissenschaft ist bestrebt, die Sprache, sowohl in ihrer Einheit als ein Mittel des mensch-lichen Ausdrucks und in Abgrenzung zur Kommunikation der Tiere, als auch in ihrer inneren Vielfalt von Material und Struktur zu verstehen. Sie versucht, die Ursache für die Ähnlichkeit und Unter-schiedlichkeit der Sprachen zu entdecken und diese zu klassifizieren. (...) Sie versucht festzustel-len, was Sprache im Verhältnis zum Denken ist und wie es zu dieser Beziehung gekommen ist. (...) und, wenn möglich, wie die Sprache überhaupt erst entstanden ist." (Whitney, 1889: 4; Übers. W. Wildgen)

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Kapitel seines Buches den Spracherwerb, das letzte den Sprachursprung themati-siert; die zentralen Kapitel (IV-VII) behandeln den Sprachwandel.

Betrachtet Whitney die Sprachwissenschaft als eine historische Wissenschaft (in der Breite des o.a. prozessualen Gesichtspunktes), so neigt der Theoretiker der jung-grammatischen Schule, Hermann Paul (1846-1921), zur Psychologie (historisch ist dies Herbarts Assoziationspsychologie und Vorstellungsmechanik; vgl. Paul, 1898: 13).

2.1.2 Der Gegenstand der Sprachwissenschaft nach Hermann Paul Wesentlich an Pauls Prinzipienlehre ist der Versuch, zur individuell-psychischen Ba-sis vorzudringen, welche eine „historische Kulturwissenschaft“ ausmacht, zu der Paul auch die Sprachwissenschaft zählt:

“Das psychische Element ist der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung, um den sich alles dreht, und die Psychologie ist daher die vornehmste Basis aller in einem höheren Sinn gefaßten Kulturwissenschaft.“ (ibidem: 6)

Die gesellschaftlichen Prozesse sind ihrerseits auf die „rein psychischen Wechselwirkungen (die) sich nur innerhalb der Einzelseele vollzieht“ (ibidem: 12)

reduzierbar; „dabei gilt: Aller Verkehr der Seelen unter einander ist nur ein indirekter auf physischem Wege vermittelter.“ (ibidem)

Diese eigentliche Basis bleibt aber weitgehend unbeobachtbar und muss deshalb aus dem Verhalten erschlossen werden.

„Das wahre Objekt für die Sprachforscher sind vielmehr sämtliche Äußerungen der Sprechtätigkeit an sämtlichen Individuen in ihrer Wechselwirkung aufeinan-der.“ (ibidem: 22)

Diese Reduktion auf psychische Einzelprozesse macht das Sprechen von Ursachen und deren Erforschung erst möglich, denn zwischen Abstraktionen gibt es keine Be-ziehung von Ursache und Wirkung (keine Kausalität und also keine Gesetzmäßigkeit im strengen Sinn; vgl. ibidem).

„Die psychische Seite der Sprechtätigkeit ist wie alles Psychische überhaupt unmittelbar nur durch Selbstbeobachtung zu erkennen.“ (ibidem: 28)

Daraus ergibt sich eine subjektive Fundierung der Sprachwissenschaft; eine Konse-quenz, welche die Ende des 19. Jh. entstehende experimentelle Psychologie (ins-besondere der Behaviorismus) nicht akzeptierte und welche auch im amerikanischen Strukturalismus von Bloomfield bis Harris vehement bekämpft wurde (an die Stelle der Selbstbeobachtung tritt die Betrachtung des Verhaltens). Die Kritiker Pauls ver-merken denn auch süffisant, dass dieser „philosophische Überbau“ auf Pauls weitere Ausführungen (glücklicherweise) keinen Einfluss gehabt habe (wie Paul selbst in ei-ner Fußnote, ibidem: 12, vermerkt). Der Verdacht, dass theoretische Kontroversen häufig wenig (praktische) Folgen haben, wurde von deskriptiv eingestellten Linguis-ten immer wieder gegen die Theoretiker erhoben; zu Unrecht, wie die langfristige Entwicklung zeigt. Allerdings sind die Auswirkungen oft sehr indirekt und manche

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Theorien stellen übereilte Anpassungen an theoretische (philosophische) Trends dar und sind deshalb irrelevant für die tatsächliche Entwicklung der Disziplin oder sogar störend. Da die Linguistik aber mit ihrem Gegenstand, der Sprache, eine „Mitteldis-ziplin“ darstellt, die „Kontaktflächen“ mit vielen Nachbardisziplinen hat, ist die Fest-legung autonomer Ziele und Methoden ein Balance-Akt. Dieser Balance-Akt war im Kontext der philosophischen Debatten im Deutschland der Jahrhundertwende be-sonders schwierig und die beiden Weltkriege zerstörten das labile intellektuelle Gleichgewicht vollends.

Es ist deshalb sinnvoll, jene Reflexionsbewegung, die mit de Saussure einen ersten Höhepunkt fand und im Strukturalismus zwischen den beiden Weltkriegen (Bloom-field, Trubetzkoy, Jakobson, Hjelmslev) ausgebaut wurde, als Ausgangspunkt zu nehmen. Ob die Verzweigungen seit 1960: Transformationalisten (Chomsky, 1965), Lexikalisten (Fillmore, 1968), Kognitivisten (Lakoff, 1987; Pinker, 1995) eine neue Basis geschaffen haben, welche den klassischen Strukturalismus überwindet, wird das neue Jahrhundert zeigen.

2.2 Der Gegenstand der Sprachwissenschaft und die Natur des sprachlichen Zeichens: eine kritische Lektüre de Saussures

Der Gegenstand der Sprachwissenschaft scheint bei näherem Betrachten in vielerlei Aspekte zu zerfallen:

- die akustischen Eindrücke, organische Bewegungen der Artikulation,

- der Laut bildet eine Vorstellung, die physiologisch oder geistig ist,

- die Sprache hat eine individuelle und eine soziale Seite (vgl. de Saussure, 1967: 10),

- die Sprache ist „eine gegenwärtige Institution und ein Produkt der Vergangen-heit“.

De Saussure postuliert als Projektion all dieser Verschiedenheiten das Sprach-system, die „langue“, welche als „Norm aller anderen Äußerungen der menschlichen Rede“ (parole; vgl. ibidem: 11) angesehen wird.

Bei der näheren Erläuterung bezieht sich de Saussure auf das Gehirn, auf Bewusst-seinsvorgänge, Vorstellungen, akustische „Bilder“. Die Grundprozesse werden als Assoziation bezeichnet. Ein Blick auf die Geschichte der Psychologie zeigt, dass Ferdinand de Saussure, wie Hermann Paul, eine Bewusstseinspsychologie mit As-soziationen im Gehirn (eine Art Bewusstseinsmechanik) voraussetzt (allerdings wird bei de Saussure eher die französische Tradition der Psychologie, mit Condillac als Stammvater, vorausgesetzt). Das kollektive Vorstellungssystem, die « langue » als » fait social » ist der Durkheim’schen Soziologie verpflichtet. Dieser Teil seiner Grundlagen-Diskussion spiegelt also die Psychologie seiner Zeit und die Soziologie in Frankreich (z.B. Emile Durkheim, 1858-1917) wider. Diese Art „europäische“ Integ-ration mag historisch als herausragende Leistung gesehen werden, die ent-sprechenden Disziplinen haben sich aber seit 1875 grundlegend gewandelt, so dass ein Festhalten an de Saussures Gegenstandsbestimmung einen Anachronismus darstellen würde; das grundlegende Problem, die Zusammenführung der divergie-

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renden Aspekte, bleibt aber bestehen und die Antwort de Saussures kann als Appro-ximation einer Lösung gelten, die noch zu finden ist.6

Die Zeichentheorie de Saussures (er nennt sie „Semeologie“; heute benützt man eher den von Charles Sanders Peirce geprägten Namen „Semiotik“) ist fundamental für das Verständnis des Strukturalismus.

Folgende Prinzipien charakterisieren de Saussures Semiotik (Semeologie; frz. sémi-ologie):

a) Die Sprache (langue) vermittelt zwischen Denken und „lautlicher Materie“. Beide Pole werden jedoch als chaotisch, unstrukturiert, verschwommen, als plastischer Stoff aufgefasst (ibidem: 132 f.). Dies bedeutet, dass erst die Spra-che Ordnung in beide Bereiche (gleichzeitig) bringt, sie bildet nicht ab, sondern schafft Ordnung. Dies hat zur Folge, dass weder die Struktur der Welt (der Ob-jekte und Vorgänge) noch die der Artikulations- und Hörorgane oder der akusti-sche Informationskanal als ordnungsbildend angesehen werden.7

b) Die Arbitrarität der Zeichen folgt aus dem obigen Prinzip (das Zeichen ist nicht von außen festgelegt). Da das sprechende Individuum nicht in der Lage ist, be-wusst die Sprache zu gestalten (wegen deren Komplexität einerseits und dem sozialen Charakter der Sprache andererseits) gilt die Arbitrarität nur für die „Kol-lektivgewohnheit“; diese ist eine (gesellschaftlich zustande gekommene) Kon-vention, welche aber für jeden Sprecher ein Gesetz, eine Norm darstellt. Die Frage, wie gesellschaftliche Normen entstehen, bleibt offen (sie gehört in die Soziologie).

De Saussure versucht, natürliche Zeichen und Onomatopoetika als Ausnahmen zu charakterisieren, um das Prinzip aufrecht erhalten zu können. Das Problem heißt Motivation oder Natürlichkeit sprachlicher Zeichen und ist weiterhin unge-löst (seit etwa 1970 gibt es eine Tradition „natürlicher“ Grammatiken, welche „natürliche“ Prinzipien in den Vordergrund rücken).

c) Der lineare Charakter von Zeichen: Die Zeit ist die wesentliche Organisations-ebene (-linie) von Sprache. Diese Einsicht mag trivial erscheinen, hat aber weit-reichende Konsequenzen, da die strukturalistische Grammatik letztlich darauf hinausläuft, diesen zeitlichen Prozess zu gliedern und Ordnungsprinzipien fest-zustellen.

6 Die Grundtendenz de Saussures, den Gegenstand der Sprachwissenschaft autonom festzulegen,

d.h. die Reduzierbarkeit auf psychologische (physiologische) und soziologische Fragestellungen abzulehnen, ist auch ein fester Bestandteil der meisten aktuellen Sprachtheorien.

7 Wenn de Saussure (ibidem: 133) sagt: „Philosophen und Sprachforscher waren sich immer dar-über einig, daß ohne die Hilfe der Zeichen wir außerstande wären, zwei Vorstellungen dauernd und klar auseinander zu halten“, so gilt dies sicher nicht für John Locke (1690), der von der Priorität ei-ner kognitiven Struktur der Ideen ausging. Die Sprachphilosophie Condillacs kommt dieser Idee näher, und aufbauend auf Leibniz, wurde die Priorität der Sprache über das Denken von Herder, Humboldt; später Sapir und Whorf vertreten.

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Als Konsequenz kann die Trennung von syntagmatischen und assoziativen (pa-radigmatischen) Beziehungen in einer Sprachstruktur gelten. Die Linearität legt Reihenfolgen, zeitliche Nachbarschaften, d.h. syntagmatische Beziehungen fest. An jeder Stelle der Äußerungskette sind Alternativen möglich, aus denen gewählt wird; diese werden später „paradigmatisch“ genannt (Teilbereich von de Saussures „assoziativen Beziehungen“). Für de Saussure bilden assoziative Beziehungen ein Netz (sie sind also nicht-linear), in dem verschiedene Assozi-ationslinien vereint sind (diese sind nach Analogie und nur teilweise als Para-digma geordnet).

Abbildung 1: Reorganisierte Ordnung (vgl. de Saussure, 1967: 151)

d) Aus der Arbitrarität des Zeichens folgt einerseits die Unausweichlichkeit von Veränderungen, d.h. sowohl Laut — als auch Vorstellungsbild (signifiant und signifé) sind von außen (Prinzip a) nicht stabilisiert und verändern sich unmerk-lich.

Die Norm in einer sozialen Gemeinschaft bremst diese Entwicklung, da jeder einzelne die Norm als Gesetz akzeptieren muss. Daraus ergibt sich, dass die Sprache von zwei verschiedenartigen Kräften geformt wird, und dass deshalb auch zwischen zwei verschiedenen Typen der Behandlung von Sprache zu trennen ist:

- Die statische Sprachwissenschaft (synchron) untersucht die Sprache aus der Perspektive der Sprechenden und ihrer Kommunikationsgemeinschaft. Dabei sind alle für den Sprecher relevanten synchronen Sachverhalte, also auch Di-alekte und Subdialekte, zu berücksichtigen. Maßstab sind jene Fakten, die für das Bewusstsein des Individuums in der synchronen Sprachgemeinschaft existieren (ibidem: 107). (Ein Gesetz in der Synchronie betrifft im Wesentli-chen eine Regelhaftigkeit des Verhaltens im begrenzten Beobachtungszeit-raum, der kürzer als die Zeit eines relevanten Sprachwandels ist.)

- Die evolutive Sprachwissenschaft (diachron): Hier wirkt nicht eine gesell-schaftlich gültige Regel (Konvention), sondern eine „blinde Macht“ (ibidem: 106), welche die Ausdrucks- und Inhaltsseite verändert. Diese „tätige Kraft“

Beispiel (ibidem: 151):

belehren Erziehung Bekehrung Erklärung er belehrt Unterricht Bescherung Beschreibung lehren Ausbildung Bewährung Vertreibung usw. usw. usw. usw.

Belehrung

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kann zwar eine Wirkung hervorrufen, sie ergibt aber nach de Saussure kein Gesetz, denn „die diachronischen Vorgänge (...) haben immer den Charakter des Zufälligen und Vereinzelten, auch wenn es sich in gewissen Fällen anders zu verhalten scheint“. (ibidem: 110)

Aufgrund dieser Ausgrenzung lediglich statistischer Wirkungszusammenhänge wird die evolutive Sprachwissenschaft sozusagen als Wissenschaft abgewertet und tritt in den Hintergrund. Dies hat dann weitreichende Folgen für die Organisation der Sprachwissenschaft (die Wirkung setzte in Deutschland aber erst ab 1968 ein).

Da der zugrunde liegende Begriff von Gesetz, Regel, Norm, statistischem Gesetz in Philosophie und Wissenschaftstheorie revidiert wurde, ist diese Abwertung der evo-lutiven (genetischen) Sprachwissenschaft so nicht mehr zu halten. Die grundlegende Einsicht, dass in Synchronie und Diachronie Gesetze ganz verschiedener Ordnung wirken, bleibt aber gültig.

Aufgaben: 1. Versuchen Sie, die Sprachwissenschaft im Gegensatz zur Geschichtswissen-

schaft, Psychologie, Soziologie, Biologie (des Menschen), Anthropologie (eventu-ell Physik, Mathematik, Philosophie) zu bestimmen. Benützen Sie dazu Wörter-buchdefinitionen.

2. Lassen Sie andere Personen Assoziationsketten zu einem vorgegebenen Wort bilden und analysieren Sie diese Ketten nach den Prinzipien, die genannt wurden.

3. Versuchen Sie, zwischen Konvention im Sinne de Saussures und institutionell verankerten Festlegungen (z.B. DIN-Normen) zu unterscheiden. Sind beide Ty-pen in der Sprache wirksam?

3 Grundlage der Semiotik (Zeichenlehre, fr. sémiologie; engl. semiotics)

Seit der Antike (besonders der Stoa) wird eine Art des semiotischen Dreiecks als Ba-sis aller zeichentheoretischen Überlegungen angenommen. Es besteht im ein-fachsten Falle aus den Ecken: Zeichen, Bedeutung, Ding (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Das „naive“ Zeichendreieck

Bedeutung

Zeichen Ding

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Alle drei Grundbegriffe erweisen sich als problematisch; in erster Linie die Ecke „Ding“. Bei de Saussure und (in seiner Folge) im Strukturalismus wird der triadische Zeichenbegriff zum dyadischen vereinfacht, indem das „Ding“ ausgeklammert wird. Die Ecke „Bedeutung“ wird damit von der nichtsprachlichen Erkenntnis der Welt ab-gelöst und somit auch von einer Genese aus dem Prä-Sprachlichen.

3.1 Die Zeichentheorien von Ferdinand de Saussure (dyadisch) und Charles Sanders Peirce (1839—1914)

Die Zeichentheorie de Saussures, die richtungsweisend für den Strukturalismus in seinen vielen Ausprägungen bis heute war, geht davon aus, dass das (sprachliche) Zeichen weitgehend unabhängig von seinen Realisierungen (als Laut, Geste, Schrift) und formgebend für das Denken ist. Damit bricht sie mit der rationalistischen Tradi-tion seit Descartes, die auch bei Immanuel Kant vorherrschte und weitgehend die philosophischen Debatten bestimmte (seit den Kontroversen zwischen Herder und Kant Ende des 18. Jh. gab es die Gegenposition allerdings bereits; in der Philoso-phie war die Autorität Kants allerdings stärker). Diese Zeichenkonzeption gibt der Sprachwissenschaft (und anderen semiotischen Disziplinen) eine große Unabhän-gigkeit einerseits von der Biologie (Physiologie) des menschlichen Körpers, ande-rerseits von „objektiven“ Kategorisierungen und Beschreibungen der Welt in den Naturwissenschaften (Physik, Chemie).

Ferdinand de Saussure (1835-1913) hat in seinen Genfer Vorlesungen 1906/07 und 1910/11, die 1916 von einigen seiner Schüler nach Vorlesungsmitschriften veröffent-licht wurden, die Grundbegriffe der Sprachwissenschaft neu geordnet. Dabei wird auch der Begriff des sprachlichen Zeichens neu gefasst. De Saussure verwirft die materiellen Bezüge des Zeichens zum physikalischen Laut einerseits und zur Sache andererseits.

„Das sprachliche Zeichen ist also etwas im Geiste tatsächlich Vorhandenes, das zwei Seiten hat.“ (de Saussure, 1967: 78)

Das Lautbild („image acoustique“) liegt unserer Lautproduktion (aber auch dem stil-len Monolog) zugrunde; die abstraktere Vorstellung („image mentale“), kann bei Kon-kreta wie „Baum“ z.B. ein Vorstellungsbild sein. Sie bildet die in starrer Assoziation mit dem Lautbild verbundenen zwei Seiten der „Medaille“. Verallgemeinernd spricht

Abbildung 3: Die Doppelnatur des sprachlichen Zeichens nach de Saussure

(1967: 78)

Vorstellung Lautbild

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de Saussure vom „signifié“ (Bezeichnetes, Signifikat) im Gegensatz zum „signifiant“ (Bezeichnendes, Signifikant).

Ganz im Gegensatz dazu entwickelt Charles Sanders Peirce, ein amerikanischer Philosoph (Logiker, Chemiker und Wissenschaftshistoriker), auf der Basis der Philo-sophie des 19. Jh. (Kant, Hegel) und eingebettet in Untersuchungen zu einer neuen Logik, eine andere Zeichentheorie, die disziplinübergreifend ist und im sprachlichen Zeichen nur eine Realisierung des Zeichenhaften sieht.

Der Zeichenbegriff von Peirce ist triadisch, d.h. das Zeichen ist immer in einer Refle-xion des dyadischen Grundverhältnisses zwischen Zeichenform (Repräsentamen) und dessen Gegenstand (Objekt) begründet.

Der Interpretant wird nicht psychologisch als „Bild von Laut und Gegenstand im Geiste“ gesehen, sondern als eine gesetzesmäßige/regelhafte Beziehung in der Dy-

ade:

So kann der Interpretant selbst wieder ein Zeichen sein, was einen unendlichen Regress öffnet, bei dem zuletzt der „Gegenstand“ und die „ursprünglichen“ Zeichen-formen verschwimmen können. Insofern ist der strukturalistische Zeichenbegriff mit seiner (relativen) Arbitrarität des Zeichens in der Konzeption von Peirce enthalten. Praktisch bedeutet dies, dass de Saussures Zeichenbegriff einen (vereinfachten) Spezialfall darstellt. Peirce unterscheidet drei semiotische Grundtypen der Regula-rität (der Reflexion eines Verhältnisses) im Interpretanten:

- Die ikonische Beziehung: Die Zeichenform hat eine Ähnlichkeits- (Abbildungs-) Beziehung zum Bezeichneten. Diese Beziehung mag in der Sprache (wie de Saussure meint) marginal sein; sie ist aber wichtig, um die Übersetzbarkeit zwi-schen „arbiträren“ Zeichensystemen zu sichern. Die sogenannte „Natürlichkeit“ menschlicher Sprachen ist in der ikonischen Beziehung begründet.

- Die indexikalische Beziehung: Das Zeichen steht in der Beziehung des Verur-sachtseins zum Objekt. Beispiel: Der Rauch ist Zeichen (verursacht durch das Feuer) des Feuers, eine Spur ist Zeichen eines Lebewesens, Vorganges. Alle historischen Analysen sind in diesem Sinne eine Suche nach indexikalischen Zeichen in der Gegenwart, die

Interpretant C

Zeichenform Gegenstand A B Abbildung 4: Die Triade des Zeichens bei Peirce

Reflexion von (A, B) in C

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uns über eine Verursachungsbeziehung in die Vergangenheit erschließen lassen. Der Detektiv (Sherlock Holmes) ist ein Spezialist der indexikalischen Zeichen; aber auch der Wissenschaftler ist als Prognostiker (z.B. als Astronom) ist ein Profi der Spurensuche. Umberto Eco hat diesen Aspekt ausführlich in seinem Roman „Der Name der Rose“ und in seinen Untersuchungen zum Kriminalroman, behan-delt.

- Die symbolische Beziehung: Sie ist im Wesentlichen arbiträr, allerdings verweist sie häufig auf verblasste ikonische und indexikalische Beziehungen und ist somit von diesen abhängig. Peirce zeigt klar, dass die rein konventionelle Gesetzlichkeit des Symbolischen ein Randfall ist, d.h. dass die ikonischen und indexikalischen Aspekte, die rein symbolische Zeichenstruktur vorbereiten und stützen. Sprache, Schrift, lange künstlerische Traditionen, reiche Intertextualität sind verschiedene Manifestationen des Symbolischen. Nach Cassirer gibt es eine (historische) Skala, die vom mythischen Denken bis zum formalen Denken der Mathematik reicht, in welche sich die Formen des Symbolischen einbetten lassen.

Bei Charles Sanders Peirce wird die Ecke „Bedeutung“ verallgemeinert zur reflexiven Sicherung des Bezugs zwischen Zeichen und Ding, der ohne diese Sicherung fluk-tuierend und instabil wäre. Peirce spricht vom Interpretanten. Da der Interpretant selbst ein Zeichen sein kann, wird ein Regress ermöglicht, der eine wie auch immer entstandene ursprüngliche Beziehung zwischen Zeichen und Ding im Extremfall ver-schwinden (verschwimmen) lässt.

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Die Peirce’sche Semiotik wird dann relevant, wenn Zeichensysteme jenseits der iso-lierten einzelsprachlichen Grammatik untersucht werden oder wenn nach „Erklärun-gen“ für letztere gesucht wird. So gesehen, muss sie prinzipiell immer mitgedacht werden. Die explanativen Mängel strukturalistischer Theorien beruhen teilweise auf einer zu speziellen, zu flachen Semiotik der Sprache (vgl. Apel, Karl-Otto, 1975, „Der Denkweg Charles Sanders Peirce“).

3.2 Entwicklungen des Strukturalismus nach de Saussure

Die „neue“ Sprachwissenschaft ist ab 1875 eine internationale Angelegenheit gewor-den; die Vorherrschaft der sprachwissenschaftlichen Schulen in Deutschland ver-schwand gegen Ende des Jahrhunderts und das theoretische Beharren der „Philolo-gien“ in Deutschland auf den Traditionen des 19. Jh. und die internationale Isolierung durch die beiden Weltkriege führten zu einer Dominanz der theoretischen Linguistik Amerikas spätestens seit den 60er Jahren.

Ich kann nur einige Etappen nennen. Zwischen den beiden Weltkriegen entwickelte sich: - der amerikanische Strukturalismus - der Prager Strukturalismus - der Kopenhagener Strukturalismus In den 60er Jahren baute die Pariser Schule (Greimas), die in Deutschland stärker in der Literaturwissenschaft rezipiert wurde, auf Traditionen des Prager und Kopenha-gener Strukturalismus auf, wobei de Saussure als Basis akzeptiert wurde (auch der russische Formalismus in der Gestalt von Propps „Morphologie des Märchens“ wirkte als Vorbild.8 8 Diese Arbeit wurde erst in den späten 50er Jahren im Westen „entdeckt“.

Interpretant n Ding 3 Interpretant 2 Interpretant 1= Zeichen 2 Zeichen 1 Ding 1 Zeichen 1 Abbildung 5: Regress der Zeichentriade bei Peirce

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3.3 Die Semiotik Umberto Ecos

Umberto Eco wurde 1932 in Alessandria (Italien) geboren. Laurea (italienische Pro-motion) zum Thema „Das Problem des Ästhetischen beim Hl. Thomas von Aquin“. Er arbeitete von 1955-1966 als Publizist für Verlage, als freier Mitarbeiter von Zeitungen (z.B. „The Times Literary Supplement“) und unterrichtete Ästhetik, Architektur und bildenden Kunst. 1966—1969 unterrichtete Eco in Florenz „Visuelle Kommunikation“ an der Fakultät für Architektur. Seit 1970 ist er Professor für Semiotik an der Universität Bologna. Semiotische Bücher (1975: Trattato di semiotica generale; 1979: Lector in fabula; 1984: Semiotica e filosofia del linguaggio [ins Englische, Französi-sche, Deutsche u.a. Sprachen übersetzt]). 1980 erschien der Roman „Il nome della rosa”; der 1986 verfilmt wird. Weitere Romane „Il pendolo di Foucault“ (1988) u.a. folgen. Die Studie zur Geschichte der Semiotik „La ricerca della lingua perfetta” er-schien 1993 (deutsch 1997: „Die Suche nach der vollkommenen Sprache“, dtv 30629).

Die Universität Bremen unterhält Erasmus-Kontakte in Semiotik mit dem Institut von Umberto Eco in Bologna (außerdem mit Urbino, Paris III, Limoges, Bilbao, Valencia und Aarhus).

Umberto Eco versucht eine Synthese zwischen der eher naturwissenschaftlich aus-gerichteten Semiotik von Peirce, modernen Kognitionstheorien und dem europäi-schen Strukturalismus (de Saussure, Hjelmslev, Jakobsen) zu entwickeln. Neu ist einerseits der Bezug zur Alltagskultur und den Massenmedien, deren Zeichen die öffentliche Kommunikation vieler westlicher Länder entscheidend prägen, anderer-seits die Kontinuität zu mittelalterlichen (auch antiken) und neuzeitlichen Denkern (Thomas von Aquin, Ockham, Bruno, Leibniz u.a.). Die Semiotik nähert sich damit einerseits der Medien- und Kulturwissenschaft, andererseits wird die Sprachphiloso-phie (seit der Antike) in das Feld der Semiotik einbezogen.

3.4 Kognitive Linguistik und das Werk von Noam Chomsky

Zur gleichen Generation jetzt noch lebender Theoretiker wie Eco gehört Noam Chomsky (geb. 1928). Er markiert gewissermaßen einen Gegenpol zu Eco. Wenn Eco im Wesentlichen Historiker und Kunsttheoretiker bleibt, so sieht Chomsky in der Strenge mathematischer Methoden, in der Rationalität der Theorie-Konstruktion, im ständigen Fortschritt durch kritische Evaluation eigener Arbeitsergebnisse das Ideal einer wissenschaftlichen Linguistik.

Seine sehr erfolgreiche, knappe Schrift „Syntactic Structures“ (1957) gibt deutlich das Programm einer mathematisch konzipierten, systematisch am Sprachwissen der „native speaker“ getesteten Theorie an. Sie wird „generative Grammatik“ genannt. Chomsky lehnt die behavioristische Sprachwissenschaft, welche den Menschen letztlich als Sprachlernautomaten sieht und im Prinzip auf eine Ebene mit dressierten Tieren stellt, ab. Das intuitive Wissen des Sprechers, seine Kompetenz müssen der Gegenstand der linguistischen Forschung sein. In seinem Buch von 1966 „Cartesian linguistics“ sieht Chomsky seine Theorie als eine Fortsetzung der rationalistischen Grammatiken im Frankreich des 17. Jh. (Port-Royal-Grammatik). Zitat „Aus Regeln und Repräsentationen“:

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„Die Linguistik muß außerdem konstruktiv und empirisch kontrolliert versuchen, anhand von „Sprachunivalien“ die Grundlagen der menschlichen Sprachfähig-keit zu beleuchten.“

Diese Ziele mündeten (durch Entwicklungen in Nachbardisziplinen begünstigt) in der Konzeption einer „Kognitiven Linguistik“. Seit Ende der 60er Jahre gibt es jedoch eine große Vielfalt theoretischer Modelle, die mehr oder weniger das Konzept Chomskys weiterentwickeln.

4 Die Sprachwissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert

4.1 Wege zur modernen Sprachwissenschaft und zur „Deutschen Grammatik“

Die um die Jahrhundertwende erfolgte theoretische Besinnung auf die Ziele und Methoden der modernen Sprachwissenschaft (vgl. Ferdinand de Saussure, 2. Sitzung) und die Entwicklung der Semiotik und Sprachphilosophie bei Peirce, Frege, Carnap führte zwischen den beiden Weltkriegen zum Aufblühen des Europäi-schen und Amerikanischen Strukturalismus einerseits, und zur Entwicklung eines an der Psychologie und Sprachphilosophie sich orientierenden Sprachtheorie (Bühler, Cassirer) andererseits. Stichpunktartig charakterisiert hatte die Erneuerungsbewe-gung des Strukturalismus, der das „Sprachsystem“ als von naturwissenschaftlich analysierten Sprachphänomenen (Laut/Schrift, nicht sprachlichen Prozesse des Denkens) konzipierten unabhängige Organisation von Form und Inhalt, drei Zentren: • = Amerikanischer Strukturalismus

- Leonard Bloomfield (1887-1949): 1933 „Language“ • = Prager Strukturalismus/Funktionalismus

- Nicolai S. Trubetzkoy (1890- 1938): 1939 „Grundzüge der Phonologie“ - Roman Jakobson (1896-1982), André Martinet und viele andere Autoren bis

heute • = Kopenhagener Strukturalismus/Logisch-konstruktive Grammatik

- Louis Hjelmslev (1899-1965): 1943 „Prolegomena zu einer Theorie der Spra-che“

Neigte diese Richtung, besonders im Kopenhagener Strukturalismus zur Rekon-struktion der Logik des Sprachsystems und zur Hervorhebung formaler Eigenschaf-ten, so strebte die seit den 20er Jahren entwickelte „Feldlinguistik“ nach einer Be-schreibung der Bedeutungsorganisation, wobei man auf die Ergebnisse der Gestalt-psychologie und der Sprachphilosophie (besonders Humboldt) zurückgriff. Beide Grundrichtungen der theoretischen Sprachwissenschaft, die formale und die kogni-tive, beherrschen auch noch die aktuelle Theoriekonstruktion. • = Inhaltsbezogene Grammatik (Deutschland) Eine deutsche Richtung, die insbesondere den Deutschunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland maßgeblich beeinflusste, war die Feldtheorie und sprach-liche Weltgestaltung: vgl. Leo Weisgerber, 1949-1954 „Von den Kräften der deut-schen Sprache“. • = Amerikanischer Distributionalismus

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Die Nachkriegszeit (seit 1945) war in den USA durch Weiterentwicklungen der Bloomfield-Schule geprägt. Insbesondere Z. S. Harris entwickelte mathematisch for-mulierte Analysemethoden für die Sprachwissenschaft bzw. er mathematisierte die in der amerikanischen Ethnolinguistik (hauptsächlich der Erforschung nordamerikani-scher Indianersprachen) bewährten Methoden. Stellvertretend dafür steht das Lehr-buch von Harris, 1951, „Methods in Structural Linguistics“.

Weitere Entwicklungen, die zwar in den 20er und 30er Jahren ihren Ursprung hatten, aber erst in den 60er und 70er Jahren zum Tragen kamen, sind:

• = Pariser Schule (Greimas, Levi-Strauss)(semiotisch) - Algirdas Julien Greimas, 1966, „Sémantique structurale“ (deutsch, 1971) - Vladimir Propp, 1925, „Morphologie des Märchens“ (deutsch, 1972)

• = Valenzgrammatik (Tesnière) / Dependenzgrammatik - Lucien Tesnière, 1959 (posthum), „Éléments de syntaxe structurale“ (deutsch

1980) Die Pariser Schule wurde einerseits von der spät rezipierten Märchenanalyse Vladi-mir Propps („Morphologie des Märchens“, 1925) andererseits von der strukturalen Anthropologie Levi-Strauss‘ beeinflusst. Es entstand eine eigenständige semiotisch orientierte Analysemethode, die in den romanischsprachigen Ländern (auch in Süd-amerika und Dänemark) stark rezipiert werden.

In Frankreich erschien das posthum (1959) publizierte Werk von Lucien Tesnière „Éléments de syntaxe structurale“ (deutsch 1980), das Vorbild für die Valenz-Gram-matiken und Valenz-Wörterbücher wurde und in Deutschland besonders die Gram-matiken „Deutsch für Ausländer“ und die Angewandte Sprachwissenschaft beein-flussten.

• = Mathematische und logische Grammatiken

Die logisch-mathematische Linguistik entwickelte sich im Kontext der Programmier-sprachen und der Entwicklung von Computern. In der Vielfalt der vorgeschlagenen und zur Anwendung gebrachten Sprachmodelle sind besonders hervorzuheben:

a) Das Werk von Noam Chomsky, dessen kleines Buch „Syntactic Structures“, die internationale Theoriebewegung der „Generativen Grammatik“ auslöste. Chomsky entwickelte eine Serie von Modellen (1965: „Aspects-Modell“; 1982: „Rektions- und Bindungstheorie“). Die frühen Modelle wurden zuerst in Ost-Berlin von der „Arbeitsstelle Strukturelle Grammatik“ aufgegriffen. In der Reihe „Studia Grammatica“ wurden seit 1962 u.a. publiziert:

- 1962. „Thesen über die theoretischen Grundlagen einer wissenschaftlichen Grammatik (I)“

- 1963. Manfred Bierwisch, „Grammatik des deutschen Verbs“

- 1964. Wolfgang Motsch, „Syntax des deutschen Adjektivs“

- 1969. Renate Steinitz, „Adverbial Syntax“

Erst mit der Neugründung westdeutscher Universitäten (intensiv ab 1968) wurde die generative Grammatik auch in Westdeutschland zu einer starken Bewegung,

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welche philologische und sprachinhaltsbezogene Methoden ablöste. Eine thema-tisch relativ breite Behandlung der deutschen Grammatik auf der Basis von Chomskys Reaktions- und Bindungstheorie stellt Günther Grewendorf, 1988, „Aspekte der deutschen Syntax“, dar.

b) Bereits 1970 wurde in die inzwischen an formale Modelle gewöhnte Theoriedis-kussion der radikal-logische Ansatz von Richard Montague eingeführt. Program-matisch ist sein Aufsatz „English as a Formal Language“. Die Grundidee besagt, dass formale logische Sprachen so differenziert werden können, dass sie schließlich ein deskriptiv adäquates Modell der natürlichen Sprache liefern (in Approximation und bei einer Beschränkung auf den „Kern“ des Sprachsystems). Die Montague-Grammatik leistete insbesondere den Anschluss an semantische und pragmatische Modelle und schien sprachphilosophisch wie logisch adäquater (und eleganter) zu sein als die generativen Modelle. Die am Institut für deutsche Sprache in Mannheim erarbeitete dreibändige Deutsche Grammatik von G. L. Zifonum, L. Hoffmann und B. Strecker, 1997, „Grammatik der deutschen Sprache, de Gruyter, Berlin, zeigt das konkrete Ergebnis dieser Bemühungen.

Seit Mitte der 60er Jahre gibt es eine Aufspaltung innerhalb der generativen Grammatik, die unter folgenden Namen weiterentwickelt wurde:

- Generative Semantik (Georg Lakoff)

- Kasusgrammatik (Charles Fillmore)

- Kognitive Semantik (Leonard Talmy, Ronald Langacker, George Lakoff)

- Konstruktionsgrammatik (Charles Fillmore), Kognitive Karten (mental maps), Kognitive Metaphern und Blending-Theorie

Generell lassen sich im Jahre 2000 folgende Trends feststellen:

- Integration von Grammatikmodellen in Modelle der Neurokognition.

- Weltweite Erfassung vorkommender Typen von Sprachsystemen. Vergleich grö-ßerer Gruppen von Grammatiken und Suche nach empirisch gestützten Sprach-universalien.

4.2 Was ist eine Grammatik und welchen Prinzipien hat die Grammatik-schreibung zu genügen?

Die Motivation und damit Zielsetzung für das Verfassen einer Grammatik kann sehr verschieden sein und daraus ergeben sich unterschiedliche Anforderungen an eine Grammatik.

Eine uralte, die ersten exakten Grammatiken motivierende Zielsetzung war die künstliche Konservierung und Sicherung einer aus dem Gebrauch gekommenen, aber religiös sehr wichtigen Sprache. Dies traf zuerst auf die Grammatik des Sansk-rits, der Sprache der Weda, einer Sammlung altindischer Hymnen und Gebete, zu. Die mündliche Überlieferung hatte diese Texte wohl seit ihrer Entstehung konser-viert, als die Grammatiker um 300 v.Chr. an eine Normierung der Regeln dieser Sprachen gingen (berühmt ist die Grammatik von Pannini). In diesem Kontext ordnet der Grammatiker den Gebrauch einer nicht mehr lebenden Sprache: Sanskrit heißt

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danach: geordnete (Schrift-)Sprache. Der Grammatiker entzieht eine Sprache aus kulturellen und religiösen Gründen dem natürlichen Wandel und legt genau deren Gebrauch fest. Man spricht auch von einer normativen Grammatik. Dieses Phäno-men finden wir in vielen klassischen Religionssprachen: dem Latein (der Vulgata, d.h. der kanonischen Bibeltexte), dem Arabischen des Korans. Manchmal kann auf dieser Basis auch nach vielen Jahrhunderten (sogar Jahrtausenden) eine tote Spra-che revitalisiert werden (z.B. das Altgriechische im befreiten Griechenland, das Heb-räische in Israel). Generell konserviert die normative Grammatik einen Sprachzu-stand und ermöglicht eine textuelle Kontinuität mit kulturellen Ursprüngen.

Eine Grammatik kann statt der Fixierung einer Traditionslinie auch ein Bündel ver-wandter Sprachen, eine Sprachfamilie oder Untergruppe, in ihrem Zusammenhang darstellen. Die romantische Sprachwissenschaft stellte diese Funktion ins Zentrum. Jakob Grimm verstand „das Deutsche“ als eine historische Ganzheit seit den germa-nischen Ursprüngen (dem Westgermanischen; vgl. 1. Vorlesung). Viele Dialekt-grammatiken (vom 19. Jh. bis zum Zweiten Weltkrieg und teilweise noch heute) se-hen in einer Dialektgruppe oder einem Ortsdialekt vorrangig die Ausdifferenzierung einer (oft hypothetischen) einheitlichen Ursprungssprache.

So sieht Heymann (1909) das Bremische Platt, das er beschreibt, so wie es Mitte des 19. Jh. in Bremen gesprochen wurde, als eine Form des Neuplattdeutschen, das ihre Eigenart gegen Ende des 18. Jh. erhalten hat. Der „Versuch eines bremisch-nie-dersächsischen Wörterbuchs ... (1767-1771)“ ist historisch der nächste Bezug für Heymann. Geht man zurück in der Geschichte, so ist das Mittelniederdeutsche, die Schriftsprache der Hanse im späten Mittelalter, der Bezugspunkt. Heymann zieht deshalb systematisch eine „Mittelniederdeutsche Grammatik“ von Lübben (1882) und dessen „Mittelniederdeutsches Handwörterbuch“ (1888) heran. Geht man weiter zu-rück, stößt man auf das Altsächsische, im „Heliand“ (in 6 000 Stabreimen abgefasste Christusepos des 9. Jh.) aber nur in einer angepassten Form verfügbar ist; auch das Westgermanische, die nächste gemeinsame Stufe (für Deutsch, Englisch, Friesisch), ist nicht gut belegt, so dass teilweise auf das Gotische (es gehört zu den ostgermanischen Sprachen, die ausgestorben sind), das durch die Bibelübersetzung des Wulfila, gut belegt ist, zurückgegriffen werden muss.

Diese Art von Grammatik beschreibt nicht eine Sprache, sondern in ihren Ver-gleichsbezügen eine Familie von Sprachen aus der Perspektive von Sprachformen, die der Grammatiker in seinen Quellen vorfindet. Heymann bezieht sich auf die ei-gene Sprachkompetenz und auf literarische Texte von der Mitte des 19. Jh. (beson-ders Rocco) bis zur Zeit der Abfassung seiner Grammatik. Dabei werden die hoch-deutschen mit plattdeutschen Dialogen verfasste Texte Georg Drostes (erschienen 1908) gerade noch berücksichtigt.

Eine solche Grammatik ist eigentlich für den Philologen und historisch-vergleichen-den Sprachforscher geschrieben und gibt nur indirekt einen Sprachzustand wieder. Die erschließbaren Angaben zum Bremer Platt bis 1908 wurden in Wildgen u.a. (2000) ausgewertet.

Seit den Junggrammatikern (um 1870) und programmatisch klar bei de Saussure (1916) wird eine strikt synchrone Beschreibung gefordert, eine synchrone, deskrip-

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tive Grammatik. Auf der Basis einer Menge synchroner Grammatiken kann ein Sprachvergleich oder eine diachrone Analyse (als Vergleich synchroner Beschrei-bungen aufeinanderfolgender Sprachen) erfolgen. Die synchrone Beschreibung hebt das Anliegen Grimms nicht auf, sondern platziert es auf eine zweite Analyseebene (die Metaebene des Vergleichs).

Die synchrone Analyse muss zuerst den Zeitrahmen beachten, aus dem das Sprachmaterial stammt, dann den soziolinguistischen (stilistischen) Ort dieser Mate-rialien festlegen und schließlich die Methoden angeben, anhand derer die Erstellung der Grammatik auf der Basis der Sprachdaten überprüfbar ist. Qualitativ können Sprachdaten Texte, Tonaufnahmen, aber auch Sprecherurteile und Kontexte (soziale Schicht, Region, Altersschicht, Stilebene) sein.

Die Grammatik enthält wissenschaftliche Behauptungen (sie ist eine empirische Theorie), die überprüft oder empirisch bewertet werden müssen. Da die berücksich-tigten Daten und angewandten Methoden variieren können (und dies in der Regel tun), ergibt sich ein Problem auf der Metaebene. Eine typologische oder historische Auswertung benötigt als Basis Grammatiken, die in Bezug auf ihre Datenbasis und die Auswertungsmethoden kompatibel sind.9

5 Die Sprachwissenschaft als empirische Wissenschaft

5.1 Die Bewertung der Geltungsansprüche einer Theorie

Jede Wissenschaft enthält Aussagen, Behauptungen oder Hypothesen. Diese Aus-sagen muss der Wissenschaftler rechtfertigen können. Der wissenschaftliche Diskurs dreht sich insbesondere um diese Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. Der An-spruch kann kategorisch sein, d.h. eine wissenschaftliche Aussage ist wahr/falsch, oder er kann hypothetisch sein: wenn gewisse Voraussetzungen zutreffen, ist die Aussage mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig oder einer alternativen Aussage vorzu-ziehen. Die Struktur dieses Diskurses ist zwar von Disziplin zu Disziplin anders, man kann aber von jeder Disziplin, die beansprucht eine Wissenschaft zu sein, Folgendes fordern:

- Die Geltungsansprüche und der Inhalt der Aussagen, für die der Anspruch gilt, müssen so klar sein, dass eine Überprüfung des Anspruches durch jeden am Diskurs Beteiligten (jeden Fachkompetenten) möglich ist. Diese Forderung kann als Folge haben, dass die Begriffe der Disziplin normiert und die Methoden der Überprüfung zu einem Kanon zusammengefasst werden. Besonders in den Na-turwissenschaften stellt eine mathematisch formulierte Theorie mit einer metho-disch abgesicherten Interpretation der inhaltlichen Begriffe die Idealform dar. Seit Mitte des 19. Jh. wird die Forderung auch auf die Sozial- und Geisteswissen-schaften übertragen und ist inzwischen bei Soziologen, Psychologen, Wirtschafts- und Sprachwissenschaftlern weitgehend akzeptiert. In der Sprachwissenschaft

9 Dieses Problem war natürlich in der philologisch-vergleichenden Grammatik auch vorhanden; ein

impliziter Kanon und die begrenzten historischen Quellen ließen es weniger brisant erscheinen.

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begann eine systematische Mathematisierung in den 40er Jahren, also nach dem Zweiten Weltkrieg.

- Die empirische Basis selbst muss festgelegt werden. Die Frage lautet: Welche Sachverhalte sind geeignet, als Beweis, Bestätigung für wissenschaftliche Aus-sagen benützt zu werden. Die grundlegenden Kriterien für die Akzeptanz empiri-scher Argumente sind:

- Validität. Sind die Sachverhalte relevant für das Erkenntnisziel? Sehr kontro-vers wurde z.B. diskutiert, ob die Ergebnisse von Intelligenztests relevant für das Erkenntnisziel, „Intelligenz des Menschen“, sind.

- Reliabilität (Zuverlässigkeit). Sind bei unterschiedlichen Bedingungen erho-bene Daten zuverlässig — eventuell neu — zu gewinnen, und dann gleich?

Diese Kriterien wurden hauptsächlich in der Psychologie und in den Sozialwissen-schaften angewandt. Es können z.B. verschiedene Testverfahren und ihre Ergeb-nisse mit Alltagsurteilen verglichen werden bzw. mit davon abhängigen Leistungen (z.B. dem Schulerfolg). Dadurch wird die Validität messbar. Die Reliabilität kann ab-geschätzt werden, indem unabhängige Beobachter mit derselben Methode das glei-che Phänomen beschreiben.

Die Frage der empirischen Basis setzt somit (besonders im Bereich der Validität) voraus, dass verschiedene Zugänge zum Phänomen existieren und gegeneinander abgeglichen werden können.

5.2 Der empirische Zugang in den Sprachwissenschaften

Ein generelles Problem der Geisteswissenschaften ist die Wissenschaftlichkeit sub-jektiver Urteile und die Nützung der Urteils- und Handlungskompetenz erwachsener (kompetenter) Personen. Dies hängt mit der besonderen Rolle des Bewusstseins in den Geisteswissenschaften und der Abgrenzung der Bewusstseinsphänomene von Mechanismen des menschlichen Verhaltens (Wahrnehmung, Motorik, Gedächtnis, Verhaltensroutinen), die unbewusst sind, zusammen. Hinzu kommt die Frage nach einem Unterbewussten, d.h. von Phänomenen, die aus dem Bewusstsein verdrängt und nur unter gewissen Umständen zugänglich werden (etwa in der Psychoanalyse). Die Sprachforschung unterscheidet einerseits globale Glaubens- und Wissens-bestände beim Sprecher/Hörer; man spricht dann von folk-Linguistik (ähnlich in der Ethnomedizin, Ethnokosmologie, Ethnopsychologie usw.). Andererseits gibt es ein weniger reflexives, eher automatisch-spontanes Wissen zur Grammatikalität von Sätzen (in einer Sprache), Bekanntheit von Wörtern, Mehrdeutigkeit, Synonymie usw.). Diese gelten für die mentalistische Grammatik im Sinne Chomskys als beson-ders relevante empirische Daten, an der sich eine Modellbildung primär zu orientie-ren hat.

Ein mittleres Feld von sprachlichen Daten resultiert direkt aus dem Sprachverhalten; diese Daten werden gesammelt, nach Art und Quelle sortiert und unter bestimmten Fragestellungen ausgewertet.

Ein Randgebiet betrifft unter speziellen Bedingungen erhobene Daten. Eine wichtige Klasse sind Daten aus Experimenten. Man kann z.B. die Reaktionszeit bei Vorgabe

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eines Wortes oder Satzes messen, wenn der Sprecher/Hörer entscheiden muss, ob ein Wort/Nicht-Wort oder ein Satz/Nicht-Satz einer Sprache vorliegt.

5.3 Gliederung der verschiedenen Arten des empirischen Zugangs in den Sprachwissenschaften

a) Zugang über das individuelle Bewusstsein

• = Eigene Kompetenz: Wort/Nicht-Wort, Grammatikalität/Ungrammatikalität, se-mantische Selektion, Mehrdeutigkeit (siehe Chomsky und die Rolle des Men-talismus für die Sprachbeschreibung in der generativen Grammatik).

• = Kategoriale Urteile über Sprache: Konnotation (Osgood), Assoziation (Psy-chologie), erwartete (relative) Häufigkeit von Wörtern, semantische Relationen (Synonymie, Antonymie, Hyponymie).

• = Handlungswertigkeit von Äußerungen (Voraussetzungen und Folgen von Sprechakten). (Die Zuverlässigkeit subjektiver Urteile nimmt entlang dieser Liste ab.)

b) Beobachtung, Speicherung und Transkription von mündlichem Sprach-Ver-halten

• = Beobachtung ungesteuerter mündlicher Kommunikation (Beispiel: Tisch-gespräch in einer WG).

• = Elizitierung von bestimmten Sprachformen, z.B. Erzählungen, Beschreibun-gen, Argumentationen usw. (Beispiel: Alltagserzählungen).

• = Interviews, die eine linguistische oder soziolinguistische Fragestellung realisie-ren. Beispiel 1: ein sprachbiographisches Interview in Bremen. Beispiel 2: Interview mit ausländischen Arbeitern (Italiener in Heidelberg).

• = Kleine soziale Netze: Familie, Gruppen von Jugendlichen, Nachbarschafts-netzwerke.

• = Kommunikation in Institutionen (Beispiel: Interviews zur asymmetrischen Kommunikation Richter — Patient in der psychiatrischen Klinik).

• = Medienkommunikation (im Fernsehen, im Rundfunk, im Internet).

c) Sammlung, Einteilung, Charakterisierung schriftlicher Sprachdaten

Primäranalysen • = Private Schriftlichkeit: Briefe, Tagebücher, Medienprodukte wie Zeitungen,

Magazine usw.; Bücher: Sachbücher, Trivialliteratur, gehobene Literatur. Sekundäranalysen • = Ausgehend von Korpora, d.h. Textsammlungen (meist in Datenbanken oder

auf CD-ROM verfügbar). • = Ausgehend von Wörterbüchern verschiedenen Typs (einsprachig, mehrspra-

chig, alphabetisch/inhaltlich gegliedert, enzyklopädisch, fachsprachlich usw.). • = Ausgehend von größeren Grammatiken und dem dort angeführten Beispiel-

material. • = Ausgehend von Sprachatlanten.