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  • Franz Kafka

    Der Process

    Roman

    De legibus

  • De legibus, Heidelberg 2007Rechtsanwalt Dr. Thomas Fuchs

    Fachanwalt für Bau- und ArchitektenrechtImpressum: http://lexetius.com/impressum

  • Kapitel 1Verhaftung –

    Gespräch mit Frau Grubach –Dann Fräulein Bürstner

    Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte,wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermie-terin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht.Das war noch niemals geschehen. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopf-kissen aus die alte Frau, die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganzungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hung-rig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemalsgesehen hatte, trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendesschwarzes Kleid, das, ähnlich den Reiseanzügen, mit verschiedenen Falten, Taschen,Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß mansich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. »Wer sindSie?« fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Fragehinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen, und sagte bloß seinerseits: »Siehaben geläutet?« »Anna soll mir das Frühstück bringen«, sagte K. und versuchte, zu-nächst stillschweigend, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer derMann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen Blicken aus, son-dern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um jemandem, der offenbar knapphinter der Tür stand, zu sagen: »Er will, daß Anna ihm das Frühstück bringt.« Ein klei-nes Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nichtmehrere Personen daran beteiligt waren. Obwohl der fremde Mann dadurch nichts er-fahren haben konnte, was er nicht schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K.im Tone einer Meldung: »Es ist unmöglich.« »Das wäre neu«, sagte K., sprang aus demBett und zog rasch seine Hosen an. »Ich will doch sehen, was für Leute im Nebenzim-mer sind und wie Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.« Esfiel ihm zwar gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurchgewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien ihmjetzt nicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte: »Wollen Sienicht lieber hierbleiben?« »Ich will weder hierbleiben, noch von Ihnen angesprochenwerden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.« »Es war gut gemeint«, sagte der Fremde

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  • und öffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer, in das K. langsamer eintrat, als erwollte, sah es auf den ersten Blick fast genau so aus wie am Abend vorher. Es war dasWohnzimmer der Frau Grubach, vielleicht war in diesem mit Möbeln, Decken, Porzel-lan und Photographien überfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst, manerkannte das nicht gleich, um so weniger, als die Hauptveränderung in der Anwesenheiteines Mannes bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch saß, von dem er jetztaufblickte. »Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz nichtgesagt?« »Ja, was wollen Sie denn?« sagte K. und sah von der neuen Bekanntschaft zudem mit Franz Benannten, der in der Tür stehengeblieben war, und dann wieder zurück.Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte Frau, die mit wahrhaft grei-senhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auchweiterhin alles zu sehen. »Ich will doch Frau Grubach –«, sagte K., machte eine Be-wegung, als reiße er sich von den zwei Männern los, die aber weit von ihm entferntstanden, und wollte weitergehen. »Nein«, sagte der Mann beim Fenster, warf das Buchauf ein Tischchen und stand auf. »Sie dürfen nicht weggehen, Sie sind ja verhaftet.«»Es sieht so aus«, sagte K. »Und warum denn?« fragte er dann. »Wir sind nicht dazubestellt, Ihnen das zu sagen. Gehen Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahrenist nun einmal eingeleitet, und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich geheüber meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich hof-fe, es hört es niemand sonst als Franz, und der ist selbst gegen alle Vorschrift freundlichzu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben wie bei der Bestimmung Ih-rer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.« K. wollte sich setzen, aber nun saher, daß im ganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit war, außer dem Sessel beim Fenster.»Sie werden noch einsehen, wie wahr das alles ist«, sagte Franz und ging gleichzeitigmit dem andern Mann auf ihn zu. Besonders der letztere überragte K. bedeutend undklopfte ihm öfters auf die Schulter. Beide prüften K.s Nachthemd und sagten, daß erjetzt ein viel schlechteres Hemd werde anziehen müssen, daß sie aber dieses Hemd wieauch seine übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallen soll-te, ihm wieder zurückgeben würden. »Es ist besser, Sie geben die Sachen uns als insDepot«, sagten sie, »denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor und außerdemverkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen Zeit, ohne Rücksicht, ob das betref-fende Verfahren zu Ende ist oder nicht. Und wie lange dauern doch derartige Prozesse,besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann schließlich allerdings vom Depot den Er-lös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon gering, denn beim Verkauf entscheidetnicht die Höhe des Angebotes, sondern die Höhe der Bestechung, und weiter verringernsich solche Erlöse erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu Jahrweitergegeben werden.« K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfügungsrecht überseine Sachen, das er vielleicht noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtigerwar es ihm, Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegenwart dieser Leute konnteer aber nicht einmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters– es konnten ja nur Wächter sein – förmlich freundschaftlich an ihn, sah er aber auf,dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes trockenes, knochiges

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  • Gesicht mit starker, seitlich gedrehter Nase, das sich über ihn hinweg mit dem anderenWächter verständigte. Was waren denn das für Menschen? Wovon sprachen sie? Wel-cher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschteFriede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfal-len? Er neigte stets dazu, alles möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beimEintritt des Schlimmsten zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbstwenn alles drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das Ganzeals Spaß ansehen, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleichtweil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank veranstaltet hatten,es war natürlich möglich, vielleicht brauchte er nur auf irgendeine Weise den Wächternins Gesicht zu lachen, und sie würden mitlachen, vielleicht waren es Dienstmänner vonder Straßenecke, sie sahen ihnen nicht unähnlich – trotzdem war er diesmal, förmlichschon seit dem ersten Anblick des Wächters Franz, entschlossen, nicht den geringstenVorteil, den er vielleicht gegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zu geben. Darin,daß man später sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz gerin-ge Gefahr, wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesenwäre, aus Erfahrungen zu lernen – an einige, an sich unbedeutende Fälle, in denen erzum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das geringste Gefühl fürdie möglichen Folgen, sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch das Ergebnisgestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehen, zumindest nicht diesmal; war eseine Komödie, so wollte er mitspielen.

    Noch war er frei. »Erlauben Sie«, sagte er und ging eilig zwischen den Wächterndurch in sein Zimmer. »Er scheint vernünftig zu sein«, hörte er hinter sich sagen. Inseinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreibtischs auf, es lag dort alles ingroßer Ordnung, aber gerade die Legitimationspapiere, die er suchte, konnte er in derAufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er seine Radfahrlegitimation und wollteschon mit ihr zu den Wächtern gehen, dann aber schien ihm das Papier zu geringfügigund er suchte weiter, bis er den Geburtsschein fand. Als er wieder in das Nebenzimmerzurückkam, öffnete sich gerade die gegenüberliegende Tür und Frau Grubach wolltedort eintreten. Man sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, alssie offenbar verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst vorsichtig dieTür schloß. »Kommen Sie doch herein«, hatte K. gerade noch sagen können. Nun aberstand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers, sah noch auf die Tür hin, diesich nicht wieder öffnete, und wurde erst durch einen Anruf der Wächter aufgeschreckt,die bei dem Tischchen am offenen Fenster saßen und, wie K. jetzt erkannte, sein Früh-stück verzehrten. »Warum ist sie nicht eingetreten?« fragte er. »Sie darf nicht«, sagteder große Wächter. »Sie sind doch verhaftet.« »Wie kann ich denn verhaftet sein? Undgar auf diese Weise?« »Nun fangen Sie also wieder an«, sagte der Wächter und tauchteein Butterbrot ins Honigfäßchen. »Solche Fragen beantworten wir nicht.« »Sie werdensie beantworten müssen«, sagte K. »Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Siemir jetzt die Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.« »Du lieber Himmel!« sagte derWächter. »Daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und daß Sie es darauf angelegt

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  • zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allen Ihren Mitmenschenam nächsten stehen, nutzlos zu reizen!« »Es ist so, glauben Sie es doch«, sagte Franz,führte die Kaffeetasse, die er in der Hand hielt, nicht zum Mund, sondern sah K. mit ei-nem langen, wahrscheinlich bedeutungsvollen, aber unverständlichen Blick an. K. ließsich, ohne es zu wollen, in ein Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aberdoch auf seine Papiere und sagte: »Hier sind meine Legitimationspapiere.« »Was küm-mern uns denn die?« rief nun schon der große Wächter. »Sie führen sich ärger auf alsein Kind. Was wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen, verfluchten Prozeß dadurchzu einem raschen Ende bringen, daß Sie mit uns, den Wächtern, über Legitimation undVerhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem Legitimati-onspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu tun haben, als daßsie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür bezahlt werden. Das ist al-les, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig, einzusehen, daß die hohen Behörden, inderen Dienst wir stehen, ehe sie eine solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau überdie Gründe der Verhaftung und die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darinkeinen Irrtum. Unsere Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigstenGrade, sucht doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird, wie es imGesetz heißt, von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Ge-setz. Wo gäbe es da einen Irrtum?« »Dieses Gesetz kenne ich nicht«, sagte K. »Destoschlimmer für Sie«, sagte der Wächter. »Es besteht wohl auch nur in Ihren Köpfen«,sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter einschleichen, sie zuseinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der Wächter sagte nur abwei-send: »Sie werden es zu fühlen bekommen.« Franz mischte sich ein und sagte: »Sieh,Willem, er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht, und behauptet gleichzeitig, schuldloszu sein.« »Du hast ganz recht, aber ihm kann man nichts begreiflich machen«, sagteder andere. K. antwortete nichts mehr; muß ich, dachte er, durch das Geschwätz dieserniedrigsten Organe – sie geben selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwirren lassen?Sie reden doch jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht verstehen. Ihre Sicherheit istnur durch ihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigenMenschen sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarer machen als die längstenReden mit diesen. Er ging einige Male in dem freien Raum des Zimmers auf und ab,drüben sah er die alte Frau, die einen noch viel älteren Greis zum Fenster gezerrt hatte,den sie umschlungen hielt. K. mußte dieser Schaustellung ein Ende machen: »FührenSie mich zu Ihrem Vorgesetzten«, sagte er. »Wenn er es wünscht; nicht früher«, sagte derWächter, der Willem genannt worden war. »Und nun rate ich Ihnen«, fügte er hinzu, »inIhr Zimmer zu gehen, sich ruhig zu verhalten und darauf zu warten, was über Sie ver-fügt werden wird. Wir raten Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken,sondern sammeln Sie sich, es werden große Anforderungen an Sie gestellt werden. Siehaben uns nicht so behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie habenvergessen, daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen gegenüberfreie Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls SieGeld haben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kaffeehaus drüben zu bringen.«

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  • Ohne auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen lang still. Vielleichtwürden ihn die beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür desVorzimmers öffnete, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die einfachste Lö-sung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleicht würden sie ihn dochpacken und, war er einmal niedergeworfen, so war auch alle Überlegenheit verloren, dieer jetzt ihnen gegenüber in gewisser Hinsicht doch wahrte. Deshalb zog er die Sicherheitder Lösung vor, wie sie der natürliche Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmerzurück, ohne daß von seiner Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres Wort gefallenwäre.

    Er warf sich auf sein Bett und nahm vom Waschtisch einen schönen Apfel, den ersich gestern abend für das Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein einziges Früh-stück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen versicherte, viel besser, alsdas Frühstück aus dem schmutzigen Nachtcafé gewesen wäre, das er durch die Gnadeder Wächter hätte bekommen können. Er fühlte sich wohl und zuversichtlich, in derBank versäumte er zwar heute vormittag seinen Dienst, aber das war bei der verhältnis-mäßig hohen Stellung, die er dort einnahm, leicht entschuldigt. Sollte er die wirklicheEntschuldigung anführen? Er gedachte es zu tun, Würde man ihm nicht glauben, wasin diesem Fall begreiflich war, so konnte er Frau Grubach als Zeugin führen oder auchdie beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum gegenüberliegendenFenster waren. Es wunderte K., wenigstens aus dem Gedankengang der Wächter wun-derte es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getrieben und ihn hier allein gelassen hatten, woer doch zehnfache Möglichkeit hatte, sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragteer sich, diesmal aus seinem Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zutun. Etwa weil die zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten? Es wäreso sinnlos gewesen, sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolgeder Sinnlosigkeit dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre die geistige Beschränktheitder Wächter nicht so auffallend gewesen, so hätte man annehmen können, daß auch sie,infolge der gleichen Überzeugung, keine Gefahr darin gesehen hätten, ihn allein zu las-sen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten, zusehen, wie er zu einem Wandschränkchenging, in dem er einen guten Schnaps aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst zum Er-satz des Frühstücks leerte und wie er ein zweites Gläschen dazu bestimmte, sich Mutzu machen, das letztere nur aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötigsein sollte.

    Da erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, daß er mit den Zähnenans Glas schlug. »Der Aufseher ruft Sie!« hieß es. Es war nur das Schreien, das ihnerschreckte, dieses kurze, abgehackte, militärische Schreien, das er dem Wächter Franzgar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr willkommen. »Endlich!« riefer zurück, versperrte den Wandschrank und eilte sofort ins Nebenzimmer. Dort standendie zwei Wächter und jagten ihn, als wäre das selbstverständlich, wieder in sein Zimmerzurück. »Was fällt Euch ein?« riefen sie. »Im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher? Erläßt Euch durchprügeln und uns mit!« »Laßt mich, zum Teufel!« rief K., der schonbis zu seinem Kleiderkasten zurückgedrängt war, »wenn man mich im Bett überfällt,

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  • kann man nicht erwarten, mich im Festanzug zu finden.« »Es hilft nichts«, sagten dieWächter, die immer, wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und ihn dadurchverwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten. »Lächerliche Zeremonien!«brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn ein Weilchen mitbeiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter. Sie schüttelten die Köpfe.»Es muß ein schwarzer Rock sein«, sagten sie. K. warf daraufhin den Rock zu Bodenund sagte – er wußte selbst nicht, in welchem Sinne er es sagte –: »Es ist doch nochnicht die Hauptverhandlung.« Die Wächter lächelten, blieben aber bei ihrem: »Es mußein schwarzer Rock Fein.« »Wenn ich dadurch die Sache beschleunige, soll es mir rechtsein«, sagte K., öffnete selbst den Kleiderkasten, suchte lange unter den vielen Kleidern,wählte sein bestes schwarzes Kleid, ein Jackettkleid, das durch seine Taille unter denBekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd hervor undbegann, sich sorgfältig anzuziehen. Im geheimen glaubte er, eine Beschleunigung desGanzen damit erreicht zu haben, daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum Bad zuzwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran doch erinnern würden, aber dasfiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß Willem nicht, Franz mit der Meldung,daß sich K. anziehe, zum Aufseher zu schicken.

    Als er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das leere Ne-benzimmer in das folgende Zimmer gehen, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits ge-öffnet war. Dieses Zimmer wurde, wie K. genau wußte, seit kurzer Zeit von einemFräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin, bewohnt, die sehr früh in die Arbeit zugehen pflegte, spät nach Hause kam und mit der K. nicht viel mehr als die Grußwortegewechselt hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als Verhandlungstischin die Mitte des Zimmers gerückt, und der Aufseher saß hinter ihm. Er hatte die Beineübereinandergeschlagen und einen Arm auf die Rückenlehne des Stuhles gelegt.

    In einer Ecke des Zimmers standen drei junge Leute und sahen die Photographiendes Fräulein Bürstner an, die in einer an der Wand aufgehängten Matte steckten. Ander Klinke des offenen Fensters hing eine weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fensterlagen wieder die zwei Alten, doch hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinterihnen, sie weit überragend, stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, derseinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte. »Josef K.?« fragte derAufseher, vielleicht nur um K.s zerstreute Blicke auf sich zu lenken. K. nickte. »Siesind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehr überrascht?« fragte der Auf-seher und verschob dabei mit beiden Händen die wenigen Gegenstände, die auf demNachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein Buch und ein Nadelkissen, alsseien es Gegenstände, die er zur Verhandlung benötige. »Gewiß«, sagte K., und dasWohlgefühl, endlich einem vernünftigen Menschen gegenüberzustehen und über seineAngelegenheit mit ihm sprechen zu können, ergriff ihn. »Gewiß, ich bin überrascht, aberich bin keineswegs sehr überrascht.« »Nicht sehr überrascht?« fragte der Aufseher undstellte nun die Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die anderen Sachen um siegruppierte. »Sie mißverstehen mich vielleicht«, beeilte sich K. zu bemerken. »Ich mei-ne« – hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um. »Ich kann mich doch

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  • setzen?« fragte er. »Es ist nicht üblich«, antwortete der Aufseher. »Ich meine«, sagtenun K. ohne weitere Pause, »ich bin allerdings sehr überrascht, aber man ist, wenn mandreißig Jahre auf der Welt ist und sich allein hat durchschlagen müssen, wie es mirbeschieden war, gegen Überraschungen abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Be-sonders die heutige nicht.« »Warum besonders die heutige nicht?« »Ich will nicht sagen,daß ich das Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen, diegemacht wurden, doch zu umfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daranbeteiligt sein und auch Sie alle, das ginge über die Grenzen eines Spaßes. Ich will alsonicht sagen, daß es ein Spaß ist.« »Ganz richtig«, sagte der Aufseher und sah nach, wie-viel Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren. »Andererseits aber«, fuhr K.fort und wandte sich hierbei an alle und hätte gern sogar die drei bei den Photographiensich zugewendet, »andererseits aber kann die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben.Ich folgere das daraus, daß ich angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffindenkann, wegen deren man mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, dieHauptfrage ist, von wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? SindSie Beamte? Keiner hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid« – hier wandte er sichan Franz – »eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In diesenFragen verlange ich Klarheit, und ich bin überzeugt, daß wir nach dieser Klarstellungvoneinander den herzlichsten Abschied werden nehmen können.« Der Aufseher schlugdie Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. »Sie befinden sich in einem großenIrrtum«, sagte er. »Diese Herren hier und ich sind für Ihre Angelegenheit vollständignebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast nichts. Wir könnten die regelrechtestenUniformen tragen, und Ihre Sache würde um nichts schlechter stehen. Ich kann Ihnenauch durchaus nicht sagen, daß Sie angeklagt sind oder vielmehr, ich weiß nicht, obSie es sind. Sie sind verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben dieWächter etwas anderes geschwätzt, dann ist es eben nur Geschwätz gewesen. Wenn ichnun aber auch Ihre Fragen nicht beantworte, so kann ich Ihnen doch raten, denken Sieweniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber mehr ansich. Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld, es stört dennicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen. Auch sollten Sie über-haupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, was Sie vorhin gesagt haben, hätte manauch, wenn Sie nur ein paar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen können,außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.«

    K. starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleichtjüngeren Menschen? Für seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und überden Grund seiner Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts? Er gerietin eine gewisse Aufregung, ging auf und ab, woran ihn niemand hinderte, schob sei-ne Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar zurecht, kam an den dreiHerren vorüber, sagte: »Es ist ja sinnlos«, worauf sich diese zu ihm umdrehten und ihnentgegenkommend, aber ernst ansahen und machte endlich wieder vor dem Tisch desAufsehers halt. »Der Staatsanwalt Hasterer ist mein guter Freund«, sagte er, »kann ichihm telephonieren?« »Gewiß«, sagte der Aufseher, »aber ich weiß nicht, welchen Sinn

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  • das haben sollte, es müßte denn sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihmzu besprechen haben.« »Welchen Sinn?« rief K., mehr bestürzt als geärgert. »Wer sindSie denn? Sie wollen einen Sinn und führen dieses Sinnloseste auf, das es gibt? Ist esnicht zum Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen, und jetzt sitzenoder stehen sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die Hohe Schule reiten. WelchenSinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich verhaftet bin?Gut, ich werde nicht telephonieren.« »Aber doch«, sagte der Aufseher und streckte dieHand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, »bitte, telephonieren Sie doch.« »Nein,ich will nicht mehr«, sagte K. und ging zum Fenster. Drüben war noch die Gesellschaftbeim Fenster und schien nur jetzt dadurch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in derRuhe des Zuschauens ein wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mannhinter ihnen beruhigte sie. »Dort sind auch solche Zuschauer«, rief K. ganz laut demAufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. »Weg von dort«, rief er dann hin-über. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten sogar nochhinter den Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und, nach seinen Mundbe-wegungen zu schließen, irgend etwas auf die Entfernung hin Unverständliches sagte.Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen auf den Augenblick zu warten, indem sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern könnten. »Zudringliche, rücksichts-lose Leute!« sagte K., als er sich ins Zimmer zurückwendete. Der Aufseher stimmteihm möglicherweise zu, wie K. mit einem Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber es warebensogut möglich, daß er gar nicht zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf denTisch gedrückt und schien die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei Wäch-ter saßen auf einem mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben ihre Knie. Diedrei jungen Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. Es warstill wie in irgendeinem vergessenen Büro. »Nun, meine Herren«, rief K., es schien ihmeinen Augenblick lang, als trage er alle auf seinen Schultern, »Ihrem Aussehen nachzu schließen, dürfte meine Angelegenheit beendet sein. Ich bin der Ansicht, daß es ambesten ist, über die Berechtigung oder Nichtberechtigung Ihres Vorgehens nicht mehrnachzudenken und der Sache durch einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnli-chen Abschluß zu geben. Wenn auch Sie meiner Ansicht sind, dann bitte –« und er tratan den Tisch des Aufsehers hin und reichte ihm die Hand. Der Aufseher hob die Augen,nagte an den Lippen und sah auf K.s ausgestreckte Hand; noch immer glaubte K., derAufseher werde einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm einen harten, runden Hut, derauf Fräulein Bürstners Bett lag, und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen auf,wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. »Wie einfach Ihnen alles scheint!« sagte erdabei zu K., »wir sollten der Sache einen versöhnlichen Abschluß geben, meinten Sie?Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich andererseits durchaus nicht sagen will,daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter.Das hatte ich Ihnen mitzuteilen, habe es getan und habe auch gesehen, wie Sie es aufge-nommen haben. Damit ist es für heute genug und wir können uns verabschieden, aller-dings nur vorläufig. Sie werden wohl jetzt in die Bank gehen wollen?« »In die Bank?«fragte K., »ich dachte, ich wäre verhaftet.« K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn

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  • obwohl sein Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich, insbesondereseitdem der Aufseher aufgestanden war., immer unabhängiger von allen diesen Leuten.Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht, falls sie weggehen sollten, bis zum Haustornachzulaufen und ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum wiederholte er auch: »Wiekann ich denn in die Bank gehen, da ich verhaftet bin?« »Ach so«, sagte der Aufseher,der schon bei der Tür war, »Sie haben mich mißverstanden. Sie sind verhaftet, gewiß,aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer ge-wöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.« »Dann ist das Verhaftetsein nicht sehrschlimm«, sagte K. und ging nahe an den Aufseher heran. »Ich meinte es niemals an-ders«, sagte dieser. »Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftungsehr notwendig gewesen zu sein«, sagte K. und ging noch näher. Auch die anderen hat-ten sich genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. »Eswar meine Pflicht«, sagte der Aufseher. »Eine dumme Pflicht«, sagte K. unnachgiebig.»Mag sein«, antwortete der Aufseher, »aber wir wollen mit solchen Reden nicht unsereZeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie in die Bank gehen wollen. Da Sie auf alleWorte aufpassen, füge ich hinzu: ich zwinge Sie nicht, in die Bank zu gehen, ich hattenur angenommen, daß Sie es wollen. Und um Ihnen das zu erleichtern und Ihre Ankunftin der Bank möglichst unauffällig zu machen, habe ich diese drei Herren, Ihre Kolle-gen, hier zu Ihrer Verfügung gestellt.« »Wie?« rief K. und staunte die drei an. Diese souncharakteristischen, blutarmen, jungen Leute, die er immer noch nur als Gruppe beiden Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus seiner Bank,nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewies eine Lücke in der Allwissenheit desAufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren es allerdings. Wie hatte K.das übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen sein müssen von dem Aufseherund den Wächtern, um diese drei nicht zu erkennen! Den steifen, die Hände schwingen-den Rabensteiner, den blonden Kullich mit den tiefliegenden Augen und Kaminer mitdem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. »Gu-ten Morgen«, sagte K. nach einem Weilchen und reichte den sich korrekt verbeugendenHerren die Hand. »Ich habe Sie gar nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeitgehen, nicht?« Die Herren nickten lachend und eifrig, als hätten sie die ganze Zeit überdarauf gewartet, nur als K. seinen Hut vermißte, der in seinem Zimmer liegengebliebenwar, liefen sie sämtlich hintereinander, ihn holen, was immerhin auf eine gewisse Verle-genheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die zwei offenen Türen nach,der letzte war natürlich der gleichgültige Rabensteiner, der bloß einen eleganten Trabangeschlagen hatte. Kaminer überreichte den Hut, und K. mußte sich, wie dies übrigensauch öfters in der Bank nötig war, ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lächeln nicht Ab-sicht war, ja daß er überhaupt absichtlich nicht lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnetedann Frau Grubach, die gar nicht sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaftdie Wohnungstür, und K. sah, wie so oft, auf ihr Schürzenband nieder, das so unnötigtief in ihren mächtigen Leib einschnitt. Unten entschloß sich K., die Uhr in der Hand,ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige Verspätung nicht unnötig zu ver-größern. Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die zwei anderen versuchten

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  • offensichtlich, K. zu zerstreuen, als plötzlich Kullich auf das gegenüberliegende Hau-stor zeigte, in dem eben der große Mann mit dem blonden Spitzbart erschien und, imersten Augenblick ein wenig verlegen darüber, daß er sich jetzt in seiner ganzen Grö-ße zeigte, zur Wand zurücktrat und sich anlehnte. Die Alten waren wohl noch auf derTreppe. K. ärgerte sich über Kullich, daß dieser auf den Mann aufmerksam machte, dener selbst schon früher gesehen, ja den er sogar erwartet hatte. »Schauen Sie nicht hin!«stieß er hervor, ohne zu bemerken, wie auffallend eine solche Redeweise gegenüberselbständigen Männern war. Es war aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade kamdas Automobil, man setzte sich und fuhr los. Da erinnerte sich K., daß er das Weggehendes Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher hatte ihm die dreiBeamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher. Viel Geistesgegenwartbewies das nicht, und K. nahm sich vor, sich in dieser Hinsicht genauer zu beobach-ten. Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und beugte sich über das Hinterdeckdes Automobils vor, um möglicherweise den Aufseher und die Wächter noch zu sehen.Aber gleich wendete er sich wieder zurück und lehnte sich bequem in die Wagenecke,ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, jemanden zu suchen. Obwohl es nichtden Anschein hatte, hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun schienen dieHerren ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullich links, und nur Kami-ner stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider dieMenschlichkeit verbot.

    In diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, daß er nachder Arbeit, wenn dies noch möglich war – er saß meistens bis neun Uhr im Büro –,einen kleinen Spaziergang allein oder mit Beamten machte und dann in eine Bierstubeging, wo er an einem Stammtisch mit meist älteren Herren gewöhnlich bis elf Uhr bei-sammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung, wenn K. zum Beispielvom Bankdirektor, der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit sehr schätzte, zueiner Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa eingeladen wurde. Außerdemging K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens Elsa, die während der Nachtbis in den späten Morgen als Kellnerin in einer Weinstube bediente und während desTages nur vom Bett aus Besuche empfing.

    An diesem Abend aber – der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen ehren-den und freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen – wollte K. sofortnach Hause gehen. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit hatte er daran gedacht; ohnegenau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgenseine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht worden seiund daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. War aber einmal die-se Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahmseinen alten Gang wieder auf. Insbesondere von den drei Beamten war nichts zu be-fürchten, sie waren wieder in die große Beamtenschaft der Bank versenkt, es war keineVeränderung an ihnen zu bemerken. K. hatte sie öfters einzeln und gemeinsam in seinBüro berufen, zu keinem andern Zweck, als um sie zu beobachten; immer hatte er siebefriedigt entlassen können.

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  • Als er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte, ankam, traf er imHaustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und eine Pfeife rauchte. »Wersind Sie?« fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe an den Burschen, man sahnicht viel im Halbdunkel des Flurs. »Ich bin der Sohn des Hausmeisters, gnädiger Herr«,antwortete der Bursche, nahm die Pfeife aus dem Mund und trat zur Seite. »Der Sohndes Hausmeisters?« fragte K. und klopfte mit seinem Stock ungeduldig den Boden.»Wünscht der gnädige Herr etwas? Soll ich den Vater holen?« »Nein, nein«, sagte K.,in seiner Stimme lag etwas Verzeihendes, als habe der Bursche etwas Böses ausgeführt,er aber verzeihe ihm. »Es ist gut«, sagte er dann und ging weiter, aber ehe er die Treppehinaufstieg, drehte er sich noch einmal um.

    Er hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber da er mit Frau Grubachsprechen wollte, klopfte er gleich an ihre Tür an. Sie saß mit einem Strickstrumpf amTisch, auf dem noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K. entschuldigte sich zerstreut, daßer so spät komme, aber Frau Grubach war sehr freundlich und wollte keine Entschul-digung hören, für ihn sei sie immer zu sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr besterund liebster Mieter sei. K. sah sich im Zimmer um, es war wieder vollkommen in sei-nem alten Zustand, das Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenstergestanden hatte, war auch schon weggeräumt. »Frauenhände bringen doch im stillenviel fertig«, dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, abergewiß nicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer gewissen Dankbarkeitan. »Warum arbeiten Sie noch so spät?« fragte er. Sie saßen nun beide am Tisch, undK. vergrub von Zeit zu Zeit seine Hand in die Strümpfe. »Es gibt viel Arbeit«, sagtesie, »während des Tages gehöre ich den Mietern; wenn ich meine Sachen in Ordnungbringen will, bleiben mir nur die Abende.« »Ich habe Ihnen heute wohl noch eine au-ßergewöhnliche Arbeit gemacht?« »Wieso denn?« fragte sie, etwas eifriger werdend,die Arbeit ruhte in ihrem Schoße. »Ich meine die Männer, die heute früh hier waren.«»Ach so«, sagte sie und kehrte wieder in ihre Ruhe zurück, »das hat mir keine besonde-re Arbeit gemacht.« K. sah schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm.Sie scheint sich zu wundern, daß ich davon spreche, dachte er, sie scheint es nicht fürrichtig zu halten, daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es, daß ich es tue. Nurmit einer alten Frau kann ich davon sprechen. »Doch, Arbeit hat es gewiß gemacht«,sagte er dann, »aber es wird nicht wieder vorkommen.« »Nein, das kann nicht wiedervorkommen«, sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an. »Meinen Sie dasernstlich?« fragte K. »Ja«, sagte sie leiser, »aber vor allem dürfen Sie es nicht zu schwernehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da Sie so vertraulich mit mir reden, HerrK., kann ich Ihnen ja eingestehen, daß ich ein wenig hinter der Tür gehorcht habe unddaß mir auch die beiden Wächter einiges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glückund das liegt mir wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin jabloß die Vermieterin. Nun, ich habe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daßes etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so wie einDieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es schlimm, aberdiese Verhaftung –. Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, entschuldigen Sie, wenn

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  • ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor, das ich zwar nichtverstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.«

    »Es ist gar nichts Dummes was Sie gesagt haben, Frau Grubach, wenigstens binauch ich zum Teil Ihrer Meinung, nur urteile ich über das Ganze noch schärfer als Sieund halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes, sondern überhaupt für nichts.Ich wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleich nach dem Erwachen, ohne michdurch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen, aufgestanden und ohne Rücksichtauf irgend jemand, der mir in den Weg getreten wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ichdiesmal ausnahmsweise etwa in der Küche gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Klei-dungsstücke aus meinem Zimmer bringen lassen, kurz, hätte ich vernünftig gehandelt,so wäre nichts weiter geschehen, es wäre alles, was werden wollte, erstickt worden.Man ist aber so wenig vorbereitet. In der Bank zum Beispiel bin ich vorbereitet, dortkönnte mir etwas Derartiges unmöglich geschehen, ich habe dort einen eigenen Diener,das allgemeine Telephon und das Bürotelephon stehen vor mir auf dem Tisch, immer-fort kommen Leute, Parteien und Beamte, außerdem aber und vor allem bin ich dortimmerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es würde mir ge-radezu ein Vergnügen machen, dort einer solchen Sache gegenübergestellt zu werden.Nun, es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr darüber sprechen,nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau, wollte ich hören und bin sehr froh,daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber die Hand reichen, eine solcheÜbereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt werden.«

    Ob sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht,dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf, weil auch eraufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles, was K. gesagt hatte,verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie aber etwas, was siegar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war: »Nehmen Sie es doch nicht soschwer, Herr K.«, sagte sie, hatte Tränen in der Stimme und vergaß natürlich auch denHandschlag. »Ich wüßte nicht, daß ich es schwer nehme«, sagte K., plötzlich ermüdetund das Wertlose aller Zustimmungen dieser Frau einsehend.

    Bei der Tür fragte er noch: »Ist Fräulein Bürstner zu Hause?« »Nein«, sagte FrauGrubach und lächelte bei dieser trockenen Auskunft mit einer verspäteten vernünftigenTeilnahme. »Sie ist im Theater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich ihr etwas ausrich-ten?« »Ach, ich wollte nur ein paar Worte mit ihr reden.« »Ich weiß leider nicht, wannsie kommt; wenn sie im Theater ist, kommt sie gewöhnlich spät.« »Das ist ja ganzgleichgültig«, sagte K. und drehte schon den gesenkten Kopf der Tür zu, um wegzuge-hen, »ich wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß ich heute ihr Zimmer in Anspruchgenommen habe.« »Das ist nicht nötig, Herr K., Sie sind zu rücksichtsvoll, das Fräuleinweiß ja von gar nichts, sie war seit dem frühen Morgen noch nicht zu Hause, es ist auchschon alles in Ordnung gebracht, sehen Sie selbst.« Und sie öffnete die Tür zu FräuleinBürstners Zimmer. »Danke, ich glaube es«, sagte K., ging dann aber doch zu der offe-nen Tür. Der Mond schien still in das dunkle Zimmer. Soviel man sehen konnte, warwirklich alles an seinem Platz, auch die Bluse hing nicht mehr an der Fensterklinke.

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  • Auffallend hoch schienen die Polster im Bett, sie lagen zum Teil im Mondlicht. »DasFräulein kommt oft spät nach Hause«, sagte K. und sah Frau Grubach an, als tragesie die Verantwortung dafür. »Wie eben junge Leute sind!« sagte Frau Grubach ent-schuldigend. »Gewiß, gewiß«, sagte K., »es kann aber zu weit gehen.« »Das kann es«,sagte Frau Grubach, »wie sehr haben Sie recht, Herr K. Vielleicht sogar in diesem Fall.Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht verleumden, sie ist ein gutes, liebes Mädchen,freundlich, ordentlich, pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines istwahr, sie sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monat schon zwei-mal in entlegenen Straßen und immer mit einem andern Herrn gesehen. Es ist mir sehrpeinlich, ich erzähle es, beim wahrhaftigen Gott, nur ihnen, Herr K., aber es wird sichnicht vermeiden lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüber spreche. Es istübrigens nicht das Einzige, das sie mir verdächtig macht.« »Sie sind auf ganz falschemWeg«, sagte K. wütend und fast unfähig, es zu verbergen, »übrigens haben Sie offen-bar auch meine Bemerkung über das Fräulein mißverstanden, so war es nicht gemeint.Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein irgend etwas zu sagen, Sie sind durchausim Irrtum, ich kenne das Fräulein sehr gut, es ist nichts davon wahr, was Sie sagten.Übrigens, vielleicht gehe ich zu weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Siewollen. Gute Nacht.« »Herr K.«, sagte Frau Grubach bittend und eilte K. bis zu seinerTür nach, die er schon geöffnet hatte, »ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden,natürlich will ich sie vorher noch weiter beobachten, nur Ihnen habe ich anvertraut, wasich wußte. Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein, wenn man die Pensionrein zu erhalten sucht, und nichts anderes ist mein Bestreben dabei.« »Die Reinheit!«rief K. noch durch die Spalte der Tür, »wenn Sie die Pension rein erhalten wollen, müs-sen Sie zuerst mir kündigen.« Dann schlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachteteer nicht mehr.

    Dagegen beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen hatte, noch wachzubleibenund bei dieser Gelegenheit auch festzustellen, wann Fräulein Bürstner kommen würde.Vielleicht wäre es dann auch möglich, so unpassend es sein mochte, noch ein paar Wortemit ihr zu reden. Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte, dachte er einenAugenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein Bürstner zu überreden,gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm das entsetzlich übertrieben,und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er darauf ausging, die Wohnung wegender Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts wäre unsinniger und vor allem zweckloserund verächtlicher gewesen.

    Als er des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig geworden war, legte ersich auf das Kanapee, nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet hatte,um jeden, der die Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehen zu können. Etwa biself Uhr lag er ruhig, eine Zigarre rauchend, auf dem Kanapee. Von da ab hielt er esaber nicht mehr dort aus, sondern ging ein wenig ins Vorzimmer, als könne er dadurchdie Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte kein besonderes Verlangennach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern, wie sie aussah, aber nun wollteer mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie durch ihr spätes Kommen auch noch in den

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  • Abschluß dieses Tages Unruhe und Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, daßer heute nicht zu Abend gegessen und daß er den für heute beabsichtigten Besuch beiElsa unterlassen hatte. Beides konnte er allerdings noch dadurch nachholen, daß er jetztin das Weinlokal ging, in dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nachder Unterredung mit Fräulein Bürstner tun.

    Es war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppenhaus zu hören war. K., der, seinenGedanken hingegeben, im Vorzimmer so, als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf undab ging, flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die gekommen war. Frö-stelnd zog sie, während sie die Tür versperrte, einen seidenen Schal um ihre schmalenSchultern zusammen. In nächsten Augenblick mußte sie in ihr Zimmer gehen, in das K.gewiß um Mitternacht nicht eindringen durfte; er mußte sie also jetzt ansprechen, hatteaber unglücklicherweise versäumt, das elektrische Licht in seinem Zimmer anzudrehen,so daß sein Vortreten aus dem dunklen Zimmer den Anschein eines Überfalls hatte undwenigstens sehr erschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine Zeit zu verlie-ren war, flüsterte er durch den Türspalt: »Fräulein Bürstner.« Es klang wie eine Bitte,nicht wie ein Anruf. »Ist jemand hier?« fragte Fräulein Bürstner und sah sich mit großenAugen um. »Ich bin es«, sagte K. und trat vor. »Ach, Herr K.!« sagte Fräulein Bürstnerlächelnd. »Guten Abend«, und sie reichte ihm die Hand. »Ich wollte ein paar Worte mitIhnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt erlauben?« »Jetzt?« fragte Fräulein Bürstner,»muß es jetzt sein? Es ist ein wenig sonderbar, nicht?« »Ich warte seit neun Uhr aufSie.« »Nun ja, ich war im Theater, ich wußte doch nichts von Ihnen.« »Der Anlaß fürdas, was ich Ihnen sagen will, hat sich erst heute ergeben« »So, nun ich habe ja nichtsGrundsätzliches dagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin. Also kommen Sie aufein paar Minuten in mein Zimmer. Hier könnten wir uns auf keinen Fall unterhalten,wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch unangenehmer als der Leutewegen. Warten Sie hier, bis ich in meinem Zimmer angezündet habe, und drehen Siedann hier das Licht ab.« K. tat so, wartete dann aber noch bis Fräulein Bürstner ihn ausihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zu kommen. »Setzen Sie sich«, sagte sie undzeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdigkeit,von der sie gesprochen hatte; nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer Überfülle vonBlumen geschmückten Hut legte sie ab. »Was wollten Sie also? Ich bin wirklich neu-gierig.« Sie kreuzte leicht die Beine. »Sie werden vielleicht sagen«, begann K., »daßdie Sache nicht so dringend war, um jetzt besprochen zu werden, aber –« »Einleitungenüberhöre ich immer«, sagte Fräulein Bürstner. »Das erleichtert meine Aufgabe«, sagteK. »Ihr Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine Schuld, ein wenig in Unord-nung gebracht worden, es geschah durch fremde Leute gegen meinen Willen und doch,wie gesagt, durch meine Schuld; dafür wollte ich um Entschuldigung bitten.« »MeinZimmer?« fragte Fräulein Bürstner und sah statt des Zimmers K. prüfend an. »Es istso«, sagte K., und nun sahen beide einander zum erstenmal in die Augen, »die Art undWeise, in der es geschah, ist an sich keines Wortes wert.« »Aber doch das eigentlich In-teressante«, sagte Fräulein Bürstner. »Nein«, sagte K. »Nun«, sagte Fräulein Bürstner,»ich will mich nicht in Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es uninter-

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  • essant ist, so will ich auch nichts dagegen einwenden. Die Entschuldigung, um die Siebitten, gebe ich Ihnen gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnung finden kann.«Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch das Zim-mer. Bei der Matte mit den Photographien blieb sie stehen. »Sehen Sie doch!« rief sie.»Meine Photographien sind wirklich durcheinandergeworfen. Das ist aber häßlich. Esist also jemand unberechtigterweise in meinem Zimmer gewesen.« K. nickte und ver-fluchte im stillen den Beamten Kaminer, der seine öde, sinnlose Lebhaftigkeit niemalszähmen konnte. »Es ist sonderbar«, sagte Fräulein Bürstner, »daß ich gezwungen bin,Ihnen etwas zu verbieten, was Sie sich selbst verbieten müßten, nämlich in meiner Ab-wesenheit mein Zimmer zu betreten.« »Ich erklärte Ihnen doch, Fräulein«, sagte K. undging auch zu den Photographien, »daß nicht ich es war, der sich an Ihren Photographienvergangen hat; aber da Sie mir nicht glauben, so muß ich also eingestehen, daß die Un-tersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von denen der eine, den ichbei nächster Gelegenheit aus der Bank hinausbefördern werde, die Photographien wahr-scheinlich in die Hand genommen hat. Ja, es war eine Untersuchungskommission hier«,fügte K. hinzu, da ihn das Fräulein mit einem fragenden Blick ansah. »Ihretwegen?«fragte das Fräulein. »Ja«, antwortete K. »Nein!« rief das Fräulein und lachte. »Doch«,sagte K., »glauben Sie denn, daß ich schuldlos bin?« »Nun, schuldlos ...« sagte das Fräu-lein, »ich will nicht gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil aussprechen, auch kenneich Sie doch nicht, es muß doch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem man gleicheine Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind – ichschließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnis entlaufen sind –so können Sie doch kein solches Verbrechen begangen haben.« »Ja«, sagte K., »aber dieUntersuchungskommission kann doch eingesehen haben, daß ich unschuldig bin oderdoch nicht so schuldig, wie angenommen wurde.« »Gewiß, das kann sein«, sagte Fräu-lein Bürstner sehr aufmerksam. »Sehen Sie«, sagte K., »Sie haben nicht viel Erfahrungin Gerichtssachen.« »Nein, das habe ich nicht«, sagte Fräulein Bürstner, »und habe esauch schon oft bedauert, denn ich möchte alles wissen, und gerade Gerichtssachen in-teressieren mich ungemein. Das Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht?Aber ich werde in dieser Richtung meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ichtrete nächsten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbüro ein.« »Das ist sehr gut«,sagte K., »Sie werden mir dann in meinem Prozeß ein wenig helfen können.« »Daskönnte sein«, sagte Fräulein Bürstner, »warum denn nicht? Ich verwende gern meineKenntnisse.« »Ich meine es auch im Ernst«, sagte K., »oder zumindest in dem halbenErnst, in dem Sie es meinen. Um einen Advokaten heranzuziehen, dazu ist die Sachedoch zu kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.« »Ja, aber wenn ichRatgeber sein soll, müßte ich wissen, worum es sich handelt«, sagte Fräulein Bürstner.»Das ist eben der Haken«, sagte K., »das weiß ich selbst nicht.« »Dann haben Sie sichalso einen Spaß aus mir gemacht«, sagte Fräulein Bürstner übermäßig enttäuscht, »eswar höchst unnötig, sich diese späte Nachtzeit dazu auszusuchen.« Und sie ging vonden Photographien weg, wo sie so lange vereinigt gestanden hatten. »Aber nein, Fräu-lein«, sagte K., »ich mache keinen Spaß. Daß Sie mir nicht glauben wollen! Was ich

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  • weiß, habe ich Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keineUntersuchungskommission, ich nenne es so, weil ich keinen andern Namen dafür weiß.Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber von einer Kommission.«Fräulein Bürstner saß auf der Ottomane und lachte wieder. »Wie war es denn?« fragtesie. »Schrecklich«, sagte K., aber er dachte jetzt gar nicht daran, sondern war ganz vomAnblick des Fräulein Bürstner ergriffen, die das Gesicht auf eine Hand stützte – derEllbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane – während die andere Hand langsam dieHüfte strich. »Das ist zu allgemein«, sagte Fräulein Bürstner. »Was ist zu allgemein?«fragte K. Dann erinnerte er sich und fragte: »Soll ich Ihnen zeigen, wie es gewesen ist?«Er wollte Bewegung machen und doch nicht weggehen. »Ich bin schon müde«, sagteFräulein Bürstner. »Sie kamen so spät«, sagte K. »Nun endet es damit, daß ich Vorwürfebekomme, es ist auch berechtigt, denn ich hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen. Not-wendig war es ja auch nicht, wie es sich gezeigt hat.« »Es war notwendig, das werdenSie erst jetzt sehn«, sagte K. »Darf ich das Nachttischchen von Ihrem Bett herrücken?«»Was fällt ihnen ein?« sagte Fräulein Bürstner, »das dürfen Sie natürlich nicht!« »Dannkann ich es Ihnen nicht zeigen«, sagte K. aufgeregt, als füge man ihm dadurch einenunermeßlichen Schaden zu. »Ja, wenn Sie es zur Darstellung brauchen, dann rücken Siedas Tischchen nur ruhig fort«, sagte Fräulein Bürstner und fügte nach einem Weilchenmit schwächerer Stimme hinzu: »Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube, als gut ist.« K.stellte das Tischchen in die Mitte des Zimmers und setzte sich dahinter. »Sie müssen sichdie Verteilung der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin der Aufse-her, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei den Photographien stehen drei jungeLeute. An der Fensterklinke hängt, was ich nur nebenbei erwähne, eine weiße Bluse.Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich. Die wichtigste Person, also ich, stehe hiervor dem Tischchen. Der Aufseher sitzt äußerst bequem, die Beine übereinandergelegt,den Arm hier über die Lehne hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetztfängt es also wirklich an. Der Aufseher ruft, als ob er mich wecken müßte, er schreitgeradezu, ich muß leider, wenn ich es Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, esist übrigens nur mein Name, den er so schreit.« Fräulein Bürstner, die lachend zuhörte,legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber es war zu spät.K. war zu sehr in der Rolle, er rief langsam: »Josef K.!«, übrigens nicht so laut, wie ergedroht hatte, aber doch so, daß sich der Ruf, nachdem er plötzlich ausgestoßen war,erst allmählich im Zimmer zu verbreiten schien.

    Da klopfte es an die Tür des Nebenzimmers einigemal, stark, kurz und regelmäßig.Fräulein Bürstner erbleichte und legte die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb beson-ders stark, weil er noch ein Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas anderes zudenken als an die Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem er sie vorführte.Kaum hatte er sich gefaßt, sprang er zu Fräulein Bürstner und nahm ihre Hand. »Fürch-ten Sie nichts«, flüsterte er, »ich werde alles in Ordnung bringen. Wer kann es aber sein?Hier nebenan ist doch nur das Wohnzimmer, in dem niemand schläft.« »Doch«, flüsterteFräulein Bürstner an K.s Ohr, »seit gestern schläft hier ein Neffe von Frau Grubach, einHauptmann. Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe es vergessen. Daß

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  • Sie so schreien mußten! Ich bin unglücklich darüber.« »Dafür ist gar kein Grund«, sagteK. und küßte, als sie jetzt auf das Kissen zurücksank, ihre Stirn. »Weg, weg«, sagte sieund richtete sich eilig wieder auf, »gehen Sie doch, gehen Sie doch, was wollen Sie,er horcht doch an der Tür, er hört doch alles. Wie Sie mich quälen!« »Ich gehe nichtfrüher«, sagte K., »als Sie ein wenig beruhigt sind. Kommen Sie in die andere Eckedes Zimmers, dort kann er uns nicht hören.« Sie ließ sich dorthin führen. »Sie überle-gen nicht«, sagte er, »daß es sich zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aberdurchaus nicht um eine Gefahr. Sie wissen, wie mich Frau Grubach, die in dieser Sachedoch entscheidet, besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist, geradezu verehrt und al-les, was ich sage, unbedingt glaubt. Sie ist auch im übrigen von mir abhängig, denn siehat eine größere Summe von mir geliehen. Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärungfür unser Beisammen nehme ich an, wenn es nur ein wenig zweckentsprechend ist, undverbürge mich, Frau Grubach dazu zu bringen, die Erklärung nicht nur vor der Öffent-lichkeit, sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie dabei in keinerWeise schonen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie überfallen habe, so wird FrauGrubach in diesem Sinne unterrichtet werden und wird es glauben, ohne das Vertrau-en zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an mir.« Fräulein Bürstner sah, still und einwenig zusammengesunken, vor sich auf den Boden. »Warum sollte Frau Grubach nichtglauben, daß ich Sie überfallen habe?« fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteil-tes, niedrig gebauschtes, fest zusammengehaltenes, rötliches Haar. Er glaubte, sie werdeihm den Blick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Haltung: »Verzeihen Sie, ichbin durch das plötzliche Klopfen so erschreckt worden, nicht so sehr durch die Folgen,die die Anwesenheit des Hauptmanns haben könnte. Es war so still nach Ihrem Schrei,und da klopfte es, deshalb bin ich so erschrocken, ich saß auch in der Nähe der Tür, esklopfte fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke ich, aber ich nehme sie nicht an. Ichkann für alles, was in meinem Zimmer geschieht, die Verantwortung tragen, und zwargegenüber jedem. Ich wundere mich, daß Sie nicht merken, was für eine Beleidigungfür mich in Ihren Vorschlägen liegt, neben den guten Absichten natürlich, die ich gewißanerkenne. Aber nun gehen Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt noch nötiger alsfrüher. Aus den wenigen Minuten, um die Sie gebeten haben, ist nun eine halbe Stundeund mehr geworden.« K. faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk: »Sie sindmir aber nicht böse?« sagte er. Sie streifte seine Hand ab und antwortete: »Nein, nein,ich bin niemals und niemandem böse.« Er faßte wieder nach ihrem Handgelenk, sieduldete es jetzt und führte ihn so zur Tür. Er war fest entschlossen, wegzugehen. Abervor der Tür, als hätte er nicht erwartet, hier eine Tür zu finden, stockte er, diesen Augen-blick benützte Fräulein Bürstner, sich loszumachen, die Tür zu öffnen, ins Vorzimmerzu schlüpfen und von dort aus K. leise zu sagen: »Nun kommen Sie doch, bitte. SehenSie« – sie zeigte auf die Tür des Hauptmanns, unter der ein Lichtschein hervorkam –»er hat angezündet und unterhält sich über uns.« »Ich komme schon«, sagte K., lief vor,faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein durstigesTier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küßteer sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen. Ein Ge-

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  • räusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließ ihn aufschauen. »Jetzt werde ich gehen«,sagte er, er wollte Fräulein Bürstner beim Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sienickte müde, überließ ihm, schon halb abgewendet, die Hand zum Küssen, als wisse sienichts davon, und ging gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Erschlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Ver-halten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedenerwar; wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein Bürstner ernstliche Sorgen.

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  • Kapitel 2Erste Untersuchung

    K. war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten Sonntag eine kleine Unter-suchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf aufmerk-sam, daß diese Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, sodoch häufiger, einander folgen würden. Es liege einerseits im allgemeinen Interesse, denProzeß rasch zu Ende zu führen, anderseits aber müßten die Untersuchungen in jederHinsicht gründlich sein und dürften doch wegen der damit verbundenen Anstrengungniemals allzulange dauern. Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinander-folgenden, aber kurzen Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags alsUntersuchungstag habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeitnicht zu stören. Man setze voraus, daß er damit einverstanden sei, sollte er einen an-deren Termin wünschen, so würde man ihm, so gut es ginge, entgegenkommen. DieUntersuchungen wären beispielsweise auch in der Nacht möglich, aber da sei wohl K.nicht frisch genug. Jedenfalls werde man es, solange K. nichts einwende, beim Sonntagbelassen. Es sei selbstverständlich, daß er bestimmt erscheinen müsse, darauf müsseman ihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die Nummer des Hausesgenannt, in dem er sich einfinden solle, es war ein Haus in einer entlegenen Vorstadt-straße, in der K. noch niemals gewesen war.

    K. hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den Hörer an;er war gleich entschlossen, Sonntag hinzugehen, es war gewiß notwendig, der Prozeßkam in Gang und er mußte sich dem entgegenstellen, diese erste Untersuchung sollteauch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim Apparat, da hörte er hinter sichdie Stimme des Direktor-Stellvertreters, der telephonieren wollte, dem aber K. den Wegverstellte. »Schlechte Nachrichten?« fragte der Direktor-Stellvertreter leichthin, nichtum etwas zu erfahren, sondern um K. vom Apparat wegzubringen. »Nein, nein«, sag-te K., trat beiseite, ging aber nicht weg. Der Direktor-Stellvertreter nahm den Hörerund sagte, während er auf die telephonische Verbindung wartete, über das Hörrohr hin-weg: »Eine Frage, Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag früh das Vergnügen machen, einePartie auf meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, ge-wiß auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Siekommen? Kommen Sie doch!« K. versuchte, darauf achtzugeben, was der Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese Einladung des Direk-tor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen

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  • Versöhnungsversuch von dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank gewor-den war und wie wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeitdem zweithöchsten Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demütigungdes Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen Ver-bindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte eine zweite Demütigungfolgen lassen, er sagte: »Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habeschon eine Verpflichtung.« »Schade«, sagte der Direktor-Stellvertreter und wandte sichdem telephonischen Gespräch zu, das gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzesGespräch, aber K. blieb in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparatstehen. Erst als der Direktor-Stellvertreter abläutete, erschrak er und sagte, um sein un-nützes Dasein nur ein wenig zu entschuldigen: »Ich bin jetzt antelephoniert worden,ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu welcherStunde.« »Fragen Sie doch noch einmal nach«, sagte der Direktor-Stellvertreter. »Es istnicht so wichtig«, sagte K., obwohl dadurch seine frühere, schon an sich mangelhafteEntschuldigung noch weiter verfiel. Der Direktor-Stellvertreter sprach noch im Wegge-hen über andere Dinge. K. zwang sich auch zu antworten, dachte aber hauptsächlichdaran, daß es am besten sein werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen,da zu dieser Stunde an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.

    Sonntag war trübes Wetter. K. war sehr ermüdet, da er wegen einer Stammtisch-feierlichkeit bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er hätte fast verschlafen.Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die verschiedenen Pläne, die er während derWoche ausgedacht hatte, zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu früh-stücken, in die ihm bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicherweise traf er, obwohl er wenigZeit hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten, Ra-bensteiner, Kullich und Kaminer. Die ersten zwei fuhren in einer Elektrischen quer überK.s Weg, Kaminer aber saß auf der Terrasse eines Kaffeehauses und beugte sich gerade,als K. vorüberkam, neugierig über die Brüstung. Alle sahen ihm wohl nach und wun-derten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein Trotz, der K. davon abgehaltenhatte, zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringsten fremden Hilfe in die-ser seiner Sache, auch wollte er niemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nurim allerentferntesten einweihen; schließlich hatte er aber auch nicht die geringste Lust,sich durch allzu große Pünktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen.Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, obwohl er nichteinmal für eine bestimmte Stunde bestellt war.

    Er hatte gedacht, das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das ersich selbst nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besonderen Bewegung vor demEingang schon von weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße, in der es sein sollte undan deren Beginn K. einen Augenblick lang stehenblieb, enthielt auf beiden Seiten fastganz einförmige Häuser, hohe, graue, von armen Leuten bewohnte Miethäuser. Jetzt,am Sonntagmorgen, waren die meisten Fenster besetzt, Männer in Hemdärmeln lehntendort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fensterrand.Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt, über dem flüchtig der zerraufte Kopf

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  • einer Frau erschien. Man rief einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirktegerade über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in der langenStraße kleine, unter dem Straßenniveau liegende, durch ein paar Treppen erreichbareLäden mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder stan-den auf den Stufen und plauderten. Ein Obsthändler, der seine Waren zu den Fensternhinauf empfahl, hätte, ebenso unaufmerksam wie K., mit seinem Karren diesen fastniedergeworfen. Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophonmörderisch zu spielen.

    K. ging tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder alssähe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also, daß sichK. eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag ziemlich weit, es war fastungewöhnlich ausgedehnt, besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie war of-fenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen Warenmagazinen gehörten,die jetzt versperrt den großen Hof umgaben und Aufschriften von Firmen trugen, vondenen K. einige aus dem Bankgeschäft kannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sichmit allen diesen Äußerlichkeiten genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Ein-gang des Hofes stehen. In seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger Mann und laseine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jungen. Vor einer Pumpe standein schwaches, junges Mädchen in einer Nachtjoppe und blickte, während das Wasserin ihre Kanne strömte, auf K. hin. In einer Ecke des Hofes wurde zwischen zwei Fen-stern ein Strick gespannt, auf dem die zum Trocknen bestimmte Wäsche schon hing.Ein Mann stand unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe.

    K. wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, standdann aber wieder still, denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch drei verschiede-ne Treppenaufgänge und überdies schien ein kleiner Durchgang am Ende des Hofesnoch in einen zweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich, daß man ihm die Lage des Zim-mers nicht näher bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare Nachlässigkeit oderGleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, das sehr laut und deut-lich festzustellen. Schließlich stieg er doch die Treppe hinauf und spielte in Gedankenmit einer Erinnerung an den Ausspruch des Wächters Willem, daß das Gericht von derSchuld angezogen werde, woraus eigentlich folgte, daß das Untersuchungszimmer ander Treppe liegen mußte, die K. zufällig wählte.

    Er störte im Hinaufgehen viele Kinder, die auf der Treppe spielten und ihn, wenn erdurch ihre Reihe schritt, böse ansahen. »Wenn ich nächstens wieder hergehen sollte«,sagte er sich, »muß ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu gewinnen, oderden Stock, um sie zu prügeln.« Knapp vor dem ersten Stockwerk mußte er sogar einWeilchen warten, bis eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei kleine Jungen mitden verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hielten ihn indessen an den Beinklei-dern; hätte er sie abschütteln wollen, hätte er ihnen wehtun müssen, und er fürchtete ihrGeschrei.

    Im ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der Un-tersuchungskommission fragen konnte, erfand er einen Tischler Lanz – der Name fiel

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  • ihm ein, weil der Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieß – und wollte nun inallen Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um so die Möglichkeitzu bekommen, in die Zimmer hineinzusehen. Es zeigte sich aber, daß das meistens ohneweiteres möglich war, denn fast alle Türen standen offen und die Kinder liefen ein undaus. Es waren in der Regel kleine, einfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde.Manche Frauen hielten Säuglinge im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf demHerd. Halbwüchsige, scheinbar nur mit Schürzen bekleidete Mädchen liefen am flei-ßigsten hin und her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benützung, es lagendort Kranke oder noch Schlafende oder Leute, die sich dort in Kleidern streckten. Anden Wohnungen, deren Türen geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier einTischler Lanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte die Frage an und wandte sichins Zimmer zu jemandem, der sich aus dem Bett erhob. »Der Herr fragt, ob ein Tisch-ler Lanz hier wohnt.« »Tischler Lanz?« fragte der aus dem Bett. »Ja«, sagte K., obwohlsich hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht befand und daher seine Aufga-be beendet war. Viele glaubten, es liege K. sehr viel daran, den Tischler Lanz zu finden,dachten lange nach, nannten einen Tischler, der aber nicht Lanz hieß, oder einen Na-men, der mit Lanz eine ganz entfernte Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarnoder begleiteten K. zu einer weit entfernten Tür, wo ihrer Meinung nach ein derartigerMann möglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei, der bessere Auskunftals sie selbst geben könne. Schließlich mußte K. kaum mehr selbst fragen, sondern wur-de auf diese Weise durch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinen Plan, der ihmzuerst so praktisch erschienen war. Vor dem fünften Stockwerk entschloß er sich, dieSuche aufzugeben, verabschiedete sich von einem freundlichen, jungen Arbeiter, derihn weiter hinaufführen wollte, und ging hinunter. Dann aber ärgerte ihn wieder dasNutzlose dieser ganzen Unternehmung, er ging nochmals zurück und klopfte an die er-ste Tür des fünften Stockwerkes. Das erste, was er in dem kleinen Zimmer sah, war einegroße Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte. »Wohnt ein Tischler Lanz hier?« fragte er.»Bitte«, sagte eine junge Frau mit schwarzen, leuchtenden Augen, die gerade in einemKübel Kinderwäsche wusch, und zeigte mit der nassen Hand auf die offene Tür desNebenzimmers.

    K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leu-te – niemand kümmerte sich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes, zweifenst-riges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war, die gleichfallsvollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf undRücken an die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf war, trat wieder hinaus undsagte zu der jungen Frau, die ihn wahrscheinlich falsch verstanden hatte: »Ich habe nacheinem Tischler, einem gewissen Lanz, gefragt?« »Ja«, sagte die Frau, »gehen Sie, bitte,hinein.« K. hätte ihr vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangenwäre, die Türklinke ergriffen und gesagt hätte: »Nach Ihnen muß ich schließen, es darfniemand mehr hinein.« »Sehr vernünftig«, sagte K., »es ist aber jetzt schon zu voll.«Dann ging er aber doch wieder hinein.

    Zwischen zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten –

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  • der eine machte mit beiden, weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldauf-zählens, der andere sah ihm scharf in die Augen –, faßte eine Hand nach K. Es warein kleiner, rotbäckiger Junge. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er. K. ließ sich vonihm führen, es zeigte sich, daß in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge doch einschmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien schied; dafür sprach auch,daß K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah,sondern nur die Rücken von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an Leuteihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz angezogen, in alten, lang und losehinunterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte K., sonst hätte er dasGanze für eine politische Bezirksversammlung angesehen.

    Am anderen Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde, stand auf einem sehr nied-rigen, gleichfalls überfüllten Podium ein kleiner Tisch, der Quere nach aufgestellt, undhinter ihm, nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner, dicker, schnaufender Mann, dersich gerade mit einem hinter ihm Stehenden – dieser hatte den Ellbogen auf die Sessel-lehne gestützt und die Beine gekreuzt – unter großem Gelächter unterhielt. Manchmalwarf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden. Der Junge, der K. führte, hatteMühe, seine Meldung vorzubringen. Zweimal hatte er schon, auf den Fußspitzen ste-hend, etwas auszurichten versucht, ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein.Erst als einer der Leute oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte,wandte sich der Mann ihm zu und hörte hinuntergebeugt seinen leisen Bericht an. Dannzog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin. »Sie hätten vor einer Stunde und fünfMinuten erscheinen sollen«, sagte er. K. wollte etwas antworten, aber er hatte keineZeit, denn kaum hatte der Mann ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfteein allgemeines Murren. »Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sol-len«, wiederholte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch schnell inden Saal hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker und verlor sich, da der Mannnichts mehr sagte, nur allmählich. Es war jetzt im Saal viel stiller als bei K.s Eintritt.Nur die Leute auf der Galerie hörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sie schie-nen, soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas unterscheiden konnte,schlechter angezogen zu sein als die unten. Manche hatten Polster mitgebracht, die siezwischen den Kopf und die Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken.

    K. hatte sich entschlossen, mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen verzich-tete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens und sagte bloß:»Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.« Ein Beifallklatschen, wieder ausder rechten Saalhälfte, folgte. Leicht zu gewinnende Leute, dachte K. und war nur ge-stört durch die Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sichnur ganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen könn-te, um alle auf einmal oder, wenn das nicht möglich sein sollte, wenigstens zeitweiligauch die anderen zu gewinnen.

    »Ja«, sagte der Mann, »aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhören«– wieder das Murren, diesmal aber mißverständlich, denn der Mann fuhr, indem er denLeuten mit der Hand abwinkte, fort, – »ich will es jedoch ausnahmsweise heute noch

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  • tun. Eine solche Verspätung darf sich aber nicht mehr wiederholen. Und nun treten Sievor!« Irgend jemand sprang vom Podium hinunter, so daß für K. ein Platz frei wurde,auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrückt, das Gedränge hinter ihmwar so groß, daß er ihm Widerstand leisten mußte, wollte er nicht den Tisch des Unter-suchungsrichters und vielleicht auch diesen selbst vom Podium hinunterstoßen.

    Der Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nicht darum, sondern saß recht be-quem auf seinem Sessel und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendesWort gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand aufseinem Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blättern ganz aus der Form ge-bracht. »Also«, sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem Heft und wandte sichim Tone einer Feststellung an K., »Sie sind Zimmermaler?« »Nein«, sagte K., »sondernerster Prokurist einer großen Bank.« Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei untenein Gelächter, das so herzlich war, daß K. mitlachen mußte. Die Leute stützten sich mitden Händen auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter schweren Hustenanfällen. Eslachten sogar einzelne auf der Galerie. Der ganz böse gewordene Untersuchungsrichter,der wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war, suchte sich an der Galerie zuentschädigen, sprang auf, drohte der Galerie, und seine sonst wenig auffallenden Au-genbrauen drängten sich buschig, schwarz und groß über seinen Augen.

    Die linke Saalhälfte war aber noch immer still, die Leute standen dort in Reihen,hatten ihre Gesichter dem Podium zugewendet und hörten den Worten, die oben ge-wechselt wurden, ebenso ruhig zu wie dem Lärm der anderen Partei, sie duldeten sogar,daß einzelne aus ihren Reihen mit der anderen Partei hie und da gemeinsam vorgingen.Die Leute der linken Partei, die übrigens weniger zahlreich waren, mochten im Grun-de ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruhe ihres Verhaltensließ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann, war er überzeugt, inihrem Sinne zu sprechen.

    »Ihre Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin – vielmehr, Siehaben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt –, ist bezeichnend für dieganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden, daß esja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren,wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den Augenblick jetztan, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich nicht anders als mitleidig dazu stellen,wenn man es überhaupt beachten will. Ich sage nicht, daß es ein liederliches Verfahrenist, aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«

    K. unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf,schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es hätte Beifall hier oder dortverdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, esbereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen wür-de. Störend war es, daß sich jetzt die Tür am Saalende öffnete, die junge Wäscherin, dieihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwen-dete, einige Blicke auf sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbareFreude, denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher ste-

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  • hend zugehört, denn er war von K.s Ansprache überrascht worden, während er sich fürdie Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in der Pause, setzte er sich allmählich, als sollte esnicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wiederdas Heftchen vor.

    »Es hilft nichts«, fuhr K. fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter, be-stätigt, was ich sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der fremden Ver-sammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem Untersuchungsrichterwegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er sich davor, an einem mittlerenBlatte hochzuheben, so daß beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigenBlätter hinunterhingen. »Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte er undließ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin ruhig weiter, Herr Untersu-chungsrichter, vor diesem Schuldbuch fürchte ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mirunzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde es nichtin die Hand nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung sein oder es mußtezumindest so aufgefaßt werden, daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wiees auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und eswieder vornahm, um darin zu lesen.

    Die Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, daßer ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ältere Männer, einigewaren weißbärtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze Versammlungbeeinflussen konnten, welche auch durch die Demütigung des Untersuchungsrichterssich nicht aus der Regungslosigkeit bringen ließ, in welche sie seit K.s Rede versunkenwar?

    »Was mir geschehen ist«, fuhr K. fort, etwas leiser als früher, und suchte immerwieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen Aus-druck gab, »was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehrwichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens,wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für mich.«

    Er hatte unwillkürlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand mit erho-benen Händen und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!« Die inder ersten Reihe griffen hier und da in ihre Bärte, keiner kehrte sich wegen des Ausrufsum. Auch K. maß ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetztgar nicht mehr für nötig, daß alle Beifall klatschten, es genügte, wenn die Allgemein-heit über die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch Überredunggewonnen wurde.

    »Ich will nicht Rednererfolg«, sagte K. aus dieser Überlegung heraus, »er dürftemir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht wahrscheinlichviel besser, es gehört ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur die öffentliche Bespre-chung eines öffentlichen Mißstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftetworden, über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehört jetzt nichthierher. Ich wurde früh im Bett überfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem, wasder Untersuchungsrichter sagte, nicht ausgeschlossen – den Befehl, irgendeinen Zim-

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  • mermaler, der ebenso unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wählte mich. DasNebenzimmer war von zwei groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher Räuberwäre, hätte man nicht bessere Vorsorge treffen können. Diese Wächter waren überdiesdemoralisiertes Gesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechenlassen, sie wollten mir unter Vorspiegelungen Wäsche und Kleider herauslocken, siewollten Geld, um mir angeblich ein Frühstück zu bringen, nachdem sie mein eigenesFrühstück vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug daran. Ich wur-de in ein drittes Zimmer vor den Aufseher geführt. Es war das Zimmer einer Dame, dieich sehr schätze, und ich mußte zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohnemeine Schuld, durch die Anwesenheit der Wächter und des Aufsehers gewissermaßenverunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir aber, und ichfragte den Aufseher vollständig ruhig – wenn er hier wäre, müßte er es bestätigen –,warum ich verhaftet sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mirsehe, wie er auf dem Sessel der erwähnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnig-sten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wußteer wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar nochein übriges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bankgebracht, die sich damit beschäftigten, Photographien, Eigentum der Dame, zu betastenund in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten hatte natürlich nocheinen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen,die Nachricht von meiner Verhaftung verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigenund insbesondere in der Bank meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts davon, auchnicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person –ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie heißt Frau Grubach –, selbstFrau Grubach war verständig genug, einzusehen, daß eine solche Verhaftung nicht mehrbedeutet, als einen Anschlag, den nicht genügend beaufsichtigte Jungen auf der Gasseausführen. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und vorüberge-henden Ärger bereitet, hätte es aber nicht auch schlimmere Folgen haben können?«

    Als K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah,glaubte er zu bemerken, daß dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge einZeichen gab. K. lächelte und sagte: »Eben gibt hier neben mir der Herr Untersuchungs-richter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, dievon hier oben dirigiert werden. Ich weiß nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifallbewirken sollte, und verzichte dadurch, daß ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewußtdarauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollständig gleichgültig, undich ermächtige den Herrn Untersuchungsrichter öffentlich, seine bezahlten Angestelltendort unten, statt mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwaeinmal sagt: ›Jetzt zischt!‹ und das nächste Mal: ›Jetzt klatscht!‹«

    In Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersuchungsrichter auf seinem Sesselhin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte, beug-te sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder um ihmeinen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise, aber lebhaft.

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  • Die zwei Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen,vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Unter-suchungsrichter. Der neblige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte sogareine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders für die Galeriebesuchermußte er störend sein, sie waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblickennach dem Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stel-len, um sich näher zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenenHände ebenso leise gegeben.

    »Ich bin gleich zu Ende«, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war, mitder Faust auf den Tisch; im Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungs-richters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: »Mir steht die ganze Sachefern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie können, vorausgesetzt, daß Ihnen an diesemangeblichen Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn Sie mir zu-hören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich Sie fürspäterhin zu verschieben, denn ich habe keine