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HANS GÜNTER BRAUCH Euro-Mediterrane Partnerschaft im 21. Jahrhundert Langfristige Herausforderungen an die Mittelmeerpolitik der EU 1. Einleitung Der Mittelmeerraum an der Nahtstelle von drei Kontinenten: Europa, Asien und Afrika ist die Wiege dreier monotheistischer Religionen von Juden, Christen und Muslimen und der europäischen von Griechenland und Rom geprägten klassischen Kultur. Während der Dominanz Roms, der Araber und der Ottomanen bildeten Teile einen gemeinsamen politischen, ökonomischen und kulturellen Raum, der durch einen intensiven Austausch von Handels- und Kulturgütern, Wissenschaft und Kunst bestimmt war. In diesem Raum lösten sich Phasen enger Kooperation und Konflikte um politische und militärische Macht sowie ökonomischen und kulturellen Einfluß und Dominanz ab. 1 Nach dem Zurückdrängen der ottomanischen Vorherrschaft durch Österreich-Ungarn auf dem Balkan sowie im Zeitalter des Kolonialismus durch Frankreich (Nordafrika), Großbritannien (Zypern, Malta, Ägypten), Spanien (Marokko) und Italien (Libyen) bzw. nach dessen Zerfall (1918) durch die Übernahme von Einflußsphären in Syrien und Libanon (durch Frankreich) sowie in Palästina, in Transjordanien und dem Irak (durch Großbritannien) folgte nach Ende des Ersten und Zweiten Weltkrieges mit dem Niedergang des Kolonialismus für die Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeers die Herausbildung von Nationalstaaten in den durch die Kolonialherren vorgegebenen Grenzen, ein Prozeß, der erst mit der Bildung eines palästinensischen Staates und mit der Durchführung eines Referendums in der Westsahara sowie mit der Rückgabe von kolonialen Enklaven zum Abschluß kommt. Die in Jalta und Potsdam (1945) zwischen den Siegermächten vereinbarte Nachkriegs- ordnung zerbrach an den Konflikten um Macht und Einfluß an der Peripherie der UdSSR im Iran (Besetzung), aber vor allem im Mittelmeerraum: in Griechenland (Bürgerkrieg) und auf dem Balkan (Volksdemokratien in Ungarn, Bulgarien und Rumänien), der durch die Dardanellen, den Suezkanal und die Straße von Gibraltar sowohl für die Handelswege und den Öltransport aber vor allem für die Flotten der USA und der Sowjetunion global- strategische Bedeutung erhielt. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Auflösung des sowjetischen Einflusses auf dem Balkan sowie in Algerien, Libyen und Syrien wurde die geostrategische Bipolarität im Mittelmeerraum überwunden und Voraussetzungen für vielfältige Bemühungen um eine intra- regionale Konfliktlösung vor allem durch den Friedensprozeß im Nahen Osten seit Madrid (1991), Oslo (1993), Washington (1995) und Wye (1998), durch die Zusammenarbeit im Maghreb (AMU bzw. UMA) und eine interregionale Zusammenarbeit zwischen der EU und den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten (Barcelona, November 1995) gelegt. Trotz dieser vielfältigen Bemühungen um eine Konfliktlösung und Kooperation blieb der Mittelmeerraum sowie der Nahe und Mittlere Osten eine der konfliktreichsten Regionen der Welt: die Konflikte zwischen den NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland um die Ägäis und Zypern bleiben ebenso ungelöst wie der zwischen Israel und den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten Syrien, Libanon und Jordanien und der Konflikt über die Zukunft 1 Fernand Braudel (Hrsg.): Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen (Frankfurt: S. Fischer, 1987); Abdelkader Sid Ahmed: Les Flux d’échanges en Méditerranée Données, Fondements Historiques et Perspectives (Paris: Edisud, 1996); Hans-Peter Schwarz; Karl Kaiser (Hrsg.): Die Zukunft des Mittelmeerraumes (Bonn: Bouvier, 1997).

Euro-Mediterrane Partnerschaft im 21. Jahrhundert · europäischen von Griechenland und Rom geprägten klassischen Kultur. Während der ... mit den beiden EU-Beitrittskandidaten Zypern

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HANS GÜNTER BRAUCH

Euro-Mediterrane Partnerschaft im 21. Jahrhundert Langfristige Herausforderungen an die Mittelmeerpolitik der EU

1. Einleitung

Der Mittelmeerraum an der Nahtstelle von drei Kontinenten: Europa, Asien und Afrika ist die Wiege dreier monotheistischer Religionen von Juden, Christen und Muslimen und der europäischen von Griechenland und Rom geprägten klassischen Kultur. Während der Dominanz Roms, der Araber und der Ottomanen bildeten Teile einen gemeinsamen politischen, ökonomischen und kulturellen Raum, der durch einen intensiven Austausch von Handels- und Kulturgütern, Wissenschaft und Kunst bestimmt war. In diesem Raum lösten sich Phasen enger Kooperation und Konflikte um politische und militärische Macht sowie ökonomischen und kulturellen Einfluß und Dominanz ab.1

Nach dem Zurückdrängen der ottomanischen Vorherrschaft durch Österreich-Ungarn auf dem Balkan sowie im Zeitalter des Kolonialismus durch Frankreich (Nordafrika), Großbritannien (Zypern, Malta, Ägypten), Spanien (Marokko) und Italien (Libyen) bzw. nach dessen Zerfall (1918) durch die Übernahme von Einflußsphären in Syrien und Libanon (durch Frankreich) sowie in Palästina, in Transjordanien und dem Irak (durch Großbritannien) folgte nach Ende des Ersten und Zweiten Weltkrieges mit dem Niedergang des Kolonialismus für die Regionen des südlichen und östlichen Mittelmeers die Herausbildung von Nationalstaaten in den durch die Kolonialherren vorgegebenen Grenzen, ein Prozeß, der erst mit der Bildung eines palästinensischen Staates und mit der Durchführung eines Referendums in der Westsahara sowie mit der Rückgabe von kolonialen Enklaven zum Abschluß kommt.

Die in Jalta und Potsdam (1945) zwischen den Siegermächten vereinbarte Nachkriegs-ordnung zerbrach an den Konflikten um Macht und Einfluß an der Peripherie der UdSSR im Iran (Besetzung), aber vor allem im Mittelmeerraum: in Griechenland (Bürgerkrieg) und auf dem Balkan (Volksdemokratien in Ungarn, Bulgarien und Rumänien), der durch die Dardanellen, den Suezkanal und die Straße von Gibraltar sowohl für die Handelswege und den Öltransport aber vor allem für die Flotten der USA und der Sowjetunion global-strategische Bedeutung erhielt.

Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und der Auflösung des sowjetischen Einflusses auf dem Balkan sowie in Algerien, Libyen und Syrien wurde die geostrategische Bipolarität im Mittelmeerraum überwunden und Voraussetzungen für vielfältige Bemühungen um eine intra-regionale Konfliktlösung vor allem durch den Friedensprozeß im Nahen Osten seit Madrid (1991), Oslo (1993), Washington (1995) und Wye (1998), durch die Zusammenarbeit im Maghreb (AMU bzw. UMA) und eine interregionale Zusammenarbeit zwischen der EU und den südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten (Barcelona, November 1995) gelegt.

Trotz dieser vielfältigen Bemühungen um eine Konfliktlösung und Kooperation blieb der Mittelmeerraum sowie der Nahe und Mittlere Osten eine der konfliktreichsten Regionen der Welt: die Konflikte zwischen den NATO-Mitgliedern Türkei und Griechenland um die Ägäis und Zypern bleiben ebenso ungelöst wie der zwischen Israel und den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten Syrien, Libanon und Jordanien und der Konflikt über die Zukunft

1 Fernand Braudel (Hrsg.): Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller

Lebensformen (Frankfurt: S. Fischer, 1987); Abdelkader Sid Ahmed: Les Flux d’échanges en Méditerranée Données, Fondements Historiques et Perspectives (Paris: Edisud, 1996); Hans-Peter Schwarz; Karl Kaiser (Hrsg.): Die Zukunft des Mittelmeerraumes (Bonn: Bouvier, 1997).

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der Westsahara. In allen drei Konfliktgebieten sind weiterhin UN Peacekeeping Forces (UN-FICYP: 1964-; UNTSO: 1948-; UNIFIL: 1978-; UNDOF: 1974-; NINURSO: 1991-) stationiert, und zwei Missionen wurden inzwischen beendet (UNEF I: 1956-67; UNEF II: 1973-79).2

Diese noch immer ungelösten Konflikte wurden weitgehend durch ein „Sicherheits-dilemma“ determiniert, das nach John Herz dazu führte, daß „ein aus gegenseitiger Furcht und gegenseitigem Mißtrauen geborenes Unsicherheitsgefühl die Einheiten in einem Wettstreit um Macht dazu [treibt], ihrer Sicherheit halber immer mehr Macht anzuhäufen, ein Streben, das unerfüllbar bleibt, weil sich vollkommene Sicherheit nicht erreichen läßt“.3 Vor dem Hinter-grund des Ost-West-Konflikts war der Nahostkonflikt von einem Rüstungswettlauf zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn begleitet, bis die Konfliktparteien in den 1990er Jahren allmählich zu der Erkenntnis gelangten, daß weder mehr Rüstung noch Landgewinne mehr Sicherheit schaffen können und sich auf einen schwierigen Friedensprozeß einließen.

Nach Ende des Ost-West-Konflikts fachte ein ethnisch und religiös begründetes Dominanz-streben vier inner- und zwischenstaatliche Kriege im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien an: zwischen Serben und Kroaten, orthodoxen und katholischen Christen und muslimischen Slawen in Bosnien-Herzegowina, zwischen Serben und Albanern sowie gegen die Minderheit der Roma im Kosovo aber selbst zwischen islamischen und katholischen Albanern.4

In der Türkei hielt der mit militärischen Mitteln ausgetragene ethnische Konflikt zwischen der türkischen Staatsmacht und der kurdischen PKK bis zur Verhaftung Öcalans an, während vor allem in Algerien und teilweise in Ägypten die gewaltsam ausgetragenen Konflikte zwischen islamischen Fundamentalisten und der Staatsmacht sich Ende der 1990er Jahre abschwächten.

Hinzu kamen der durch ein Ultimatum des UN-Sicherheitsrates legitimierte Gewalteinsatz einer Staatenallianz (Januar-März 1991) sowie einseitige Strafmaßnahmen der USA und Großbritanniens (Dezember 1998) gegen den Irak und der selbstmandatierte als humanitäre Intervention legitimierte Gewalteinsatz der NATO gegen Restjugoslawien (März-Juni 1999).5

Bereits vor Ende des Ost-West-Konflikts wurde der Mittelmeerraum, der die wohlhaben-den demokratisch regierten Staaten der Europäischen Union von den wirtschaftlich weniger entwickelten Anrainerstaaten trennte, auch zu einer der wichtigsten Durchgangszonen für Migrationsströme aus Nordafrika6 und den Staaten südlich der Sahara, aus der Türkei, dem

2 United Nations: United Nations Peace-Keeping. Information Notes, Update December 1994 (New York, UN,

1995): 2-3. 3 John Herz: Weltpolitik im Atomzeitalter (Stuttgart: Kohlhammer, 1961): 131; John Herz: Staatenwelt und

Weltpolitik. Aufsätze zur internationalen Politik im Nuklearzeitalter (Hamburg, 1974). 4 P.H. Liotta: The Wreckage Reconsidered. Five Oxymorons from Balkan Reconstruction (Lanham - Boulder -

New York - Oxford: Lexington Books, 1999). 5 Vgl. die Konfliktübersichten bei: Frank R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikte seit 1945. Daten - Fakten – Hinter-

gründe. Die Arabisch-Islamische Welt (Freiburg - Würzburg: Ploetz, 1991); HIIK [Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung]: Konfliktbarometer. Welt 1997. Krisen - Krige - Putsche - Verhandlungen - Vermittlung - Friedensschlüsse (Heidelberg: HIIK, 1997); HIIK: Konfliktbarometer. Welt 1998. Krisen - Kriege - Putsche, Verhandlungen - Vermittlung - Friedensschlüsse (Heidelberg: HIIK, 1998).

6 Vgl. Sarah Collinson: Shore to Shore. The Politics of Migration in Euro-Maghreb Relations (London: Royal Institute for International Affairs, 1996); Hans Günter Brauch: „Migration von Nordafrika nach Europa“, in: Spektrum der Wissenschaft, August 1997: 56-61; ders.: „La emigración como desafio para las relaciones internacionales y como área de cooperación Norte-Sur en el proceso de Barcelona“, in: Antonio Marquina (Hrsg.): Flujos Migratorios Norteafricanos Hacia La Union Europea. Asociacion y Diplomacia Preventiva (Madrid: Agencia Española de Cooperación Internacional, 1997): 17-90; ders.: „Causas a largo plazo de las migraciones desde el Norte de Africa a los países de la Unión Europea. El Factor Demográfico“, in: Marquina: a.a.O.: 241-333.

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Irak und dem Iran aber auch aus Südasien sowie aus Albanien, dem Kosovo und Rest-jugoslawien.

Diese beiden zwischen- und innerstaatlichen Konflikttypen werden im 21. Jahrhundert, so lautet die These dieses Aufsatzes, im Mittelmeerraum durch einige langfristige, strukturelle nicht-militärische Herausforderungen überlagert, die zu neuen Konflikten führen können, die mit militärischen Mitteln nicht gelöst allenfalls eingedämmt werden können. Vor dem Hintergrund des globalen Strukturbruchs von 1989 benutze ich den Begriff des Überlebens-dilemmas mit der Begründung, daß

die globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - die möglichen Klimakatastro-phen, das Wachstum der Bevölkerung und damit des Energiebedarfs, der Industrie, Land-wirtschaft und des Verkehrs - nicht nur ein neues Wohlstandsmodell, sondern auch ein neues Modell internationaler Ordnung [erfordern], die das Überleben der Menschheit an die Stelle der nationalen Sicherheit und damit das Sicherheitsdilemma durch ein Über-lebensdilemma ablöst.7 Dieses Überlebensdilemma „setzt die Einsicht in die Notwendigkeit vielfältiger multi-

lateraler internationaler Zusammenarbeit in internationalen Regimen, Organisationen und regionalen Staatenverbünden sowie Organisationen voraus“. In Anknüpfung an E.U. von Weizsäcker führte ich weiter aus, daß anstelle der Nullsummenspiele im Zeitalter der Weltpolitik (Machtpolitik, Rüstungswettläufe usw.) die Erdpolitik „kooperative Nicht-Nullsummenspiele [erfordert], in denen alle Spieler den gemeinsamen Nutzen, die Schaffung von Bedingungen für das Überleben der Menschheit, zu maximieren streben“.8

Die Kernthese dieses Beitrages lautet, daß die Politik der europäisch-transatlantischen Akteure und Organisationen (die Mitgliedstaaten von OSZE und NATO, aber auch der EU und der WEU) in ihrem konzeptionellen Denken und Planen noch immer durch Denk-strukturen (mindest9) bestimmt werden, die durch das machtpolitisch bestimmte Sicherheitsdilemma geprägt sind. Neue nicht-militärische Herausforderungen wurden von einigen Experten bereits als neue „Bedrohungen“ geortet, die einer vorwiegend militärischen Antwort bedürfen10, während Regionalexperten und Politikberater bisher meist die lang-fristigen Herausforderungen an die Mittelmeerpolitik weitgehend ignorierten.11

7 Vgl. Hans Günter Brauch: „Internationale Klimapolitik, Klimaaußen- und Klimainnenpolitik - konzeptionelle

Überlegungen zu einem neuen Politikfeld“, in: ders. (Hrsg.): Klimapolitik (Berlin - Heidelberg: Springer): 317-318; ders.: „Nordafrikas Überlebensdilemma: Langfristige Herausforderungen und Entwicklungspartnerschaft - Konzeptionelle Überlegungen zum Mittelmeerdialog“, Habilitationsvortrag, 16.12.1998, Freie Universität Berlin; vgl. meine vier Kapitel in dem Band: Brauch; Marquina; Biad, a.a.O.: 3-26, 27-58, 281-318, 319-350.

8 Vgl. Brauch: „Internationale Klimapolitik ...“, a.a.O.: 317-318; Ernst Ulrich von Weizsäcker: Erdpolitik (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989).

9 Ken Booth: Strategy and Ethnocentrism (London: Croom Helm, 1979); ders: „New challenges and old mind-sets: Ten rules for empirical realists“, in: Carl G. Jacobsen (Hrsg.): The Uncertain Course. New Weapons, Strategies and Mind-sets (Oxford: Oxford University Press, 1987): 39-66.

10 Vgl. Wesley K. Clark: „Meeting Future Military Challenges to NATO“, in: Joint Forces Quarterly. Special Edition: The Washington Summit, April 1999: 41-6; zur Kritik vgl.: Mohammad El-Sayed Selim. „Southern Mediterranean Perceptions of Security Co-operation and the Role of NATO“, in: Brauch; Marquina; Biad: a.a.O.: 129-146.

11 Vgl. die Arbeiten des Mittelmeerteams von RAND: Stephen Larrabee; Jerrold Green; Ian Lesser; Michele Zanini: NATO’s Mediterranean Initiative: Policy Issues and Dilemmas (Santa Monica, CA - Washington, DC: Rand, 1998); Ian O. Lesser; Jerrold Green; Michele Zanini; F. Stephen Larrabee: The Future of NATO's Mediterranean Initiative: Evolution and Next Steps (Washington, DC: RAND, 1999); vgl. auch: Volker Perthes: „Der Mittelmeerraum, der nahöstliche Friedensprozeß und die Europäische Union“, in: Inter-nationale Politik und Gesellschaft, 2/1999: 143-149; ders.: „Auf dem Weg zum Frieden? Elemente einer nahöstlichen Sicherheitsarchitektur“, in: Internationale Politik, Bd. 54, Nr. 7, 1999: 1-10.

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Die Außen- und Sicherheitspolitik der EU im Mittelmeerraum ist noch immer weitgehend durch reaktive Mitwirkung an Friedenslösungen - im Mittleren Osten, in Bosnien und im Kosovo als Juniorpartner der USA - bestimmt. Die EU ist im südlichen und östlichen Mittel-meerraum bisher nicht als eigenständiger Akteur bei Bemühungen um Konfliktverhinderung (conflict prevention) bzw. von Konfliktvermeidung (conflict avoidance) hervorgetreten.

Auch im Rahmen der Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP) zwischen den 15 EU-Staaten und den 12 Dialogpartnern im südlichen (Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten) und östlichen Mittelmeer (Jordanien, Israel, Palästinensische Verwaltung, Libanon, Syrien, Türkei) sowie mit den beiden EU-Beitrittskandidaten Zypern und Malta dominierten bei den ersten drei regulären Außenministertreffen in Barcelona (1995), Malta (1997) und Stuttgart (1999) bisher fast ausschließlich kurzfristige durch das Sicherheitsdilemma dominierte Fragestellungen und Projekte mit Ausnahme des Vorhabens einer Freihandelszone bis zum Jahr 2010.

Angesichts der konzeptionellen und operativen Defizite sollen in diesem Beitrag zunächst die vier aktuellen Sicherheitsdialoge kurz vorgestellt (2), die langfristigen „strukturellen“ Herausforderungen des Überlebensdilemmas (3) sowie die sechs zentralen Faktoren des Überlebenshexagons entwickelt (4), fünf mögliche „konjunkturelle“ Folgen erörtert (5) und die Notwendigkeit einer längerfristig-orientierten Strategie der EU zur Konfliktvermeidung (6) entwickelt werden.

Der Autor plädiert dafür, nach Verabschiedung der euro-mediterranen Sicherheitscharta (Ende 2000) verstärkt solche gemeinsamen Herausforderungen zu erörtern und im Rahmen von MEDA II (2000-2006) solche Maßnahmen zu fördern, die schon heute gezielt jenen strukturellen Herausforderungen entgegenwirken, die in den kommenden Jahrzehnten bei den Dialogpartnern zu einem Überlebensdilemma führen können.

2. Kurzfristige Herausforderungen als Gegenstand der Sicherheitsdialoge europäischer Organisationen im Mittelmeerraum

Seit 1973 hatten die Mitglieder der Arabischen Liga sich wiederholt vergeblich um einen euro-arabischen Dialog bemüht.12 Aber erst nach Ende des Ost-West-Konflikts wurden mehrere Initiativen für einen politischen Dialog zwischen den Anrainerstaaten des Mittelmeers unternommen. Die Bemühungen Spaniens und Italiens von 1990, als Ergänzung zur KSZE eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeer für die gesamte Mittelmeerregion zu errichten, scheiterten am mangelnden Interesse Frankreichs aber vor allem an der Kritik der Bush-Administration.13

Mitterrand bevorzugte statt dessen einen Dialog im westlichen Mittelmeer zwischen den vier EU-Staaten: Portugal, Spanien, Frankreich, Italien sowie Malta im Norden und den fünf Staaten der arabischem Maghrebunion (Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien). Dieser 5+5-Dialog scheiterte wegen der UNO-Sanktionen gegen Libyen, den innenpolitischen Problemen in Algerien und den Spannungen zwischen den AMU-Staaten über die Westsahara. Aber auch Mubaraks Vorschlag von 1994 eines Mittelmeerforums für

12 Elfriede Regelsberger: „The Euro-Arab Dialogue: Procedurally innovative, substantially weak“, in: Geoffrey

Edwards; Elfriede Regelsberger (Hrsg.): Europe’s Global Links. The European Community and Inter-Re-gional Cooperation (London: Pinter, 1990): 57-65.

13 Vgl. Hans Günter Brauch; Antonio Marquina; Abdelwahab Biad: „Introduction: Euro-mediterranean Partner-ship for the 21st Century“, in: dies. (Hrsg.) unter Mitwirkung von Peter Liotta: Euro-Mediterranean Partnership for the 21st Century (London: Macmillan; New York: St. Martin's Press, März 2000): 3-26; Antonio Marquina: „Review of Initiatives on CBMs and CSBMs in the Mediterranean“, in: a.a.O.: 61-76.

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Dialog und Zusammenarbeit, an dem sich neben den 5 EU-Mittelmeerstaaten, Malta, Ägypten, Algerien, Marokko, Tunesien und die Türkei beteiligten, blieb relativ erfolglos.14

Abbildung 1: Teilnehmerstaaten der Mittelmeerdialoge (OSZE, NATO, EU, WEU)

Quelle: Brauch, Marquina, Biad: „Introduction“, in: dies., a.a.O.: 23. Mitte 1999 bestanden vier Foren für den Mittelmeerdialog, die sich primär mit sogenann-

ten „weichen“ Sicherheitsfragen, d.h. vor allem mit „vertrauensbildenden Maßnahmen“ und seit 1997 auch mit „partnerschaftsbildenden Maßnahmen“ befaßten (Abb. 1). Seit 1992 erör-terte die WEU Mittelmeergruppe (mit Algerien) und seit Dezember 1994 die Mittelmeer-initiative der NATO (ohne Algerien) zusammen mit Ägypten, Jordanien, Marokko, Tunesien, Mauretanien und Israel vor allem „vertrauensbildenden Maßnahmen“, wie auch die OSZE seit dem Gipfel von Budapest (Dezember 1994) mit sechs „Mittelmeerpartnern für Zusammen-arbeit“ (mit Algerien ohne Mauretanien) hierzu einen Meinungsaustausch pflegte.15

Nur der während der spanischen EU-Präsidentschaft im November 1995 in Barcelona eingeleitete Prozeß einer Euro-Mediterranen Partnerschaft (EMP) ist sowohl hinsichtlich der Mitglieder (15 EU-Staaten und 12 Dialogpartner) als auch der Tagesordnung (3 Körbe) breiter angelegt und verfügt mit dem MEDA-I-Programm (1995-1999) mit 3,424 Mrd. Euro (von insgesamt 4,685 Mrd. Euro für den gesamten südlichen und östlichen Mittelmeerraum)

14 Annette Jünemann: „Europas Mittelmeerpolitik im regionalen und globalen Wandel: Interessen und Ziel-

konflikte“, in: Wulfdiether Zippel (Hrsg.): Die Mittelmeerpolitik der EU (Baden-Baden: Nomos, 1999): 29-63; vgl. Marquina, a.a.O.: 61-76.

15 Monika Wohlfeldt; Elizabeth Abela: „The Mediterranean Dimension of the OCSE: Confidence-Building in the Euro-Mediterranean Region“, in: Brauch; Marquina; Biad: a.a.O.: 77-93.

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über eine eigene Finanzierungslinie, die im selben Zeitraum um Darlehen der Europäischen Investitionsbank in Höhe von bis zu ca. 4,8 Mrd. Euro ergänzt werden. 16

In der Abschlußerklärung von Barcelona einigten sich die Vertreter der 27 Staaten pro-grammatisch in drei Körben auf einen umfangreichen Aufgabenkatalog: a) Politische und Sicherheitspartnerschaft (Schaffung eines gemeinsamen Raumes des Friedens und der Stabilität); b) Wirtschafts- und Finanzpartnerschaft (Schaffung eines Raumes miteinander geteilten Wohlstands) und c) Partnerschaft im sozialen, kulturellen und menschlichen Bereich (Entwicklung menschlicher Ressourcen, Förderung des Verständnisses zwischen den Kulturen und Austausch zwischen Zivilgesellschaften), der um ein detailliertes Arbeits-programm ergänzt wurde. In Korb I kamen die 27 Staaten in Barcelona überein:

Sie werden alle vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen, die zwischen den Beteiligten ergriffen werden könnten, im Hinblick auf die Schaffung eines ‚Gebietes des Friedens und der Stabilität im Mittelmeer‘ in Betracht ziehen, einschließlich der lang-fristigen Möglichkeit des Abschlusses eines euro-mediterranean Pakts zu diesem Zweck.17 Während das 2. Außenministertreffen im Mai 1997 in Malta fast am Nahostkonflikt

scheiterte, konnten bis zum 3. Außenministertreffen im April 1999 in Stuttgart noch keine VSBM beschlossen und nur Grundzüge einer Sicherheitscharta vereinbart werden. Wenn es die politischen Umstände erlauben, soll diese Sicherheitscharta bis zum vierten Außenminister-treffen während der französischen Präsidentschaft Ende 2000 angenommen werden (Abb. 2).

Das einzige mittelfristige Vorhaben der Barcelona-Deklaration ist die Schaffung einer Frei-handelszone bis zum Jahr 2010:

„Die Freihandelszone wird durch die neuen Europa-Mittelmeer-Abkommen und Frei-handelsvereinbarungen zwischen Partnern der Europäischen Union geschaffen werden. Die Parteien haben sich 2010 als Zieldatum zur schrittweisen Schaffung dieser Zone gesetzt, die bei angemessener Beachtung der aus der WTO resultierenden Verpflichtungen den größten Teil des Handels umfassen wird.“18

16 Vgl. COWI [Consulting Engineers and Planners, Denmark], 1998: Evaluation of Aspects of EU

Development Aid to the MED Region. Final Synthesis report (Brussels: European Commission, November), in: <http:// www.euromed.net>; Euro-Mediterranean Partnership, Information Note: The MEDA Programme (Brussels: European Commission, Unit IB/A/4, April 1999); vgl. Hans Günter Brauch; Antonio Marquina; Abdelwahab Biad: „Introduction: Euro-Mediterranean Partnership for the 21st Century“, in: dies.: a.a.O.: 19-24; Brauch; Biad; Marquina: „Beyond Stuttgart: Prospects for Confidence and Partnership Building Measures in Euro-Mediterranean Relations for the 21st Century“, in: dies.: a.a.O.: 322-324.

17 Vgl. Alle wichtigen Dokumente des EMP - Dialogs sind im Internet zugänglich in: http://www.euromed.net. Der deutsche Text findet sich in: „Abschlußerklärung der Mittelmeer-Konferenz der Europäischen Union am 27. und 28. November 1995 in Barcelona“, in: Internationale Politik, Bd. 51, Nr. 2 (Februar 1996): 107-122; vgl. die Abschlußerklärungen der EMP-Außenministertreffen von Barcelona, Malta, Palermo und Stuttgart in englischer Sprache, in: Brauch; Marquina; Biad, a.a.O.: 351-402.

18 „Abschlußerklärung der Mittelmeer-Konferenz der Europäischen Union am 27. und 28. November 1995 in Barcelona“, in: Internationale Politik, Bd. 51, Nr. 2 (Februar 1996): 111. Bis August 1999 wurden solche Europa - Mittelmeer - Abkommen zwischen der EU und folgenden Staaten vereinbart: Tunesien, Marokko, Israel und Jordanien und ein Interimsabkommen mit der PLO für die palästinensische Autorität, von denen nur die Abkommen mit Tunesien, Jordanien (?) und der PLO in Kraft waren, während die Verhandlungen mit Ägypten, dem Libanon, Algerien und Syrien noch im Gang waren.

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Bis August 1999 wurden Europa - Mittelmeer - Abkommen zwischen der EU und Tunesien, Marokko, Israel und Jordanien und ein Interimsabkommen mit der PLO für die palästinensische Autorität vereinbart, von denen nur die Abkommen mit Tunesien, Jordanien (?) und der PLO in Kraft waren, während die Verhandlungen mit Ägypten, dem Libanon, Algerien und Syrien noch im Gang waren.19

19 Die Wirkung dieses Ziels wird von Experten skeptisch beurteilt: Volker Nienhaus: „Euro-mediterrane Frei-

handelszone: Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen und Förderung nachhaltiger Entwicklung?“, in: Zippel, a.a.O.: 91-113; Abdelkader Sid Ahmed: „Economic Convergence and ‘Catching Up’ in the Mediterranean. Diagnosis. Prospects and Limitations of the Barcelona Process and Elements for a Strategy“, in: Brauch; Marquina; Biad: a.a.O.:147-161; Béchir Chourou: „Perceptions sur les implications de la zone de libre-echange: Le cas de la Tunisie“, in: Antonio Marquina (Hrsg.): Les Élites et les Processus de Changement dans la Méditerranée (Madrid: UNISCI, 1997): 88-102; Baher Atlam: „Major elements of the draft agreement of Egypt partnership with the EU“, in: ebenda: 103-110; Larabi Jaidi: „Perceptions sur les implications de la zone de libre-echange: Le cas de Maroc“, in: ebenda: 57-87; Azzouz Kerdoun: „Perceptions sur les implications de la zone de libre-echange: Le cas de l’Algérie“, in: ebenda: 111-122. Positive Wachstums- und Einkommenseffekte prognostiziert: H. Ghesquire: „Impact of European Union Association Agreements on Mediterranean Countries“, IMF Working Paper. WP 98/116 (Washington: IMF, 1998).

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Abbildung 2: Entwicklung der Euro-Mediterranean Partnerschaft (1995-2000)

Quelle: Diese Abbildung wurde angeregt durch Nienhaus, in: Zippel: a.a.O.: 93.

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Im Rahmen des dritten Korbes wurde in Barcelona ein Dialog zwischen den Kulturen und Religionen sowie auf menschlicher, wissenschaftlicher und technologischer Ebene vereinbart und „Handlungen zur Unterstützung demokratischer Institutionen und zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und der Zivilgesellschaft“ ermutigt und als längerfristige Herausforderun-gen thematisiert: a) die Bekämpfung der Versteppung (Desertifikation), b) gegenwärtige Bevölkerungstrends, c) Verringerung des Migrationsdrucks, d) gemeinsame Verhinderung und Bekämpfung des Terrorismus und des Drogenhandels. Im Arbeitsprogramm wurden als weitere längerfristige Kooperationsziele u.a. genannt: e) die Förderung einer umwelt-freundlichen Landwirtschaft und der Verringerung der Nahrungsmittelabhängigkeit, f) die Aktualisierung eines Umweltaktionsprogramms und g) die Zusammenarbeit bei der rationel-len Bewirtschaftung der Wasservorräte und der Erschließung neuer Wasserquellen.

Damit wurden in Barcelona bereits die längerfristigen Herausforderungen erkannt und auf-gelistet, aber diese noch nicht als Teil eines grundsätzlicheren „Überlebensdilemmas“ des Mittelmeerraumes und vor allem der südlichen und östlichen Anrainerstaaten und Dialog-partner thematisiert. Auch beim dritten regulären Außenministertreffen in Stuttgart im April 1999 blieben diese längerfristigen nichtmilitärischen Herausforderungen weitgehend unerwähnt.20

3. Überlebensdilemma für den Mittelmeerraum im 21. Jahrhundert

Das „Überlebensdilemma“ ist bisher kein eingeführter Begriff der Politikwissenschaft und der Publizistik. In Konversations- und politikwissenschaftlichen Lexika sucht man vergeblich nach dem Begriff des „Überlebens“. Hillmann führte 1994 im Wörterbuch der Soziologie den neuen Begriff der „Überlebensgesellschaft“ ein:

„für einen in nächster Zukunft notwendigerweise zu realisierenden Gesellschaftstyp mit globaler Ausbreitung, der mit seiner Kultur, seinen Strukturen, Institutionen, Handlungs-abläufen und Entwicklungsprozessen vorrangig auf die langfristige Sicherung des Überlebens der Menschheit und der belebten Natur ausgerichtet ist.“21 Im Januar 1992 legte der Interaction Council unter Vorsitz von Helmut Schmidt nach einer

Tagung auf dem Petersberg bei Bonn die Ergebnisse einer hochrangigen Tagung ehemaliger Regierungschefs zur: „Suche nach einer Weltordnung: Probleme des Überlebens“ vor, in dem sie neben Abrüstungproblemen, der Weltwirtschaft auch Zusammhänge von „Bevölkerungs-entwicklung - Umwelt - Entwicklung“ thematisierten, die heute als Bedrohungen der Mensch-heit verstanden werden: „Verschlechterung der Umwelt und der Biosphäre, Klimawandel und Treibhausgase, demographische Explosion und grenzüberschreitende Bevölkerungsbewegun-gen, AIDS, Drogenhandel, ethnische und regionale Konflikte, Mißachtung der Menschen-rechte, nukleare Proliferation und Terrorismus“.

Vor dem Erdgipfel in Rio de Janeiro (Juni 1992) zogen die ehemaligen Regierungschefs daraus die Schlußfolgerung: „Eine neue kooperative Weltordnung muß entwickelt werden, um die Menschheit vor der Selbstzerstörung zu bewahren.“ Im einzelnen schlug die hoch-rangige Expertengruppe unter Vorsitz von Helmut Schmidt vor, Entwicklungsländern, die sich nicht um eine Senkung der Geburtenrate bemühen, keine offizielle Entwicklungshilfe zu

20 Vgl. Brauch; Biad; Marquina: „Beyond Stuttgart: Prospects for Confidence and Partnership Building

Measures in Euro-Mediterranean Relations for the 21st Century“, in: dies.: a.a.O.: 319-350 und „Third Euro-mediterranean Conference of Foreign Ministers (Stuttgart, 15.-16 April). Chairman’s Formal Conclusion“, in: ebenda: 393-402. Nur Israels Außenminister Sharon unterbreitete einen Vorschlag für eine Zusammen-arbeit Israels mit seinen arabischen Nachbarn zur Entsalzung von Meerwasser. Vgl. ebenda: 335-336.

21 Vgl. Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie (Stuttgart: Kröner, 1994): 885-886; ders.: „Die globale Überlebensgesellschaft als Herausforderung für die Soziologie“, in: Helga Reimann (Hrsg.): Welt-kultur und Weltgesellschaft (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1997: 229-243; ders.: Überlebensgesellschaft. Von der Endzeitgefahr zur Zukunftssicherung (Würzburg: Carolus, 1998).

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gewähren. Im Umwelt- und Energiebereich forderten die elder statesmen eine Stabilisierung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2000 und eine Senkung um 20% bis 2005, was durch eine nachhaltig Energiepolitik und einen zusätzlichen Mitteltransfer von den Industriestaaten an Entwicklungsländer ergänzt werden sollte. 22

Als zentrale Determinanten der grenzüberschreitenden Migrationsströme, die zu neuen Konflikttypen führen können, benannte Schmidt „die Überbevölkerung, die Verschlechterung der Umwelt und die wirtschaftliche und soziale Unterentwicklung“.23 Als zentrale Heraus-forderung für die neue Weltordnung bezeichnete der Interaction Council neben der Proliferation der Massenvernichtungswaffen vor allem nicht-militärische Ursachen der Instabilität im ökonomischen, sozialen, humanitären und ökologischen Bereich und auf die enge Verknüpfung von Bevölkerungswachstum, Unterentwicklung und Armut. Armut und Überfluß tragen gleichermaßen zur Umweltdegradation bei. Der Treibhauseffekt sei genauso sehr die Manifestation eines Konflikts zwischen der Gegenwart und der Zukunft wie zwischen reich und arm. Diese globale Problemdiagnose der elder statesmen ist für den Mittelmeerraum in den kommenden Jahrzehnten von besonderer Relevanz, denn:

Nach Ende des Ost-West-Konflikts wird das Sicherheitsdilemma im 21. Jahrhundert durch ein Überlebensdilemma überlagert, das in Entwicklungsländern durch die Bevölkerungsentwicklung und den globalen Klimawandel verursacht wird.24 Die Beschäftigung mit diesen „global challenges“ bzw. den Determinanten des Über-

lebensdilemmas des 21. Jahrhunderts setzt die Auseinandersetzung mit zukünftigen Entwick-lungstendenzen voraus, die das Verhalten nationaler und internationaler Akteure beeinflussen. Nachdem die Internationalen Beziehungen den globalen Strukturbruch von 1989 nicht vorher-gesehen haben, was Gaddis zu dem Befund eines „Prognoseversagens“ der globalen Wende führte25, der für alle Schulen der Internationalen Beziehungen gelte, ist Vorsicht geboten.26

Lassen sich singuläre Ereignisse, die einen Strukturbruch auslösen, überhaupt vorher-sehen? Sollte der Fokus der Zukunftsbeschäftigung sich nicht stärker auf Strukturen richten, die das Handeln von Akteuren determinieren bzw. deren Handlungsspielraum restringieren? Aus dem Problem von 1989 zogen Vertreter der IB-Forschung unterschiedliche Schlußfolgerungen,

22 Helmut Schmidt: „Report on the Conclusions and Recommendations by a High-level Group on The Search

for Global Order. The Problems of Survival, Petersberg, 7 and 8 January 1992“, in: Hans d’Orville (Hrsg.): Interaction Council: The Search for Global Order. The Problems of Survival (New York: Interaction Council, April 1993): 14.

23 Schmidt, a.a.O.: 16-17: „Worldwide ... conflicts of ideologies persist. New types of religious conflict also lurk. It is possible that religions and their interpretations may turn into the ideological instrument for carrying out conflicts which in reality originate from hunger, poverty or destitute economic conditions. There may very well arise new imperialisms in the guise of religious fundamentalism and other forms of religious ideological expansionism.“

24 Michael Renner: Fighting for Survival. Environmental decline, social conflict and the new age of insecurity (London: Earthscan, 1997): 198. Renner schlug vor, die militärisch definierte Sicherheit durch „human security“ zu ersetzen. „While military security rests firmly on the competitive strength of individual countries at the direct expense of other nations, human security cannot be achieved unilaterally: it requires and nurtures more stable and cooperative relationships among nations, and depends on greater solidarity among classes and communities. The task of strengthening the social, economic and environmental dimensions of global security is as challenging as it is imperative. To succeed, no less than a fundamental reexamination of the assumptions that have long guided national security policies is required.“

25 John Lewis Gaddis: „International Relations Theory and the End of the Cold War“, in: International Security, 17,3 (Winter1992/1993): 5-58.; ders.: We Now Know: Rethinking Cold War History (Oxford: Clarendon Press, 1997); Klaus von Beyme: „Die vergleichende Politikwissenschaft und der Paradigmenwechsel in der politischen Theorie“, in: Politische Vierteljahresschrift, 31,3 (September 1990): 457-74.

26 Kjell Goldmann: „International Relations - An Overview“, in: Robert E. Goodin; Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.): A New Handbook of Political Science (Oxford: Oxford University Press, 1996): 401-427.

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die von einem generellen Prognoseverzicht27 zur Forderung nach Differenzierungen bis zu einer Nichtthematisierung reichen, was einen „Zukunftsverzicht“ begünstigte, der zum „Zukunftsverlust“ führen kann. Hieraus zog ich folgende Schlußfolgerung:

Kurzfristige Prognosen über singuläre Entscheidungen und Ereignisse sind kaum möglich. Dies gilt jedoch nicht für wiederkehrende Zyklen (Konjunkturen) und Strukturen langer Dauer, die das Handeln von Entscheidungsträgern determinieren bzw. ihren Handlungsspielraum restringieren. Fernand Braudel unterschied in seinem Standardwerk über „die mediterrane Welt in der

Epoche Philipp II“ zwischen drei historischen Zeiten: Ereignissen, Konjunkturen und Strukturen.28 Welche Relevanz hat Braudels Ansatz für die Lösung unseres Problems, Wahrscheinlichkeitsaussagen über regionale Herausforderungen zu machen? Anknüpfend an Braudel unterscheide ich zwischen singulären Zukunftsereignissen, wiederkehrenden konjun-kturellen Zyklen und mehreren durch die Natur und gesellschaftliche Entwicklungen bedingte strukturelle Zukünfte, deren Erforschung möglich und für die Internationale Politik unverzichtbar und damit auch ein Objekt der Internationalen Beziehungen ist.29

Unter struktureller Zukunft (z.B. in der Demographie) verstehe ich die von spezifischen Theorien (z.B. des demographischen Übergangs) abgeleiteten Projektionen zukünftiger Entwicklungen (des Bevölkerungswachstums), die von einzelnen Disziplinen unter bestimmten Annahmen (zur Fertilität, Mortalität und Migration) für wahrscheinlich gehalten werden und die Rahmenbedingungen schaffen, die vom Regierungssystem weitgehend unabhängig sind und von den Entscheidungsträgern nur bedingt beeinflußt werden können.

Weitere Beispiele struktureller Zukünfte sind Veränderungen, die als Folge natürlicher und anthropogener Entwicklungen, z.B. der Bodenerosion und der Desertifikation sowie des Klimawandels, auftreten können. Unter dem Sachbereich Zukunft verstehe ich die Summe der Natur bedingten und anthropogenen globalen, regionalen und nationalen Herausforderungen langer Dauer, die sowohl gegenwärtige als auch zukünftige Entscheidungen determinieren bzw. den Handlungsspielraum von Akteuren restringieren. Zu diesen strukturellen Ein-flußfaktoren gehören u.a.: Bevölkerungswachstum und Urbanisierung sowie Umweltver-schmutzung, Desertifikation und Klimawandel und die Auswirkungen dieser Faktoren auf den Wasser- und Nahrungsmangel. Diese sechs Herausforderungen können für den südlichen und östlichen Mittelmeerraum im 21. Jahrhundert zu einem Überlebensdilemma führen.

Die folgende Skizze setzt auf der regionalen Ebene der fünf Staaten Nordafrikas sowie der sechs östlichen Mittelmeeranrainer an und fokussiert auf zwei zentrale Faktoren, welche die zukünftige Entwicklung dieser Staaten bis zum Jahr 2050 maßgeblich beeinflussen werden: die 1) Bevölkerungsentwicklung und 2) die regionalen Auswirkungen des Klimawandels.

Diese beiden „root causes“ haben Rückwirkungen auf vier weitere Faktoren: 3) die Urbanisierung und Umweltverschmutzung, 4) die Abnahme der Anbauflächen durch Urbanisierung, Bodenerosion und Desertifikation; 5) den wachsenden Wassermangel sowie 6)

27 Robert O. Keohane: „International Relations, Old and New“, in: Goodin; Klingemann, a.a.O.: 462-76. 28 Fernand Braudel: „Histoire et science sociales. La longue durée“, in: F. Braudel: Écrits Sur l’Histoire (Paris:

Flammarion, 1969): 41-83; Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipp II, 3 Bde. (Frankfurt: Suhrkamp, 1990). Im Vorwort zur 1. Auflage unterschied Braudel 1946 (vgl. Bd. 1: 20-21): zwischen der gleichsam unbewegten Geschichte [Strukturgeschichte], „die des Menschen in seinen Beziehungen zum umgebenden Milieu. ... Oberhalb dieser unbewegten Geschichte läßt sich eine Geschichte langsamer Rhythmen ausmachen ... eine soziale Geschichte, die der Gruppen und Gruppierungen [Konjunkturen]. ... Der dritte Teil ist der der traditionellen Geschichte... der Ereignisgeschichte.“

29 Hans Günter Brauch: „Partnership Building Measures for Long-term Non-Military Challenges Affecting North-South Relations“, in: Brauch; Marquina; Biad: a.a.O.: 286-288.

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der zunehmende Nahrungsmittelbedarf und die rückläufige Selbstversorgung. Diese sechs Faktoren werden mit einem Überlebenshexagon dargestellt (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Überlebenshexagon: langfristige Faktoren (25-50 Jahre)

Vergleicht man die von den Einzeldisziplinen für Nordafrika30 veröffentlichten Projektio-

nen und Szenarien mit der Entwicklung im Sahel in den 1980er Jahren31 sowie mit der Situation im Südsudan, dann sind - vor allem in Nordafrika - einige nicht-militärisch verursachte Katastrophen und gewaltsame Konflikte zu erwarten.32 Die Perzeption des wachsenden Migrationsdrucks aus dieser Region war Anfang der 1990er Jahre für die EU-Mittelmeer-staaten ein zentrales Motiv für die Einleitung eines Dialogs mit den Anrainerstaaten.

30 Hans Günter Brauch: „Long-Term Security Challenges to the Survival of the North African Countries:

Population Growth, Urbanisation, Soil Erosion, Water Scarcity, Food Production Deficits and Impact of Climate Change (2000-2050)“, in: Antonio Marquina (Hrsg.): Mutual Perceptions in the Mediterranean (Madrid: UNISCI; Paris: Publisud; Mosbach: AFES-PRESS, 1998): 35-123.

31 Monique Mainguet: Desertification. Natural Background and Human Mismanagement (Berlin - Heidelberg: Springer Verlag, 21994); Horst G. Mensching: Desertifikation. Ein weltweites Problem der ökologischen Verwüstung in den Trockengebieten der Erde (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990); Michael Garenne: „Mortality in Sub-Saharan Africa: Trends and Prospects“, in: Wolfgang Lutz (Hrsg.): The Future of World Population. What Can We Assume Today? (London: Earthscan, 1994): 167-186 (180-181). „Griffiths ... displays a striking map of Africa: famines, political unrest, and civil wars occur simultaneously in the same countries and in the same regions.“ Vgl. Astri Suhrke: „Environmental Change, Migration and Conflict. A Lethal Dynamic?“, in: Chester A. Crocker; Fen Osler Hamson; Pamela Aall: Managing Global Chaos. Sources of and Responses to International Conflict (Washington: U.S. Institute of Peace Press, 1996): 113-127.

32 E. El-Hinnawi: Environmental Refugees (Nairobi: UNEP, 1985); Norman Myers: Environmental Exodus. An Emergent Crisis in the Global Arena (Washington: Climate Institute, 1995).

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4. Langfristige „strukturelle“ Herausforderungen im Mittelmeerraum

Eine zentrale Herausforderung sowohl für die Regierbarkeit der südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten als auch für die Überlebensfähigkeit der gesamten Region wird bis zum Jahr 2050 und darüber hinaus das von der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen prognostizierte Bevölkerungswachstum bleiben, das in Tabelle 1 mit den Prognosen für fünf EU-Staaten verglichen wird.33

4.1. Herausforderung Bevölkerungswachstum Die Bevölkerung des Maghreb war seit Ende des Römischen Reiches (mit 4 Millionen) bis

1800 mit ca. 6 Millionen weitgehend konstant geblieben. Von 1800 bis 1900 stieg die Bevölkerung Marokkos, Algeriens und Tunesiens auf ca. 11,5 Millionen und bis 1950 auf 21,2 Mio. an. Von 1950 bis 1995 verdreifachte sich die Bevölkerung auf 63,9 Millionen. Die Bevölkerung der Türkei betrug bis 1500 ca. 6 Millionen und die Syriens und des Libanon bewegte sich zwischen 200 v.Chr. bis 1900 n.Chr. bei ca. 2 Millionen und die Palästinas und Jordaniens soll zwischen 200 v.Chr. und 1850 ca. 200.000 betragen haben.34

Die Bevölkerung der 12 Mittelmeerdialogstaaten soll nach der UNO-Prognose von 1996 von 215,771 Millionen (1995) bis 2050 auf 402,506 (1994: 422,266) Millionen ansteigen, d.h. insgesamt wurde zwischen den UNO-Revisionen von 1994 und 1996 ein um fast 20 Millionen geringeres Wachstum projiziert. Im selben Zeitraum soll die Bevölkerung der 5 EU-Staaten von 244,573 Millionen um 36,106 Millionen auf 209,189 Millionen sinken.

Für die 5 Staaten Nordafrikas wurde dagegen von der UNO 1996 gegenüber 1994 eine um 1,589 Millionen höhere Bevölkerungszahl prognostiziert. Nach einer Weltbank-Prognose von 1994 soll sich die Bevölkerung im Maghreb bei 158 Millionen stabilisieren: Marokko bei 59 Millionen, Algerien bei 81 und Tunesien bei 18 Millionen.35 Fügt man Ägypten und Libyen hinzu, dann ist die Bevölkerung der fünf Staaten Nordafrikas von 13,1 (1850), über 22,3 (1900) und 44,1 (1950) bis 1995 auf 131,1 Millionen gewachsen und sie soll nach der mittleren UNO-Prognose von 1996 bis 2050 auf 256,765 Millionen ansteigen, d.h. zwischen 1995 und 2050 soll die Bevölkerung dieser Länder um 125,647 Millionen Menschen wachsen. Die Bevölkerungsprognosen der UNO, der Weltbank und der IIASA36 für die Mittelmeerdialogstaaten lassen einen wachsenden Emigrationsdruck erwarten, der durch kurz- und mittelfristige sozio-ökonomische und ökologische Faktoren verstärkt werden kann.

33 Hans Günter Brauch: „Partnership Building Measures to Deal with Long-term Non-military Challenges

Affecting North-South Security Relations“, in: Brauch; Marquina, Biad, a.a.O.: 281-318 (290-291). 34 Colin Mc Evedy; Richard Jones: Atlas of World Population History (London: Allen Lane, 1978): 220. 35 World Bank: World Development Report 1988 (New York: Oxford University Press, 1988); World Bank:

World Population Projections, 1992-1993 Edition (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1992); World Bank: Population and Development. Implications for the World Bank (Washington: World Bank, 1994).

36 Wolfgang Lutz (Hrsg.): The Future Population of the World. What Can We Assume Today? (London: Earthscan, 1994); Hassan M. Yousif; Anne Goujon; Wolfgang Lutz: Future Population and Education Trends in the Countries of North Africa, RR-96-11 (Laxenburg: IIASA, 1996); Wolfgang Lutz (Hrsg.): The Future Population of the World. What Can We Assume Today? Revised 1996 Edition (London: Earthscan, 1996).

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Tabelle 1: Bevölkerungswachstum von fünf EU- und 12 Mittelmeerdialogstaaten Westeuropa (5 von 15 EU-Staaten)

Reale Bevölkerungsentwicklung Projektionen Veränderungen in Millionen 1850 1900 1950 1965 1980 1995

(1996 Revision) 2050

(1994 Revision)2050

(1996 Revision)1950-2050

(1996 .1995-2050

Revision) Deutschland 35,0 57,0 68,376 76,031 78,304 81,593 64,244 69,542 1,166 -12,052 Frankreich 36,0 41,0 41,829 48,753 53,880 58,104 60,475 58,370 16,541 -0,455 Österreich 4,0 6,0 6,935 7,271 7,549 8,045 7,811 7,430 0,495 -0,615 Italien 25,0 34,0 47,104 52,112 56,434 57,204 43,630 42,092 -5,012 -15,112 Spanien 15,0 18,5 28,009 32,065 37,542 39,627 31,765 31,755 3,746 -7,872 Summe (5) 115,0 156,5 192,253 216,232 233,709 244,573 207,925 209,189 16,936 -36,106

Nicht EU-Mittelmeerdialogstaaten Algerien 3,0 5,0 8,753 11,823 18,740 28,109 55,674 58,991 50,238 30,882 Marokko 3,0 5,0 8,953 13,323 19,382 26,524 47,858 47,278 38,323 20,754 Tunesien 1,0 1,5 3,530 4,630 6,448 8,987 15,607 15,907 12,377 6,920 Libyen (kein Partn.) 0,6 0,8 1,029 1,623 3,043 5,402 19,109 19,109 18,080 13,707 Ägypten 5,5 10,0 21,834 31,563 43,749 62,096 117,198 115,480 93,646 53,384 nur Nordafrika 13,1 22,3 44,099 62,962 91,362 131,118 255,176 256,765 212,664 125,647 Jordanien 0,25 0,3 1,237 1,962 2,923 5,373 16,870 16,671 15,434 11,298 Israel 1,258 2,563 3,879 5,520 8,927 9,144 7,886 3,624 Paläst. Verwaltung 0,35 0,5 Libanon 0,35 0,5 1,443 2,151 2,669 3,009 5,191 5,189 3,746 2,180 Syrien 1,5 1,75 3,495 5,325 8,704 14,203 47,212 34,463 30,968 20,260 Türkei 10,0 13,0 20,809 31,151 44,438 60,838 106,284 97,911 77,102 37,078 Zypern 0,15 0,23 0,494 0,582 0,611 0,745 1,006 1,029 0,535 0,284 Malta 0,13 0,19 0,312 0,305 0,324 0,367 0,439 0,442 0,130 0,075 Summe (12 Dialogstaaten)

25,23

37,97 72,118

105,378 151,867

215,771

422,266 402,506 330,385 186,739

Quellen: Mc Evedy; Jones, a.a.O. für 1850 und 1900; für Projektionen bis 2050: United Nations, Populations Division, Department for Economic and Social Information and Policy Analysis: World Population Prospects: The 1994 [1996] Revision (New York: United Nations, 1995, [1997]).

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Diese steigende Bevölkerung braucht Nahrung, Wasser und Arbeitsplätze. Dies führt auch zu einem Anstieg der Binnenenergienachfrage, was in Ägypten und Algerien Rückwirkungen auf den Öl- und Gasexport haben kann. In Ägypten werden die Erdölreserven voraussichtlich vor 2010 und in Algerien vor 2020 erschöpft sein und damit auch eine zentrale Devisenquelle allmählich versiegen.1 Dagegen werden die sicher gewinnbaren Erdgasreserven Algeriens möglicherweise noch bis 2050 reichen.2

4.2. Herausforderung: Globaler und regionaler Klimawandel In der wissenschaftlichen Klimaliteratur stehen zwei Ansätze unverbunden nebeneinander:

ein globaler deduktiver Modellansatz im Rahmen der Aktivitäten des IPCC3 und ein regio-naler Fallstudienansatz im Kontext des Mittelmeeraktionsplanes des UNEP4. Mit Ausnahme einer IPCC-Studie von 1998 und einiger Arbeiten zum Nildelta gibt es bisher jedoch noch keine Klimaimpaktanalysen für diese vom Klimawandel besonders gefährdete Region.5

Die globalen Klimamodelle kamen zu dem Ergebnis, daß Ökosysteme in Trockengebieten für Klimaveränderungen besonders sensibel sind und Wüstengebiete als Folge des Klima-wandels noch heißer und der eingeleitete Prozeß der Desertifikation hier unumkehrbar werde. Die Deltagebiete (z.B. des Nil) sind durch den Anstieg des Meeresspiegels gefährdet. Da es bisher noch keine Klimaimpaktanalysen für den gesamten Mittelmeerraum gestützt auf die Klimamodelle des IPCC gibt, sind detaillierte Aussagen hierzu noch nicht möglich.6

1 Hans Günter Brauch: Energy Policy in North Africa (1950-2050): From Hydrocarbon to Renewables,

UNISCI Papers 11-12 (Madrid: UNISCI/Marcial Pons, 1997). 2 BMWi: Energie Daten 1999. Nationale und internationale Entwicklung (Bonn: BMWi, Februar 1999): 65,

67. 3 IPCC: IPCC Second Assessment Climate Change 1995. A Report of the International Panel on Climate Change

(Geneva: WMO, UNEP, 1995); IPCC: IPCC Second Assessment Report - Climate Change 1995 - The Science of Climate Change (Cambridge: Cambridge University Press, 1996); IPCC: IPCC Second Assess-ment Report - Climate Change 1995 - Scientific-Technical Analyses of Impacts, Adaptations and Mitigation of Climate Change (Cambridge: Cambridge University Press, 1996); IPCC: IPCC Second Assessment Report - Climate Change 1995 - The Economic and Social Dimensions of Climate Change (Cambridge: Cambridge University Press, 1996); IPCC: IPCC Second Assessment Report - The IPCC Second Assessment Synthesis of Scientific-Technical Information Relevant to Interpreting Article 2 of the UN Framework Convention on Climate Change (Cambridge: Cambridge University Press, 1996); IPCC: The Regional Impacts of Climate Change. An Assessment of Vulnerability (Cambridge: Cambridge University Press, 1998).

4 Ludimir Jeftic; J.D. Milliman; G. Sestini (Hrsg.): Climate Change and the Mediterranean (London - New York: Arnold, 1992); Ludimir Jeftic; S. Keckes; J.C. Pernetta (Hrsg.): Climate Change and the Mediterranean. Bd. 2 (London - New York: Arnold, 1996).

5 Kenneth Strzepek; Joel B. Smith (Hrsg.): As Climate Changes. International Impacts and Implications (Cam-bridge - New York: Cambridge University Press, 1995). Das PIK hat in einer paläöklimatischen Simulation für die Sahara die Wechselwirkungen zwischen Atmosphäre, Vegetation und Ozean untersucht: A. Ganapolski, C. Kubatzki, M. Clausen; V. Brovkin; V. Petoukhov: „The influence of vegetation-atmosphere-ocean interaction on climate during the Mid-Holocene“, in: Science, Bd. 280 (19. Juni 1998): 1916ff.

6 Im Rahmen des US Country Study Program wurden nur Untersuchungen in Ägypten unterstützt, während die Europäischen Kommission (DGXI, DG XII) in den letzten Jahren keine Untersuchungen zu den Folgen eines Klimawandels in dieser Region förderte. Vgl. M. El-Raey u.a.: Vulnerability Assessment of the Coastal Zone of Egypt, to the Impacts of Sea Level Rise. Phase II US Country Study Program (Washington: US Country Studies Program, April 1997); Organization for Energy Conservation and Planning: Projections of Future CO2 Emissions From the Energy Sector in Egypt. US Country Study Program Phase II (Washington: US Country Studies Program, October1996); Organization for Energy Conservation and Planning: Egypt’s Policies and Measures to Mitigate Climate Change (Washington: US Country Studies Program, April 1997); Mohamed A. Ibrahim: Aquaculture in Relation to Effect of Environmental Changes in Egypt (Alexandria: National Institute of Oceanography & Fisheries, 1997). Von den 12 Dialogpartnern legten bis Juli 1999 beim UNO-Klimasekretariat nur Ägypten und Jordanien eine nationale Kommunikation vor: in: http://www.unfccc. de/resource/natcom/nctable.html vom 21.8.1999.

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4.3. Herausforderung: Ausbreitung der Wüsten und Versteppung (Desertifikation)

Fast alle südlichen und östlichen Mittelmeeranrainerstaaten sind durch Bodenerosion, fortschreitende Versteppung und die Ausweitung der bestehenden Wüsten bedroht.7 Die Maghrebstaaten, Ägypten und Libyen aber auch Jordanien, Israel, Palästina und Syrien werden aber im 21. Jahrhundert vom Klimawandel voraussichtlich durch die fortschreitende Desertifikation, den Rückgang der Niederschläge, durch Wasserknappheit sowie den Mangel an verfügbaren Lebensmitteln negativ betroffen. Einige Experten haben den globalen Klimawandel als Hauptursache für die Desertifikation bezeichnet, während andere behaupten, daß der Klimawandel die Bodenerosion und Desertifikation unumkehrbar mache.8

4.4. Herausforderung: Urbanisierung und Umweltverschmutzung Das für den Mittelmeerraum generell und Nordafrika speziell prognostizierte Bevölkerungs-

wachstum wird den Druck auf die Umwelt erhöhen: Die UN-Bevölkerungsstudie projizierte für Nordafrika, daß bis 2030 ca. 100 Millionen zusätzlich in Städten leben werden.9 Mit der Landflucht und der Urbanisierung wachsen die Folgeprobleme durch die Verschmutzung der Luft, der Böden und des Wassers und damit auch die Gesundheitsprobleme in den Großstädten.10 Arbeitslosigkeit und Armut werden steigen, was die politische Radikalisierung und die Attraktivität fundamentalistischer Heilslehren begünstigt.

4.5. Herausforderung: Wassermangel Mit der Bevölkerungszunahme nimmt die Nachfrage nach Trinkwasser und zur Bewässe-

rung für die Landwirtschaft zu. Die Ausweitung der Anbaugebiete und die Übernutzung der kargen Böden erhöht den ökologischen Stress und begünstigt die Bodenerosion und das Vordringen der Sahara. Die Wasserverfügbarkeit pro Kopf ist in den Maghrebstaaten von 1960 bis 1990 bereits deutlich gesunken und sie wird bis 2025 weiter fallen. In den folgenden Tabellen (2 und 3 ), die nur bis 2025 reichen, sind die Folgen eines Klimawandels nicht berücksichtigt. Von 2025 bis 2050 wird die Wasserknappheit sich weiter zuspitzen.

7 E. Dregne: Desertification of Arid Lands (Chur - London: Harwood Academic Publishers, 1983); F. K. Hare:

Climate and Desertification: Its Causes and Consequences (New York: United Nations, 1977); H.N. Le Houérou: „Vegetation and Land-use in the Mediterranean Basin by the Year 2050: A Prospective Study“, in: Jeftic, Ludimir; Milliman, J.D.; Sestini, G. (Eds.), 1992: Climate Change and the Mediterranean (London - New York: Arnold, 1992): 175-232.

8 Martin A.J. Williams; Robert C. Balling Jr.: Interactions of Desertification and Climate (London - New York - Sydney - Auckland: Arnold, 1996).

9 Vgl. Gerhard A. Heilig: DemoGraphics ’96. A population education software developed for the United Nations Population Fund (Vienna: Heilig, 1998); ders.: DemoTables ’96 (Vienna: Heilig, 1998).

10 Michel Grenon; Michel Batisse (Hrsg.): Futures for the Mediterranean Basin. The Blue Plan (Oxford: Oxford University Press, 1989); Belgacem Henchi: „Pollution and the Deteriorating Quality of Life“, in: Will D. Swearingen; Abdellatif Bencherifa (Hrsg.): The North African Environment at Risk (Boulder - Oxford: Westview, 1996): 207-16.

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Tabelle 2: Wasserverfügbarkeit in Nordafrika und im Nahen Osten (1960-2025)

Jährlicher Wasserfluß

Erneuerbare Ressourcen pro Kopf

Jährliche erneuerbare Wasser-resourcen

aus anderen Ländern

in andere Länder

Jährliche Erneuer-bare Res-sourcen

1960

1990

2025

Land Mrd. m3 Mrd. m3 Mrd. m3 Mrd. m3 Kubikmeter pro Jahr Nordafrika

Algerien 18,90 0,20 0,70 18,40 1.704 737 354 Ägypten 1,80 56,50 -- 58,30 2.251 1.112 645 Libyen 0,70 -- -- 0,70 538 154 55 Marokko 30,00 -- 0,30 29,70 2.560 1.185 651 Tunesien 3,7 0,60 -- 4,35 1.036 532 319

Naher Osten Jordanien 0,70 0,16 -- 0,86 529 224 91 Israel 1,70 0,45 -- 2,15 1.024 467 311 Libanon 4,80 -- 0,86 3,94 2.000 1.407 809 Syrien 7,60 27,90 30,00 5,50 1.196 439 161

Quelle: Jeremy Berkoff: A Strategy for Managing Water in the Middle East and North Africa (Washington: World Bank, 1994): 68.

Tabelle 3: Wasserressourcen in den Maghrebstaaten (1990 und 2025)

Bevölkerung (Millionen) Fluß (Mrd. m3)

Pro Kopf verfüg-bar 1000 m3/Ein-

wohner

1990 2025

Nieder-schlag

(Mrd. m3) Ober-flächen-wasser

Grund- wasser Summe 1990 2025

Marokko 25,04 45,65 150 22,50 7,50 30,00 1,19 0,65 Algerien 24,96 51,95 65 12,40 6,70 19,10 0,76 0,36 Tunesien 8,18 13,63 33 2,70 1,80 4,50 0,55 0,36 Libyen 4,55 12,84 -- 0,20 3,63 3,83 0,84 0,30

Quelle: Mohammed Jellali; Ali Jebali: „Water Resource Development in the Maghreb Countries“, in: Peter Rogers; Peter Lydon (Hrsg.): Water in the Arab World, Perspectives and Prognoses (Cambridge: Harvard University Press, 1994): 150.

Im Nahen Osten, d.h. vor allem für Jordanien, Syrien und Israel, kann der Konflikt über die Kontrolle der knappen Wasserresourcen zu neuen durch ein Überlebensdilemma motivierten militärischen Konflikten führen, wenn es nicht gelingt, durch eine Lösung des Nahost-konflikts Voraussetzungen für eine kooperative Lösung des Wasserproblems zu schaffen.11

11 Helena Lindblom: „Water and the Arab-Israeli Conflict“, in: Leif Ohlsson (Hrsg.): Hydropolitics. Conflicts

over Water as a Development Constraint (London, Zed Books, 1995): 55-90; vgl. den Vorschlag des Außen-ministers Israels Sharon beim Außenministertreffen in Stuttgart, in: Brauch/Marquina/Biad, a.a.O.: 335-336.

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4.6. Herausforderung: Landwirtschaft und Nahrungsmittelversorgung In den Maghrebstaaten ist der Anteil der landwirtschaftlich nutzbaren Anbaufläche durch

das Klima in Marokko auf 20%, in Tunesien auf 10% und in Algerien auf 3% sowie in Ägypten im Niltal und in einigen Oasen auf 25.000 km2 begrenzt.12 Während die nordafrikanischen Staaten sich in den 1950er Jahren noch selbst ernähren konnten, waren sie 1990 alle bereits Nettonahrungsmittelimporteure.

Tabelle 4: Getreideproduktion in den Maghrebstaaten (1958-1984)

In metrischen Tonnen Pro Kopf (kg pro Person)

Nettogetreideimporte (metr. Tonnen)

1958-62 Durch-schnitt

1980-84 Durch-schnitt

Nettover-änderung

1958-62Durch-schnitt

1980-84 Durch-schnitt

Nettover-änderung

1958-62 Durch-schnitt

1980-84 Durch-schnitt

Importe als % des Verbrauchs

Algerien 1.903.000 1.764.000 -0,7% 176 88 -50% 336.220 3.560.440 65 %

Marokko 2.867.000 3.777.000 +32% 203 188 -7% 48.560 2.248.814 37%

Tunesien 727.00 1.153.000 +59% 172 169 -2% 70.720 982.710 45%

Quelle: Will D. Swearingen: „Agricultural Reform in North Africa: Economic Necessity and Environmental Dilemmas“, in: Dirk Vandewalle (Hrsg.): North Africa, Development and Reform in a Changing Global Economy (Basingstoke-London: Macmillan, 1996): 60-70.

Mit der wachsenden Bevölkerung und den sinkenden Wasserressourcen werden die

Nahrungsmittelproduktion pro Kopf ebenfalls sinken und der Bedarf an Lebensmittelimporten und die damit verbundenen Kosten steigen. In Jordanien, Israel und dem Libanon war die Selbstversorgungsrate bei Getreide zwischen 1988 und 1990 bereits auf 9-12% gesunken (Tabelle 6). In Ägypten soll der Selbstversorgungsgrad nach einer integrierten Klimaprognose von 60% im Jahr 1990 bis 2060 auf nur 10% sinken, d.h. für über 100 Millionen Ägypter müßten dann Nahrungsmittel (Getreide) importiert werden.

12 Will D. Swearingen; Abdellatif Bencherifa: „Introduction: North Africa’s Environment at Risk“, in: dies.

(Hrsg.): The North African Environment at Risk (Boulder - Oxford: Westview, 1996): 3-13; Sadok Bouzid: „Land Degradation in Tunisia: Causes and Sustainable Solutions“, in: Swearingen; Bencherifa, a.a.O.: 93-108.

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Tabelle 5: Getreidedaten für Nordafrika und den Nahen Osten von 1969-1990 Eigenverbrauch

Produktion (1000 Tonnen)

Nettohandel (1000 Tonnen)

Selbstver-sorgungsrate (%) Summe (1000 Tonnen) 1988/1990

1969/71 1979/81 1988/90 1969/71 1979/81 1988/90 1969/71 1979/81 1988/90 1969/71 1979/81 1988/90 Nahr. (%)

Futter(%)

Nordafrika

Algerien 1881 1957 1492 -493 -2979 -6100 74 42 20 2542 4722 7551 68 22 Ägypten 6530 7340 10404 -1089 -5947 -8335 77 55 56 8460 13287 18591 67 23 Libyen 113 225 293 -348 -713 -1759 26 24 15 436 946 1997 43 50 Marokko 4554 3575 7221 -310 -2044 -1408 95 61 86 4810 59ß1 8369 72 12 Tunesien 724 1146 857 -422 -889 -1749 62 59 32 1173 1938 2715 63 26

Naher Osten Jordanien 152 91 113 -150 -498 -1071 48 19 9 319 564 1212 43 51 Israel 199 239 245 -1156 -1690 -2060 15 13 11 1351 1911 2249 27 59 Libanon 50 41 76 -535 -581 -504 9 7 12 538 615 620 63 29 Syrien 1229 3069 3177 -394 -664 -1378 76 101 69 1628 3025 4608 55 30 Türkei 17945 25130 28111 -758 6489 -760 100 102 97 17987 24624 29133 38 34

Quelle: Nikos Alexandratos (Hrsg.): World Agriculture: Towards 2010. An FAO Study (Chichester - New York - Brisbane - Toronto - Singapore: Wiley): 435-436, 439.

5. Mögliche „konjunkturelle Folgen“

Die sechs nicht-militärischen Entwicklungen können in den ökologisch sensiblen semi-ariden Zonen des Mittelmeerraums kumulieren und die Überlebensprobleme großer Teile der Bevölkerung verschärfen und auch die Unregierbarkeit einiger Staaten steigern. Diese strukturellen Ursachen bringen mittel- und langfristige sozio-ökonomische Wirkungen hervor, die als mögliche konjunkturelle Folgen vorausgesehen werden können, ohne daß es möglich sein wird vorauszusagen, wo, wann und wie diese singulären Ereignisse eintreten werden.

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Abbildung 4: Pentagon der mittelfristige Faktoren und der konjunkturellen Folgen

5.1. Konjunkturelle Folge: Landflucht und Migration Bei der Analyse des Migrationsdrucks - einem aktuellen Indikator der

Überlebensprobleme des Südens - werden in der Literatur Pull- und Push-Faktoren unterschieden.13 Zwei zentrale Ursachen können die Migration aus den Maghrebländern nach Süd- und Mitteleuropa sowie aus der Türkei vor allem nach Deutschland erklären: a) der Bevölkerungsanstieg und dessen sozio-ökonomische und ökologische Folgeprobleme sowie zusätzlich im 21. Jahrhundert b) hausgemachte und exogen verursachte ökologische Krisenfaktoren, insbesondere die fortschreitende Ausdehnung der Sahara und der globale Klimawandel. Diese Ursachen determinieren nicht nur die Migration, sondern auch das Überleben der gesamten Region.

13 Reginald T. Appleyard: International Migration: Challenge for the Nineties (Genf: International Organization

for Migration, 1991); ders.: „International Migration and Development - an Unresolved Relationship“, in: International Migration, Bd. 30, 3/4, 1992: 251-266; ders.: „Migration and Development: A Global Agenda for the Future“, in: International Migration, Bd. 30, 1, 1992: 17-30; ders.: „Emigration Dynamics in Developing Countries“, in: International Migration, Bd. 33, 3-4, 1995: 293-311.

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Tabelle 6: Einwohner und Arbeitnehmer aus der Türkei, Ex-Jugoslawien und den Maghrebstaaten in ausgewählten OECD-Ländern, 1996 (in 1.000 und in %)

Ausländ. Bev.

Insg

.

MM

La

Alg

erien

%

Mar

okko

%

Tun

esie

n

%

Türk

ei

%

Ehem

alig

es

Jugo

slawi

en

%

Belgien 911,9 239,2 9,2 1,0 138,3 15,2 5,1 0,6 78,5 8,6 8,1 0,9Frankreich 3.596,6 1.643,4 614,2 17,1 527,7 15,9 206,3 5,7 197,7 5,5 52,5 1,5Deutsch-land 7.314,0 3.471,6 17,2 0,2 82,9 1,1 25,7 0,4 2.049,1 28,0 1,296,7 17,7

Italien 1.095,6 258,9 119,5 10,9 44,8 4,1 94,6 8,6Nieder-lande 679,9 300,4 1,1 0,2 138,7 20,4 1,9 0,3 127,0 18,7 32,8 4,8

Spanien 539,0 77,2 77,2 14,3 Anzahl der Arbeitnehmer nach HerkunftsländernBelgien 335,3 71,9 3,1 0,9 42,9 12,8 1,9 0,6 21,0 6,3 3,0 0,9Frankreich 1.604,7 635,9 253,3 15,8 203,1 12,7 75,2 4,7 72,5 4,5 31,8 2,0Deutsch-land 2.559,3 1.213,6 759,1 29,7 454,5 17,8

Nieder-lande 218,0 65,0 32,0 14,7 33,0 15,1

Spanien 161,9 62,3 3,1 0,1 59,2 36,5

a) MML: 5 Mittelmeerländer (Algerien, Marokko, Tunesien, Türkei, ehemaliges Jugoslawien).

Quelle: OECD: Trends in International Migration. Annual Report 1998 (Paris: OECD, 1998): 34.

Die Landflucht wird im 21. Jahrhundert den Migrationsdruck erhöhen, d.h. zu den Arbeitsmigranten, die aus sozio-ökonomischen und politischen Gründen nach Europa kamen, werden noch „Umweltflüchtlinge“ hinzukommen.

5.2. Konjunkturelle Folge: Innenpolitische und internationale Konflikte Trotz des hohen Grades an religiöser, sprachlicher und kultureller Homogenität in

Nordafrika und im Nahen Osten war Integrationsversuchen bisher ein geringer Erfolg beschieden, vielmehr kam es wiederholt zu Konflikten: a) Unabhängigkeitskriegen; b) regionalen Kriegen (mit Israel und am Golf); c) bilateralen intraregionalen und Grenzkonflikten; und d) innerstaatlichen Konflikten (Coup d’états, Bürgerkriege).14

14 Vgl. oben FN 5; Klaus-Jürgen Gantzel; Torsten Schwinghammer: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg

1945 bis 1992. Daten und Tendenzen (Münster: Lit, 1995); Peter Wallensteen; Margareta Sollenberg: „Armed Conflicts, Conflict Termination and Peace Agreements, 1989-96“, in: Journal of Peace Research, 34,3 (August 1997): 339-58; dies.: „Armed Conflict and Regional Conflict Complexes, 1989-97“, in: Journal of Peace Research, 35,5 (September 1998): 621-34.

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Es ist möglich, daß das Zusammenwirken der sechs langfristigen strukturellen Herausforderungen (4.1 bis 4.6) zu neuen Konflikten führt.15 Die Erschöpfung der Öl- und Gasreserven, die bis 2050 eintreten wird, und die wachsende Knappheit an Wasser und Lebensmitteln erhöht innerstaatliche Verteilungs- und zwischenstaatliche Ressourcen-konflikte.16 Die mittelfristigen konjunkturellen Folgen der langfristigen strukturellen Ursachen gefährden die Überlebensfähigkeit einer ökologisch sensiblen Region, was zu Unregierbarkeit, Militarisierung, Repression oder Staatszerfall führen kann. Damit wird das Überlebensdilemma des Südens zunehmend ein Sicherheitsproblem des Nordens, d.h. der EU-Staaten.

5.3. Fehlen komplexer multikausaler Erklärungsansätze

Die sozialwissenschaftliche Analyse der Interaktionen dieser sechs strukturellen Ursachen und der fünf möglichen konjunktureller Folgen erfordert - für die Vergangenheit und Zukunft - komplexe multikausale Erklärungsansätze.17 Simulationen der Interaktionen einiger dieser Faktoren werden in der Klimafolgenforschung (z.B. der Ansatz der Erdsystemanalyse (ESA) des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung) durchgeführt, um wahrscheinliche Auswirkungen der anthropogenen Faktoren auf das globale oder regionale Klima zu projezieren. Für Spezialisten der Internationalen Beziehungen könnten diese Studien Ausgangspunkt für eigene Untersuchungen zu möglichen Rückwirkungen dieser Faktoren auf die Internationale Politik sein.18 Bisher ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sozial- und Naturwissenschaftlern zu diesen Zukunftsfragen des 21. Jahrhunderts noch unzureichend.

Welche konzeptionellen Schlußfolgerungen ergeben sich aus dieser Problemskizze für sozialwissenschaftliche Arbeiten zur Konfliktvermeidung generell und im Mittelmeerraum speziell und welche praxeologischen Konsequenzen sollten zu Beginn des 21. Jahrhunderts von den 27 Staaten des euro-mediterranen Dialogs und insbesondere von der Europäischen Union und seinen Mitgliedsstaaten für eine vorausschauende Politik der Konfliktvermeidung im Mittelmeerraum gezogen werden, damit die Überlebensdilemma nicht zu einer Kette menschlicher Tragödien, Katastrophen und Kriegen führen?

6. Langfristige Strategie der Konfliktvermeidung im Mittelmeerraum?

Auf eine Initiative des ehemaligen französischen Premierministers und Europa-abgeordneten Michel Rocard von 1995 hat die DG IA der Europäischen Kommission im Januar 1997 ein Conflict Prevention Network ins Leben gerufen und mit dessen Organisation die Stiftung Wissenschaft und Politik (Ebenhausen/Berlin) betraut.19 Der Generalsekretär der

15 Günther Bächler; Völker Böge; Stefan Klötzli; Stephan Libiszewski: Umweltzerstörung: Krieg oder

Kooperation? Ökologische Konflikte im internationalen System und Möglichkeiten der friedlichen Bearbeitung (Münster: Agenda, 1993); Lorraine Elliott: „Environmental Conflict: Reviewing the Arguments“, in: The Journal of Environment and Development, 5,2 (June 1996): 149-67; Suhrke, a.a.O.: 113-127; Sigrid Faath: „Umweltprobleme und Bevölkerungsdruck: eine Ursache politischer Konflikte in Algerien?“, in: Günther Bächler; Kurt R. Spillmann (Hrsg.): Kriegsursache Umweltzerstörung. Bd. 3: Länderstudien von Externen Experten (Chur/Zürich: Rüegger, 1996): 203-268.

16 Richard E. Bissell: „The Resource Dimension of International Conflict“, in: Crocker; Hampson; Aall, a.a.O.: 141-153.

17 Thomas Homer-Dixon: „Strategies for Studying Causation in Complex Ecological-Political Systems“, in: The Journal of Environment and Development, 5,2 (June 1996): 132-48,

18 Vgl. den Ansatz der Naturwissenschaftler: Hans-Joachim Schellnhuber; Volker Wenzel (Hrsg.): Earth System Analysis. Integrating Science for sustainability (Berlin-Heidelberg, Springer, 1998).

19 Bis August 1999 legte das Conflict Prevention Network (SWP-CPN) vier Bände vor: Peter Cross (Hrsg.): Contributing to Preventive Action. CPN Yearbook 1997/98. Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 60/1 (Baden-Baden: Nomos, 1998); Muriel Asseburg/Volker Perthes (Hrsg.): Surviving the Stalemate:

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DG 1A, Günter Burckhardt, hob dabei hervor, daß eine effektive und vorausschauende Außenpolitik der Europäischen Union verbesserte Analysen und Bewertungen im Hinblick auf Früherkennung und frühem Handeln erfordert.20

In seinem Grundsatzbeitrag unterschied Michael S. Lund im Hinblick auf die vielfältigen Ursachen von Konflikten, die präventive Aktionen notwendig machen, zwischen drei Gruppen von Frühwarnindikatoren: a) strukturellen (Hintergrund- und bedingenden Faktoren), b) unmittelbaren (ermöglichende) und c) sofortige (beschleunigende und auslösende) Faktoren. Zu den für diesen Beitrag wichtigen strukturellen Faktoren zählte Lund u.a. vergangene Konflikte (durch Diskriminierung, Repression, Begünstigung), selbstbewußte Gruppenidentitäten und den Grad ethnischer Fragmentierung auf.21 In diesem Beitrag wie in seinem grundlegenden Buch fehlt jedoch jeglicher Bezug auf langfristig wirkende strukturelle Faktoren, die in dieser Problemskizze behandelt wurden.22 Ein Sammelband führt unter strukturellen Ursachen den Zusammenbruch von Weltreichen am Beispiel der UdSSR und die Bildung, das Zerbrechen und das Versagen von Staaten in der dritten Welt auf.23

Calic nannte in ihrer Einführung zum 4. Band des CPN als strukturelle Ursachen gewaltsamer Konflikte: Unterentwicklung und undemokratische Regime und.24 Der ehemalige EU-Entwicklungskommissar Pinheiro sah als Aufgabe der Konfliktprävention die Durchsetzung von Prioritäten und Projekten, welche die zentralen Ursachen von Konflikten statt ihrer Ergebnisse behandeln.25 Baier-Allen wendet das Konzept der Konfliktprävention von Lund für die Maghrebstaaten im Kontext des Barcelona-Prozesses mit dem Ziel an, die zugrunde liegenden zentralen Konfliktursachen durch die Stabilisierung von Konfliktregionen zu eliminieren. Sie plädiert für eine problem-orientierte langfristige vorausschauende (pro-active) statt einer reaktiven Politik, in der die Handels-, Entwicklungs- und Immigrations-politik Teil einer breiteren Strategie der Konfliktverhütung werden.26

Approaches to Strengthening the Palestinian Entity. Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 60/2 (Baden-Baden: Nomos, 1998); Reinhardt Rummel/Claude Zullo (Hrsg.): Rethinking European Union Relations with the Caucasus. Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 60/3 (Baden-Baden: Nomos, 1999); Peter Cross; Guenola Rasamoelina (Hrsg.): Conflict Prevention Policy of the European Union, Recent Engagements, Future Instruments. Yearbook 1998/99. Aktuelle Materialien zur Internationalen Politik 60/4 (Baden-Baden: Nomos, 1999).

20 Günter Burghardt: „Taking up the Challenge of Early Warning and Conflict Prevention“, in: Cross, a.a.O.: 10-11. „The challenge is to have adequate analysis, means and mechanisms available to prevent tensions from becoming violent, to assemble the political will to use these tools at an early stage. Predicting conflict, assessing risks, managing economic development and human rights programmes, reducing security threats and addressing global issues such as weapons trade, drugs, criminal cross-border activities and population growth are the challenges for the next millenium.“

21 Michael S. Lund: „Preventing Violent Conflicts: Progress and Shortfall“, in: Cross, a.a.O.: 21-64 (39). 22 Michael S. Lund: Preventing Violent Conflicts. A Strategy for Preventive Diplomacy (Washington: US

Institute of Peace Press, 1996); ders.: „Developing Conflict Prevention and Peacebuilding Strategies from Recent Experience in Europe“, in: Gianni Bonvicini; Ettore Greco; Bernard von Plate; Reinhardt Rummel (Hrsg.): Prevenign Violent Conflict (Baden-Baden: Nomos, 1998): 36-79.

23 Mark N. Katz: „Collapsed Empires“, in: Crocker; Hampson; Aall, a.a.O.: 3-24; Mohammed Ayoob: „State Making, State Breaking, and State Failure“, in: Crocker; Hampson; Aall, a.a.O.: 25-35.

24 Marie-Janine Calic: „Introduction and Summary“, in: Cross; Rasamoelina, a.a.O.: 9-15 (10). 25 João de Deus Pinheiro: „Peace-Building and Conflict Prevention in Africa“, in: Cross; Rasamoelina, a.a.O.:

19-24 (20-21): „Root-causes of violent conflict should be addressed with a coherent combination of all available policy instruments. Such a holistic approach necessitates overcoming those dividing lines between different policy instruments and sectoral policies. ... Development assistance ... has a particularly important role to play in this regard. Indeed, development co-operation is indisputably the single most important instrument for an effective policy of peace-building in developing countries."

26 Susanne Baier-Allen. „Conflict Prevention through Development Co-operation: The EU Approach in the Maghreb“, in: Cross; Rasamoelina, a.a.O.: 32-47 (45).

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Gewaltprävention im Sinne von Konfliktursachenbekämpfung als neue Aufgabe der Entwicklungspolitik sollte nach Spelten auf die Veränderung der externen (koloniale Erb-lasten, ökonomische Interessen westlicher Regierungen) und internen (schlechte Regierungs-führung, Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Bevölkerungswachstum und verfüg-baren Ressourcen) Faktoren zielen. Eine kurzfristige ansetzende Gewaltvermeidungsstrategie setzt an der Eskalationsdynamik der Konfliktaustragung an, während eine längerfristige Strategie sich auf die Konfliktursachen fokussiert.27

Während in der Literatur zur Konflikt- und Krisenprävention (conflict prevention)28 durch die Früherkennung (early warning)29 der unmittelbar - von sechs Wochen bis zu einem Jahr - bevorstehende Gewaltausbruch vorhergesagt und vermieden werden soll, setzt diese Analyse an dem strukturellen Ursachenbündel (early recognition) an, das in der Zukunft zu zyklischen Folgen führen kann, ohne jedoch die konkreten Konfliktkonstellationen, Akteure und Ereignisse prognostizieren zu können. Ziel dieses Gedankenexperiments ist es, zunächst einen Diskurs über die Notwendigkeit eines antizipatorischen und konzeptionelles Lernen30 in der Wissenschaft und Politik auszulösen, um die Notwendigkeit zu erkennen, daß schon heute zur Konfliktvermeidung (conflict avoidance) Anpassungs- (adaptation) und Gegenmaßnahmen (mitigation) eingeleitet werden müssen, damit sich menschliche Katastrophen gar nicht erst in gewaltsamen Konflikten entladen können.

Die Entwicklung von Konzepten eines antizipatorischen Lernens zur Konfliktver-meidung31, die über ein reaktives Krisenmanagement hinausgehen muß, sollte Aufgabe von Wissenschaft und Politik werden. Dies setzt jedoch einen Dialog zwischen Wissenschaft und Politik voraus. Wen sollten Politikwissenschaftler beraten? Sollten sie sich auf die Erklärung

27 Angelika Spelten: „Gewaltprävention - Eine neue Aufgabe auch für die Entwicklungspolitik?“, in: Günther

Bächler; Reiner Steinweg; Arno Truger: Theorie und Praxis zviler Konfliktbearbeitung. Friedensbericht 1996. (Chur-Zürich: Rüegger, 1996): 237-248 (241).

28 „‘Krisenprävention’. Modebegriff oder friedenspolitische Notwendigkeit?“, in: Günther Baechler; Arno Truger: Krisenprävention, Friedensbericht 1999. Theorie und Praxis ziviler Konfliktbearbeitung (Chur-Zürich: Rüegger, 1996): 47-76; Thomas Risse-Kappen: „Konfliktprävention durch Theorie?“, in: Berthold Meyer (Hrsg.): Formen der Konfliktregelung. Eine Einführung mit Quellen (Opladen: Leske + Budrich, 1997): 65-73; Norbert Ropers: „Prävention und Friedenskonsolidierung als Aufgabe gesellschaftlicher Akteure“, Dieter Senghaas (Hrsg.): Frieden machen (Frankfurt: Suhrkamp, 1997): 219-242; Kumar Rupesinghe: „Bürgerkriege verhindern durch Konflikttransformation“, in: Meyer, a.a.O.: 370-398; vgl. die vier Bände von: John Burton: Conflict: Resolution and Provention (Basingstoke - London: Macmillan, 1990); John Burton (Hrsg.): Conflict: Human Needs Theory (Basingstoke - London: Macmillan, 1990); John Burton; Frank Dukes (Hrsg.): Conflict: Readings in Management and Resolution (Basingstoke - London: Macmillan, 1990); John Burton; Frank Dukes: Conflict: Practices in Management, Settlement and Resolution (Basingstoke - London: Macmillan, 1990). Burton bevorzugte den Begriff „conflict provention“ gegenüber „prevention“ weil „prevention has the connotation of containment. The term provention has been introduced to signify taking steps to remove sources of conflict, and more positively to promote conditions in which collaborative and valued relationships control behaviours.“

29 Leon Gordenker“, in: Early Warning: Conceptual and Practical Issues“, in: Kumar Rupesinghe; Michiko Ku-roda (Hrsg.): Early Warning and Conflict Resolution (Basingstoke - London: Macmillan, 1992): 1-14; Jürgen Dedring. „Socio-political Indicators for Early Warning Purposes“, in: ebenda: 194-214; Heinz Krummacher; Günther Baechler; Susanne Schmeidl: „Beitrag der Frühwarnung zur Krisenprävention - Möglichkeiten und Grenzen in Theorie und Praxis“, in: Baechler; Truger: Krisenprävention, a.a.O.: 77-98. Demnach werden in der Literatur sechs zeitliche Dimensionen unterschieden: a) bis sechs Wochen, b) bis sechs Monate, c) ein Jahr, d) ein bis fünf Jahre, e) langfristige Zukunft, fünf bis fünfzehn Jahre und f) sehr langfristige Zukunft, fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahre.

30 Vgl. Meinolf Dierkes; Lutz Marz: Lernkonventionen und Leitbilder. Zum Organisationslernen in Krisen, WZB papers FSII 98-101 (Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, 1998); Jack S. Levy: „Learning from experience in US and Soviet Foreign Policy“, in: International Organization, Bd . 48, No. 2 (Frühjahr 1994): 279-312.

31 Hans Günter Brauch: „Partnership Building Measures ...“, a.a.O.: 38-43; John Burton: Conflict: Resolution and Provention (Basingstoke - London: Macmillan, 1990).

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beschränken oder sich an der Aufklärung beteiligen? Während die Antwort auf diese Frage individuell und problembezogen verschieden ausfallen mag, stellt sich aber ein grundsätzliches Rollenverständnis, auf das Habermas 1964 hinwies, als er für das Verhältnis von Wissen-schaft und Politik zwischen einem dezisionistischen, einem technokratischen und einem pragmatistischen Modells unterschied.32 Ein pragmatistischer Beratungsdialog, bei dem sich der Wissenschaftler als „analyst“ und „counsellor“ und nicht als „advocate“ versteht, erscheint vorteilhaft.33

Ausgehend von einem dem Prinzip Verantwortung folgenden Wissenschaftsverständnis34 sollten die Internationalen Beziehungen als eine zukunftsorientierte Handlungswissenschaft a) Beiträge zur Ursachenerkennung des Überlebensdilemmas leisten, b) konzeptionelle Überle-gungen zu einem antizipatorischen Lernen anstellen und c) an der Entwicklung von Lösungs-strategien mitwirken. Welche konzeptionellen Schlußfolgerungen leite ich aus der Erörterung der obigen strukturellen Herausforderungen und deren konjunkturellen Auswirkungen ab?

Der erste Schritt ist die theoriebedingte Definition des Überlebensdilemmas und die Selektion seiner Determinanten, um zu einem „early recognition“ der strukturellen Konflikt-ursachen beizutragen. Dies setzt in einem zweiten Schritt politische Korrekturen voraus, die über ein reaktives Krisenmanagement hinausgehen müssen. In einem dritten Schritt sollen Lösungsstrategien, Konzepte und Vorschläge entwickelt werden, um die obigen strukturellen Ursachen einzudämmen und konjunkturelle Folgen zu vermeiden (self-destroying prophecy).

Die Entwicklung längerfristiger Lösungsstrategien erfordert auch neue Formen der Koordination wissenschaftlichen Wissens (Inter- bzw. Transdisziplinarität) und der mit Teilfragen befaßten Organisationen auf nationaler und supranationaler Ebene. Mit dem Barcelona-Prozeß wurde ein Rahmen für den interdisziplinären und konzeptionellen wissenschaftlichen Nord-Süd-Dialog etabliert. Die partnerschaftsbildenden Maßnahmen sollten im Nord-Süd-Verhältnis zur Entwicklung einer euro-mediterranen Entwicklungs-partnerschaft beitragen, um Konflikte als Folge des Überlebensdilemmas zu vermeiden bzw. einzudämmen, die diese Region im 21. Jahrhundert konfrontieren werden, damit die erkenn-baren Anzeichen von heute nicht zum Sicherheitsproblem von morgen werden. Damit möchte dieser Aufsatz auch einen Beitrag zur „Gefahrenabwehr durch Weitblick“ leisten, den der Exekutivsekretär des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, Klaus Töpfer35, forderte.

PD Dr. habil. Hans Günter Brauch Privatdozent für Politische Wissenschaften

Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Freie Universität Berlin;

Vorsitzender von AFES-PRESS und Mitbegründer von STRADEMED

32 Jürgen Habermas: „Verwissenschaftliche Politik und öffentliche Meinung“, in: ders.: Technik und

Wissenschaft als „Ideologie“ (Frankfurt: Suhrkamp, 1968): 120-145 (126-127). 33 Nach Jennings kann der Politikberater drei Rollen wahrnehmen als Wissenschaftler, als Politikbefürworter

und als Ratgeber. Vgl. Bruce Jennings: „Interpretation and the practice of Policy Analysis“, in: Frank Fischer; John D. Forester (Hrsg.): Confronting Values in Policy Analysis. The Politics of Criteria (Newbury Park: Sage): 128-152.

34 Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung (Frankfurt: Suhrkamp, 1979); Jürgen Mittelstraß: Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung (Frankfurt: Suhrkamp, 1992, 21996): 155-173.

35 Klaus Töpfer: „Ökologische Krisen und politische Konflikte“, in: Internationale Politik, Bd. 54, Nr. 2-3 (1999): 15-20 (20): „Weitblick heißt nicht Vorhersage, Weitblick heißt nicht zentrale Planung. ... Weitblick bedeutet die Fähigkeit, langfristige Veränderungen in der Umwelt einschätzen und überwachen zu können. Ein solcher Weitblick wird uns in die Lage versetzen, Brennpunkte in der Umwelt auszumachen, die sich in gewalttätigen Konflikten entladen könnten.“

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