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HugoBettauer

BobbieoderDieLiebeeinesKnabenRoman

R.RöwitVerlag,WienundLeipzig,1926

BibliothekvonngiyaweBooks

Illustration:PortraitdesSchriftstellers

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I.KapitelBobundGertie

Leichtfüßig wie eine junge Ziege sprang Bob diesteinerneFreitreppehinaufunddrückteanhaltendaufdenGlockentaster an dem großen,mit schönenOrnamentengeschmücktenHaustor.DiewenigenAugenblicke,dieerwartenmußte,blickteernachdemHausaufderanderenSeite der Straße hinüber und beschattete mit derschmalen, schlankenKnabenhanddieAugen,umbesserzusehen,schienaberdochnichtdaserspähenzukönnen,was er suchte. Nun öffnete aber auch schon ein altergrauhaariger Diener, dem der weiße Backenbart einenehrwürdigen und gravitätischen Ausdruck verlieh.Zärtlich und dabei doch gemessen steif begrüßte er denKnabenmit»GutenTag,jungerHerr!«,woraufihmBobvergnügtaufdenArmklopfte,mit»Grüß'Gott,Eduard!«erwiderte, den Schulranzen auf einemit einem TeppichbedeckteBankinderDielewarfundungeduldigausrief:»WoistMama?«»Die gnädige Frau hat eben die Toilette beendet und

liestimWohnzimmerdieZeitung.«Mit vier Riesensätzen, immer drei Stufen auf einmal

nehmend,stürmteBobdieTreppeempor,undschonwar

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erindembehaglichen,einfacheingerichtetenZimmer,indemFrauHolgermandasMorgenblattlas.Bevordieschlanke,schöneFraunochhatteaufstehen

können,war Bob schon bei ihr und schlang einenArmungestüm um ihren Hals, während er in derfreigebliebenenHandeinPapierschwenkte.»Vorzugszeugnis, Mama, Vorzugszeugnis! Mit Ach

und Krach in Mathematik einen Zweier, sonst lauterEinser!Hurra,jetztbekomm'icheinenHund!«Mamamachtesichglücklich lächelndfrei, strichdem

KnabendiebraunenLockenausderheißenStirn,drückteihndannfestansichundsagteleise:»Ichdankedir,Bobbie,duhastmireinegroßeFreude

bereitet!«»Weißt du, Mama, eigentlich wollte ich sehr traurig

hereinkommen und dir zuerst mit weinerlicher Stimmeerzählen, ich sei durchgefallen. Aber im letztenAugenblick habe ich es mir überlegt. Du hättest dichdoch eineSekunde langgekränkt, und es ist schadeumjede Sekunde, die sich der Mensch kränkt, besonderswennersichfreuenkann.«»Dubistmeinlieber,guterJunge,Bob,undwennPapa

dir den Hund schenkt, so gebe ich dir ein schönesHundehausund alles,wasdu sonst brauchst, dazu.Nunruf' aber schnell Papa an, damit auch er seine Freudehat.«BobeilteinsNebenzimmer,indemdasTischtelephon

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stand,undließsichmitderFabrikdesVatersverbinden.»Hier Bob Holgerman, bitte, wollen Sie mich mit

meinemVaterverbinden.«Raschwarauchdasgeschehen.»Papa,ichbekomm'denHund!«»Warum,undwasfüreinenHund?«»AberPapa,hastduvergessen,daßheuteSchulschluß

istunddumireinenHundversprochenhast,wennicheinVorzugszeugnis bekäme?——— Ja, natürlich bin ichein Vorzugsschüler, sonst würde ich ja vom Hunde garnichtsprechen.Danke,Papa,Mamahatsichauchgefreut,und siewillmir für denHund eineHütte kaufen.Gelt,Papa,ichdarfschonUmschaunacheinemHundehalten?———dubistlieb,Papa,ichdankedir.«BobwarschonwiederbeiderMamaundsagte:»So,jetztgeh'ichzuGertiehinüber,siewirdschonauf

michwarten.Siehat eineStunde früher ausgehabt undwird neugierig sein. Ich werde dann mit ihr im ParkDiabolospielen.«»Geh',meinJunge,unterhalteteuchgut,abersag'mir

nur,warum immerGertieundnichts alsGertie?Warumhast du gar keine Kameraden, warum spielst du nichtliebermitanderenJungen?«Bob zuckte dieAchseln, einwenigwurde er rot, ein

wenigzupfteerverlegenanseinerBluse.»Schau,Mama, ichmagnun einmal gernemitGertie

sein!Unddie Jungens,diehab' ich schon immer inden

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Schulpausen, und ich kann mit ihnen nicht so nettplaudern wie mit Gertie, die mir zuhört und, wenn ichetwas sage,nichtgleichmit ›Quatsch‹oder ›Das istgarnichts,daweißichganzwasanderes‹dazwischenfährt.»Nun, gut, mein Junge, ich habe ja nichts dagegen!

Gertieisteinliebes,bravesMädchen,ichwollte,ichhätteauch so einTöchterchenwie sie!Also geh' nur und seipünktlich um ein Uhr zu Hause. Duweißt, Papa ärgertsich sehr,wennerauchnureineMinutemitdemEssenwartenmuß.UndichwerdederKathisagen,siesollnochrascheineSchokoladentortemachen.«»Nochmalshurra!Das ist ein schönerTagheute, und

ich werde Gertie sagen, daß ich ihr ein Stück Torteaufhebe,undbeimAussuchendesHundesmußsieauchdabeisein.«Kopfschüttelnd, lächelnd und ein bißchen

nachdenklich sah Frau Holgerman dem über die Straßestürmenden Jungen durch das Fenster nach. FrauHolgermanhatte allenGrund, auf ihren Jungen stolz zusein. Ungestüm war er wohl wie ein Füllen, mitunterauch rechteigenwillig, aberdabeigutundvornehm,einechter,kleinerKavalier,klugundbegabt,undschön,wieeinJungeesnurseinkann.Schlankundgeschmeidigwarer, dabei frei von jenerEckigkeit, die sonstKnaben umdaszwölfte,dreizehnteJahrherumgewöhnlichanhaftet,und braune, bis fast auf die Schultern fallende Lockenumrahmtendasovale,eherbräunlichealsrosigeGesicht,

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aus demklare, große, von langenWimpern umschatteteAugen mit fast männlicher Energie strahlten. KeinWunder,wenninderganzenUmgebungBobvonaltundjung geliebt wurde und ihm sogar die griesgrämigstenalten Schulfüchse mit väterlicherMilde entgegenkamenund ihmmanchenStreich,manchevoreiligeBemerkungverziehen, die jedem anderen eine Eintragung insKlassenbuchgebrachthätte.Bobs Vater stammte aus alter, dänischer Familie und

war der Alleinbesitzer einer großen Fabrik fürStahlwaren, ein sehr reicher, ein wenig verschlossenerMann, hoch in den Vierzig, während Frau AlmaHolgerman viel italienisches Blut in den Adern hatte,lebhaftes, leicht erregbaresBlut, daswohlBob von ihr,zusammenmitdendunkelbraunenHaaren,mitbekommenhatte.HerrHolgerman hatte vor fünfzehn Jahren, als erdie Fabrik in der großen Stadt übernahm, ein schönes,geschmackvolles, für ein junges Ehepaar wohl zugeräumiges Haus in dem Villenviertel gekauft. Er undseine Frau hatten reichen Kindersegen erwünscht underhofft,aberBob,dererstnachdreijährigerEhezurWeltkam, blieb der einzige, sehr zum Kummer HerrnHolgermans,dersichgerneeineScharvonJungen,auchzumKummerFrauHolgermans,diesichgernenachdemSohnenocheinTöchterchengewünschthätte.Bob stürmte über die Straße und betrat das Haus, in

dem seine kleine, nur um zwei Jahre jüngere Freundin

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Gertie mit ihrer Mutter wohnte. Dieses Haus war aberkeineVillamitGartenwiebeiHolgermans, sonderneinrecht gewöhnliches, unansehnliches Mietshaus, das inseinendreiStockwerkenneunWohnungenbarg.Eswarhalb zwölf Uhr, als Bob das Haus betrat; die kleinenBeamtenundGeschäftsleute,dieinsolchenMiethäusernwohnen,essenfrüherzuMittagalsdiereichenLeute,dieeigentlich nie so recht Hunger haben, und so roch esdenn, als Bob die Treppe zum zweiten Stockwerkhinaufging, von allen Seiten nach Kohl, Gemüse,gekochtem Fleisch und anderen Dingen, die gutschmeckenmögen,aberderNasedesUnbeteiligtennichtzusonderlicherFreudedienen.Bob,gegenunangenehmeGerüche,GeräuscheundAnblickesehrempfindlich,wiesooft dieSprößlinge alter, kultivierterFamilien, verzogdas Gesicht. Gleich darauf glättete es sich aber wieder,denn er erinnerte sich, daß ja Gertie hier im Hausewohne.»Wennicherstgroßbin,«sagteersich,»sowerdeich

mit Gertie nicht in einem solchen Hause mit fremdenLeuten zusammen wohnen, sondern in einer Villa, wiewir sie haben. Siemuß aber ganz ausweißemMarmorsein,weilWeißGertiesogutsteht.«Und schon hatte er die Glocke gezogen, unter der

»Frau Anna Sehring« stand, und schon hüpfte ihm einschneeweiß gekleidetes, kleinesMädchen entgegen undrief:

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»Nun,Bobbie,wieistesergangen?«»Vorzugsschüler!« sagte Bob mit möglichst viel

LeichtigkeitinderStimme,umjanurnichtdenEindruckzuerwecken,alswürdeerdasgarzuwichtignehmen.GertieabersprangjubelndindieHöhe,packteBobbei

beiden Händen, zog ihn ganz in den Vorraum zurWohnunghinein,drehteihnimWirbelumherundschrie:»Mama, Mama, komm', Bob ist Vorzugsschülergeworden!«Frau Anna Sehring, Gerties Mutter, kam lächelnd

herein, beglückwünschteBob und ließ sich dasZeugniszeigen.MiteinemwehmütigenLächelnaufdemblassen,abgehärmtenGesichte, in das viele, viele Tränen kleineRinnengezogenhattensagtesieganzleise:»SicherhättemeinHarrymirauchnurguteZeugnisse

gebracht, erwar ein guter und kluger Junge.«Und nuntropften wieder Zähren über die Wangen. Das kleineMädchen schlang den Arm um den Hals der Mutter,lehnte seine rosigen Backen an das Gesicht derweinendenFrauundsagtebegütigend:»Mutti,Mutti,nichtweinen—«Bob aber meinte ernst: »Sie sollten nicht immer so

traurigsein,FrauSehring.UnserGeschichtsprofessorhatganz recht,wenner sagt,mandürfeumdieTotennichtklagen,weiles ihnengutgehtundmanihnenihreRuheund den ewigen Frieden nicht neiden darf. Und dannhabensiedochGertieund—«Erwolltesagen,ichbinja

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auchnochda,aberirgendwieschienesihmunpassendzuseinunderschwiegerrötend.Frau Sehring hatte viel Kummer erlebt, unter dessen

Last sie frühzeitig gealtert war. Ihr Sohn, der jetztvierzehngewesenwäre,warvorsechsJahren,alsGertiekaum fünf Jahre alt war, plötzlich an einerGehirnhautentzündung gestorben, und ihr und ihresMannes Jammerwar grenzenlos gewesen.Herr SehringwarOffizierund immerhatte erdavongeträumt, seinenJungen dieselbe Laufbahn ergreifen und einen großenFeldherrnwerden zu lassen.Er konnte über denVerlustdes einzigenSohnes nicht hinwegkommenundwar vonda an ein verschlossener, wortkarger und unwirscherMann geworden, den nicht einmal der Anblick desheranwachsendenTöchterchenströstenwollte.Dannkamder Krieg, Major Sehring rückte ein, zeichnete sichvielfach aus und fiel an der Spitze seines Regimentes.Vermögenhinterließernicht,undsowarseineWitwemitGertie ganz auf die schmale, staatliche Pensionangewiesen und konnte nurmühsam, unterVerzicht aufjeden Luxus und jedes Wohlleben, ihr Auskommenfinden.GertieaberwardassüßestekleineBlondchen,dasman

sichaufderWeltvorstellenkonnte. InderganzenStadthättemanvergebensnacheinemzierlicherenFigürchen,nach ähnlich tiefblauen Augen, nach so schönen, wielauteresGoldglänzendenLockensuchenkönnen,undes

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war wirklich kein Wunder, wenn sich alle Leute nachGertieaufderStraßeumdrehten.TäglichhörteesGertieaufihremSchulweginallenTonartenanihrOhrklingen:»Sapperlot,sehtnurdasschöne,kleineMädchen!Sieht

esnichtwieeinEngelaus?«Aber Gertie war zu kindlich, zu harmlos, um durch

solcheWorteselbstbewußtundstolzzuwerden;siefreutesicheinfachdarüber,daßalleLeuteliebzuihrwarenundsie schön fanden, wie sich etwa ein kleines Mädchenfreut,wennmanseinePuppeoderseinKleidchenlobt.Wie die beidenKinder nunHand inHand die Straße

entlang gingen, um nach dem nur wenige Schritteentfernten großen Park zu gelangen, boten sie ein soharmonisches Bild knabenhafter und mädchenhafterLieblichkeit, daß sogar der Fleischer an der Ecke,berühmt wegen seiner Grobheit und UnfreundlichkeitgegenKinder,dieerunnützesUnkrautzunennenpflegte,ihnenausdemLadenfreundlichzunickte,seinerdicken,kinderlos gebliebenen Ehehälfte einen sanftenRippenstoßgabundsagte:»Sowas,wennmanhätte,daskönnt'einemschondas

Lebenangenehmmachen!«

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II.KapitelZukunftspläne

Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern wardamals vor drei Jahren entstanden, als Gertie zumerstenmal in ihrem Leben nach dem Tode des MajorsSehring statt eines hellen Kleidchens ein schwarzestragenmußte.EswareinheißerSommertagzuEndeJuliwie heute gewesen, und Gertie saß allein, von all demJammerzuHause,densie inseinerganzenTragikwohlempfand, abernicht verstehenkonnte, verstört auf einerBankimPark.DatratauseinerGruppevonKindern,dieirgendein Spiel aufführen wollten, ein grobschlächtigerJunge auf sie zu und sagte, während er mit demschmutzigenZeigefingerinderNasebohrte:»Komm'mitspielen,wirbrauchennocheine!«Schüchtern erwiderte das kleine, blonde Ding: »Ich

danke,ichmag'aberheutenichtspielen.«WohlhatteMutterihrdasSpielennichtverboten,aber

trotz ihrer acht Jahre fühlte sie doch, daß sie heute,woPapa irgendwo in weiter Ferne in einem frischgeschaufelten Grab lag, nicht spielen und heiter seindurfte.UnddanngefielendemfeinenKinde,das immerwie eine Prinzessin aussah, der Junge und seine

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Gefährtendurchausnicht.DerJungepflanztesichnunbreitvorGertieauf.»Was, spielenmagst du nicht? Vielleicht weil du ein

schwarzes Kleid anhast! Bildest dir wohl ein, wir sindnicht fein genug für dich! Steh' auf und komm', sonstsetzteswasab.«Und schon hatte er Gertie beimArm gepackt und in

die Höhe gezerrt. Gertie fing zuweinen an undwehrtesich,daversetzteihrderJungeeinenSchlaginsGesichtundwollteweiterdrauflosschlagen.In diesem Augenblicke aber war Bob, der die Szene

beobachtet hatte, zurStelle.SeinenSchulranzenwarf erinsGras,stürztesichaufdenrohenJungenundhauteihmlinks und rechts Maulschellen herunter; ein kurzesRingenundderUnhold flogwie einGummiball nieder.Wohlsprangerwiederauf,umsichaufBobzuwerfen;alseraber indessenbleichgewordenesGesichtmitdenfunkelnden Augen sah, schlich er wie ein geprügelterHundfort.BobgingnunaufdaskleineMädchenzu,dasvor lauterÜberraschung zuweinen vergessen hatte undihnbewunderndansah.»Ich heiße Bob Holgermann. Sag' mir, wie du heißt

undwoduwohnst,ichbringedichnachHause.«Gertiemachte einen artigenSchulknicks, vergaß aber

vor lauterVerlegenheit zu antworten und begnügte sichmit der hingebungsvollsten Feststellung: »Bist du aberstark!KönntestauchunsereZeichenlehrerinverhauen!«

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DannergriffsiediewarmeHanddesKnabenundließsich von ihm bis zu ihrem Hause führen, wobei Bobentdeckte, daß das blonde, kleine Mädchen mit denveilchenblauenAugenunddemschwarzenKleidgeradederVillaseinesVatersgegenüberwohnte.Von da an wurden diese beiden unzertrennliche

Spielgefährten, bald besuchten sie einander täglich undauchFrauSehringbegannimHausedesmillionenreichenFabrikanten und seiner Gattin, die die unglückliche,gebildete und sehr stille Frau schätzte, als Gast zuerscheinen.Bob ging nun heute als frischgebackener

Vorzugsschüler, die herrlich langen Sommerferien vorsich, in fieberhafter Erwartung des versprochenenHundes, mit Gertie in den Park. Sie hatten zuerst wiegewöhnlichDiabolospielenwollen,aberdasgingheutedochnicht.Bobfühltesich,erwarvollMitteilungsdrang,ermußtesprechen.SiegingenzuerstdenWegknappamParkgitter entlang, aber ein großes, geschlossenesAutomobil,das im langsamstenTempofastneben ihnenher,nuraußerhalbdesGittersfuhr,störtesiemitseinemRattern und Benzingestank und so bogen sie in eineschattigeAlleeeinundließensichaufeinerBanknieder.»Bob,freustdudichsehrüberdeingutesZeugnis?«Bob überlegte und strich sich die Locken aus der

freien,hohenStirn.»Eigentlichwollteichsagen:Achwas,esistmirganz

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egal!WeilJungensimmersotunmüssen,alswennihnensolche Schulsachen nicht so wichtig wären. Aber ichfreuemichdochsehr.AufdenHund,undweilMamasichfreut,undweildudichfreust.Unddannfreueichmich,weil esmir gelungen ist.Weißt du,Gertie,MathematikundGeographie sind sehr ekelhaft, und ich denke,mansollte Jungens nicht so damit quälen. Aber wegen desHundes, den mir Papa versprochen hat, und wegen derFreudevonMamawollteichVorzugsschülerwerden,undnun sehe ich, daß man kann, was man will. Lebertrankannman nicht essen,wennman nichtwill;wennmanaberwill,kannmanesauch.UndmitderMathematikistes nicht anders. Und drum sage ich auch, ichwill dichheiraten,Gertie,undwenn ichgroßbin, tue ichesauchgewiß.Papahatmir,alsereseinmalhörte,gesagt,ichseiein dummer Junge und solle nicht an solche Sachendenken. Aber ich meine, daß ich immer daran denkensoll,weilichdannnieaufhörenwerde,eszuwollen,undwenn ich etwas ernstlich will, dann kann ich es auchtun.«Mit scheuer Bewunderung hing Gertie an seinen

Lippen.»Ach, Bob, daswird zu herrlich sein,wenn dumich

heiratenwirst.AberMami darf immer bei unswohnen,nicht wahr? Und eine kleine Katze werde ich auchbekommen, mit der ich mir die Zeit vertreiben kann,wenn ich warte, bis du aus der Fabrik kommst, nicht

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wahr?«BobmachteeinsehrnachdenklichesGesicht.»DeineMamamußnatürlichbeiunswohnen,weilsie

sonst ganz allein ist. Unsere Köchin hat zwar neulichgesagt, daß immer die Hölle los ist, wenn dieSchwiegermutterimHausewohnt,aberbeideinerMamaglaubeichdasnicht,weilsiesehrgutundsanft ist.DasmitderKatzesollstdudiraberausdemKopfeschlagen,Gertie. Ich habe in derZeitunggelesen, daß ein kleinesKinddarangestorben ist,daßesderKatze insFellgriffund dann Katzenhaare in den Mund bekam. Und ichdenke,wiefurchtbardaswäre,wenndasunseremKindegeschehen würde. Und dann werden wir ja ein eigenesHausbewohnen,unddagibtessehrvielzutun,sodaßdudich gar nicht langweilenwirst.MeineMama langweiltsichauchgarnicht.«Gertie sah das alles ein, den Mangel an Langeweile

und auch die Gefahr für die Kinder, und ging auf einanderesThemaüber.BobundGertiestandenaberbaldauf,umnundochein

wenig Diabolo zu spielen. Sie verließen die schattigeAllee und begaben sich nach dem großen, freienSpielplatz in der Mitte des Parkes, der mit feinem,weißemSandbestreutundringsumvonBänkenumgebenwar.DatolltedieJugenddesganzenVillenvorortsherum,saßen die Kinderfrauen und Ammen mit ihren Babies,strickten und stickten Mütter, um von Zeit zu Zeit

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aufzublicken und warnend zu rufen: »Erhitz' dich dochnichtso,Elsie!«DawurdenzwischenKnabenSchlachtenausgekämpft, kicherten Backfische mit langen Zöpfen,wennhinterihnenGymnasiastenausdenoberenKlasseneinhergingen und es an anzüglichenBewerbungen nichtfehlenließen;zwischendurchflogendieGummibälleundDiabolos hoch in die blaue, von der SonnedurchflimmerteLuft.Auch Gertie und Bob schleuderten ihre Spulen

himmelaufwärts,undbaldhattesichumsieeinKreisvonbewundernden Zuschauern gebildet. Die KinderwetteifertenanAnmutundGeschicklichkeitmiteinander.FlogGertiesSpulesohochempor,daßsienurmehrwieeinPunktaussah,soschleuderteBobdieseinenochumein gutes Stück höher, um gleich darauf wieder vonseiner kleinen Freundin übertroffen zu werden, Und eswar ein reines, ungemischtes Vergnügen, zu sehen, wiesichdieschlankenKörperderbeidenhobenundsenkten,drehten und beugten, wie ihnen die Locken um die imEiferdesSpieleserglühendenWangenflogenundwiesieneidlos einander lobten und ermunterten. Auch deraußerordentlich gefürchtete einbeinige Parkwächter inseiner verschlissenenVeteranenuniformkonnte sich vondemAnblicknichttrennen,sodaßhinterseinemRückenungezogeneRangeninallerSeelenruhedieBlumenbeeteplündernkonnten.Undalserschmunzelnderklärte:»DasistdashübschestePärchen,dasichseitvierzigJahrenin

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dem Park gesehen habe«, da nickteman ihm von allenSeitenbeistimmendzu.

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III.KapitelBobwirdabberufen

Inzwischen war es zwölf Uhr geworden, und Bobmahnte: »Gertie, jetzt hören wir auf und kühlen unslangsam ab, damit du dich im Schatten nicht erkältest.UmeinUhrmüssenwirjabeidezuHausesein.«Jetzt erst bemerkten sie, daß sie eine große

Zuschauermenge gehabt hatten, und einwenig verlegenbeeilten sie sich, wieder Hand in Handdavonzuschlendern.UnterdenZuschauendenbefandsichaber auch ein großer Mann, dessen Häßlichkeiterschreckend wirkte. Er schien ein Negermischling zusein,seinblatternzerfressenesGesichthatteeineFärbung,bei dermannichtwußte, ob sie gelboder blau sei, unddie eine Augenhöhle war leer und das andere Augeblutunterlaufen, tückischund stechend.Er stand, als dieKinder gingen, dicht vor ihnen, undGertie erschrak so,daß sie unwillkürlich Bobs Hand krampfhaftumklammerte.AuchBob durchfuhr einGrauen, aber erfaßte sich rasch und sagte, während er Gertie eiligfortzog:»Brrr, wie greulich der Mann aussieht! Der Arme!

Sicher ist niemandgut und lieb zu ihm!WelchesGlück

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istesdoch,zuwissen,daßmandenLeutengefällt!«»Gefalle ich dir auch?« fragte Gertie mit dem

schelmischenLächelndeskleinenWeibchens,indemdieKoketteriemitdenerstenGehversuchenerwachtundmitdemletztenZahnenochlangenichterlöscht.»Sehrgefällstdumir,Gertie!Würdestdumirnichtso

gefallen, sohätte ichdichwahrscheinlichgarnicht lieb.Ichweiß,dasistsehrhäßlichvonmirundvielleichtsogareineSünde.Abersobinichnuneinmal,undPapameintimmer,mansollegetrostseineEigenartbewahren.Sicherhab' ich dich auch lieb, weil du gut bist undmich liebhast. Aber hättest du solche Blatternarben wie dieserMann,sowürdeichdichdochnichtsoliebhabenkönnenundliebermitanderenJungensspielenalsmitdir.«Da lachte Gertie hellauf und war sehr glücklich, ein

hübsches, kleines Mädel mit samtweicher Haut undblondenLockenzusein.Die Kinder waren, um sich abzukühlen, langsam auf

undabgegangen,dannsetztensiesichaufeineBankimSchatten und plauderten behaglich weiter. Aber nichtlange,dennplötzlicherschienderalteDienerEduarddesHolgermanschenHauses.»JungerHerr,ichsucheSieschonimganzenPark.Der

Herr Professor Brummel hat telephonisch nach demjungen Herrn gefragt und gebeten, Sie möchten ihn soraschalsmöglichanrufen.«VerdutztsprangBobauf.

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»Was mag er nur wollen? Na, er hat sich ja in derletztenZeit immervonmirdieHeftenachHause tragenund von Hause holen lassen, wahrscheinlich will erwieder so etwas. Aber heute, wo die Ferien begonnenhaben?Komm',Gertiewirgehenjedenfalls.«Gertiekicherte.»Vielleichtwillerdirsagen,daßersichgeirrthatund

dugarkeinVorzugsschülerbist.«Bob lachte.»Quatsch!Soetwasgibtesnicht!Eswar

doch vorher Konferenz und da wurde das allesausgemacht.«Der alte Eduardwar vorausgeeilt.Als dieKinder die

VillaHolgermanerreichthatten,zögerteBobnocheinenAugenblick. »Weißt du, Gertie, warte hier unten aufmich, ich bin gleich wieder bei dir. Wenn du jetztmitkommst,sohältunsMamafest,undwirwollendochnocheinwenigalleinmiteinanderplaudern.«BobsprangwiederdieTreppenhinaufundeilteindas

Zimmer, in dem der Telephonapparat stand. DiesesZimmer ging wohl auf die Straße, aber das Telephonstand auf einem Schreibtisch an der dem FenstergegenüberliegendenSeitesodaßman,wennmansprach,nichthinaussehenkonnte.Bob riefdasAmtanundgabihm die ihm wohlbekannte Nummer des ProfessorBrummel.Esdauerteziemlichlange,bissichjemanddortmeldete.GeradealsendlichProfessorBrummelselbstaufderanderenSeitesein»Hallo,werdort?«rief,hörteBob,

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wieaufderStraßeeinAutomobillangsamvorbeifuhrundgleichdaraufwaresihm,alshörteereinenSchrei.Einenschrillen,ängstlichenSchrei.ImBruchteileinerSekundeging es dem Knaben durch den Kopf, daß Gertie denSchrei ausgestoßen haben könnte. Aber ProfessorBrummelsagteeben:»Na, Holgerman, womit kann ich dir dienen?« Und

Bobdachte vor lauterVerwunderungnichtmehr andenRufvonderStraße.»Herr Professor haben mich doch vorher sprechen

wollenundmir sagen lassen, ichmöchte sieanklingeln.— Wie, dies ist Ihnen gar nicht eingefallen? Nein, soetwas!—Ja,Siehabenrecht,HerrProfessor, sichereindummer Streich von einem Buben. Also verzeihen Sie,daß ichSiegestörthabe.—Nein, jetzt fahrenwirnochnicht aufs Land, erst in vier Wochen. Papa kann nochnicht fortundMamawill ihnnicht allein lassen.— Ichdanke,HerrProfessor,ichwerdeesausrichten.—Zu dumm«, brummte Bob in sich hinein, als er die

Treppe hinabeilte. »Fällt so einem Burschen nichtsanderesein,alsdenaltenBrummelzuärgern.Gertiewirdaberlachen,wennichesihrsage.«FrauHolgermankamihmaufderTreppeentgegen.»Bobbie, willst du nicht lieber schon zu Hause

bleiben?EsistjahalbeinUhr!«»Mama,Gertiewartetuntenaufmich,wennesdiraber

liebist,sorufichsieherein.«

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»Tue das, Bobbie, du weißt doch, ich freue michimmer,wennGertiebeiunsist.VielleichterlaubtihrdieMama,daßsiebeiunszuTischbleibt.«»Hurra,fein!«schrieBob,ichwerdeFrauSehringdie

Erlaubnisschonabbetteln.«Unddraußenwarer.Gertie war aber nicht unten. Bob schaute die Straße

entlang, nach rechts und nach links, von Gertie keineSpur.

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IV.KapitelGertieistnichtzuHause

»Kleine Mädchen sind ungeduldig und wollen nichtwarten,« murmelte Bob in sich hinein. »Wenn ich ersteinmal mit Gertie verheiratet bin, werde ich sie zurGeduld erziehen. Aber vielleicht ist sie auch nurfortgegangen,weil irgend so ein alterNarr stehen bliebundgesagthat:»EinschöneskleinesMädchen!Wieheißtdu, mein liebes Kind? und sie dabei streicheln wollte.DasmagGertie nicht leiden, und es istmir ganz recht,daßsieesnichtleidenmag.VieleErwachsenebildensichein, daß es Kindern angenehm ist, wenn manBemerkungenübersiemachtundsieanfaßt.DasistaberKinderngarnichtangenehm,sondernsehrlästigundichwerdeesbeiunserenKindernnietun!«Unter solchem Selbstgespräch hüpfte er über die

Straße in das Haus, in dem Gertie wohnte, eilte dieTreppehinaufundläutete.GertiesMutter öffnete undwar sehr verwundert, daß

derKleinenachseinerSpielgefährtinfragte.»Kind, ich dachte, ihr seid zusammen in den Park

gegangen?»Jawohl,FrauSehring,wirwarenimPark.Aberdann

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wurde ich nachHause gerufen,weil ein dummer Jungemir einenStreich gespielt hat, indemer so tat, als hätteProfessorBrummelmichangerufen.Undals ichendlichwieder herunterkam, war Gertie, die unten auf michwarten wollte, weg. Nun, sie wird in den Gartenzurückgegangen sein. Frau Sehring, darf Gertie bei unsspeisen?Mamaläßtdarumbitten,undesgibtauchetwasbesonderesGutesheute.«FrauSehringzögertemitderAntwort:»Bobbie,ichwilleuchjanichtdieFreudestören.Aber

Gertie ißt so oft bei euch, und ich kann eureFreundlichkeitnichterwidern;dassollteeigentlichnichtsein.«»FrauSehring,amliebstenwäreesmirundMamaund

Papa,wennGertitäglichbeiunswäre.UnddasmitdemErwidernsollSienichtbekümmern.Wenn ichgroßbin,werdeichoftgenugzuIhnenzumTeekommen.«FrauSehringlächeltewehmütig.»Oh, Bobbie, wenn du groß bist, dann denkst du an

Gertie gar nicht mehr, hast andere Freunde undFreundinnen und wirst dich wundern, daß du einmalsoviel mit einem armen, kleinen Mädchen beisammenseinkonntest.«BobgerietordentlichinHarnisch.»Nein, Frau Sehring,« rief er mit rotem Kopf, »nie

werde ich sie vergessen und nie mich um andereMädchenkümmern,dassageichIhnen!UndwennGertie

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nurwollenwird, sowerdenwirauch immerbeisammenbleiben. Ich weiß wohl, es gibt Jungens, die sich ausMädchen nichts machen, oder jeden Tag mit eineranderen spielen wollen. Aber ich, ich muß immer anGertiedenken,auchwennwirnichtbeisammensind.Undsiedarfbeiunsbleiben,nichtwahr,FrauSehring?«Frau Sehring nickte lachend: »Gut, es sei, aber nun

rasch in den Park, laß' meine Tochter nicht so langewarten. Und sie soll, bevor sie zu euch geht, nochheraufkommen, um sich die Hände und das Gesicht zuwaschen.«

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V.KapitelGertieistverschwunden

BobrannteimParkdieschattigeAlleeentlang,ohnedasMädchen zu finden. Er eilte nach dem Spielplatze, dernun fast ganz verödet dalag. Von Gertie war nichts zusehen. Auf und ab rannte der Knabe, und ein seltsambanges Gefühl, beschlich ihn; er fühlte, wie sein Herzungewohnt stark zu klopfen begann. Zuerst leise, dannhalblaut,schließlichmitganzerLungenkraftschrieerdenNamenGerties,aberniemandmeldetesich.Nunerblickteerdenalten,invalidenParkwächter.»Lieber, guter Herr, haben Sie das kleine Mädchen

gesehen,mitdemichvorhingespielthabe?«DeralteManngabBobeinenNasenstüber.»Bist ja selbst mit ihr fortgelaufen, habe euch noch

nachgeblickt.«»Ja,aberistsienichtalleinwiederzurückgekommen?«Der Wächter verneinte und bot Bob eine Prise aus

einer schwarzenHorndosean,dieaberBobzurückwies.Aufgeregt begann der Jungewieder umherzulaufen undnach Gertie zu schreien. Schließlich blieb er stehen,wischte sich die Schweißtropfen aus der Stirn undüberlegte:

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»Ein dummer Junge bin ich! Natürlich, Gertie istzurück in den Park gegangen und der Wächter hat sieeben nicht gesehen.AlteMännerwerden oft vergeßlichundzerstreut.GertiehateineWeilegewartetundistdannnachHausegegangen,währendichhierhereilte.Aberdahätteichihrdochunterwegsbegegnenmüssen.Nein,siewirdinunserHausgegangensein.Ja,soistes,undnunist Gertie bei uns und gleich wird Papa zum Essenkommen.«Eduard öffnete dem jungen Herrn, der ihn fast

anschrie:»IstGertiehiergewesen?«»Nein.«»Haben Sie immer selbst die Türe geöffnet, wenn es

klingelte?«DerDiener bejahte, und Bob stürmte, ohne etwas zu

sagen,überdieStraßehinüber.FaststürmischzogerbeiFrau Sehring die Türklingel und fragte mit gepreßterStimmedie alteDame, obGertie nun zurückgekommensei.Frau Sehring erblaßte und fuhr sich nervös über die

vorgebundeneSchürze.»Nein, aber was soll denn das bedeuten? Wo kann

Gertienurstecken?«Bob zitterte am ganzen Körper, sah aus weit

aufgerissenenAugenvorsichhinundmurmelte:»Ja,womagGertienursein?«

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Frau Sehring begann zu weinen, sie taumelte undmußtesichandieWandlehnen.Bob, dem ebenfalls das Weinen nahe war, tröstete:

»Nun, Frau Sehring, ein kleines Mädchen ist keineStecknadel,dieverlorengehtundnichtgefundenwerdenkann. Sie wird schon gleich kommen, Frau Sehring,regen Sie sich nur nicht auf, es könnte Ihnen schaden,und Gertie wäre sehr betrübt, wenn sie es wüßte. Ichlaufeebenmalraschzuunshinüber,PapawirdschonzuHauseseinundRatwissen.«InWirklichkeitwaresBobabergarnichtwohlzumute

und bange Ahnungen bedrückten sein kleines Herz garschwer. Herr Holgerman saß schon bei Tisch, und derschlanke, großeMannmit dem ernsten hagerenGesichtrunzelteunwilligdiehohe,starkgewölbteStirne,alsBobverspätet insEßzimmer trat.AuchFrauHolgermanwareinwenigärgerlichundsagtestrenge:»Bob,ichhabedirausdrücklichgesagt,dusollstnicht

zu spät kommen! Und wo ist Gertie, ich habe für siedeckenlassen?«Bob war aber so blaß, daß es seiner Mutter auffiel,

währendsienochdietadelndenWortesprach.»Ihr dürft nicht böse sein,« sagte der Knabe mit ein

wenig zitternder Stimme, »ich wäre sicher pünktlichgewesen, aber es hat sich etwas Unangenehmeszugetragen. Gertie ist spurlos verschwunden.« Und ererzählte, wie Gertie ihn vorhin vor das Haus begleitet

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hatte,umuntenzuwarten,währendertelephonierte,undwieersiedannüberall,hierundbeiihrerMutterundimParkvergeblichgesuchthabe,undwienunFrauSehringganzverzweifeltseiundzuHauseweine.Frau Holgerman sprang entsetzt auf: »Um Himmels

willen,wieistdasnurmöglich?Eswirdihrdochnichtszugestoßensein!DiearmeFrauSehring!Ichwillgleicheinmalzuihrhinüber.«Auch Herrn Holgermans Gesicht war sehr ernst

geworden,abererlegtebeschwichtigendseineHandaufdenArmderGattin.»Beruhigedich,Alma,eswirdnichtsoschlimmsein.

SiewirdsichirgendwoverlaufenundnichtsoraschnachHause gefunden haben. Jedenfalls wollen wir zuerst inRuheeinpaarBissenessenunddannweitersehen.«Der Rat war sicher gut gemeint, aber nicht leicht zu

befolgen. Bob konnte trotz aller Anstrengungen keinenBissen hinunterwürgen, und auch seine Mutter warnervös und ungeduldig und ließ so rasch als möglichwieder abräumen. Herr Holgerman zündete sich eineZigarre an, lehnte sich in den breiten Armstuhl zurückundbegann:»Nun, Kinder, wollen wir ruhig überlegen. Du, Bob

undGertie, ihr seid nach elfUhr in denPark gegangenund dort so lange geblieben, bis du nachHause gingst,um zu telephonieren. Mit wem hattest du übrigens sowichtig zu sprechen, daß du eigens deshalb das Spiel

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unterbrachst?«»Das ist ja das Dumme, Papa,« rief Bob, »ich bin

einfachzumNarrengehaltenworden.IrgendeindummerJunge aus unserer Klasse hat unter dem Namen desProfessor Brummel bei uns angeklingelt, angeblich, ummichzu sprechen.Eduardhatmich imParkaufgesucht,undnunging ichmitGertie sofortnachHause,umdenProfessoranzurufen.Erwußteabervonnichts.«Herr Holgerman legte die Zigarre beiseite und sah

nachdenklichvorsichhin.»DieGeschichtegefälltmirnicht,«murmelteer.»Wer

war am Apparat, als der Professor Brummel angeblichmitdirsprechenwollte?«»Lizzy,«erwiderteFrauHolgerman.»Gut,ichwerdesiespäterfragen.Abernunfahrefort!

Wie lange hast du dich am Telephon aufgehalten,Bobbie?«»Ich bekam sofort die Verbindung, also sicher nicht

mehrwiedreiMinuten.DannsprachichnochmitMama,vielleicht auch drei Minuten lang, und dann ging ichhinunterundGertiewarnichtmehrda.«»Du weißt also nicht, wie lange und ob überhaupt

GertieuntenvordemHauseaufdichgewartethat?«»Nein, Papa, aber—« Bob fuhr erregt in die Höhe,

»jetzterinnere ichmich,daß,während ich telephonierte,untenlangsameinAutovorbeifuhr—sehrlangsamsogar— das fiel mir auf. Und außerdem hörte ich einen

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Aufschrei.Aberichachtetenichtweiterdarauf,weilsichin dem Augenblick Professor Brummel meldete. Undnoch etwas fällt mir ein, Papa! Als ich mit Gertie vondrübennachdemSpielplatzging,schrittenwirzuerstdieAlleenentlang,nebendemGitterundderStraße,unddafuhr draußen ein großes Automobil ganz langsam inderselbenRichtung.«HerrHolgerman,andessenLippennunseineFrauund

Bob ängstlich gespannt hingen, bedeckte dieAugenmitder Hand, wie er es immer zu tun pflegte wenn erangestrengtnachdachte.»Das alles kann etwas zu bedeuten haben, kann aber

auchbloßerUnsinnsein,dermitderSachenichtszutunhat.«PlötzlichschlugHerrHolgermanmitderflachenHand

schweraufdenTisch.»Nun fällt mir aber ein, daß schon vor einiger Zeit,

etwavordreiMonatenunddannnochweiterzurück,kurznach oder vor Neujahr, Kinder, ich glaube, es warenbeide Male kleine Mädchen, aus öffentlichen Gärtenverschwunden sind. Aber wahrscheinlich wurden siewiedergefunden, denn man hat nichts mehr darübergehört.NunwollenwiraberhinüberzuFrauSehring,wowir die kleine Ausreißerin wahrscheinlich munter undlustigantreffenwerden.«Demwarabernichtso.Händeringendundschluchzend

machteihnenFrauSehringdieTüreauf,undalsFamilie

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Holgerman ohne Gertie vor ihr stand, drohte die armeFrau vor Aufregung ohnmächtig zu werden, sie bekameinen hysterischen Weinkrampf und wimmerteunablässig.»Mein Kind, mein Kind, was hat manmeinemKind

getan!«DawaresdennauchmitBobbiesSelbstbeherrschung

aus.Erbegannebenfallsbitterlichzuweinen,tratanFrauSehring, die von demEhepaar zu einemDiwan geleitetwordenwar,heranundsagteschluchzend:»Ich werde Gertie schon finden, Frau Sehring, ganz

sicher,ichwerdesiefinden.«HerrHolgerman,derderartigeSzenennichtvertragen

konnte, überließ Gerties Mutter, die ohnmächtig zuwerden drohte, seiner Frau, nahm Bob bei der Hand,sagte kurz: »Komm'!« und ging mit ihm in seine Villahinüber. Dort ließ er die ganze Dienerschaft, den altenDiener Eduard, Lizzy, das Stubenmädchen, und Kathi,die Köchin, zusammenkommen und stellte eine ArtVerhör mit ihnen an. Die Leute, die schon erfahrenhatten, was geschehen war, standen redelustig undaussagebereitda.

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VI.KapitelNachforschungen

»Lizzy, wer hatte angerufen, als der junge Herr vonProfessorBrummelverlangtwurde?«»Ich glaube, der Herr Professor selbst, wenigstens

nannteerseinenNamen.«»IstIhnenalsonichtsweiteraufgefallen?«»Doch, Herr Holgerman, jetzt fällt mir ein, daß er

zuerstgesagthat:›HierProfessorBrummler!‹Ichwußtenichtgleich,werdasseiundfragte:›Wer,bitte?‹woraufer den Namen wiederholte, aber jetzt, ProfessorBrummel, der Klassenlehrer von Bob Holgerman‹,sagte.«»Ist Ihnen, Lizzy, oder Ihnen, Eduard, oder Ihnen,

Kathi,heuteVormittagaufderStraßeetwasaufgefallen?«Eduard und die korpulente Köchin verneinten, aber

wiederwaresLizzy,dieetwaszusagenhatte:»Bitteschön,kurzeZeit,nachdemHerrBobbieausder

SchulenachHausegekommenundwieder fortgegangenwar, putzte ich die Türklinken amHaustor.Und da sahich an der Straßenecke, wo man in den Park geht, einAutomobilstehen.Na,daswäremirjanichtaufgefallen,weil esgenugAutomobile inderGegendzusehengibt.

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AberdiesesAutomobilwareinganzgeschlossenes,unddadachte ich: ›Na,wenn icheine reicheFrauwäre,dieein Auto hat, dann würde ich an einem solch schönenSommertagnichtimgeschlossenenWagenfahren!‹«»Auch Bobbie hat ein geschlossenes Auto gesehen,«

meinteHerrHolgerman nachdenklich »Undwissen Sie,wiedasAutoaussah,welcheFarbeeshatte?«Lizzynickte.»Großwares,dasistsicher,abereskann

ebensogutdunkelblauwieschwarzgewesensein.GenaukannichdasvorGerichtnichtbeschwören.«DamitwardasVerhörbeendigt.Bobhatteaufmerksam

zugehört und kein Wort verloren. »Ganz wie in denDetektivromanen, die mir Fred geborgt hat,« dachte erund blickte voll Bewunderung auf seinen Vater. Dieserging aber, sorgenvoll den Kopf schüttelnd, mit seinemJungenwiederhinüberzudenFrauen.Frau Sehring lag weinend auf dem Ruhebett, Frau

Holgerman saß neben ihr, ebenfalls verzagt und nurmühsam künstlich und gegen die innere ÜberzeugungzurechtgelegteTrostwortespendend.Ernst begann Herr Holgerman: »Frau Sehring, Sie

sollten sich nicht so Ihrem Schmerz hingeben! Sie undwir alle brauchen jetzt unsere Nerven, denn es verstehtsichwohlganzvonselbst,daßichundmeineFrau,auchBob, Ihnen zur Seite stehen werden, was immer auchgeschehenseinmag.«Bei dem Wort »geschehen« fuhr die weinende Frau

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zusammen.»Nun, nun, Sie brauchen nicht das Schlimmste zu

denken. Ich glaube nicht, daß Gertie ein ernstlicherUnfallwiderfahren ist.Vielleichthat sie sichBekanntenangeschlossen, die sie zu Tisch geladen haben. Das istsogarsehrwahrscheinlich; ichstellemirdassovor,daßGertie von dem betreffenden Hause uns anrufen wollteundkeineVerbindungbekam.«Wehmütig' schüttelte Frau Sehring den Kopf. »Es ist

sehr lieb von Ihnen, daß Sie mir Trost zusprechen undsichsobemühen!AberglaubenSiemir,Gertie istnichtfreiwilligverschwunden!IchkennemeinKind;ichweiß,wiebesorgtundgutsie immerzumir ist, siewürdemitniemandem mitgegangen sein, ohne mich vorher zufragen.«Bob konnte nicht umhin, beipflichtend zu nicken.

Seine Gertie, die nur an ihrerMutter und an ihm hing,sollte einfach fortgegangen sein, ohne ihn, auf den siedoch hatte warten wollen, zu verständigen?Ausgeschlossen!PlötzlichkamihmabereinEinfall.»Vielleicht istGertie doch imPark!Vielleicht ist sie,

weilsienichtwartenwollte,dorthingegangen;eswurdeihr übel, und sie versteckte sich, um sich zu erholen,hinter einem Gebüsch, ist dort ohnmächtig gewordenodereingeschlafen.IchlaufeindenParkundsuchesie.«Herr Holgerman war einverstanden. »Tue das, mein

Junge, nimm den Parkwächter zur Hilfe, gib ihm Geld

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und versprich ihm noch mehr, wenn Gertie gefundenwird. Und dann verständigst du mich jedenfalls in derFabrik telephonisch. Ist sie nicht gefunden worden undnicht von selbst zurückgekommen, so werde ich denPolizeipräsidenten, den ich seit Jahren gut kenne,aufsuchen und bitten, die Nachforschungen mit allerEnergiezubetreiben.«HerrHolgermanfuhrnachderFabrik,FrauHolgerman

blieb bei der verzweifelten Mutter und Bob stürmte indenPark.Zuerst suchte er planmäßig alle hinter den Wegen

gelegenenGebüscheundWiesenab—einmalundnocheinmal. Vergebens! Nun begab er sich nach demSpielplatz,derwiedervon jungemVolkbelebtwar,undfragte ein paar kleine Mädchen, SchulkameradinnenGerties, ob sieGertieSehringgesehenhätten.NatürlichwardiesnichtderFallgewesen.AlsoloszumInvaliden!»LieberHerr,kommenSieeinwenigabseits,ichhabe

mitIhnenWichtigeszusprechen.«»MitmirhatderkleineKnirpsWichtigeszusprechen,

ha, ha, ha!« gröhlte der alte Mann, blickte aber dabeinicht ohneWohlwollen auf den Jungen hinab, der ihmheute bleicher vorkam als je zuvor.Und dann stelzte ermitdemKnabenabseitsnacheinemstillenSeitenweg.»Nun leg'mal los!Ball in einBlumenbeet geworfen,

was?«»Ach,wennesdasnurwäre,lieberHerrWächter,dann

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würdeichSiegarnichtbemühen.Nein,esistetwassehrArges.Nichtwahr,SiekennendasblondeMädchen,mitdem ich jeden Tag fast und auch heute hier gespielthabe?«»Werd' ich wohl,« schmunzelte der Mann in der

fadenscheinigenUniform. »Ist doch das schönste kleineDing,daseshierimParkzusehengibt!«»Nun,dasistmeineFreundin,GertieSehring,undsie

istspurlosverschwunden.«Und in fliegender Hast, während ihm dicke Tränen

über die Backen liefen, erzählte Bob,was sich ereignethatte.Der Invalide starrte dösig drein. »Verdammt, das ist

einesaudummeGeschichte!DasblondeDingschautmirnichtwie eineDurchbrennerin aus, ist ja sanft und liebwie ein Täubchen! Himmel und Teufel, wenn jemanddem Kind etwas Böses getan hat, so will ich ihm mitmeinemStelzbeindieGedärmeeintreten!«Bob drückte ihm nun einen größeren Schein in die

Hand. »Das gleich für Ihre Mühe, und doppelt soviel,wennwirGertie finden.Vielleicht liegtsie irgendwo imGras. Ich habe ja schon allein gesucht, abermöglicherweisenichtgründlichgenug,unddannbinichauch,müssenSiewissen,vorKummerundAufregungeneinwenigverwirrt.«»So! Kummer und Aufregung? Verdammt, kann ich

mir denken! Hätte auch ohne Geld gesucht, aber

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zurückgeben kann ich es nicht. Wär' eine Gemeinheitgegen meine Alte, die Geld brauchen kann wie eineSpinnedieFliegen.«Und sie suchten. Suchten dieWiesen ab, stiegen ins

Gras, hinter jede Hecke, öffneten die Türe zu demgeheimnisvollen grauen Bretterhäuschen, in dem dieGärtner ihre Geräte verwahren. Nichts, keine Spur vondemkleinenMädchenmitdengroßen,blauenAugenunddenblondenLocken.NocheinVersuch.ImParkgabeseinenTeich,indem

schöne Goldfische und ein einsamer, angeblich uralterSchwan ihr Leben fristeten. Vielleicht, daß in diesemTeiche——abernein,geradeheutewardasWasserhellund durchsichtig, so daßman bis auf den Grund sehenkonnte.Nein,GertiewarnichtindenTeichgefallen.

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VII.KapitelBobhateineböseNacht

EswarinzwischenfastfünfUhrgewordenundBobgabesauf.ErgingwiederzuFrauSehring,beiderer seineMutternochantraf.AlssieandembleichenGesichtedesKnaben sahen, daß er ohne Ergebnis zurückkam,begannen beide zu weinen, und Frau Sehring bekamwiedereineHerzschwäche.BobkonntedenJammernichtertragen.Erzitterteam

ganzenKörperundrief:»Ich bin nur ein kleiner Junge, aber ich will nicht

ruhen, bevor ich Gertie gefunden habe! Und ich weiß,daßderliebeGottihrkeinLeidzufügenläßt!«DieseWorte hatten eine guteWirkung. Frau Sehring

sankindieKnieundbegannstillundandächtigzubeten.Frau Holgerman aber ging leise, ihren Jungen an derHand, fort in die Villa hinüber, um ihren Gatten zuverständigen.Der Polizeipräsident hörte mit gefurchter Stirne den

Bericht des ihm wohlbekannten und von ihmhochgeachtetenFabriksbesitzers an,während er sichhieund da eine Notiz machte. Wortlos drückte er einenTaster,woraufeinPolizistinZivileintrat.

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»BittenSieHerrnCrispin,sofortzumirzukommen!«Und erläuternd zu Herrn Holgerman: »Herr Crispin isteiner unserer tüchtigsten Beamten von derKriminalpolizei und Spezialist auf dem Gebiete derNachforschungnachverschwundenenPersonen.«Inspektor Crispin, ein untersetzter, breitschulteriger,

glattrasierterManninmittlerenJahren,trateinundhörteschweigend den Bericht seines Chefs an, der mit denWortenschloß:»Herr Inspektor, ich übergebe Ihnen hiermit den Fall

Gertie Sehring und bitte Sie, ihn als wichtigsteAngelegenheit zu betrachten und nichts, aber auch garnichtszuversäumen,wasdieAuffindungdesKindes,totoder lebendig, ermöglichen kann. Es ist dies, wenn ichnichtirre,derdritteFallseitkurzerZeit;diePressewirdLärm schlagen, und die Sache muß auf jeden Fallaufgeklärt werden. Können Sie mir über dievorhergegangenenFälle, indenenKinderverschwundensind,gleichBerichterstatten?«»Jawohl, Herr Präsident, ich habe sie genau im

Gedächtnis.ZweiTagevorNeujahr verschwand spurlosdieneunjährigeRuthClemens,TochtereinesLehrers.Siewar zuletzt in derGartenanlage imNordviertel gesehenworden. Ein auffallend hübsches Mädchen, brav,folgsam,keinKonfliktinderSchuleoderimElternhaus.Alle Nachforschungen sind ergebnislos geblieben. Dernächste,fastganzgleicheFallereignetesicham25.März

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im Westendpark. Von dort verschwand die elfjährigeMarie Peters, die Tochter eines kleinen Kaufmannes.Auch hier lag nicht der geringste Grund zu einemfreiwilligen Verschwinden vor. Auch sie war ein sehrhübschesMädchen.«»WiewarihreHaarfarbe?«»Ebenfallsblond.«DerPolizeipräsidentsahdüstervorsichhin.»Kein Zweifel! Eine Bestie in Menschengestalt, ein

Unhold,deresaufhübsche,blondeMädchenabgesehenhat. Dem Schurken muß das Handwerk gelegt werden.HerrCrispin,dieSache ist ernst, sehrernst,wirmüssendasÄußerstetun!«InspektorCrispinnickteundwolltesichzurückziehen,

aberHerrHolgermanhieltihnzurück.»MeineHerren,ichbitteSie,keineKostenzuscheuen,

und ersuche Sie, eine hohe Belohnung öffentlichauszuschreiben,diederjenigebekommt,derdasKindsooder so—HerrHolgerman scheute sich, dieWorte totoder lebendig nachzusprechen— zur Stelle schafft. Ichbitte auch, durch Zusicherung von Prämien IhreUnterbeamten anzuspornen, und erkläre, für sämtlicheKosten aufzukommen. Und nun hätte ich noch eineFrage, die ich, ohne in die erprobte Tüchtigkeit unsererPolizei die geringsten Zweifel zu setzen, doch stellenmöchte. Wie wäre es, wenn wir einen erfahrenen,findigen Privatdetektiv zur Mithilfe heranzögen? Man

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hört doch oft, daß solche Leute Außerordentlichesleisten.«WährendHerr Crispin nur leicht lächelte, lachte sein

Cheflautauf.»Verzeihen Sie, Herr Holgerman, aber es scheint, als

wennauchSiehieunddaeinenKriminalromangelesenhätten! Ja, dann begreife ich Ihre Anregung. Also, ichkann Ihnennur sagen,daßallesdas,wasunsereHerrenSchriftsteller über sogenannte Privatdetektivs berichten,die, um Geld zu verdienen oder zum Vergnügen,Verbrechern nachjagen und geheimnisvolle Fälleaufdecken,derreinsteSchwindelist.NochniehatsoeinDetektiv irgendetwasaufgedeckt,underkannauchgarnichts aufdecken, weil ihm der Apparat der Behördennicht zur Verfügung steht und er die großzügigenHilfsmittel der Polizei nicht besitzt. Was Sie da vonFußspurenundvergessenenKragenknöpfen,kunstvollenVerkleidungen und so weiter in den Büchern gelesenhaben, ist phantastischerHumbug, sonst nichts. Jawohl,es gibt genug tüchtige Privatdetektivs, die ganz Gutesleisten,wennesgilt,einemlockerenEhemannodereinerverdächtigenGattinnachzuschleichenodersichnachdemVorleben eines Buchhalters oder Bräutigams zuerkundigen. Kurz, überall dort, wo es sich um privateAngelegenheiten handelt, um die sich die Polizei nichtkümmert und nicht kümmern darf, kann einPrivatdetektivErsprießlichesleisten.AberinFällen,wie

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diesem hier, würde er nur eine komische Figur spielen,weil ihm die Schar der Hilfskräfte, die Kenntnis derAkten, der Einblick in das Verbrecheralbum, dieVerbindungmitdenauswärtigenBehördenundvorallemdasRechtzuirgendeinerAmtshandlungfehlen.«Herr Holgerman gab sich zufrieden und fuhr nach

Hause, in der geheimen Hoffnung, daß sich dasEinschreiten der Polizei doch noch als überflüssigerweisen würde. Aber zu Hause fand er nurniedergeschlagene Menschen, die miteinander imFlüstertone wie in einem Totenhause sprachen.Unerquicklich gestaltete sich auch das Abendessen, beidemsonstHerrHolgerman, allerGeschäftssorgen ledig,gutgelauntzuseinpflegte.Diesmalflogkaumhieunddaein abgerissenes Wort über den reichbedeckten Tisch.Bob hatte zum erstenmal in seinem jungen LebenKopfschmerzen. Mühsam würgte er ein paar Bissenhinab, alles quälte ihn; der sorgenvolleBlick, den seineMutter von Zeit zu Zeit auf ihn warf, diebeschwichtigendenÄußerungen,diederVaterersichtlichgegen seine Überzeugung tat, alles empfand der KnabealsAnreiz,lauthinauszuweinen,undjekrampfhafterersichbemühte,dieTränenzurückzudrängen,umsostärkerwurde der Schmerz in denSchläfen.Wie eineErlösungempfand er es, als seineMutter unmittelbar nach Tischihnansichzogundihmliebkosendsagte:»Bobbie,dubistganzblaßvorMüdigkeitundSorge;

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ambesten,dugehstgleichschlafen.Werweiß,vielleichtistmorgenalleswiedergut.«Bob ging in sein im zweiten Stockwerk gelegenes,

freundliches,ganzweißesZimmer,blieb,dasEndeeinesSchnürschuhbandes in derHand, gedankenvoll auf demBettrandesitzenundsprachinsichhinein:»IchhabejetztamgedecktenTischgesessenundhätte

essenkönnen,wasichwollte.UndnunbinichinmeinemZimmer und werde mich in ein weiches, weißes Bettlegen, um morgen früh zu einem guten Frühstückaufzustehen.Gertieistaberirgendwototoderkrank,oderböseMenschen tun ihr etwas, schlagenundmißhandelnsie.Vielleichtliegtsiejetzt ineinemGefängnisaufdemhartenSteinboden,hatnurWasserundschimmligesBrot—undMäuse,vordenensichGertie immersofürchtet,huschen ihr über die Beine. Und vielleicht weint undschreitsienachihrerMamaundnachmir.Sichertutsiedas, denn Gertie ist ja eigentlich meine Braut, weil siedochweiß,daßichsie,wennicherstgroßbin,unbedingtheiraten werde, und weil sie mich so lieb hat, wie ichsie.«EinerplötzlichenEingebungfolgend,sprangBobauf.

Er ging an das offene Fenster und sah in den Abendhinaus. Es war schon ganz dunkel draußen, aber derHimmel stand voller Sterne, es war herrlich warm undvom Park her dufteten die Tuberosen und Hyazinthen.UndBobtatnunetwas,waserunteranderenUmständen

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alsbraver,kleinerJungeniegetanhätte.SchlichleisedieTreppehinab,nahmausdemGarderoberaumunteninderHalle den Hausschlüssel und verließ ungesehen undverstohlen die Villa. Leer, durch wenige Laternenschlechterhellt, lagderParkvorihm.AberBobrichtetesich stramm auf, um kein Angstgefühl aufkommen zulassen,undginghinein.Niemandwarzusehen.Nuraufden Bänken saßen fast immer zwei Leute, Mann undFrau,diesichumschlungenhielten,undBobdachte:»Sicher sind das arme Ehepaare, die häßliche kleine

Wohnungenhabenundsichnunhiererholen.EsistsehrnettvondenLeuten,daßsiesichgernehaben.Wennichgroßbin,willichmitGertieauchsositzen,abernichtimPark, wo fremde Leute einen sehen, sondern zu HauseaufdemSofa.«Auf und ab wandelte Bob durch alle die vielen

sichkreuzenden Wege und Alleen; über den SpielplatzgingerundpfiffvonZeitzuZeitdiedreiTönevorsichhin,diefürGertiedasSignalzuseinpflegten,mitdemersieandasFensterlockte.Nichts, kein Echo, keine Antwort, keine Gertie! Bob

begann das Unsinnige dieses nächtlichen Ausflugeseinzusehen, ging wieder heim und gelangte abermalsunbemerkt in sein Zimmer, wo er sich nun raschentkleideteundtodmüdeinsBettschlüpfte.Eine schrecklicheNacht kam für denkleinen Jungen,

soentsetzlichundschmerzvoll,wieerniegedachthatte,

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daß eine Nacht sein könnte. Wüste Träume verfolgtenseinenerstenSchlummer.ErsahGertievorsich,wiesieblutüberströmt vor ihm herlief. Er hinter ihr her, einMesserschwingend.Endlicherreichteersie,stießihrdasMesserindenRücken,woraufGertieihngroßansahundlispelte:»Bobbie,daßduesbist,dermirsowehtut!«Daschrie Bob in Verzweiflung gellend auf, so daß er vondiesemSchreierwachte.UndesdauerteSekunden,bevores ihm klar war, daß dies nur ein Traum gewesen.SchweißgebadetlagerinseinemBettunderinnertesich,daßerseinNachtgebetzusprechenvergessenhatte.BobkrochausdemBette,kniete,wasersonstnie tat,niederund rief schluchzend seinenHerrgott an, ermöge nichtdulden, daß Gertie ein Leid geschehe. »Lieber Gott,«sagte er, »allen Menschen will ich nunmehr Freudemachen,bescheidenundgutwill ich sein,nie jemandenkränken und ärgern, wenn du machst, daß Gertiewiederkommt.«Plötzlich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er auch

gegenGertienichtimmerganznettgewesensei.Einmalhatte er sie angeschrien, weil sie an seinemFlaubertgewehretwasinUnordnunggebrachthatte,sehroft hatte er sie verspottet, wenn sie von derGleichberechtigung der Frauen sprach und glühendbehauptete,daßMädchenebensoklugseienwieJungens.Und dann vor wenigen Tagen erst hatte er Gertie seineMineraliensammlung gezeigt, in der sich ein schöner,

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großer Opal befand. Gertie hatte diesen lange in ihrenHänden gehalten und dann seufzend gesagt: »Der istschön,daließesicheinfeinerAnhängerdarausmachen.«WohlhatteesinihmgezucktunderwollteihrdenSteinschenken,aberderkleineTeufel,diesmalderGeizteufel,der, wie der Herr Pfarrer immer zu sagen pflegte, injedemMenschen irgendwoseinSpiel treibe,verhinderteihn und ruhig hatte er den Opal wieder in den Kastengetan.»OGertie,«schluchztenunBob,»wieleidmirdastut!

DieganzenTageüberhatesmirschonleidgetan,daßichso häßlich und geizig war! Gertie, komm' nur zurück,dann bekommst du alles, was ich habe, und auch denHundkaufeichnichtfürmich,sondernfürdich!«Bobkonntedannstundenlangnichteinschlafen.Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um die

Ereignisse des heutigen Tages, der so schön begonnenundsograuenhaftgeendethatte.Erbemühte sich, ruhigundfolgerichtigalleszuüberdenken,undkamzudieserErwägung: Ein Unfall konnte Gertie nicht widerfahrensein, weil das Menschen gesehen und gemeldet hätten.DasVerschwindenGertiesmußtesich ja innerhalbeinerStreckevonkaummehralseinerviertelMeileabgespielthaben.AlsowarGertieeinfachgeraubtworden.AberwerraubtkleineMädchen?HierstießenBobsGedankenaneineunüberbrückbare

Mauer.SeinunschuldvollesGemütahntenichtsvonden

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verbrecherischen Instinkten verderbter Menschen, vonden bestialischen Trieben kranker Wüstlinge. Aber erhatte Geschichten von Zigeunern gelesen, die Kinderentführen, um sie für ihre Wandertruppen abzurichten.BobsKlugheit sträubte sich gegen solcheVermutungen.GertiewarschließlichkeinBabymehr,dassichwillenloswegschleppen ließ. Und dann hätte man ja solcheZigeunerindieserstillen,ruhigenGegendauchbemerkenmüssen.Dannerinnerteersichdaran,daßvorkurzerZeitdie Zeitungen berichtet hatten, wie die Tochter einesamerikanischen Bankiers von Männern geraubt wordenwar,diefürihreFreigabeeinriesigesLösegelderpreßten.Bob mußte lachen. Solche Leute würden vorher wohlgenau die Vermögensverhältnisse der Eltern erforschenund nicht das Kind einer armen Offizierswitwe rauben,dieeinLösegeldgarnichtzahlenkonnte.Nein,wärenesErpresser, Mitglieder einer Verbrecherbande gewesen,dannhättensiewohlihn,deneinzigenSohndesreichenFabriksbesitzers, geraubt, aber nicht die arme, kleineGertie.Der Morgen dämmerte heran und die ersten

Sonnenstrahlen fielen schräge auf die dunklen LockenBobs,alserendlicheingeschlafenwar.DiesmalverfolgteihnaberimTraumdasholdeBildGerties,nebendereinfurchtbarhäßlicherKerlmitPockennarbenimgrinsendenGesichtauftauchte.

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VIII.KapitelDerFallGertieSehring

Sämtliche Morgenblätter beschäftigten sich schon mitdem Fall Gertie Sehring. Die meisten begnügten sichallerdingsmitderpolizeilichenDarstellung,diekurzundbündig das Verschwinden des kleines Mädchens sowieeinegenauePersonsbeschreibungenthieltundjedem,derzur Aufklärung der Sache beitragen würde, eine hoheBelohnungzusicherte.Nurdie»Morgenpost«machtedasVerschwinden Gertie Sehrings zu einerSensationsangelegenheit. In einem sehr lebhaftgeschriebenenArtikelwiessieaufdievorhergegangenenzweifastgleichenFällehinundschrieb:»Es ist also ganz klar, daß in unserer Mitte ein

menschliches Ungeheuer sein Unwesen treibt, dassystematisch darauf ausgeht, Kinder zu rauben. Da essich aber immer wieder um auffällig hübsche Kinderweiblichen Geschlechtes handelt, so dürfte der Zwecksolchen Menschenraubes klar sein. Um so furchtbarermuß jederMutter indieserStadt derGedanke sein, daßauchihrKindeinähnlichesSchicksalfindenkönnte.DerFall der kleinen Sehring ist geeignet, die größteBeunruhigungunterdenMütternwieunterdenKindern

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hervorzurufen. Nur unsere verehrliche Polizei scheintsich nicht zu beunruhigen. Sie hat die Räuber der seitMonaten verschwundenen Mädchen nicht entdeckt, siewirdauchdasScheusalnicht finden,dasGertieSehringverschleppthat.Wir lenkenhiermitdieAufmerksamkeitdesMinistersdesInnernaufdieersichtlicheUnfähigkeitunserer Sicherheitspolizei, Verbrechen zu verhüten undVerbrecherzuentdecken.«Ein zweiterArtikel behandelte den Fall Sehring vom

Standpunkte des kriminalistischen Fachmannes. Allemöglichen Fälle gleicher Art, die sich hier undanderwärts zugetragen hatten, wurden darin aufgezähltund allemöglichenMotive zumMenschenraub erörtert.DerVerfasserkamzumgleichenSchlussewieBob.»Hier kann es sich nicht um die Tat einer

Erpresserbande handeln, da aus Frau Sehring, einer indürftigen Verhältnissen lebenden Witwe, nichtsherauszuholenist.Nein,allerkriminalistischenErfahrungnachistdasunglücklicheKinddasOpfereinesMenschengeworden,demderBesitzdesMädchensgewissermaßenSelbstzweck und nicht Mittel zum Zweck ist. DerSpielgefährte Gertie Sehrings, der dreizehnjährigeGymnasiast Bob Holgerman, Sohn des bekanntenFabriksbesitzers Holgerman, erzählt, wie die Polizeimitteilt, von einem geschlossenen Automobil, das ergesehenundgehörthatunddasermitgesundemInstinktinZusammenhangmitdemVerschwindenseinerkleinen

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Freundinbringt.ImmerhineinFingerzeigfürdiePolizei.Allerdings muß noch eine Möglichkeit in Betrachtgezogen werden, Immer wieder kommt es vor, daßMenschenineinenplötzlichenTraumzustandgeraten,dersichineinenWandertriebumsetztundsieveranlaßt,ohneZiel und Zweck ihr Heim zu verlassen und insUnbekannte zu pilgern. Gewöhnlich ist ein solcherZustand,derjedemPathologenwohlbekanntist,mitdemzeitweisen oder dauernden Verlust des Gedächtnissesverbunden, so daß die Erkrankten ihren Namen, ihreAdresse, ihre ganze Vergangenheit nicht mehr kennen.DaßsolcheUnglücklichewochen-,monate-,jajahrelangnichtzufindensind,istbegreiflich.SollteessichsoauchmitGertieSehringverhalten?DieseMöglichkeitistauchinsAugezufassen,undeswirdSachederPolizeisein,zuergründen, ob das Mädchen an Nervenstörungen schongelittenhatoder sich in ihrerFamilieKrankedieserArtbefunden haben. Gegen die Annahme, daß sich GertieSehringineinemgewissermaßensomnambulenZustandeentfernt hat, spricht indessen die Tatsache, daß solcheFälle bisher niemals unter Kindern, sondernausschließlich unter Erwachsenen beobachtet wurden.Und auch das Verschwinden der neunjährigen RuthClemensundder elfjährigenMariePeters beweisen fastzurGewißheit,daßessichhiernurumeingrauenhaftesVerbrechen handelt, um die Tat einer Bestie inMenschengestalt.«

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Bob Holgerman las zu Hause beim Frühstück die»Morgenpost«, und eine ihm selbst unerklärliche Ruhekam nach den Erschütterungen der vergangenen Nachtüber ihn. Es gibt Physiologen, die behaupten, daß derMenschnicht langsamundallmählichwachseundreife,sondern ruckartig, abschnittsweise. Wenn diese Theoriezutrifft, so machte an diesemMorgen nach dem Lesender »Morgenpost« das innerlicheWachstumBobs einengewaltigenSprungnachvorwärts.ErsaheinenWegundeinZielvorsichundwußtenunganzgenau,daßGertienur von einem gerettet werden konnte, der sein ganzesDaseindieserAufgabewidmenwürde,undnurerdiesereine sein könnte. Und als nun ein Abgesandter desDetektivinspektors Crispin, der KriminalbeamteLorensen, sich anmeldete, um neue Verhöre undNachforschungen zu veranstalten, da sah der imDienstergrauteMannsicheinemkleinenKnabengegenüber,dermitverblüffenderSicherheitalleFragenbeantworteteundseinerseits mit der logischen Verstandesschärfe einesMannes Fragen stellte. Und der Beamte lachte weder,nochwunderteersich,alsihmBobzumSchlussesagte:»Herr Lorensen, ich bin überzeugt davon, daß die

Polizeiallestunwird,wasihrmöglichist.Aberauchichwerdedastun,wasmirmöglicherscheint.«Bob begab sich, als der Detektiv gegangen war, zu

FrauSehring hinüber, bei der er seineMutter traf. FrauSehringwarkrank,sehrkrank,siehattedieganzeNacht

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anHerzkrämpfengelitten,undFrauHolgermanließkurzentschlossen eine Pflegerin kommen, die bei derverzweifelten Mutter zu wachen und alle häuslichenArbeitenzubesorgenhatte.Der Knabe war von dem Anblick der bleichen Frau,

derenblutleereLippennervös zuckten, tief ergriffen.Erweinte aber nichtmit ihr, wie er es noch gestern getanhatte, sondern seine eiserne Ruhe verließ ihn nicht; erhieltsichauchnichtlangeandemKrankenbetteauf,gingvielmehrbaldwieder.ImParkherrschteunterdenKindern,diejaalleGertie

wenigstens von Angesicht kannten, die größteAufregung, ebensounter denbegleitendenMütternoderErzieherinnen und Bob wurde umringt und weidlichausgefragt. Aber er entzog sich rasch allenKundgebungen und suchte den Invaliden auf, der ihmvoll ehrlichen Mitgefühles die schwielige Handentgegenstreckte und ihn mit »junger Herr« ansprach.Bob ging neben dem Alten schweigend einher, bis siedem Kinderschwarm entronnen waren, dann sagte erernst:»Herr Wächter, ich werde nun selbst nach Gertie

suchen.UndichbitteSie,helfenSiemirdabei.«»Gottsollmichstrafen,jungerHerr,wennichesnicht

gerne tun will; nur sagen Sie mir, was ich alter Manndabeimachenkann?«»Nun,dasistgarnichtsowenig.Bitte,beobachtenSie

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scharf alle hübschen, kleinenMädchen,mehr aber nochdieLeute,diedieseMädchenbeobachten.SehenSie,derMann, der Gertie geraubt hat, muß sich doch vorhergenaunachallemerkundigthaben.Sonsthätteerdasmitdem Anruf des Professor Brummel nicht ausführenkönnen. Also hat er Gertie sicher schon oft vorhergesehen und sie scharf beobachtet.Vielleicht, daß er esnoch auf andere Mädchen abgesehen hat. Es muß unsalso jeder verdächtig erscheinen, der kleine, hübscheMädchenmustertundbeobachtet.«»Junger Herr, das klingt sehr einleuchtend, und der

Polizeimann, der in derGegenddieRundemacht, hättees nicht besser sagen können.Wehe also demKerl, dermeineMädchen hier im Park mit Blicken oderWortenbelästigt.MitdemKrückstockhau'ichihm,ohnevielzureden,einsüberdenSchädel,daßerglaubt,eineGranatehätteihngetroffen.«»Nein, lieberHerrWächter, das dürfenSie nicht tun,

dennvielleichttreffenSieeinenUnschuldigen,oderaber,wenn es der Schuldige ist, verderben Sie damit alles.Nachgehen müssen Sie ihm, oder, da Sie das nichtkönnen, ihm einen fixen Jungen nachschicken, demSieGeld dafür versprechen. Das zahlt dann schon meinVater.«Bei dieserVerabredung blieb es vorläufig, denn eben

wurdeBobvomDienerEduardgeholt.EinReportervonder »Morgenpost« war gekommen, der unbedingt den

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Spielgefährten Gerties sprechen wollte. Und so wurdedennBobdieEhrezuteil, in allerForm»interviewt«zuwerden, und zwar so gründlich und liebevoll, daß ihnjeder Tenorist darum beneidet hätte. Und schon dieAbendausgabe des Blattes veröffentlichte dieUnterredung mit Klein-Bobbie, wie er genannt wurde.Dadurch erst erfuhr die Öffentlichkeit auch dieGeschichte von dem fingierten Telephonanruf desProfessorBrummel,diediePolizeinichtbekanntgegebenhatte.UndnunwardasInteressederganzenStadtfürdieAngelegenheit erweckt und trotz des heftigenWiderspruches Herrn Holgermans wurde Bob sogar fürein illustriertes Wochenblatt photographiert, um nebenGertie, derenBild Frau Sehring hatte hergebenmüssen,abgebildetzuwerden.Frau Holgerman hatte nach Tisch eine ernste

UnterredungmitihremGatten.»Bob ist außer Rand und Band,« sagte sie. »Das

Verschwinden des armen Mädchens ist nicht nur einunsagbares Unglück an sich, es kann auch für unserenJungen noch zum Unglück werden. Stelle dir nur vor,Bob hat seiner Sparbüchse, in die er seit fünf Jahrensammelt,dasGeldentnommenundmirkurzundbündigmitgeteilt, daß er von heute ab selbständigNachforschungennachGertieanstellenwerde.IchwollteihmdiesenUnsinn ausreden, aberder Jungemachte einso starres, verzweifeltes Gesicht, daß ich ordentlich

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erschrak.ZumerstenMalehatersicheinfachgegenmichaufgelehnt und mir mit geballten Fäusten, am ganzenKörperzitternd,gesagt:›Mama,wennihrmichnichttunlaßt, was ich tun muß, dann macht ihr mich sounglücklich, daß ich gar nicht mehr leben mag.‹ Nun,daraufhinmußte ichnatürlichnachgebenund ihm sogarversprechen, auf dich einzuwirken, damit du ihmnichtsindenWeglegst.«Herr Holgerman gingmit langen Schritten erregt auf

und ab. »Wasdumir da sagst, erschrecktmich, obwohlich dem Jungen nachempfinden kann. Diese ZuneigungzuGertiesteckttiefinihm,erleidetmehralswirahnen,und tatsächlich bleibt mir, wenn ich nicht Unheilhervorrufenwill,nichtsübrig,alsihngewährenzulassen,solangeesebengeht.IchverlassemichaufseineJugend.Ein paar Tag wird er voll Feuereifer irgendwelcheeingebildeteSpurenverfolgen,dannerlahmenund,wennwir im August an die See fahren, nach und nachvergessen.«FrauHolgerman schüttelte denKopf und ihreAugen

wurdenfeucht.»Ichglaubenicht,daßdiessoeinfachseinwird. Ich fürchte sehr, daßesmitder fröhlichen JugendfürBobbie vorbei ist!Aber umHimmelswillen, denkstdu denn ernstlich daran, daß Gertie nicht aufgefundenwerden könnte? Das wäre furchtbar und würdeunmittelbardenTodihrerMutterzurFolgehaben!«Der Fabrikant zog die Schultern hoch. »Wenn man

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ruhigüberdenFallnachdenkt, sokannmankaumnochHoffnung haben. Das Mädchen ist jetzt seitvierundzwanzig odermehr Stunden in derGewalt einesMenschen. Entweder sie weilt nicht mehr unter denLebenden oder — aber das ist nicht auszudenken!Vielleichtistesbesser,wennsietotist,alswennsienochlebt!Denndas istdochklar,zumZeitvertriebwurdesienicht geraubt. Schreckliches muß dem armen Kindewiderfahrensein!«FrauHolgermanbegannstillzuweinen.»Liebster,das

istallessograuenhaft!WollteGott,duhättestnichtrecht,und Bob würde erreichen, was der Polizei nicht zugelingenscheint.«

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IX.KapitelBobmachtsichselbständig

Bob hatte unterdessen ein Autobus bestiegen und warnach einem imMittelpunkt der Stadt gelegenen Gartengefahren. Er hatte überlegt und sich gesagt: »Der alteWächter in unserem Park wird nun aufpassen und daskannnicht schaden.VielZweckmagesaberauchnichthaben.Denn es ist nicht anzunehmen, daß der Schurke,der Gertie gestohlen hat, wieder in diesen Park gehenwird.Nein,wennerandereKinderraubenwill,sowirdersich anderwärts umsehen.Alsomuß ich alleGärten derStadtabsuchen.«Im Stadtpark angelangt, schritt nun Bob bedächtig

einher,sahjedemMenscheninsGesichtundhorchtehier-und dorthin. Auf dem Spielplatz blieb er stehen. AuchhiertolltenKinderumher,auchhierherrschtedaslustigeund aufgeregte Treiben, das immer dort entsteht, woschulfreie Kinder zusammentreffen, um zu spielen, zuraufen oder auch nur herumzujagen. Bob wurde sehrnachdenklich.Da spielen nunMädchen undBuben undwissennichtoderhabenesschonvergessen,daßwenigeMeilen von ihnen entfernt ein anderes kleinesMädchenamhellenTagegeraubtwurdeund jetztwohlweintund

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jammert. Professor Brummel hat wohl recht, wenn erimmer sagt, daß das Leben nicht heiter, sondern sehrernstundoftauchsehrhäßlichsei.JähwurdederKnabeaus seinenpessimistischenGedankengerissen.DerRuf:»Gertie, Gertie, du kommst dran,« ließ ihnzusammenfahren. Das Herz klopfte ihm bis zum Halsehinauf und er schoßdorthin, vonwoderRuf erklungenwar.AberdasMädchen,dasimKreisevonanderenihrenBallschleudernsollte,warwahrhaftignichtseineGertie.Einplumpes,dickesKindvonetwaachtJahrenstandda,machte dumme Glotzaugen und warf seinen Ball soungeschickt, daß er ins Gras flog. Halb belustigt, halbärgerlichmusterteBob sievomKopfbis zudenFüßen.Wirklich ein grotesker Anblick. Das kleine Mädchendrohte im eigenen Fett zu ersticken, und Bob stellteingrimmig fest, daß ihre Waden ungefähr den UmfangvonderTailleseinerGertiehätten.Erwarabernichtdereinzige,derdaskleineUngeheueranstaunte.Neben ihmstand plötzlich ein rothaariger Bursche mit frechemGesicht, schmutzig und schäbig anzusehen, und mitabscheulichenTätowierungen,dieandenHandknöchelnbegannen, um sich wahrscheinlich bis zum Oberarmfortzusetzen. Der Bursche schielte noch dazu, und seinbreiter Mund, der jetzt grinste, ließ abscheulicheschwarzeZahnstummelsehen.Erbemerkte,wieihnBobmusterte,undsagtehämischundbreitlachend:»Das wäre ein so übler Bissen nicht, das Mädel da!

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Fettgenugistsie,wieeinFerkelvorderSchlachtung.«Entsetzt hatte Bob dieWorte gehört und ein Grauen

beschlich ihn. Wie dieser Kerl von Menschen sprach!Wie roh und widerwärtig er lachte und grinste! Undplötzlich schoß ein furchtbarer Gedanke durch seinenKopf:Wäreesmöglich—Boberinnertesich,voreinigerZeit einmal gesehen zu haben, daß irgendwo in einerGroßstadt, in der der Hunger groß war, ein Kind vomElternhausfortgelocktundallerWahrscheinlichkeitnachgeschlachtet und gegessen worden war. Brechreiz undfurchtbaresAngstgefühl stieg indemKnabenauf.Nochstand derKerl neben ihm und sagte: »Donnerwetter, soeinFettkloß,nein,sowas!«Danngingerpfeifendweiter,aberfastunbewußtfolgteihmBobineinigerEntfernung.Kreuz und quer schlenderte der Rothaarige durch die

Stadt,Bobbliebhinterihn.NacheinigerZeitschienderVerfolgtezufühlen,daßjemandihmaufdenFersensei,und sah sich um. Aber Bob war flink, er sprang raschhinter einen vorbeifahrenden Milchwagen und wurdenicht gesehen. Nun nahm er mit größter Vorsicht dieVerfolgungauf,immerbereit,ineinHaustorzuspringen,fallsderRothaarigesichwiederumsehensollte.Nach etwa einer halben Gehstunde überquerte der

Bursche wieder die Straße und nahm nun seinen Wegnach einem häßlichen, verwahrlosten Stadtviertel, vondessen Vorhandensein Bob bisher nichts geahnt hatte.Zerlumpte Kinder spielten auf offener Straße, aus den

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hohen Häusern drang ein entsetzlicher Geruch, überallhingen aus den Fenstern Wäschestücke, die angeblich,aber nicht ersichtlich gewaschen worden waren; dieFrauen, die man hier sah, trugen keinen Hut, sondernKopftücher, und Gestalten tauchten auf, noch häßlicherundschäbigeralsderRothaarige.Dieserverschwandnunin einem engen Haustor, das so finster war, daß es ihnförmlich verschluckte. Bob wartete atemlos einenAugenblick,dannfolgteer.ImHaustorstandenBurschenund Männer, die den feingekleideten, schönen Jungenneugierig musterten. Einer lachte derb und wollte BobmitdenWorten:»Na,kleinerPrinz,wasmachstdudennhier?«beidenHaarenziehen.AberBobsahihnnurgroßan und sagte: »Kümmert Sie nichts«, und folgte denverhallenden Schritten des Rothaarigen. Der war abernichtdievomfinsterenHausflurrechtsaufwärtsführendeTreppe hinaufgegangen, sondern an ihr vorbei nacheinemkleinenHof,indemesentsetzlichstank.BobwareinmutigerkleinerJunge,abertrotzdempochteseinHerzdoch schrecklich und ermußte fest und innig anGertiedenken,umnichtaufunddavonzulaufen,sonderndemBurschen nachzuschleichen. Der hatte eine kleine Türemit einer Glasfüllung, die in den Hof mündete,aufgerissenundwarpfeifendineinenRaumgetreten.

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X.KapitelBobblamiertsich

Der Hof war menschenleer, und die Leute draußen vordem Hause waren gerade im Begriffe, mit einemFrauenzimmer ihre Spässe zu treiben, so daß sichniemandumdenJungenkümmerte.BobhieltdenAteman und ging vorsichtig bis zu der Türe, hinter der derBursche verschwunden war. Die Glasfüllung bestandwohlursprünglichausundurchsichtigemMilchglas,abereswarzerkratzt,sodaßsichhierunddorteinBlickindasInnerewerfenließ.ÄngstlichsahsichBobum.Niemandwarzusehen,nureinaltesMütterchensaßaneinemderHoffenster im zweiten Stock und gab sich irgendeinerTätigkeithin.WiederhätteBobgernkehrtgemacht;abernein,ermußtewissen,washinterjenerTürevorging.ErtratdichtandieTür,stelltesichaufdieZehenspitzenundpreßtedasAugeaneinederzerkratztenStellen.DrinnenwareinLichtangezündetworden,undwasBobnunsah,hätteihmbeinaheeinenSchreientlockt.DerroteGesellestandübereinenKofferodereineKistegebeugtundzogein undefinierbares Etwas in die Höhe. War es einKleidungsstückodereinFetzen?Bobhätteesnichtsagenkönnen. Er sah nur an diesem Ding einen rötlichen

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Schimmer,einenSchimmervonBlut.DemKnaben wurde schwindelig, kalter Schweiß trat

aufseineStirne,dieKniezittertenihmunddasRückgratsteiftesichvorAngstundSchrecken.Undalsnochdazuaus dem geheimnisvollenRaum ein leisesWimmern andas Ohr des Knaben drang, da war es um Mut undSelbstbeherrschung geschehen. Er drehte sich um, liefdurchdenHof, ranntevordemHaustor geradezu indieGruppe von Männern und Frauen hinein und raste intollenSätzendieStraßenentlang,biser infreundlichereGegenden kam. Dort erst blieb er stehen, schöpfte tiefAtem und überlegte. Rasch zur Polizei, das war seinerster, klarer Gedanke! Dort zu dem Inspektor Crispin,von dem Papa gesprochen hatte, oder zu dem DetektivLorensen, der bei ihm gewesen war, und ihnen alleserzählen!Ja, aberwowar diese Polizei, wo konntemanHerrn

Crispin, wo Herrn Lorensen treffen? Die Antwort fandsich sofort, da eben vor Bob ein riesiger Polizistauftauchte, der gähnend und gelangweilt seine Rundemachte.Bobgingaufihnzu,zoghöflichdieMützeundfragte,wowohldieKriminalpolizei,beiderHerrCrispinseinAmthabe,wäre.Der Riese sah gemütlich auf den schönen Knaben

hinab, strich ihm mit seiner Pranke die vom Schweißfeuchten Locken, nannte ihm die Straße und dieAutobuslinie, die ihn geradewegs zum Polizeipräsidium

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bringenwürde,undbemerktedann:»WassuchenSiedort,kleinerHerr?HatSievielleicht

einKameradverbeult,denSiedeshalbeinsperrenlassenwollen?«Bob zog die Lippen hoch, sah den Schutzmann zwar

nichtvonobenherab,dafürabervonuntenheraufanundsagte, während er den Kopf zurückwarf: »Nein,Verehrtester, mich verbeult kein Junge, und wenn er estäte,soließeichihnnichteinsperren,sondernwürdeihngründlichverdreschen!«Verwundert sah der Blaurock dem Knaben nach:

»Donner noch mal, ein verdammt fixer Junge das, unddenMundaufdemrechtenFleck.«Es war nicht so einfach, zu dem Inspektor der

KriminalpolizeidieserMillionenstadtzukommen.Untenvor dem großen, weit ausgedehnten Gebäude stand einPolizeimann,derBobkurzangebundendenWegzuderAbteilung 8 derKriminalpolizeiwies.Dort standen vorderTür fürdenVerkehrmitdemPublikumwiederzweiSchutzleute,diedenKnabennachseinemBegehrfragten.Bob hatte aber keine Lust, hier schon mit seinemGeheimnisherauszurücken,sondernerklärtesehreinfach,ermüsse den Inspektor, Herrn Crispin, selbst sprechen.Daraufhin durfte er eintreten und dachte nun vor demgroßenHerrnzustehen!Demwarabernichtso,sondernerkamerstineinZimmer,indemmindestenseinhalbesDutzendBeamteumhersaßenundrauchten,daßdieLuft

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blauwar.Boberklärteabermals,HerrnCrispinpersönlichsprechen zu wollen, worauf er endlich nach dembenachbartenZimmerverwiesenwurde.HiersaßnureinHerr,aberauchderwarnichtderInspektor,sondernseinVertreter.ArtigverbeugtesichBobundbegann:»HerrInspektor

Crispin——«DerBeamtewinkteab.»Binichnicht,waswünschen

Sievonihm?«»Ichmußihnpersönlichsprechen.«»Gibt es nicht, könnte jeder sagen. In welcher

Angelegenheit?«Bob warf seine dunklen Locken zurück und sagte,

ohne sich einschüchtern zu lassen: »Ich habeWichtigeswegenderverschwundenenGertieSehringauszusagen!«Der Beamte erinnerte sich, daß der Inspektor

außerordentlich an dieser peinlichen Angelegenheitinteressiert war, erhob sich, verschwand hinter der mitdunkelgrünem Tuch ausgeschlagenen Doppeltüre undkamgleichwiedermitdereinladendenBemerkung:»Treten Sie näher, jungerMann, aber fassen Sie sich

kurz,derHerrInspektorhatvielzutun.«Der Inspektor schien aber gar nicht so viel zu tun zu

haben, sondern er saß breitspurig in einem sehrbequemen Lederstuhl, hielt eine eben erschieneneNummer der »Abendpost« vor sich und las ersichtlichgeärgert einen Artikel, der sich wieder mit dem

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Verschwinden Gerties beschäftigte. Und Bob konnteraschdierotangestrichenenZeilenmitlesen:»Die Unfähigkeit unserer Polizei übersteigt alle

Grenzenundwirdnochdazuführen,daßMenschenraubam hellichten Tage zu den gewöhnlichsten Dingengehört.«Nun aber wandte sich Herr Crispin dem Knaben zu,

musterteihnmiteinemscharfenBlick,streckteihm,vonder Anmut des Kindes bewegt, die Hand entgegen undsagtefreundlich:SiesindunzweifelhaftBobHolgerman,derSohndesFabriksbesitzers,derüberdasVerschwindenseiner armen kleinen Freundin so kluge und klareAuskunftgegebenhat.«»Jawohl, der bin ich,« erwiderte tief errötend Bob,

»undnunwillichIhnenerzählen,wasicherlebthabe.«Zuersteinwenigbefangen,dannimmerfreier,erzählte

Bob,wieerdenEntschlußgefaßthabe,aufeigeneFaustnach Gertie zu forschen, dabei in den StadtparkgekommenseiunddortdenrothaarigenKerlgesehenunddessen entsetzliche Äußerung über das dicke Mädchengehört hätte, ihn verfolgt und sein geheimnisvollesTreibenindemHofraumbeobachtethabe.Schweigend, aber ersichtlich sehr interessiert hatte

Herr Crispin zugehört, drückte nun auf den Taster undgab dem eintretenden Beamten den Auftrag,Wachtmeister Lorensen zur Stelle zu schaffen.Dann zuBob:

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»MeinlieberJunge,SiesindeintüchtigerkleinerKerl,allenRespektvorIhrerEnergie,aberichglaube,Siesindauf dem Holzweg. Meinen Sie wirklich, daß einMenschenfresserundKindermörderineinemöffentlichenGarten solcheBemerkungenmachenwird?Es sei denn,wir hätten es mit einem Irrsinnigen zu tun, was jaimmerhinmöglich wäre. Und dann glaube ich an dieseMenschenfressereinicht.Teuer istes jabeiuns,aber sogroß ist die Not nicht, daß man zu Menschenfleischgreifenmüßte. Da kommen doch zuerst dieHunde unddieKatzenandieReihe,andenenesbeiunswahrhaftignicht fehlt.Aber immerhin— natürlichwird der Sachesofortnachgegangen.«Der Detektiv, oder wie es eigentlich heißt, der

Kriminalwachtmeister,Herr Lorensen, trat ein, begrüßteden Knaben und wurde von seinem Vorgesetzten kurzundknappüberdasunterrichtet,wasBoberzählthatte.»Die Sache ist nun in guten Händen, junger

Holgerman, Sie geben Herrn Lorensen die genaueAdresse des verdächtigenHauses, und er wird sichmitzweiBeamtensofortdorthinbegeben.«PurpurröteüberzogdasGesichtBobs.Esfielihmjetzt

erst ein, daß er weder den Namen der Straße noch dieHausnummer wußte. Wie bin ich dumm, dachte ererschreckt, es ist doch nicht so einfach, auf allesaufzupassen. Er faßte sich aber, sah den Chef mitflehendenAugenanundbat:

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»Ich bitte sehr, darf ich mitgehen? Es ist vielleichtganzgutso,dennwerweiß,amEndehatderRote jetzteineVerkleidung,indermanihnnichtsoleichterkennt.«Belustigt warf Herr Crispin seinem Beamten einen

Blickzu.»MeinethalbengehenSiemit,meinJunge,abereines will ich Ihnen sagen: Masken und Verkleidungenkommen gewöhnlich nur in Romanen vor. InWirklichkeitmachtsichder,dereinenfalschenBartoderdergleichen trägt, auf den ersten Blick verdächtig undwürdewahrscheinlichschonaufderStraße,auchwennergar nichts angestellt hat, nurwegen des falschenBartesverhaftetwerden.«Unten gestand Bob Herrn Lorensen, mit dem er vor

denzweianderenBeamten,diemitgingen,vorausschritt,daß er denNamen der Straße nicht beachtet habe, aberdenWegsicherfindenwerde.Undrichtigwarensienachkurzer Fahrt mit dem Autobus dorthin gekommen, woeine Stunde vorher Bob ausgestiegen war. Und nachweiteren zehn Minuten standen sie vor dem häßlichenHausemitdemfinsterenEingang.Nurdaßjetztniemandunten auf der Straße herumlungerte. Lorensen gab denzwei Polizisten den Auftrag, zurückzubleiben und ihmaufeinenPfiffmitderPolizeipfeifehinzuHilfezueilen.ErgingdannmitBobdurchdenengenKorridorüberdenhalbdunklen Hof, in dem es noch immer nicht besserroch.BobwiesaufdieTüremitderGlasfüllung.»Hierwares.«

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Ohne zu zögern, drückte Lorensen auf die verrosteteKlinke, und sofort flog die Türe kreischend auf. Einrasselndes Schnarchen begrüßte sie. Auf einerMatratzelagderRothaarigeundschliefdenSchlafdesGerechten,deretlicheSchnäpsezusichgenommenhat.Ererwachteerst, als der Beamte, an den sich Bob nun doch dichtherangemacht hatte, den fast stockfinsteren Raum mitseinerTaschenlampeerhellte.MiteinemwüstenAufschreirichteteersichzuersthalb

auf,umdannaufdieFüßezuspringen.»Weristda,wasgibtes?«»Nichts,« erwiderteLorensen ruhig, »ich bin nur von

derPolizeigeschickt,umzusehen,wasSiedatreiben.«Dabei hielt er dem Schlaftrunkenen seine BlechmarkeunterdieNase.»DasgehtdiePolizeinichtsan,«knurrteder,»ichbin

ein redlicher Mensch, der sich sein Brot auf ehrlicheWeiseverdient.«Lorensen ließ sich aber nicht irremachen. Er

entzündete eine halb zerbrochene Petroleumlampe, dieauf einem drei viertel zerbrochenen Stuhle stand, undwidmete sich sofort dem Inhalt der Kiste, auf die Bobhinwies.DerBeamtebeugtesichüberdieKisteundzogetwasHaariges,Feuchtesheraus.Mit einerGebärdedesEkelsschleuderteerdasZeugwiederindieKistezurück.Was er da ergriffen hatte und was noch in einigenDutzendStückinderKistelag,warnichtsanderesalsein

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noch blutiges Kaninchenfell. In diesem Augenblickertönte auch das Quietschenwieder, das Bob vorhin soerschreckt hatte. Ein Blick in die andere Ecke desRaumes erklärte auch diesenLaut.Dort befand sich einKaninchenstall, und es war eine hungrigeKaninchenmutter im trauten Kreise ihrer Jungen, dieentweder ihrem Unwillen oder ihrem Appetit dadurchAusdruckgab,daßsieeinenquietschendenLautvonsichgab.ImallgemeinenpflegensichKaninchennichtlautzuunterhalten, aber in solch trostloser Umgebung, dichtnebendenFellenihrergetötetenRassegenossen,darfmanihneneinekleineAusschreitungnichtübelnehmen.Und nun fand alles rasch seine Erklärung. Der

rothaarige Bursche, seines Zeichens ein stellenloserTischler,züchteteKanincheninseinerStube,schlachtetesie höchst eigenhändig, verkaufte das Fleisch alsHasenbraten und trocknete in der Kiste die Felle, umschließlichauchdieaneinenHutmacherfüreingeringeszu veräußern. Eine in der Nachbarschaft eingezogeneErkundigung bestätigte diese Aussagen, und mit einerleichthin vorgebrachten Entschuldigung trollten sichDetektivevonBerufundDetektiveausVerzweiflungvondannen.DerRothaarige aber schüttelte sein rotesHaupthinterihnenundseufzte:»Ichmöchtenurwissen,woichdenhübschenBengelschoneinmalgesehenhabe.«Ernüchtert, todmüde, unendlich niedergedrückt und

beschämt kamBob nachHause und konnte sich gerade

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nochdieHändewaschen,alsauchschonHerrHolgermannachHausekamunddasAbendessenaufgetragenwurde.Bob zog es jedoch vor, den Eltern nichts von den

ErlebnissendesheutigenTageszuerzählen.

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XI.KapitelBobfindeteineSpur

Gertie war nun schon seit fünf vollen Tagenverschwunden. Und die Zeitungen beschäftigten sichnicht mehr mit der Angelegenheit. Andere Verbrechenhatten sich ereignet, eine Regierungskrise warüberwunden worden, ein Dampfer gestrandet, über denBrandeinesWohnhauseshattendieReporteraufregendeEinzelheiten zu berichten, und so war man über dasSchicksal eines kleinen Mädchens zur Tagesordnungübergegangen.DieMutterabersiechtelangsamdahin,siekonnteihrLagerkaumnochverlassen,unddiePflegerin,dieFrauHolgermanaufgenommenhatte,saßstundenlangan dem Bette einer Frau, die willens schien, angebrochenem Herzen zu sterben. Nur wenn Bob zu ihrkam,was täglich zweimalderFallwar, richtete sie sichauf, sah den Knaben groß und fragend an und lächelteschmerzlich, wenn er ihre Hand streichelte, um dannwiederinTeilnahmslosigkeitzuversinken.BobwandertedieVor-undNachmittageruhelosdurch

die Straßen und Gärten der Großstadt, entdeckte grüneFlächen an der äußersten Peripherie, von derenVorhandenseinerkaumeineAhnunggehabthatte,wurde

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blaß und schmal, und in seinen großen dunklen AugenspiegeltesichdieVerzweiflungseinesKinderherzens.HerrundFrauHolgermansahensehrgut,was in ihm

vorging, sie wußten auch, wie er seine freie Zeitverbrachte,undimmerwiederhattederVaterdieAbsicht,demHaltzugebietenundBobaufdasUnsinnigedieserJagddurchdasNichtsaufmerksamzumachen.Sobalderaberdavonzusprechenanfing,blickteihnBobausweitaufgerissenen Augen so erschreckt und unglücklich an,daß er nicht den Mut fand, das Gespräch fortzusetzen.InsgeheimbesprachdasEhepaardiePlänezueinerReisenachNorwegen,dennsiewarendarübereinig,daßalleineinevölligeÄnderungderUmgebungimstandewäre,denKnaben auf andere Gedanken zu bringen und ihn dasFurchtbarevergessenzulassen.InderNachtschlichsichFrauHolgerman oft in das Zimmer Bobs, lauschte vollSchmerz und Angst seinen unruhigen Atemzügen undlegte ihm die milde Mutterhand auf die heiße Stirne,wennerabgerisseneWorteausrief,imSchlafewimmerteoderplötzlichlautundentsetzt»Gertie«rief.Bob besuchte heute wieder den Parkwächter, der

ebenfalls nichtsmehr in seinem alten Schädel zu habenschien als Gedanken an das aus seinem ReicheverschwundeneKind.MitdemKnabenverbandihneinedrollige Freundschaft, wobei Bob entschieden dieüberlegene Rolle spielte. Kaum wurde er des Jungenansichtig, als er auch schon das jeweilige Morgenblatt

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aus der Tasche zog und sich bei Bob genau nachverschiedenenDingen,dieernichtbegriff,erkundigte.Erließ sich von ihm die Politik und die Fremdwörtererklären; Bob mußte ihm in einem längeren Vortrageauseinandersetzen, wie es möglich sei, daß auf deranderen Seite der Erdkugel furchtbare Schneestürmeherrschten, während es hier fast unerträglich heiß war,und als er einmal las, daß das Schiff einerSüdpolarexpedition imEise steckengeblieben sei, zeigteerdemKnabengrinsenddieseStelleundsagte:»Sehen Sie, was da die Zeitungsschreiber wieder für

Blechgeschriebenhaben.EisamSüdpol.Ebensohättensie schreiben können, daß einer am Nordpol denHitzschlagbekommenhabe.«Bob hatte furchtbare Mühe, dem alten Manne die

Verachtung vor den Zeitungsschreibern wenigstens indiesem Falle auszureden, und selbst als er ihn an derHandseinerSchulbücherbelehrte,bliebindemInvalidennocheinRestvonMißtrauenzurück.Von Gertie sprachen sie wenig. Taten sie es, so

ereignete es sich immer wieder, daß Bob seinschneeweißes,der Invalideaberseinblau-rotgewürfeltesSchnupftuch zog und jeder sich ein Staubkorn aus denAugenwischenmußte.

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XII.KapitelEinneuerVerdacht

Am fünftenTage nach demVerschwindenGerties bliebBobwiedereinStündchenmitdemInvalidenzusammen.DannschlenderteernachdemVolksgarten,dersichweitwestlich erstreckte. Kaum hatte er den Garten betreten,als eine merkwürdige Szene seine Aufmerksamkeitfesselte. Auf einem der gelben Gartenstühle saß einseltsam anzusehendes Frauenzimmer, das entschiedenteilsaneinelebendiggewordeneVogelscheuche,teilsaneine Karikatur aus dem vorigen Jahrhundert erinnerte.LangunddürrwieeineStangewardieFrau,dasweißeHaarunterdemveraltetenKapotthütchenstandineinemseltsamen Gegensatz zu den knallrot geschminktenBacken, aus dem breiten Mund guckte ein großer,wackeligerZahn neugierig und aufdringlich hervor, undfast auf der Spitze der Hakennase wackelte eineHornbrille.GekleidetwardiealteDameineinschwarzesSeidenkleid mit dunkelblauen Spitzen, wie es vielleichtdieGroßmütter inderProvinzseinerzeitgetragenhabenmochten. In respektvoller Entfernung standen einigekleine Mädchen, denen die Frau mit spindeldürrenFingernausihremPerlenbeutelZuckerplätzchenhinhielt.

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DieKinderüberlegten,packtenschließlichdieSüßigkeitundliefendannkreischenddavon,woraufdieSpenderin,die man viel eher für eine alte böse Hexe als für einegütige Fee hätte halten können, befriedigt vor sichhinkicherte.BoberkanntedieFrausofortwieder.VorMonatenwar

sietäglichBesucherinseinesParkesgewesenundhattesowie jetzt immer die Kinder durch Süßigkeiten an sichgelockt.BesondersaufGertieschiensieesabgesehenzuhaben, immer schon von weitem hielt sie ihr dieschönsten Schokoladenstückchen entgegen. Gertie hattesolche Gaben immer nur widerstrebend angenommen,um, wie sie sagte, die alte Frau, gegen die diemeistenKinderrechthäßlichwaren,nichtzubeleidigen.Alsabereinmal die Vogelscheuche sie in ihre knochigen Armezog, um sie zu küssen, da war Gertie doch mit einemSchreidesEntsetzensdavongelaufen.DieKinderwurdengegen die Alte; trotz der täglichen Süßigkeiten, immergrausamer, und als sie einmal im Chor einselbstverfertigtes Lied mit dem Kehrreim: »Schmecks,schmecks, alteHex« sangen, dawar dieVogelscheucheaufgesprungen, hattemit ihremStocke gedroht undwarniemalswiedergekommen.NunabersaßsiehierimVolksgarten,gabsichwieder

mitdenundankbarenKindernab,undBobwaraußersichdarüber,daßsichseineGedankennichtvonallemAnfanganmit dieser häßlichenPerson beschäftigt hatten.Ohne

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selbst von ihr gesehen zu werden, behielt sie Bobununterbrochen im Auge und wartete mit Geduld fastzwei Stunden lang, bis sie sich erhob und den Parkverließ. In einer Entfernung von fünfzig Schritten gingBobunauffällighinterihrher,wasgarnichtsoleichtwar,dadieAltewieeineSchneckeanihremStockekrochundBobsjungeBeineimmergegenseineAbsichteinflottesTempoeinschlagenwollten.Schließlichkamensieineinestille, ruhige, altväterische Straße und die Frauverschwand in einem kleinen, an ein Vogelhauserinnernden Häuschen, das höchstens vier Wohnräumeenthalten mochte. Der schmale Vorgarten war von derStraße durch einen hölzernen Zaun getrennt, den Bob,nachdem er einige Minuten hatte verstreichen lassen,mühelos überkletterte.Geduckt, damit ihn niemand vonder Straße aus sehen konnte, schlich er hinter dasHausbiszueinerTreppe,diewohlindieKüchenräumeführte,preßte sich an sie und lauschte angestrengt demkreischenden,weinendenStimmengewirr, dasvon innenan sein Ohr drang. Deutlich hörte er die Stimme derAlten, die jemandem begütigend zusprach: »Komm'doch, sei brav, komm', ich geb' dir Zuckerln!«, und diejämmerlicheAntwort:»Magnicht,magnicht!AlteHex!Oh,oh,nichthauen!Hilfe,Hilfe!«Bob wirbelte es im Kopf, alles drehte sich um ihn

herum. Was hatte das zu bedeuten? Wer schrie sojämmerlich?WardanichteinKinddrinnen?Allerdings,

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esklangnichtwiedieStimmeeinesMädchens,sondernwie die eines Knaben. Aber gleichgültig — ein KindschrienachHilfe,hatteAngstvorSchlägen,riefnachderPolizei!Fiebernd vorAufregung schlichBobwieder aus dem

Garten auf die Straße. Vielleicht ließ sich etwas in derNachbarschaft erfahren. Bob überlegte angestrengt undhatte bald einen Plan gefaßt. Eben verließ ein jungesDienstmädchen das Haus gegenüber. Rasch trat Bobnäher,schwenkteartigseineMützeundfragte:»Bitte, Fräulein, ich habe da in dieser Straße einer

alten Dame von meinem Vater eine Botschaft zuüberbringen,habeaberdieHausnummerunddenNamenderDamevergessen.«»JungerHerr,« kam die lachendeAntwort, »in dieser

Gegend wohnen fast nur alte Leute. Junge MenschenhaltenesindiesemViertelnichtlangeaus,weilesihnenzulangweiligist.«»Nun, diese alte Dame, die ich meine, ist eine ganz

besondere.SiegehtaneinemStock,trägteineHornbrilleundsiehtsehrkomischaus.«»Ach ja, jetztweiß ich schon!Das istdieFrauKrikl,

geradegegenübervondiesemHauseda.Alte, verrückteSchraubedas.«»Wenn es nur sicher die ist, die ich aufsuchen soll.

Wohntsieallein,sindkeineKinderimHause?«»Wird schondie sein, jungerHerr!Kinder sindkeine

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zuHause, aber eine alteKindernärrin ist sie, die immerKindervonderStraßemit sichnachHause schleppt. Jeschmutziger und zerfetzter, desto besser. Na, jedesTierchenhatseinPläsierchen.Ichbinfroh,wennichmitKindern nichts zu tun habe. Das heißt, mit kleinenKindern.Sogroße, nette, jungeHerrchen,wieSie einersind,das ist schonwasanderes.AlsogehenSienurzurFrau Sibylle Krikl. Aber Sie müssen ihr gleichentgegenschreien,wasSiewollen, sonst läßt sieSie garnicht hinein. Die alte Hexe ist mißtrauisch, wenigstensgegen erwachseneLeute.Bei Ihnenwird eswohl etwasanderssein.«Bob dankte dem geschwätzigen Mädchen, sagte, er

werde doch lieber zu Hause nochmals den Namenerfragen,undeiltedavon.Im Kopf ordnete er sein Material. Ein altes,

abscheulichaussehendesWeib,dasimmerKinderansichlockt und es besonders auf Gertie abgesehen hatte,schleppt Kinder zu sich in das Haus, läßt Erwachsenenichthinein,lebtganzallein.Ichselbsthabegehört,wiedrinnen ein Kind nach Hilfe und nach der Polizeigeschrien hat. Kann sein, daß ich vor dem großenGeheimnisstehe.Diesmal befand sich Bob, der nun alle Formalitäten

kannte,sehrbaldvordemInspektorderKriminalpolizei,derwiederschweigend,mitdemBleistiftspielend,seinenBerichtanhörte.Achselzuckendsagteerdann:

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»LieberBobHolgermann,ichfürchte,wirwerdenaufdieseArtnocheinmal inTeufelsKüchekommen!Kannsein,daßwirdaeinerganzharmlosenAltenaufdenLeibrücken, die dann einen Mordslärm schlägt und in alleMinisterien rennt, um sich Genugtuung zu holen.Allerdings, verdächtig ist sie ja, obwohl ich mir nichtrechtvorstellenkann,wozusiesokleineMädchenraubensollte.FüreineberufsmäßigeMenschenhändlerinistIhrekleineGertiedenndochnochzujung!«Bob verstand nicht recht, wozu es überhaupt

berufsmäßige Menschenhändlerinnen geben sollte, undauch nicht, warum ihnen, wenn es schon solche gab,Gertie zu jung wäre. Aber er unterdrückte einedahinzielende Frage und begnügte sich, etwas verlegenundzögerndzuerwidern:»Nun,vielleichtbrauchtsiehübsche,kleineMädchen,

umsieaneinenZirkuszuverkaufen.«HerrCrispinlachtekurzauf.»Nee, mein Junge, schlagen Sie sich solch

romantischesZeugausdemKopf,wennSiedurchausdenDetektiv spielen wollen! Zirkusbesitzer, die Kinderkaufen,gibtesnur inMärchenbüchern.DiesefahrendenTruppen,andieSiewohldenken,könnenallesmöglichebrauchen,nureinesnicht:Kindernämlich!WeilsiedieineigenerRegiedutzendweisehaben.Eherkommtesschonvor, daß sie kleine Babies, mit denen sie nichtsanzufangen wissen, irgendwo aussetzen, um sie los zu

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werden.«Inzwischen war Herr Lorensen eingetreten, und

nachdem ihm sein Vorgesetzter kurz und ein wenigironisch die Sache auseinandergesetzt hatte, gingenLorensen und Bob, diesmal ohne Begleitung andererBeamter,davon,umdemGeheimnisderalten,komischenFraunäherzukommen.Gerade als sie vor demHause anlangten, betraten es

vor ihnen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen,beide reichlich zerlumpt, barfuß, mager und schmutzig.LorensensahBobbedeutungsvollanundmeinte:»Na, Ihre Frau Krikl scheint ja wirklich eine

Kinderplantage zu haben. Nun warten wir erst zehnMinuten,damitdieSachedrinneninvollerEntwicklungist,bevorwirhereinplatzen.«Unauffälligschrittensieaufundab,dannöffnetensie

dienichtversperrteGartentür,ebensodienurangelehnteHaustüreundschrittengeradeausaufeineZimmertürzu,hinter der ein lebhaftes Stimmengewirr und einKreischen, das ganz gut von einem gequälten Kindeherrührenkonnte,ertönte.DerDetektivklopftescharfanund riß, ohne eine Aufforderung abzuwarten, die Türeauf. Ein bewegtes Bild bot sich ihren erwartungsvollenAugen. In einem mächtigen Vogelkäfig aus Messingschlug ein grauerAmazonenpapageiwie rasend um dieSitzstangeherumPurzelbäume,wobeierununterbrochen,alserdiebeidenEintretendensah,mitgellenderStimme

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schrie: »Nur herein, Bande, Hilfe! Hilfe! Polizei!« unddannganzjämmerlich:»AlteHexe,wart'nur!«Auf einem Tische saß aber mit herabbaumelten

nacktenBeinen der Junge und versuchte eben, ein PaarschwarzeStrümpfeüberzuziehen,währenddiealteHexedas kleine Mädchen, das ebensolche Strümpfe schonanhatte, auf dem Schoße hielt und ihm hübsche neueSchnürschuheanprobierte.Allevier,dieAlte,dieKinderundderPapagei,starrtendenMannmitdemKnabenan,die Kleine glitt vom Schoße herunter, und Frau SibylleKriklfragte,währendsiesicherhob,scharfundempört:»WaswünschenSiehier?«Bobsahverdutztundverlegenumsich.Lorensenaber,

der die Sachlage rasch erfaßte, meinte in gemütlichemTone:»Entschuldigen Sie, Frau Krikl, daß wir Sie so ohne

Anmeldung überfallen, aber ich hätte einige Fragen zustellen:Vielleicht, daß Sie dieKinder zuerst abfertigen.HübscheKinderübrigens,wohlNeffeundNichte,was?«Die Alte schnappte nach Luft, daß ihr ein Zahn

ordentlich auf und nieder wackelte, dann erwiderte siegereizt: »Wenn dieKindermir gehörten, sowurden sienichtsoaussehen,meinHerr,sondernwärengenausogutangezogen und sauber, wie der Junge, der hinter Ihnensteht.Nein,essindarmeKinder,dieichherbestellthabe,weil ich es nicht leiden mag, daß Kinder barfußeinherlaufen. Ritsch, ratsch, und sie treten in

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GlasscherbenundhabenihrenSchadenfürsganzeLebenweg.«Während sich Lorensen dachte, daß das nicht gerade

nach Kinderraub aussehe, und Bob dumpf einen neuenIrrtum witterte, waren die Kinder beschuht undbestrumpft und wurden nebst einem großen StückKuchenentlassen.»Undnun,waswünschenSie,meinHerr?«FrauKrikl

setztesichdabeiordentlichinVerteidigungsstellung,undderPapageischriegellend:»Halt'sMaul!«,woraufereinTuch über den Käfig erhielt, was ihn zu sofortigemSchweigenbrachte.Lorensen räusperte sich verlegen, sagte sich, daß er

einer komischeren Sachlage noch seltengegenübergestandenhatte,undlegtedannlos:»Wissen Sie, FrauKrikl, ich bin von der Polizei—«

und als die alteDame entsetzt aufsprang, »nun, das hatweiter nichts zu bedeuten, kein Grund zur Aufregung,Madame. Die Sache ist nur die, daß wir nach einemkleinen Mädchen forschen, das vor fünf Tagen spurlosaus einem Park verschwunden ist, in dem auch Sie oftgesehenwurden.Na, und der kleineHerr da sagte, daßSie öfters dem Mädchen, das Gertie Sehring heißt,Süßigkeitengeschenkthaben, undwir erfuhren, daßSiesich fürKinder überhaupt interessieren, so bin ich ebenhergekommen, umnachzufragen, obSie nichts über dieVerschwundenewissen.«

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FrauKriklsahdenBeamtenunddanndenKnabenan,wackeltemitdemweißenKopfundschrieaufgeregt:»Oh, dann ist also das arme Mädchen, von dem die

Zeitungensovielgeschriebenhaben,jenesKind,dasmitdem Jungen da immer im Park spielte? Oh, welchesUnglück!Oh,diearmeMutter!«Aber plötzlich stieg ihr einGedanke auf, sie sahmit

allenZeichendesEntsetzensaufBobundsagteleiseundklagend:»Ich verstehe jetzt. Der Knabe hat Sie hergebracht,

weil er glaubte, daß ich alteHexe dem schönen, liebenMädchenetwasBösesangetanhätte!Ich,dieichKindernmein Herzblut geben möchte, weil ich selbst so einkleinesLiebesverlorenhabe.«UnddiealteHexefielförmlichinsichzusammen,und

einSchluchzenerschüttertedenallen,dürrenKörper.Lorensen kratzte sich den Kopf und murmelte:

»Entschuldigen Sie, Madame, wir wollten Sie nichtkränken, aber Pflicht ist Pflicht,« und dann zu Bob:»KommenSie, jungerHerr,wirhabenunsbeidewiedereinmalgründlichblamiert.«Und die beiden gingen. Aber als sie schon unten

waren, atmete Bob tief auf, wischte sich mit demHandrücken die Augen und sagte: »Herr Lorensen, Siemüssenmichentschuldigen, aber ichwill zuder armen,alten Dame zurück, um ihr alles genauer zu erklären«,und rannte wieder die Stufen hinauf, während Herr

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Lorensenbrummendundnichtebenrosigaufgelegtnachdem Polizeipräsidium eilte, um seinem VorgesetztenBerichtzuerstatten.Bob traf die alte Dame noch immer im Stuhl

zusammengekauert,hinterdenvordasrunzeligeGesichtgeschlagenenHändenbitterlichschluchzend.Leisetraterauf sie zu, legte seine kleine, schlankeKnabenhand aufihreSchulter,undalssieihnwütendanschrie:»Na,nochhier?«sagteereindringlich:»Sie dürfen nicht so böse auf mich sein, Frau Krikl,

aberichbinselbstingroßerVerzweiflung.GertieistmirnebenPapaundMamadasLiebsteaufderWelt,undichkannnichtlachenundmichnichtmehrfreuen,bevorichsienichtwiedergefundenhabe.UndichlaufedenganzenTagherum,umGertiezusuchen,undweilichselbstnochklein bin und keine Erfahrung habe, so kommen mirallerhand dumme Gedanken, und mein Kopf ist schonganzwirrvorlauterSuchen,undsobinichdennaufdenGedankengekommen,daßSie—«»DaßichdirdeineGertiegeraubthabe,«lächelteFrau

KriklunterTränen.»DerGedankeistgarnichtsodumm,mein Junge, wenn ich es genauer überlege. Wenn einMenschsoaussiehtwieich,daßihnjederfüreineHexehält, so kann man schon glauben, daß er Kinder raubt.Abernunbinichdirauchgarnichtmehrböse.Setz'dichherzumirunderzählemir,wiesichdasalleszugetragenhat, denn die Zeitungen lügen ja doch nur, so daßman

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sichgarnichtauskennt.«BobsetztesichdichtzuderAltenunderzählte,wieer

als kleiner Junge Gertie beschützt und kennengelernthatte, wie sie dann jede freie Stunde miteinanderverbrachten, unzertrennlicher als Zwillinge, und wie esseine festeAbsichtwar,etwasTüchtigeszuwerden,umGertie,wennerersteinMannwäre,zuheiraten.WieerauchvorfünfTagensichsosehrüberseingutesZeugnisgefreutundmitGertieLuftschlössergebauthatteundsieihm dann verschwunden sei, spurlos verschwunden, alswennderErdboden sie verschluckt hätte.UndvondemrothaarigenBurschenberichtete er, undwie er sie, FrauKrikl,heutebeobachtethatteunddannaufdendummenGedankengekommensei——Als der blasse, übermüdete Knabe seine Erzählung

beendet hatte, da überkam ihn der ganze Jammer, undnun war er es, der bitterlich weinte, so daß Frau KriklseinendunklenLockenkopfanihreSchulterzogundihnstreichelte,biswiederRuheüberihngekommenwar.»Ichbinnureinealte,müdeFrau,diealleKinderund

sogarderPapagei,deneinbösesMädchen,dasbeimirimDienstewar, angelernthat,Hexenennen,aberwenn ichirgend etwas tun kann, um dir zu helfen, sowill ich estun.Ichkönntemitdirweinen,Bobbie,denndeineGertiewardasholdeste,schönstekleineMädchen,dasichjeimLeben gesehen. Ausgenommen vielleicht meine kleineCissy,diemirvomliebenGottgenommenwordenist.«

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Und nun hörte Bob die Geschichte einer armen,unglücklichenFrau, eineGeschichte, diewahrlichkeineHexengeschichtewar.

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XIII.KapitelFrauKriklsGeschichte

Frau Krikl war die einzige Tochter eines begütertenKaufmannes und hätte, von der Liebe ihrer Elternumgeben, eine glückliche Jugendgehabt,wäre sie nichtmit ihrer eckigen, langen Gestalt und der großenHakennaseausgesprochenhäßlichgewesen.Sowurdesiezwanzig, einundzwanzig und mehr Jahre alt, ohne daßsicheinMannumsiegekümmerthätte,undschonhattesiesichmitdemGedankenabgefunden,einealteJungferzu werden, als sie auf einem Gartenfest einen jungen,auffallendschönenundelegantenMannkennenlernte,derdenganzenAbendnichtvonihrerSeitewich.Alssiesichtrennten, behielt er lange ihre Hand in der seinen undfragte,oberihreElternbesuchendürfe.Sibylle,obwohlvon einem ihr bisher unbekannten Feuer durchströmt,hattedochnochVernunftundBesinnunggenug,umhartundschroffzufragen:»Wassolldas,HerrKrikl?Ichweißdoch,daßichein

lächerlichhäßlichesMädchenbin,mitdemzuverkehreneinemManne,wieSieessind,keinGenußseinkann.«Da führte er ihre Hand an seine Lippen und sagte

feurig: »Fräulein Sibylle, ich habe viele schöne Frauen

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undMädchen inmeinem Leben kennengelernt, und niefand ichhinter der schönenLarve eineSeele. Ich sehnemichabernacheinerwahrenFrauenseele,undbeiIhnenhabeichallesdasgefunden,wasjenenichthaben:Güte,Klugheit, feines Empfinden und ein warmes,unverdorbenesHerz.«UnsagbarglücklichmachtenSibylledieseWorte,jedes

weitere Bedenken schwieg in ihr, und als der schöne,stattliche Mann am nächsten Tage wirklich zu ihrenElternkamundumihreHandanhielt,sanksiejauchzendundweinendanseineBrust.Ihre Eltern waren durchaus nicht so froh über das

Verlöbnis; sie zogen Erkundigungen ein und erfuhren,daß Krikl ein Schuldenmacher und Spieler sei und eszweifellosnuraufdasgroßeVermögenabgesehenhatte.Daraufhin wollten sie, Sibylle solle ihm ihr Jawortzurückgeben. Aber vergebens. Denn ihre Leidenschaftkannte keine Grenzen mehr; sie erklärte, mit demGeliebten leben oder aber sich töten zu wollen, und sogaben denn die Eltern seufzend und voll düstererAhnungennach.UnddieAhnungen trogennicht.SchonwenigeTagenachderTrauungzeigtesichHerrKriklalskalter,herzloserEgoist;erbeganndieNächteaußerHauszuverbringen, spielte in schlechterGesellschaftHasard,ließ sich ingewagteund zweifelhafteSpekulationen einund hatte nach einigen Monaten die ganze MitgiftSibyllesdurchgebracht.Alssiesichweigerte,ihrenVater

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umeinegroßeSummeanzugehen,schrieeresihrkaltinsGesicht,daßeinMannwieereinesolächerlichhäßlichePerson nicht geheiratet habe, um plötzlich ohne Gelddazustehen.UnterderWuchtdiesesSchimpfesbrachdiejunge Frau zusammen, aber schließlich erbettelte siekniefällig bei ihrem Vater das Geld, das ihr Gatteverlangte, und blieb doch bei ihm, da sie wußte, siewürdebaldMuttersein.Die schrecklichsten Szenenwiederholten sich, immer

wiederforderteKriklGeld,mitunterbliebereineWocheund längerdemHause fern,bisschließlich ihrVatereinMachtwort sprach, die Tochter zu sich nahm und demElendendieTürewies.Bald darauf wurde der armen, enttäuschten Frau ein

Kind, ein Mädchen, geboren, und das MutterglückentschädigtesiereichlichfürdasverloreneEheglück.SovergingeinJahr,biseinesTagesHerrKriklwieder

aufderBildflächeerschien.ErlauerteseinerFrauaufderStraße auf, beschwor sie,wiedermit ihm zusammen zuleben,schilderteihrmitbewegtenWorten,wieverlassenund einsam er sei und wie geläutert durch all dasUnglück,beriefsichauf ihreeinstigeLiebeunderklärteschließlich,sichaufoffenerStraßevorihrerschießenzuwollen, wenn sie noch länger sich und sein Kind ihmentziehen würde. Und die arme Frau glaubte ihm —nicht, weil sie überzeugt war, sondern weil sie glaubenwollte — und gab abermals das reiche, behagliche

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Elternhausauf,ummitdemVaterdesKindeszuleben.Anfangsließsichauchallesganzgutan,umsomehr,

alsderSchwiegervaterwiedermiteinerrechtstattlichenSummeherausrückte,dannaberbeganndasaltehäßlicheLied von neuem. Krikl hatte auch die zweite Mitgiftseiner Frau verspekuliert, er führte wieder seinliederliches ausschweifendes Leben, forderte immerwiederGeld, erpreßte es schließlich unter derDrohung,sonst mit dem Kinde fortzugehen, bis Frau SibyllensVaterdieGeduldrißunderabermalsalleAnstaltentraf,umTochter undEnkelkind zu sich zu nehmen.Aber andemTage,andemdieÜbersiedlungvorsichhättegehensollen, war Krikl verschwunden und mit ihm das Kindund der wertvolle Schmuck der jungen Frau. Sibylleverlor über alledem fast den Verstand, und ein hitzigesNervenfieber warf sie aufs Krankenlager. VergebenserließihrVaterAufrufe,indenenerdemSchwiegersohnhohe Summen versprach, wenn er das Kind ausliefernwürde.—Krikl war nicht aufzufinden; eine leise SpurnurführtenachSüdamerika.

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XIV.KapitelFrauKriklerzähltweiter

Sowarendrei Jahrevergangen,alseinesspätenAbendsein Bote zu Frau Krikl kam, die zurückgezogen undverhärmt wieder bei ihren Eltern lebte, und sieaufforderte,ihmnacheinemkleinen,übelbeleumundetenHotel zu folgen, da dort ihr Kind krank liege. Undwirklich fand dort Frau Krikl ihr kleines Mädchen inverwahrlostemZustande,abgemagertundfieberndinderGasthauskücheaufeinemzerfetztenTeppichliegend.Voreinigen Wochen war dort Krikl, aus Südamerikaheruntergekommen und bettelarm zurückgekehrt,abgestiegen und hatte sich tagelang in der Stadtherumgetrieben, ohne sich um das blasse, kränkelndeKind zu kümmern, um sich am Morgen des Tages, andem Frau Krikl geholt worden war, in seinem elendenZimmer an einemBilderhaken zu erhängen.Aus einemhinterlassenen Zettel hatten die Wirtsleute den NamenunddieAdressederMuttererfahren.Überglücklich schloß Frau Sibylle ihr Kind in die

Arme,aberihrGlücksolltenichtlangewähren.DasKindhatte eine bösartige Lungenentzündung, und dergeschwächte kleine Körper konnte die Krankheit nicht

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überwinden. Nach wenigen Tagen hauchte es in denArmenderMutterseinemißhandelteSeeleaus.Bald darauf starben auch in rascherAufeinanderfolge

Vater und Mutter der Frau Krikl, die nun allein ihrerVerzweiflung überlassen war. Jahre voll stumpfenTrübsinnskamen,und ausFrauSibylle entwickelte sichimmermehreinweiblicherSonderling,umsomehr, alssie aller materiellen Sorgen enthoben war und keinenKampfmit demLeben zu bestehen hatte. Siewar nochnicht vierzig Jahre alt, als Kinder und Dienstmädchenhinter ihr hertuschelten und sich über die »alte Hexe«lustig machten. Aber das Herz der Hexe war nichtvertrocknet wie ihre hagere Gestalt und das gefurchteGesicht.ImmermehrwandteessichdenKindernzu,diesie in denGärten an sich zu locken begann, nur um infremden Kindern das eigene, verstorbene zu streicheln,und immer in der vergeblichen Hoffnung, daß einmaleines dieser kleinen Wesen, denen sie so gerne Liebeserwiesenhätte,dieÄrmchenumsieschlingenundihreingutes Wort geben würde. Aber die Kinder taten dieswahrhaftig nicht. Waren sie arm, so nahmen sie wohlgerne warme Kleider, Schuhe und Wäsche mit einemartigen Knicks entgegen, aber zutraulich wurden sienicht; ihnen blieb die dürre Person mit der großenHakennasekomischundaucheinweniggruselig,undoftgenugerlebtesiees,daßKinder,denensieZuckerwerkindas Händchen drückte, ihr nachher die Zunge

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herausstreckten und ihr »alteHexe« nachriefen. Sowarsiewirklichaltgeworden,hattedieSechzigüberschritten,lebteihreinsames,schrullenhaftesDasein,liebteaberdieKindernachwievor,unddieZahlderKleinen,dievonihr bekleidet und beschenkt wurden, war Legiongeworden.Das ungefähr erzählte Frau Sibylle dem kleinen

Jungen, während hinter dem Tuch ihr einzigerLebensgefährte, derPapagei, abund zuhalblaut knurrteundschimpfte,»Hexe«riefundnachderPolizeischrie.Bobhatteaufmerksamzugehört,immernäherrückteer

andiealteFrauheran,umschließlichleise»SieArme!«zu sagen und einen Kuß auf die dürre, welke Hand zudrücken.Daweinte sie laut auf, und auch demKnabenstand dasWasser in denAugen.Undwieder schoß ihmdieGewißheitdurchdenKopf,daßdasLebengarnichtso heiter und sorglos sei, wie er es bisher geglaubt,sondern voll schwerer Prüfungen undQualen, die er inihrer ganzen Tiefe nur ahnen, nicht aber verstehenkonnte.Doch der Freundschaftsbund zwischen Frau Sibylle

und BobHolgermanwar geschlossen und die alte Frausagte, bevor Bob wegging, sehr feierlich: »Mein lieberJunge,ichbinnureinaltes,dummesWeib,aberwasichtun kann, um dir und deinem kleinen Bräutchen zuhelfen,willichtun,undwennichbettelngehenmüßte.«Bob ging nach Hause. Wohl hatte er sich zum

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zweitenmal schwer blamiert, aber erwar doch besserenMutes. Zum erstenmal war seine Gertie sein Bräutchengenannt worden, und das hob gewaltig seinSelbstbewußtsein,undzugleichstieginihmeinwarmes,sicheresGefühlauf,dasihnwiederhoffenließ.BevorersichzuBettelegte,blickteerwiederzumoffenenFensterhinaus, rief einer fallenden Sternschnuppe »Gertie« zuund sagte sich, halb schon imSchlafe: »Gertie lebt, ichweißes!«Der nächsteTag ließ sich aber recht unglimpflich an.

Schon in aller Herrgottsfrühe war Herr Holgermanangerufenworden,undalsersichandenFrühstückstischaufderTerrassesetzte,standihmdievonseinerFrausehrungerngeseheneZornesaderanderStirne.»Bob,«sagteerlautundstreng,»nunistesgenugmit

denAlbernheiten.Eben riefmich der Inspektor vonderKriminalpolizei an und erzählte mir von Dummheiten,diedunun schon zweimal angestellt hast.Erbittet dichdringend,dieHändevonsolchenDingenzulassen.«Bobwarfeuerrotgewordenundsahsounglücklichauf

seinen Teller, daß Herr Holgerman Mitleid mit ihmempfand und etwas weicher fortfuhr: »Es ist ja sehrhübschvondir,daßdudichumdeinearmeFreundinsohärmst, aber du mußt einsehen, daß du mit deinendreizehnJahrennichtsausrichtenkannst.Dumachstallenmöglichen Leuten Ungelegenheiten, und wenn das soweiter geht, wirst du Gegenstand humoristischer

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Betrachtungen in den Zeitungen werden. Das wäre unsallen wohl sehr peinlich. Übrigens kann ich dir sagen,daß die Polizei, wie mir Herr Crispin versichert, nichtdarandenkt,denFallbeiseitezu legen.Siehat ihrNetzüberdasganzeLandgespannt,eswurdenschonzahllosebedenkliche Individuen ausgeforscht, alle Hafenortewerdenüberwacht,undwennGertieunterdenLebendenweilt,sowirdsieschließlichdochnochgefundenwerden.Du mußt mir aber jetzt versprechen, Bobbie, daß dunichtsmehrunternehmenwirst.«Entschlossen sah Bobbie seinem Vater aus großen,

blitzendenAugeninsGesicht:»Nein,Papa,daskann ichdirnichtversprechen,weil

ich dich sonst belügen würde! Ich werde vorsichtigersein, aber ichmußweiter suchen. Jede Stundemuß ichsuchen,Papa!Undwassollteichauchanderstun?Lesenkann ich nicht, weil ich doch immer an Gertie denkenmuß, und spielen erst recht nicht! Papa, bitte, verlangedasnichtvonmir!«Frau Holgerman sagte tadelnd: »Aber Bobbie!« Herr

Holgermanwollteauffahren,umenergischgegensolcheUnbotmäßigkeit aufzutreten, aber er tat es nicht. DennihmgegenübersaßeinMensch,dernurmehrdenJahrennacheinKnabewar,einMensch,deramganzenKörperbebte, und aus dessen todbleichem Gesicht einfurchtbarer Lebensernst und eiserne Energie sprachen.Und die Blicke der Eltern begegneten sich voll banger

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Sorge, und sie senkten die Augen und schwiegen undfreutensichimHerzenihrestapferen,kleinenJungen.

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XV.KapitelBobkaufteinenHund

NachdemFrühstückgriffBobwiegewöhnlichnachderZeitung, die er weitaus gründlicher und aufmerksamer,als es andere Kinder in seinem Alter zu tun pflegen,durchlas. Auf der letzten Seite fiel sein Blick auf eineAnzeigemitderÜberschrift:»SelteneGelegenheitfürHundeliebhaber.Wegen Übersiedlung nach dem Ausland ist

PrachtexemplareinesAirdale-Terriers,zweiJahrealt,zuverkaufen. Großer Stammbaum. Eltern mehrfachpreisgekrönt. Glänzende Dressur, als Polizeihundabgerichtet.«UnddannfolgteeineAdresse.BobsprangmitglühendenAugenauf.Papahatte ihm

doch als Belohnung für das gute Zeugnis einen Hundversprochen! Und hier war nun ein Polizeihund zuverkaufen, also ein Hund, der verwendet wurde, umSpurenaufzunehmen!Oh,Boberinnertesich indiesemAugenblick,oftund

immerwiederGeschichten in denZeitungen gelesen zuhaben, wo Polizeihunde Verbrecher gefangen und dieschwierigsten Spuren aufgenommen hätten! Warum

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eigentlich hatte die Polizei nicht nachGertiemit einemsolchenHundegesucht?Aberwasnichtgeschah,konntenochimmergetanwerden,undzwarmitseinemeigenenPolizeihund!Fröhlich und erwartungsvoll, wie schon seit Tagen

nicht, fuhr Bobmit derUntergrundbahn quer durch dieStadt zu demHerrn, der seinenHund verkaufenwollte.Er fand dort alles in vollerAuflösung begriffen,Kistenund Koffer standen umher, kurzum, man sah, daß dieAnzeige nicht gelogen hatte, sondern hier wirklichjemandeinenUmzugbewerkstelligte.Bob stand zuerst allein in dem halb ausgeräumten

Zimmer, dann ging plötzlich die Tür auf und hereinschritt nicht etwa ein Mensch, sondern ein Hund, deralleindieKlinkeniedergedrückthatte.Sicherwaresderangekündigte Airdale-Terrier. Ein prachtvolles,mittelgroßes Exemplar von wunderbarer Färbung undbeispiellos klugen Augen. Zuerst knurrte das Tier denKnaben höchst unwillig an, als aber Bob, der sichdurchausnichtfürchtete,ihmschmeichelnd:»Komm'her,komm'!« entgegenrief, schritt der Hund näher, wedeltefreundlichmit der Rute, als er gekraut wurde, und ließsichdannzuFüßenBobsnieder,wobeierkeineSekundeaufhörte,denKnabenanzublicken.BobwaraußersichvorFreudeüberdenHund,dener

schon gewissermaßen als sein Eigentum betrachtete. Erkniete neben ihm nieder, tätschelte das Tier, schüttelte

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ihmdiePfoten,undgeradealsder rechtmäßigeBesitzerhereintrat,warerimBegriff,dieSchnauzedesTiereszuöffnen, um sein Zahnfleisch und die Zähne zuuntersuchen; denn Bob hatte erst kürzlich in einemArtikel gelesen, wie wichtig die Beschaffenheit desGaumens und der Zähne eines Hundes zur BeurteilungseinerRassereinheitundGesundheitist.Herr Peters, der Herr des Hundes, blieb überrascht

stehen:»Nanu, Sie haben ja rasch Freundschaft mit Troll

geschlossen!Seltsamgenug,daßsichderHunddasvonIhnen gefallen läßt! Nicht zu glauben! Wäre sonstimstande,einenFremden,derihnauchnuranrührt,ohnedaß ich die Erlaubnis dazu gegeben habe, glattniederzureißen!«StolzundfreudigrichtetesichBobauf.»Magsein,HerrPeters,daßsoeinHundgenauspürt,

wer ihn gerne hat und gut behandeln will! Alle Hundesind gut zu mir, wahrscheinlich, weil ich Hunde sehrliebe!«HerrPeterssahschmunzelndaufdenJungenherab.»Na, mir ist es recht so! Hätte mich ohnedies nicht

leicht entschlossen, Troll dem erstbesten Protzen zuübergeben, dem ein Hund nur als Dekoration undHausputzdienensoll.«UndnunsetzteerallesWissenswerteüberdenRüden

auseinander und versicherte, daß er der bestdressierte

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Hund auf dem ganzenKontinent sei. Troll stand dabei,wedelteverlegenmitdemSchweif,alsmüßteersichübersovielLobschämen,undsahabwechselndseinenHerrnund den Knaben an, um plötzlich an diesememporzuspringen und ihm mit der rosigen Zunge insGesichtzufahren.Ein kurzes »Troll, pfui!« genügte allerdings, um ihn

sofort beschämt auf alle viere zu strecken. Die weitereUnterhaltung schien ihn nun nicht sonderlich zuinteressieren,erdehntebehaglichdieGlieder,gähnteundbegnügtesichdamit,diebeidenanzublinzeln.ErwartungsvollundgespanntfragteBob:»HerrPeters,hatTrolleinesofeineWitterung,daßer

jemanden, der vor sechs Tagen verschwunden ist,auffindenkann?«»Das hängt von den näheren Umständen ab, junger

Mann,« lautete die verwunderte Antwort, worauf Bob,ohnesonderlichzuerröten,draufloslog:»Vor sechs Tagen war bei uns ein Mann, den wir

wieder sehen möchten, ohne seinen Namen und dieAdresse zukennen.Wirhabenaber einenHutvon ihm.DenkenSie,daßTrolldieSpuraufnehmenkann?«HerrPeterswiegtebedächtigdenKopf.»SehenSie,jungerMann,wennicheinberufsmäßiger

Hundehändlerwäre,würde ichmit einem kräftigen ›Ja‹antworten.DaichaberkeinSchwindlerbin,sokannichnursagen,daßdasvonTrollselbstabhängtundnatürlich

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auchvondemWege,denderManneingeschlagenhat.Soein Hund hat seine Mucken wie ein Mensch. Und jefeiner der Hund und der Mensch, desto mehr Muckenhaben beide. Ist Trollmißmutig und schlecht aufgelegt,dannpfeift er aufdieSpur, schwindelt Ihnenetwasvor,macht,alswäreeraufderFährte,undfängtdannan,dieEcksteine zu begrüßen, womit alles für ihn erledigt ist.Willeraberwirklich,interessiertihndieGeschichteundisteraufSieandiesemTagegutzusprechen,dannleisteter wahrhaftig Wunderdinge, die man nicht glaubenmöchte,wennmansienichtmiterlebthat.«Bobgab sichmit dieserAuskunft zufrieden undkam

nun auf den heikelsten Punkt zu sprechen, auf diePreisfrage nämlich. Und der Preis, den Herr Petersnannte,warfürdesKnabenBegriffesoübertriebenhoch,daß er erschrak und erblaßte. Bob hatte von Geld undGeldeswertnurrechtunklareBegriffe,abersovielwußteerdochschon,daßdieTausende,diedaverlangtwurden,viel,vielGeldseien,undungefährdasZehnfachedessen,was sein Vater würde ausgeben wollen. Sehr kleinlautundunglücklichempfahler sichmitderBemerkung,zuHauseberichtenzuwollen,undselbstdieTatsache,daßTroll ihn bis auf die Straße begleitete, konnte ihn nichttrösten.VerstimmtundverzagtbetratBobdieHolgermansche

Fabrik,umseinenVateraufzusuchen.»Papa, du hast mir vor sechs Tagen, als ich mein

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Zeugnis erhielt, versprochen, mir einen Hund samtHundehütte zu kaufen. Ich hätte jetzt einen schönenAirdale-TerrieranderHand,denichfurchtbargernhabenmöchte.Wievieldarfichdafürausgeben?«Herr Holgermanwar hocherfreut, daß sein Sohn nun

doch auf andereGedanken zu kommen schien, und gabdieserFreudeAusdruck,indemereinerechtbeträchtlicheSumme nannte. So beträchtlich sie aber auch war, siebetrug gerade den fünften Teil des Preises, den HerrPetersfürseinenTrollverlangthatte.Bob bedankte sich höflich bei seinem Vater, sagte

anscheinend leichthin: »Ich will nun sehen, ob ich denHunddafürbekommenkann«,undging tief traurigvondannen.Wasnuntun?SollteersichseinerMutteranvertrauen?

Diese würde ihm so viel Geld nicht geben wollen undkönnen, um so weniger, als er ja nicht sagen wollte,warum es gerade dieser Hund sein müsse. Aber Trollmußte sein werden, unbedingt. Wie eineSchicksalsfügung schien es ihm nun, daß er sich alsGeschenk einenHund ausbedungenhatte, heutemorgendiese Anzeige las und in Troll ein edles, schönes Tierfand,mitdemersichsogutverstehenwürde.Woheraberdas Geld nehmen? Zum erstenmal im Leben hatte BobGeldsorgen, zum erstenmal empfand er voll Bitterkeit,wasesbedeutet,wennmanunbedingtetwasbrauchtundesnichthabenkann!Dafiel ihmFrauSibylleKriklein.

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Er hatte ihr ja ohnedies versprochen, sie heute zubesuchen.Undhattesieihmnichtgesagt,siewürdeihmhelfen,undwennsiedeshalbbettelngehenmüsse?Nun,vielleichtkonntesiedasvieleGeldentbehren!Eswar nachmittags, alsBob zu FrauKrikl kam, und

die alte, häßliche Frau mit der Hakennase und demspitzenHexenkinnempfingihnfastjubelnd.»Bobbie,meinlieberJunge,wieschönundgut,daßdu

dein Versprechen hältst und zumir alten Frau kommst.IchhabedirauchdieschönstenErdbeerenbesorgt,dieinderganzenStadtaufzutreibenwaren.«Und während Bob vor einem großen Teller voll

Erdbeeren und Schlagsahne saß, erzählte er dieGeschichte von Troll, von der Freundschaft, die er mitdem Hunde geschlossen, und seiner Enttäuschung überdenunerschwinglichenPreis.Er hatte sich in Frau Krikl nicht geirrt. Voll

Begeisterungstimmtesiemitihmdarinüberein,daßTrollunbedingtseinwerdenmüsse.»Was das Geld anbelangt, Bobbie, so mache dir nur

keineSorge.Ichhabevielmehr,alsichbrauche.Morgenin aller Frühe gehe ich auf die Bank, und dann ist derHunddein!«Bob umhalste seine alte Freundin. »Frau Krikl, wie

werdeichIhnendasjemalsdankenkönnen?«»Nun,meinlieberJunge,erstens,indemdunichtmehr

davon sprichst; zweitens, indem du zu mir nicht mehr

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Frau Krikl, sondern ›Tante Sibylle‹ sagst, und drittensdadurch,daßduGertiefindest.Undnunruhedicheinmalaus,bist jaganzabgemagertundblaß;setzedichzumirundplauschenwireinwenig.«Tatsächlich gab es auch genug zu besprechen. Vor

allem, wie sollte der Knabe den Besitz des kostbarenHundes den Eltern gegenüber erklären? Frau Sibylleschob die Hornbrille auf die Stirne, dachte nach undmeintedannzögernd:»Bobbie,LügenisteineSünde,unddieElternbelügen,

eine doppelt schwere. Aber in diesem Falle ist es einefromme Lüge, die der liebe Gott dir sicher verzeihenwird.Duwillst ja nurGutes damit tun und niemandemein Leid zufügen. Also liegt eine fromme Notlüge vor,die nicht schwer ins Gewicht fallen kann. Sage denEltern, daß du den Hund für den Preis, den dein Papabewilligthat,bekommenkannst.«Bob war entzückt. Innerlich war er ohnedies

entschlossen gewesen, sich herauszuschwindeln, aberjetzt, wo ihm die alte Dame gewissermaßen dieSündenvergebung im vorhinein erteilt hatte, war erdoppeltfroh.AlsTrollnebenseinemneuenHerrneinherging,warer

entschieden in schlechterGemütsverfassung.Er ließ dieOhren hängen, hatte den kurzen Schwanz eingezogen,undein leisesKnurren ertönte, das jedenAugenblick inheftiges Bellen hätte übergehen können. Bob empfand,

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was indemTiere,demdieMenschen in ihrermaßlosenÜberhebung so gerne die Seele absprechen, vorging,zärtlich legte er seine kleineKnabenhand auf denKopfdesHundesundsagte:»Ja,meinTroll,jetztgehörstdumir!Aberdusollstes

recht gut bei mir haben, und wir wollen gute Freundewerden!«Der Hund schien verstanden zu haben, er sah sich

nochmals nach der Richtung um, aus der sie beidegekommenwaren, bellte kurzund scharf auf, alswürdeer dem früheren Herrn ein letztes Lebewohl zurufen,sprangdann anBobhinauf, um ihn abzuschlecken, und—warseintreuerSklavegeworden,ohnelängerüberdieVergangenheit,überdasGesternnachzudenken.Bob widmete diesen Tag, den achten seit dem

VerschwindenGerties,ganzundgardemHunde.Ersagtesich, daß dieser sich in seiner neuen Umgebung nichtgleichwohlfühlenwürde,undesdahernotwendigsei,mitTroll ganz intim zuwerden, bevor er ihm irgendwelcheschwierigeAufgabezumutenkönne.TrollwurdefeierlichVater und Mutter vorgeführt, machte dann dieBekanntschaft Eduards, des Stubenmädchens und derKöchin, die ihm sofort voll Entzücken Fleisch in einenTellermitSuppe,GemüseundBrotschnitt,er lerntedieihm zugewiesene Schlafstelle vor der Türe zumSchlafzimmer Bobs kennen, und als die Schlafenszeitgekommenwar,streckteersichmitbehaglichemKnurren

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auf den kleinen Strohsack, den sein Herr gekauft hatte,undwimmertedurchausnichtnachdemaltenHeim,wieesBobbefürchtethatte.NichtsogutwiederHundschliefaberseinHerr.Bob

wälzte sich bis lange nachMitternacht schlaflos umher.Jetzt,wo er vor einemneuenAbschnitt seines rastlosenSuchens stand, überkam ihn Angst, Schrecken undVerzweiflung. Morgen würden es neun Tage her sein,seitdem Gertie verschwunden war. Bestand denn nocheineMöglichkeit,siezufinden?Warsienichtlängsttot?Schwamm nicht ihre arme, kleine Leiche im breitenStrom,derdurchdieStadtseinegeheimnisvollenWasserführte?UndwennsieirgendwobeibösenMenschenlebte—welchfurchtbarenQualenundMißhandlungenmochtesie dort ausgesetzt sein? Immer wieder hatten dieZeitungen von Bestien inMenschengestalt geschrieben,die kleinen, hübschen Mädchen nachjagen — wasmochten sie nur seiner süßen, blonden Gertie angetanhaben?UndandieMutterGertiesmußteerdenken,dieTagundNachtweinte,immerwiedervonHerzkrämpfenbefallen wurde und sicher ihrem Tode entgegenging,wennGertienichtgefundenwurde.Wie aber sollte er, ein kleiner, unerfahrener Junge,

einen Menschen finden, den die Polizei mit ihrenDetektiven, Steckbriefen und Kundmachungen nichtfindenkonnte?Wassollte ihmTrollnützen?NeunTagemit Stürmen und Regengüssen waren vergangen, da

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konnte es doch nicht möglich sein, die Witterungaufzunehmen, noch dazu die Witterung nach einemMenschen, der nicht zu Fuß von Hause fortgegangen,sondern sicher in einem Automobil weggeschlepptwordenwar.BobschluchzteinseinKissenhineinunderpreßteden

Zipfel des Polsters in den Mund, um nicht lautaufzuheulen. Fieber schüttelte den schlankenKnabenkörperunderstöhnteleisevorsichhin:»Gertie!Gertie!«Am Morgen wachte er zur gewohnten Stunde um

siebenUhraufundfühltesichwiezerschlagen.Abermiteinem energischen Ruck schüttelte er die Nacht, dieschwarzen Gedanken und den Schmerz ab, und dasPochen seinesHerzens sagte ihm, daß er vorwichtigenAufgabenstehe.DaskalteBadunterderDuschebelebteihn,undalsermitTroll,derihnstürmischnachHundeartbegrüßt hatte, das Frühstückzimmer betrat, machte ereinen heiteren Eindruck, so daß ihn seine Mutter nochinniger als sonst auf die Stirne küßte und der Vaterbefriedigt nickte, weil er annahm, daß Bob durch dieFreude über den schönen Hund seine Schmerzen zuvergessenbeginne.

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XVI.KapitelTrollplagtsichvergeblich

Zunächst begaben sich die beiden, Bob und Troll, nachdem Park, wo der Wächter den Hund gebührendbewunderte, dem Gedanken aber, mit Trolls Hilfe eineSpurvondemkleinenMädchenzufinden,einwenigkühlund zweifelnd gegenübertrat. Dann besuchte der Knabemit seinem Hunde Frau Sehring. Gerties Mutter saß ineinemLehnstuhl in der Sonne bei offenem Fenster undsah zu, wie die Pflegerin einer großen, robusten Fraubehilflich war, ganze Berge von Wäschestücken inBündelzuschnüren,ineingroßesundineinkleineres.KaumerblickteFrauSehringdenKnaben,alsihrauch

schon wieder die Tränen über die eingefallenenschneeweißen Wangen liefen. Zaghaft, verlegen,verzweifelttratBob,denHundamHalsbandeführend,zuihrundsagte:»DiesistTroll,meinHund,denichkaufendurfte. Er ist ein vorzüglicher Polizeihund, und ichwillmitihmGertiesuchen.«FrauSehringlächelteunterTränen.»Ach,Bobbie,dasistwohlallesvergeblich!Wennuns

Gott im Stiche läßt, sowird uns einHund nicht helfenkönnen!«

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Inzwischen schwang die robuste Frau das großeBündelaufdenRücken,nahmdaskleinereineineHandund wollte gehen. Ein schrecklicher Gedanke schoßdurchBobsKopf.Aufgeregtriefer:»WasistindemBündel,FrauSehring?«»DieschmutzigeWäsche,«erwiderteFrauSehring.»Auch die Wäsche Gerties?« schrie Bob ängstlich.

UndalsFrauSehringverwirrt»Jadoch,Bobbie,warumschreist du denn so?« erwiderte, sprang er auf dieWäscherinzu,dieschonunterderTürestand,undrief:»Halt, Sie dürfen noch nicht gehen!« und zu Frau

Sehring: »Ich brauche ja Wäschestücke, die Gertiegetragen hat; wie soll sonst Troll die Witterungbekommenkönnen?«Seine Aufregung wirkte ansteckend. Lebhaft, wenn

auchmühsam,erhobsichFrauSehring.»HierindiesemkleinenBündelistdieganzeWäsche,

die Gertie in den zwei oder drei Wochen vor demUnglück getragen hat. Welches Stück könntest dubrauchen?«Bob überlegte. Sie hatten vor dem verhängnisvollen

Tage täglich in glühender Sonne im Park Diabologespielt,damußtennaturgemäßdieStrümpfeGertiesvondem Hautschweiß am stärksten imprägniert sein. Undrichtig—dieswarendieweißenStrümpfe,dieGertieerstam Tage vor ihrem Verschwinden getragen hatte, ererkannte sie an dem Loch in Kniehöhe, das einen

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rostrotenRand aufwies. Siewar gefallen und hatte sichein wenig das Knie aufgeschunden, so daß der eineStrumpf ein Loch davongetragen hatte. Er nahm alsodiesen Strumpf und noch ein Taschentuch und einHemdchen.BevorermitdiesenStückenundTrollabzog,bat er aber noch Frau Sehring und die Pflegerin, seinerMutter nichts von seinen Plänen zu erzählen. Raschbegaber sichmitdemHundauf seinZimmer, legtedieWäschestücke auf den Fußboden und drückte TrollsSchnauzedarauf.»Troll,« sagte er, »mein lieber guter Troll, riech'

ordentlichdaranunddannsuch',such',wasdunursuchenkannst!«EsbedurfteabergarnichtsolchinnigerZusprache.Der

glänzenddressierte,mitererbten InstinktenausgestatteteHund schien sofort zu verstehen, um was es sichhandelte; er geriet in Aufregung, stellte die Ohren auf,knurrte unruhig, wühlte ordentlich mit der feuchtenSchnauze in den Sachen und sah dann seinen Herrntatenbereit und erwartungsvoll an. Bob steckte denStrumpf in die Tasche und verließ mit dem Hunde dasHaus.KaumwarensieaufderStraße,alsTrollnervöszusuchenbegann.Zwei-,dreimalrannteervordemHaustoraufundab,dann senkteerdenKopfund liefgeradeaushinüber in dasMiethaus hinein, in demGertie gewohnthatte, und Bob mußte ihn am Halsbande zurückziehen,sonstwäreerdieTreppenhinaufgelaufen.

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DerKnabewarverzagtunddasWeinenwarihmnahe.Wasnun?DerHundhattedieSpurgefunden,wunderbargenug,aberdochnurdieSpur,dievonGertiesWohnungzu seinem Hause hinführte! Und damit war nichtsgewonnenundnichtsgetan.»Troll,komm',dasheißtnichts!«UndwiederschienderHundzuverstehen,undaucher

warenttäuschtundließdieOhrenhängen.Sie gingen durch den Park über den Spielplatz. Troll

abernahmkeineSpurauf,sondernschnupperteheftigindieLuftundgabnureinenwehklagendenLautvonsich.Erst als sie wieder in der Straße zwischen den beidenHäusern angelangt waren, begann er zitternd zu demHaustorundhinüberzudemanderenzulaufen.Der Tag verging und die Nacht, und der zehnte Tag

war gekommen. Bob war nach gründlicher Überlegungund Rücksprache mit Frau Sibylle zu dem Entschlussegelangt, wieder seine Streifzüge durch die Gärten derStadt aufzunehmen. Vielleicht weilte Gertie in einemHause mit anderen Kindern; vielleicht kam eines vondiesen in einen Garten; vielleicht witterte Troll dieBerührung dieses Kindesmit Gertie. Oder aber es kameinKind,dasSachentrug,dieGertiegehörten,wasauchimBereichederMöglichkeitlag.»VieleVielleicht,wenigklareHoffnungen—aberwir

dürfen nichts unterlassen, was auch die geringstenMöglichkeiten bieten kann,« hatte Frau Krikl gesagt.

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AuchbeiihrwarTrollaufvolleSympathiegestoßen,dienach einigem Mißtrauen erwidert wurde. Den frechenPapagei allerdings hatte Troll zuerst furchtbar verbellt,um ihn dann mit Verachtung zu strafen und auf diereichlichen Beschimpfungen und die vielen »Halt'sMaul«,dieihmJokozubrüllte,nichtzureagieren.AlsBobeinesTagestodmüde,hungrigundergebnislos

mitdemebenfallsmißgelauntenHundeheimkam,fanderdas Abendblatt mit einem Artikel vor, der die fettenÜberschriftentrug:

DasGeheimnisderGertieSehring.VerhaftungeinesEhepaaresvorderEinschiffungnachBrasilien.

AmganzenKörperzitternd,lasBob:»Es sind volle zehn Tage vergangen, seitdem die

zehnjährige Gertie Sehring, ein Kind von auffallenderSchönheit,spurlosamhellichtenTageverschwundenist,und noch immer hat die Polizei dieverabscheuungswürdigen Menschenräuber nichtentdeckenkönnen.Esmußaberzugegebenwerden,daßdie Polizei sich alle erdenklicheMühe gegeben hat, umdemGeheimnisaufdieSpurzukommen.SiehatsichmitdenPolizeibehördenallerLänder inVerbindunggesetzt,in Tausenden von Exemplaren wurden die Bilder desMädchensverschickt,sodaßheutekeinKriminalbeamter

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ohne dieses Bild in der Tasche ist. Sie hatte die großeBelohnung verdoppelt, die der Fabriksbesitzer HerrHolgermanaussetzte—derVaterdesKnaben,indessenGesellschaft sich Klein-Gertie zuletzt befand— sie hatalle Schlupfwinkel und Verbrecherspelunken der Stadtdurchstöbert. Wurde aber auch Gertie Sehring leiderbisher nicht gefunden, so hat die Suche nach ihr derPolizeidochzueinemgutenFangeverholfen. ImHafenzuLiverpool nahmdie dortigePolizei einEhepaar fest,das gerade im Begriffe war, mit fünf Kindern denDampfer›Salvator‹zubesteigen,dernachRiodeJaneirobestimmtwar.EinemderaufpassendenKriminalbeamtenwar es aufgefallen, daß sich die fünf Mädchen, die imPassagebureau, indemdieKartengelöstwordenwaren,alsKinderdesEhepaaresAvorescuangegebenwaren,imnahezugleichenAlterbefanden,woraushervorging,daßes sich nicht um Geschwister handeln konnte. DasEhepaar wurde verhaftet, und die fünf Mädchen, allesbildhübscheDingerzwischenzwölfund,vierzehnJahren,getrennt einemVerhör unterzogen. Anfangs wollten dieeingeschüchterten Mädchen, deren Körper Spuren vonSchlägen aufwiesen, nicht mit der Sprache heraus;schließlich als sie sahen, daß man ihnen nichts Bösesanhabenwollte,erzähltensieweinend,daßdieAvorescusnichtihreElternseien,sondernsieeinfachgekaufthätten.Die weitere Untersuchung förderte grauenhafteEinzelheiten zutage. Die Kinder, die teils aus Ungarn,

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teils aus Slawonien stammten, wurden tatsächlich füreinenSchandlohnandieAvorescusverschachert,diediehübschen Mädchen nach Brasilien verfrachten wollten,um sie dort in verrufenen Nachtlokalen alsBlumenverkäuferinnen und Tänzerinnen zu verdingen.WerdieLokalinRiodeJaneirokennt,weißaber,daßessich in Wirklichkeit um viel Ärgeres als umBlumenverkaufenundTanzengehandelthätte.Eswurdefestgestellt, daß sich unter den fünf Mädchen GertieSehring nicht befindet. Die Kinder wurden von derKinderschutzgesellschaft übernommen, das elendeEhepaar Avorescu bleibt in Haft und sieht schwererBestrafungentgegen.«SoweitderZeitungsbericht,denBobverschlang,ohne

ihninseinenäußerstenAndeutungenzuverstehen.Aberer dachte: Dieses Ehepaar hat man nun verhaftet, werweiß,wievieleanderesolcheesgibtundwoGertieheuteklagtundjammert!Immerunruhiger,zerfahrenerundbekümmerterwurde

Bob. Die Tage kamen und gingen, es war nun schongenauzweiWochenher, seitmitGertiedieknabenhafteLebensfreudeaus seinemDaseingeschwundenwar,unddieHoffnungen,dieeranTrollgeknüpfthatte, erfülltensich auchnicht.Vormittags von acht bis gegen einUhr,nachmittagsvondreibiszumAbenddurchstreifteerdieStraßen, Gärten und Anlagen mit Troll, immer wiederließ er ihn den Strumpf und die anderenWäschestücke

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Gertiesbeschnuppern,aberTrollkonntenichtsfinden.Erwollte,dassahmanganzdeutlich,erquältesichgeradezuab, er schnupperte verzweifelt zwischen Haustor undHaustor umher, aber sobald sie um die Ecke gebogenwaren,hatteerkeineWitterungmehrundheultekurzundjämmerlichauf.Bob begann an Appetitlosigkeit zu leiden, dunkle

RingelagertensichumseineschönenbraunenAugen,diejetzt strengwiedieeinesErwachsenendreinblickten.Erhatte fast täglich Kopfschmerzen und begann SpureneinernervösenGereiztheitzuzeigen,dieseineElternmitSchreckenundAngsterfüllten,bisdaseintrat,andasBobnur mit Grauen denken konnte. Herr Holgermanbestimmte endgültig denTag derAbfahrt nach der See.AmfünfzehntenTageseitdemVerschwindenGertiessaher seinen Sohn beim Abendessen scharf an, schlug mitderHandaufdenTischundsagte:»Nun wird es mir zu bunt! Bob sieht einfach

jämmerlichaus,nichtwieeingepflegtesKindausgutemBürgerhause, sondern wie ein unterernährtesArbeiterkind! In acht Tagen fahrenwir an die See, unddortwirdsichderJungehoffentlicherholenundsichdieunmöglichenWünscheausdemKopfschlagen.«Mit einem besorgten Blick auf Bob stimmte Frau

Holgermanneifrigzu:»IchbinmitallenVorbereitungenfertig, und was Bobbie noch an Matrosenanzügenbraucht,bestelleichmorgen.«

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Bob aber sagte gar nichts, sah tief schweigend aufseinen Teller nieder, den er hätte leeren sollen, unddachte:»Esistganzmerkwürdig!ElternmachenihrenKindern

zumVorwurf,wennsieschlechtaussehen.Alswennmanzum Vergnügen blaß wäre und die dummenKopfschmerzen hätte!Wennwir aber fortgefahren sind,dann werde ich mich leider nicht erholen, sondern erstrechtganzverzweifeltsein,weilichdannjedeHoffnungaufgeben muß, Gertie nochmals im Lebenwiederzusehen.«Und er beugte sich über den Teller und führte den

Löffel hastig und rasch zum Munde, damit man nichtsehenmöge,wiesalzigeTropfenausseinenAugenindieSuppeflossen——Am anderenMorgen ging er sehr zeitig, gleich nach

demFrühstück,zuFrauKriklund jammertesichbei ihraus.»Ich gebe es auf, Tante Sibylle, ich bin zu schwach

dazu,niewerdeichGertiefinden,undichkannauchgarnicht mehr suchen, weil mich meine Füße schon sehrschmerzen und ich immer Kopfweh habe und so müdebin,daßichmichamliebsteninsBettlegenmöchte!«FrauKrikl erschrak und begann bitterlich zuweinen.

Sollte denn des Unglücks kein Ende sein? Das süße,kleine Mädchen, wahrscheinlich längst tot, ihre armeMutterdahinsiechend,undnunnochdiesermutige,kluge

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Junge, der dem Jammer seines jungen Herzens zuerliegendrohte!»Bobbie,« sagte sie, die Tränen trocknend, »laß uns

nebeneinander niederknien und beten. Ich bete fast nie,weil ich derMeinungbin,man soll den liebenHerrgottnicht zu viel belästigen, sondern sich dasGebet für dieganzgroßenSachenaufheben.Aberichglaube,daßdieseineSacheist,fürdiemanbetensollundmuß.«UnddiealteFrau,diedieLeuteeine»Hexe«nannten,

undBobknietennebeneinanderniederundflehtenstummihrenHerrgott an, jeder auf seineWeise.FrauKriklmitinbrünstigerHingebungandenHeiland,Bobverwirrtunddurch hundert Nebengedanken abgelenkt, dem liebenGott tausenderleiVersprechungenmachend fürdenFall,daßerihnGertiefindenlassenwürde.

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XVII.KapitelTrollnimmteineSpurauf

Bob ging langsam und ein wenig schleppend, da erwirklichsehrmüdewar,mitdemHundevonFrauKriklsHaus nach demVolksgarten und von da quer durch dasStadtinnereweiter in derRichtung nach demStadtpark.Trotz des Hochsommers herrschte lebhaftes Treiben inden Straßen, die Automobile flogen mit ihren buntgeputzten InsassinnenwiedieSchmetterlingedahin,vorden Auslagen der Mode- und Luxusgeschäfte drängtendieMenschen, und immerwieder verlorBob denHundvonseinerSeite,sodaßerdieLeineausderHosentaschezogundsieanTrollsHalsbandbefestigte.Geradealsermit dieser Verrichtung beschäftigt war und über denHundgebücktdastand,rannteihneinriesengroßer,hastigvorwärtsstrebender Mann fast nieder, wobei er einenabscheulichenFluch statt einerEntschuldigungausstieß.UndindiesemAugenblickknurrteTrolldumpfauf.SeineHaare schienensichzu sträuben,dieOhrenstellten sichsenkrechtauf,underrißsoheftiganderLeine,daßBobfastumgefallenwäre.»Troll, benimmdich!« rief derKnabe ärgerlich.Aber

gegen seineGewohnheit folgte derHundnicht, sondern

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riß weiter, knurrte dumpf und schleifte seinen jungenHerrnanderSchnurhintersichher.Bob war verdutzt. Was fiel Troll denn ein? Warum

raste er förmlich dahin, was sollte die Aufregung desTieres bedeuten? Einer instinktiven Eingebung folgend,widerstrebte Bob nicht länger, sondern beschleunigteseineSchrittenachdemWunschedesHundes,folgteihmdurchdasGewühlderMenschen,folgteihmauch,alsderHund in eine Seitengasse einbog, und nun sah er zuseiner Überraschung, daß Troll einfach den Spuren desMannes nacheilte, der ihn vorhin beinahe umgerannthätte. Das Gesicht desMannes sah Bob nicht, hatte esauch bei dem Zusammenstoße nicht gesehen, aber ererkanntedenriesigenKerlsofortanderGestalt.Undsogingensieweiter,etwazwanzigSchrittehinter

demUnbekannten her.Troll knurrte nichtmehr, aber erhielt die Schnauze dicht an das Straßenpflaster, und alsderVerfolgtedieStraßequerte,gingauchderHundaufdie andere Seite. Jetztmachte derMann halt und betrateinenTabakladen.SofortbliebTrollstehen,wandtesichnach seinem Herrn um und begann dessen linkeRocktasche, ausgiebig niesend, schnaubend zubeschnuppern. Was sollte das wieder? Bob griffunwillkürlich in die Tasche. Richtig, da hatte er ja denStrumpfGerties, den er immermit sich herumtrug.DerHund stürzte sich förmlich mit der Schnauze in denStrumpf hinein, dann tänzelte er vergnügt umher, und

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schon zog er wieder an. Der Mann hatte den Ladenverlassen,gingweiterseinesWegesundTrollfolgteihmmitgesenktemKopf.Ein eiskalter Schauer streifte den Rücken Bobs. Sein

HerzbegannbisindenHalshineinzuschlagen,essaustein seinen Ohren. Kein Zweifel! Troll nahm dieStrumpfspur auf — Troll hatte einen ZusammenhangzwischendemRiesenunddemStrumpfegewittert,Trollwar auf der Fährte. In wirbelnder Eile schossen dieGedankenimKopfedesKnabendurcheinander.Wardaswirklich eine Spur? War es ein Irrtum des Hundes,vielleicht eine Laune nur, hervorgerufen durch denZusammenstoß vorhin?Aberwie immer dem auch seinmochte, es war zum erstenmal, daß Troll eine Spuraufnahm,undesgaltnundieserSpurzufolgen—schlau,vorsichtig,aufTodundLeben.Dennunwillkürlichsagtesich Bob, daß es gerade kein Genuß wäre, mit demRiesenkerl irgendwie in einen Streit zu geraten. Alsovorwärts, weiter, dem Manne nach! Die ruhige Straßemündete wieder in eine breite, durch die der Verkehrwogte. Und jetzt geschah etwas, worauf Bob und Trollnicht gefaßt waren. Der Mann vor ihnen sprang miteinemSatzaufeinenmächtigenAutobus,derebenseineFahrgeschwindigkeitverringerthatte.Wastun?NureinenAugenblick zögerte Bob, dann machte er mit einemRuckedieLeinelos,schrie:»Komm',Troll!«,sprangmitWindeseile dem Autobus nach und schwang sich,

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nachdem er sich glücklich vor dem ÜberfahrenwerdendurcheineAutodroschkegerettethatte,aufdiePlattformdes Autobus. Und nun ging die Fahrt in sausendemTempo vorwärts. Und Troll folgte getreulich mit langherausgestreckterZunge.Auf der Plattform war Bob einen Augenblick

stehengeblieben, um die Sachlage zu überblicken. DerMannwardieTreppehinaufgegangen,umeinenSitzplatzaufdemVerdeckzuergattern.Daswarganzgutso.VomInnerndesWagensaus,der inAnbetrachtderHitzefastganz leerwar, konnte er seinerseits denHund imAugebehalten, anderseits unauffällig hinter dem Manne hersein,fallsdieserwiederaussteigenwollte.Jeweitersichder Autobus aus demHerzen der Stadt entfernte, destogrößer wurde seine Fahrgeschwindigkeit, und Bobbegann für die Gesundheit Trolls ernstlicheBefürchtungenzuhegen.AberderHundbliebdichtbeiseinemHerrn und sah ihnmit einem Blicke an, der zusagenschien:»NurkeineAngst,ichkomm'schonmit!«GlücklicherweisehieltderAutobusnunauchsehroft,

umFahrgästeaussteigenzulassenoderaufzunehmen,sodaßTrollverschnaufenkonnte.DerAutobusverließdasWeichbild der Stadt, flog durch ein stark bevölkertesWohnviertel,kamdannineineGegend,indermanlinksund rechts nichts als Fabriken und Speicher sah, umschließlichdurcheinemitAhornbäumenbepflanzteAllee

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ineinesdervornehmstenVillenviertelderStadtzurollen.DieFahrthatteschonzwanzigMinutengedauertundderWagen war fast leer geworden, als Bob, der mitglühenden Wangen in dem dumpfen Kasten saß undununterbrochen nach der Treppe, die zum Oberdeckführte, stierte, endlichwiederdengroßenMannmitdenplumpen, gelben Schuhen und dem blauen Anzugheruntersteigen sah. Der Knabe duckte sich ganzzusammen,umnichtbemerkt zuwerden. JetzthattederRiesediePlattformerreicht,erdrehtesichdemTrittbrettzu,undBobsahihm,ohneselbstgesehenzuwerden,vollins Gesicht. Blitzschnell zog der Gedanke durch seinGehirn:»DenMannkenneich.«AbererhattekeineZeitzum Nachdenken, denn es galt nun, ebenfallsauszusteigen, ohne die Aufmerksamkeit des Verfolgtenauf sich zu lenken. Dieser war bei halber Fahrtabgesprungen,stießmitdemFußenachdemHunde,dersichdichtanihnherandrängte,undbogsofortindiedieFahrstraße schneidende Querstraße ein. Bob fuhr nochetwahundertSchritteweiter,dannsprangergeschicktinvollerFahrtab.SchonwarderkeuchendeTrollanseinerSeite, rasch befestigte Bob die Leine und ließ sich vonseinemHundedemMannenachziehen.Siehattennicht lange imglühendenSonnenbrandezu

gehen.HundertSchrittevorihnenbliebderMannstehen,zog einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete eineGittertüre, die in einen Garten führte, und verschwand

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hinterihr,ohnesichumzusehen.

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XVIII.KapitelBlumenstraße12

BobwarteteeineMinute,dannschlenderteermitseinemBegleiter,derwiederdieNaseaufdenBodenhielt,anderStelle, an der der Mann verschwunden war, vorbei. Erhatte sich überzeugt, daß die StraßeBlumenstraße hieß,und über dem Gittertor war die Hausnummer 12angebracht. Die Blumenstraße ist voll der herrlichsten,oft palastähnlichen Villen, von denen jede mit einemgroßen, gepflegten Garten umgeben ist. Bob erinnertesich, daß er einmal mit seinen Eltern in dieser StraßeeinenBesuchgemachthatteunddaßdieFamilie,zudersie geladenwaren, zu den reichsten des ganzen Landesgehörte. Ein schloßartiges Gebäude grenzte an dasandere, jedes lag tief inseinemGartenund jederGartenwar von mannshohen Gittern mit spießartigen Spitzenumgeben. Nur gerade gegenüber dem Hause Nr. 12befand sich noch ein leerer, von Holzplankeneingezäunter Bauplatz, an dem eine Tafel mit derInschriftstand:DiesesGrundstückistzuverkaufen.

NähereAuskunftimGeschäft,GartenstraßeNr.8.

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BobhattedasEmpfinden,daßseinVerweilenvordemHause in dieser stillen,menschenleeren Straße auffallenkönnteundtrotzdesEinspruchesTrolls,derhinüberzumHause Nr. 12 strebte, ging er bis zum Ende derHolzplankeundzurück.Trollwurdewieder losgelassen,ein Wink und gehorsam sprang der Hund über diePlanken und im Nu hatte sich Bob ebenfallshinübergeschwungen, um nun jenseits der Plankenzwischen verdorrten Grasbüscheln, leeren Flaschen,TiegelnundKonservenbüchsenzulanden.EinigeSchritteweiter aufwärts klafften die Bretter ordentlichauseinander, und der Knabe konnte nun in aller Ruhedurch die Lücke das Haus Nr. 12 in der Blumenstraßebetrachten. Ohne viel von der Kunst der modernenArchitektur zu verstehen, war er doch durch diegediegenePrachtderVillaüberrascht.Siewarganz ausgetöntemSandsteinerbaut,ohneOrnamentik,ohneErkerund Balkons, aber in der Linienführung von köstlicherHarmonie und edler Einfachheit. Außer dem hohenErdgeschoß besaß sie nur noch ein Stockwerk und alleFenster, die trotz der Hitze geschlossen waren, fielendurch ihre Höhe, aber auch durch ihre Schmalheit auf.Die Umrahmung der Fenster bestand aus schwervergoldeter Bronze und bildete den einzigen SchmuckdesHauses, das in der Front ziemlich schmalwar, aberersichtlich tief ging. Eine steinerne Freitreppe führte ander Vorderseite auf eine Terrasse, von der eine große,

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oben abgerundete Holztür mit reichem Kupferbeschlagden Eingang in das Innere des Hauses bildete. Von derStraßeauslinks,unterhalbundnebenderTreppe,befandsich ein anderes mächtiges Portal, über dessenBestimmungBob nicht im unklarenwar.Hinter diesemPortalbefandsicheinAutomobilschuppen,undBob,derähnlicheEinrichtungenoftgesehenhatte,warüberzeugtdavon, daßman vom Inneren des Hauses aus ebenfallsdieGaragebetretenkonnte.ReicheundvornehmeLeuteliebendasso,weilsiedannvomVolkeungeseheninihrAutosteigenkönnen.BobwischtesichdieSchweißtropfenvonderStirnund

beschattete die von der Sonnenglut und demangestrengten Starren schmerzenden Augen. War esmöglich, daß in diesem vornehmen, nach Ruhe undFrieden aussehenden Hause Gertie gefangen gehaltenwurde? »Nein«, sagte er sich, indem er versuchte, dieGedankenzuordnenundaneinanderzureihen.»Nein«—eigentlich war das so gut wie ausgeschlossen; dennMillionäreraubennichtkleineKinder!SollteTrollgeirrt,sollteerfalscheWitterunggenommenhaben?Esmußtewohlsosein.AberBobschriejetztleiseauf.

DieKettederEreignisse,dieerfastvergessenhatte,fielihmwiederein.TrollhattejanichtdiesesHausgefunden,sondernwarderSpureinesMannesgefolgt,einesgroßen,entsetzlich häßlichen Mannes, dessen Gesicht er ebennochgesehenund—erkannthatte!Woheraberkannteer

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es, wo war ihm dieser Mann mit dem bräunlichgelbenTeint,mitdenBlatternnarben,mitderleerenAugenhöhleschon begegnet? Wo, wo? Er hatte ihn schon gesehen,ganzsicher,erkanntediesesGesicht,aberwoher?Der Knabe preßte den schmerzenden Kopf an die

Bretterwandund dachtemit geschlossenenAugen nach.UndwiederlöstesicheinAufschreivonseinentrockenenLippen,undmiteinemMalewaresihmklar,daßerdenMann, der einNegermischling seinmochte, im Traumegesehen hatte. Ja, in einer der Nächte nach demVerschwinden Gerties war ihm das häßliche Gesichterschienen — ganz deutlich sah er das Traumbild vorsich. Aber Bob war ein kluger Junge, der nie anAmmenmärchen, nie an den schwarzen Mann und anGeister geglaubt hatte, und so sagte er sich, daß er denMann, der ihm im Traum erschienen war, unbedingtvorher einmal im Leben gesehen haben mußte. Undschon hatte er die tatsächliche Wirklichkeit erfaßt! Ja,damals, wenige Minuten, bevor er mit Gertie zumletztenmal heimwärts gegangen war, damals auf demSpielplatz, als sie Diabolo gespielt hatten, hatte japlötzlich dieser häßliche Mensch dicht vor Gertiegestanden und hatte sie aus seinem blutunterlaufenenAuge so durchdringend angestiert, daß sie erschrockenwar. Und Gertie, das liebe, gute Mädchen, dasniemandem auch nur in Gedanken etwas zuleide tunkonnte, hatte den abscheulichen Kerl auch noch

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bemitleidet und Worte des Bedauerns über Menschengesprochen,dievonNaturaushäßlichsind!WardasnurZufall,eingrotesker,albernerZufall,daß

Troll gerade hinter diesem Manne, der vielleicht derletzte Mensch gewesen, den Gertie vor ihremVerschwinden gesehen hatte, hergelaufen war? DerMulatte,dersichvorGertiehingepflanzt,derTraum,diebeharrlicheWitterung Trolls, das große, geheimnisvolleHausmit denverschlossenenFenstern, hinter denenderMannverschwundenwar—nein, das alles konnte keinZufall sein! Wie eine Erleuchtung, wie ein sicheres,hellesErkennenkamesüberBob.DiesesHausmußtedasGeheimnisGertiesbergen.Was

nun? Bob sah auf seine Taschenuhr. Himmel! Fast einUhrwaresgeworden!RaschnachHause,sonstwürdeerzuspätzuTischkommen,undseinVater,derbesondersindiesemPunktekeinenSpaßkannte,wäreimstande,ihnschonmorgenmitEduard aufsLand zu schicken!Flinküber die Planken. Troll beim Halsbande packend, weilder Hund winselnd wieder zum Hause Nr. 12 strebte,gingesmiteinpaarSätzenzurgroßenAllee;richtig,dakameinAutobus,undsogelanges,geradealsdieSuppeaus der Küche ins Speisezimmer getragen wurde, zuHause zu sein. Und diesmal fielen den Eltern nichteinmal die Verstörtheit Bobs, die Schweißtropfen inseinen Stirnlocken auf, da Herr Holgerman eben mitseiner Frau den Plan zur Errichtung einer neuen

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Fabriksanlagebesprach.BobzähltenachTischgenauseineBarschaftnach.Er

besaß,dajaFrauKrikldenganzenPreisfürTrollbezahlthatte und ihm so der von seinem Vater bewilligteKaufschilling verblieben war, noch eine beträchtlicheGeldsumme, und er beschloß, in klugerErkenntnis, daßes nun galt, alle Kräfte zu sparen und zu schonen, miteiner Autodroschke in die Nähe der Blumenstraße zufahren.SokonnteerTrollmitnehmen,dersonstwiederinder zunehmendenNachmittagshitze hinter demAutobushätte herlaufen müssen. Troll war über die Fahrt imoffenen Auto ersichtlich vergnügt, wurde aber, als sieganz nahe der Blumenstraße angelangt waren, unruhig,blähte die Nasenflügel, schnupperte, kurzum, er nahmwiederdieWitterungauf.BobhattedemChauffeur alsZiel dasHausNr. 4der

Gartenstraße angegeben. Die Tafel auf dem Bauplatzgegenüber dem geheimnisvollen Haus in derBlumenstraße besagte, daß im Geschäft Gartenstraße 8nähereAuskunftwegenderVerkaufsbedingungen erteiltwürde; bis genau vor dieses Geschäft wollte Bob nichtfahren,daderkleineDetektivganzrichtigdieKunstdesNichtauffallens als wichtigste aller Detektivkünsteerkannthatte,undsohieltdenndasAutozweiHäuservordemGeschäft.Es erwies sich, daß die Gartenstraße in gleicher

Richtungmit der Blumenstraße lief und von dieser nur

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durch einenHäuserblock getrenntwar.Während sich inder Blumenstraße und in allen Nebenstraßen nur Villenund ganz vereinzelt auch villenähnliche Miethäuserbefanden,machtedieGartenstraßeeinenweitauswenigervornehmenEindruck;siewurdeausschließlichvonhohenMiethäusern gebildet, die fast alle irgendwelcheGeschäfteimErdgeschoßbeherbergten.DasGeschäftimHauseNr.8wareineKonditorei,inderauchKaffeeundTeeausgeschenktwurden.VornedientedasaufdieStraßemündendeLokal nur zumVerkauf vonBackwaren allerArt, hinter dem Verkaufsraum aber lag nach rückwärtseinmittelgroßesZimmermitmehrerenTischen—einemidealen Treffpunkt für Liebespaare. Bob freute sichjedenfalls, daß dieses Geschäft Süßigkeiten und nichtetwaTerpentinundBenzinführte;Trollschloßsichganzseiner Meinung an, und beide verzehrten mit BehagenetlicheApfelkuchenundSchlagsahne.Der schöne Junge mit den braunen Locken um das

feine, mädchenhaft zarte Gesicht und der prachtvolleHund — beide hatten die Aufmerksamkeit derLadenbesitzerin und des bedienenden Mädchens erregt,diedennauchimmerwiederindemZimmerauftauchten,bald,umKuchenzubringen,dann,umabzuräumen,umeinGlasWasserhinzustellen,umdenHundzustreicheln,ummitdenSchürzendieKuchenkrümmelvomTischezukehren,kurzum,umdieunbekanntenGästegründlichzubeschnuppern. Schließlich blieb die rundliche Frau

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stehen, um abermals den Hund hinter den Ohren zukrauen,undsagtedabei:»Der jungeHerr ist sichernicht ausderGegendhier,

sonsthätteichSieschoneinmalvorhergesehen.«HocherfreutüberdieseAnspracheerwiderteBob:»Nein, bin zum erstenmal hier. Papa hat gehört, daß

hierAuskunft über einGrundstück in derBlumenstraßegegebenwird,undhatmichhergeschickt.«Die Frau, sie hieß Angerlein, schmolz vor Wonne,

rückteeinenStuhlzuBobheranundriefzurVerkäuferin,dieihreNichtewar:»Mary,bring'maldiePapierevomHauseNr.8inder

Blumenstraße!« und zu Bob: »Gleich hab' ich mir'sgedacht, daßSie nicht aus derGegendhier sind, jungerHerr,dennunsereinskenntjaalleLeute,diehierwohnen.Bin schon fünfundzwanzig JahreamPlatzundhab'hierschonmeinGeschäftgehabt,alsesnurwenigeHäuserinderGegendgab.«Bob gab sich kühl, gleichgültig, überlegen. Er nahm

Einsicht in den Plan des Grundstückes, den MarygebrachthatteunddermitZiffernbedecktwar,studierteihnscheinbargenauundsagtedann:»GuteFrau,indemHausegegenüberwohntwohlHerr

Ludwig Miller mit seiner Frau und den Kindern, nichtwahr?Papaglaubt,daßerihnkennt.«»Nein,jungerHerr,keineSpurvoneinemHerrnMiller

mitFrauundKindern.IndemHausegegenüber,dasdie

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Nummer 12 hat, wohnt ganz allein für sich der DoktorFrederic Morton. Hat keine Frau und keine Kinder,sondern nur einen häßlichen Mulatten als Diener unddessen auch nicht viel schönere Schwester alsWirtschafterin.«»So,« meinte Bob scheinbar gleichgültig, während

seine Pulse klopften, »ist wohl ein Arzt, dieser DoktorMorton?«»Nein,isternicht,wenigstenspraktizierternicht.Sum

und Sarah, die bei ihm sind, sagen, er sei ein großerGelehrter, der seine Studien hier macht. Mehr ist ausihnen nicht herauszukriegen! Wenn man sie ausfragenwill, so werden sie grob und frech. Aber reich muß ersein, der Doktor Morton, er hat ein wundervollesAutomobil.«»EinenBenzmitachtzigPferdekräften,«fielMaryein,

die ununterbrochen bewundernd den schönen Knabenanstarrte.»Ah, ja,« sagte Bob, »hab' ja vorhin einen großen,

weißen,offenenWagenstehengesehen.«»WarnichtdervonDoktorMorton, jungerHerr; sein

Wagenistgeschlossenunddunkelblau.«Bob lehnte sich in den Stuhl zurück, beobachtete

scheinbar den Hund, der sich mit hündischer Inbrunstgeradekratzte,undsagtedannleichthin:»So ein alter Sonderling, dieser Doktor Morton, wie

manihnvonDickensherkennt?«

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»Nein,« sagte Frau Angerlein, die nicht wußte, obDickenseinOrtodereineTortesei,undhalfdemHundebeim Kratzen, »alter Sonderling kann man eigentlichnicht sagen. Hat noch ein sehr gutes Aussehen, kannkaumvielüberfünfzigseinundgenießtauchseinLeben,kommtgewöhnlicherstspätnachtsheim.SoumfünfUhrherumfährterimmermitdemAutofort,wohlnachdemKlub.«Mary,einrechthübsches,munteresMädel,waranderer

Ansicht. »Tante, das mit den Fünfzig glaube ich nicht.Einmal,voreinpaarWochen,hab' ich ihngesehen,wieersichausdemFensterdesAutosherausbeugte,dasaherwie ein richtiger Mummelgreis aus. Und dasStubenmädchenvonNr.14 inderBlumenstraßehatmiraucheinmalgesagt:›DerDoktorMorton,‹hatsiegesagt,›bei dem kennt man sich gar nicht aus. Einmal könnteman ihn für vierzig oder noch jünger halten, und dannwieder gibt es Tage, wo er wie ein Siebziger aussieht.Wahrscheinlich schluckt er Arsen oder so etwas, wasjugendlichmacht.‹«»Na,« meinte Bob, »wozu braucht denn der Doktor

MortoneinsogroßesHausfürsichallein?Wannhateresdenngekauft?GibtwohlgroßeGesellschaften?«Frau Angerlein und Mary schüttelten die Köpfe und

begannenlebhaftzusprechen.»EigensfürsichhaterdenKasten vor fünf Jahren bauen lassen.Und kein hiesigerArchitekt hat ihn gebaut, sondern einer aus Frankreich,

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den er sich kommen ließ.VonGesellschaft keine Spur!Kein fremder Mensch betritt die Villa, immer sind dieFensterdunkel,undwennausderNachbarschaftjemandeinmal neugierig war und sich gerne die Einrichtungansehenwollte, dann haben ihn der Sam und die SarahangefauchtwieWildkatzen.«Indessen war mehrmals die Ladentüre auf und

zugegangen; das Hinterzimmer betrat jetzt ein StudentmiteinemholdenBackfisch,diegarnichterbautdarüberzuseinschienen,hierdieWirtin,einenKnabenundeinenHundzufinden,unddaesauchschonaufhalbfünfging,zahlteBobseineZecheundging,vondenwohlwollendenAbschiedsgrüßen der Frau Angerlein und ihrer Nichtebegleitet,dieessichnichtnehmenließ,Trollnocheinmaleine Makrone als Geschenk zu überreichen. Troll abersah als wohlerzogener Hund erst seinen jungen HerrnfragendanundstecktedenLeckerbissennichtinsMaul,bevor Bob nicht sein zustimmendes »Nimm!« geäußerthatte.Bobschlenderte langsamdurchdieBlumenstraßeund

mußteTrollstrengezusichrufen,daderHundsichvomGitter des Hauses Nr. 12 nicht entfernen wollte. Trollfolgteschließlich,sahihnaberverwundertundverärgertan, als wollte er sagen: »Du zwingstmich, tagelang aneinem Strumpf zu riechen, rennst mit mir in der Hitzeumher,sodaßmeineHundeseelestöhnt,undendlich,woich die Geruchsquelle entdeckt habe, darf ich ihr nicht

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nachjagen!WassinddasfürUngereimtheiten?«Dem Knaben wirbelten die Gedanken im Kopfe

herum.Was für Geheimnisse barg dieses verschlosseneHaus? Wer war Doktor Morton? Was konnte er voneinem armen, kleinen Mädchen wollen? Befand sichGertielebendinderVilladesMannes,derniejemandenbei sich empfing und einmal alt und dann wieder jungaussah?Oder—aberdasmochteergarnichtausdenken.Und was sollte nun geschehen? Wieder zur PolizeirennenunddemHerrnCrispinvonErlebnissenerzählen,die eigentlich gar keine Erlebnissewaren?Herr Crispinwürde ihn diesmal auslachen und seinen Vater anrufen.Und dann würde sein Vater furchtbar böse werden undihn sofort aufs Land schicken und jedenfalls dafürsorgen,daßseinJungenichtmehrdieStraßebetrat.Nein,ermußteallein,nurmitHilfeTrolls,derSpurnachjagen,mußte allein das Geheimnis des Doktor Morton undseinesHausesergründen!

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XIX.KapitelDoktorFredericMorton

Voll Unruhe, und von einer Nervosität erfüllt, die demfrischen,gesundenKnabenbisdahinunbekanntwar,zogBob unauffällig die Blumenstraße hinauf und hinunter,dabei aber immerwieder vor- oder zurückblickend, umdasHausnichtausdenAugenzulassen.Jetzt regte es sich dort. Rasch eilte Bob bis zu dem

Nebenhause. Eine lange, dürre Frau, die das Negerblutnoch deutlicher verriet als ihr Bruder, war damitbeschäftigt, das Gartenportal aufzuschließen und beideFlügelzuöffnen.Bobwußtesofort,wasdieszubedeutenhabe. Im nächsten Augenblick würde Doktor Mortonseine Ausfahrt antreten. Und richtig, kaum war dasGartenportal offen, als sich auch scheinbar automatischdie Eisentüre des unten und neben der TreppebefindlichenAutomobilschuppensbeiseiteschobunddasgroße, fürstliche,blaueundgeschlosseneAutomobildesDoktorMortonherausfuhr.LangsamfuhresdenKieswegimGartenentlang,geschicktwurdeesausdemGartentorherausgesteuertundbognunanBobvorbeiindieStraßeein. Die beiden Fenster der Karosserie warenheruntergelassen, so daß Bob blitzschnell einen

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flüchtigenBlick aufDoktorMortonwerfen konnte. Einglattrasiertes Gesicht mit scharfem Profil, graue, kalteAugen— das war alles, was Bob gesehen hatte. Nichtgenug,um sichganz einBildvon ihmzumachen, abergenug, um sich die Züge einzuprägen und die eisigenAugennichtzuvergessen.Nun galt es zu handeln, nicht den Bruchteil einer

Sekunde zu verlieren, denn schon hatte der riesigeMulatte,derjetztChauffeurwar,angekurbelt,sodaßderWagenpfeilgeschwinddahinglitt.EinBlickaufdieFrau,diesorgsamdasPortalverschloß,danneinpaarmächtigeSätzehinterdemAutoher,undmiteinemRuckhattesichder Knabe auf das rückwärtige Ende des Laufbrettesgeschwungen, so daß er nun keuchend hinter demoffenenFensterstand,währendTrolllautlosdemWagennachjagte.So war es am besten, überlegte Bob. Was konnte

weiter geschehen? Schlimmstenfalls würde DoktorMorton sich aus dem Wagenfenster beugen, nachrückwärtsschauenundihnentdecken.Dannwürdeerihneben für einen Gassenjungen halten, der sich dasVergnügen einer Freifahrt leistet, und er könnteabspringen. Einen Polizisten, der ihm drohend winkenwürde, könnte er durch eine herausgestreckte Zungeabtun.Aber nichts dergleichen geschah.MitWindeseilesauste das Auto dahin, so daß Troll längst nicht mehrmitkam, sondern weit, weit zurückblieb. Bob tat dies

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furchtbarleid,aberesließsichnichtändern.Erempfand,daß es jetzt um Tod und Leben gehe, um alles odernichts. Und Troll würde eben schließlich beleidigt denWegnachHauseantreten.Das Auto des Doktor Morton hatte die Altstadt

erreicht, fuhr jetzt etwas gemäßigter und hielt bald vordem prunkvollen Palast des Lunaklubs, den Bob vomHörensagen und aus Zeitungsberichten als einem dervornehmsten Spielklubs der Hauptstadt kannte.RechtzeitigwarBobabgesprungenundpfeifendstandervoreinerAuslagedesHausesnebendemKlubgebäude.Wasabernun?DoktorMortonwarobenimKlub,Bob

untenaufderStraße—damitwarnichtsgeschehen.UndderunheimlicheDoktorMortonwürdebisspätnachtsimKlub bleiben, also konnte er nicht auf ihn warten. BobrunzeltedieStirne:»Achwas,«sagteersich,»nunheißtes frech sein, sehr frech sogar. Ich werde in den Klubgehen! Einen Erwachsenen würde man nicht einlassen,einenkleinenJungenvielleicht.Ja,wenneresgeschicktanstellt.« Und angestrengt dachte er nach, wie es amgeschicktesten anzustellen wäre. Hatte er nicht neulichseinemVateramSonnabendindenKlubderIndustriellenTheaterkarten bringen müssen? Wie war er an demPortier vorbei hineingekommen? Sehr einfach; er hattedemPortier,derihnfragendangesehen,gesagt,ersucheseinen Vater auf, worauf der Portier genickt hatte. UndBob hatte damals nachher lachen müssen, weil ihm

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eingefallen war, daß er seinen, beziehungsweise seinesVaters Namen gar nicht genannt hatte. Also konnte esebenso auch hier versucht werden und im schlimmstenFallemißglücken.Gerade aber, als Bob mit der Hand seinen Rock

abstaubte und seinen Schlips ordnete, erlebte er einefreudige Überraschung. Mit langen Sätzen kam Trollangerannt, sprang an ihm herauf und leckte ihm unterjubelndemGebell das Gesicht. Bob klopfte zärtlich dasdampfende,erschöpfteTierab,hießihnruhigwartenundbetratdasPortaldesLunaklubs.BreitspurigstandderPortier ingoldbetreßterUniform

daundmustertevonobenherabdenKnaben,deraufrechtund sicher an ihmvorbei zurTreppeging.MitgeübtemAugestellteerfest,daßdiesergutgekleidetekleineHerrsicherderSprößlingeinervornehmenFamiliesei,undsofragteerdenn,strammandenMützenrandgreifend:»Wohin,bitte?«»Mein Vater ist oben,« erwiderte er kaltblütig und

ging, ohne eine weitere Entgegnung abzuwarten,scheinbar gemächlich, in Wirklichkeit klopfendenHerzens,dieTreppeempor.Uss!Nunwarerobenundlief,daerandemZerberus

glücklich vorbeigekommen war, kaum noch Gefahr,aufgehaltenzuwerden.Ohnelangezuzögern,drückteerdie schwereBronzeklinkedermächtigenEichenholztüreherab, die ihm gegenüber lag, und betrat einen Saal, in

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dem an mehreren kleinen Tischchen Karten gespieltwurde.DieSpieler schautenkaumauf,unddaBobhierden Doktor Morton nicht sah, ging er durch zweianstoßende Räume, in denen Billard, Schach, Dominound wieder Karten gespielt wurde. Das letzte Zimmer,das er betrat, war ein Herrensalon mit mächtigenKlubsesselnundschönenKupferstichenanderWand,mitSchreibtischen und einem Regal voll Zeitungen undBüchern.UmdenTischheruminderMittedesZimmerssaßenmehrere Herren und einer von ihnen war DoktorFredericMorton.BobhatteihnsofortwiedererkanntundgingnunaufdemweichenTeppichfastunhörbarundsogeschicktanderWandentlangzumZeitungsständer,daßihnniemandvondenHerren,dieineifrigerUnterhaltungbegriffenwaren, bemerkte.Mit raschemBlick hatte derJunge die verschiedenen Zeitungen, die in Rahmengespanntordentlichnebeneinanderhingen,geprüft,nahmeine jener riesigen holländischen Zeitungen, die manganz gut auch als Bettdecken verwenden könnte, setztesich lautlos auf einen niedrigen Ledersessel, verstecktesich fast ganz hinter der Zeitung und hatte so bequemGelegenheit,über ihrenRandhinwegDoktorMortonzubeobachtenundderUnterhaltungderHerrenzulauschen.Durchausnichtfurchterregendsahdiesermerkwürdige

Doktor Morton aus. Unbedingt ein schöner Mann vonetwa fünfzig Jahren, ein Cäsarenkopf mit auffallendfrischerGesichtsfarbe,dieHaareergraut,aberdicht,das

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Kinneckigundscharf,undimVereinmitdereinweniggewölbten Nase und der wuchtigen Stirn Energie undGeist verratend. Aber die Augen! Doktor Morton sahebenseinenNachbar,deranihndasWortgerichtethatte,scharfundvollan,undBobschrakzusammen.Inihremwasserhellen Grün erinnerten die Augen an das Meer,abersiewarennichtbewegtwiedieses,sondernstarrundkalt wie Eis, durchdringend, bohrend wie eineMesserspitze,undderKnabe,dernochsoweitvonjederMenschenkenntniswar,empfandunwillkürlich,daßkeinguterMenschsolcheAugenhabenkönnte.Under sagtesich: Wenn ich mit diesem Manne sprechen müßte, sohätteichnichtdenMut,ihnanzulügen,weilichglaubenwürde,daßermirinsHerzhineinschaut.DoktorMortonrichtetejetztseinenBlickindieEcke,

in der Bob saß, so daß dieser wieder ganz hinter derZeitung verschwand und nunmehr angestrengt derUnterhaltung derHerren lauschte. EinHerr inmittlerenJahren mit einem Monokel sagte eben zu Mortongewandt: »Wirklich ein beneidenswertesLeben, das Sieführen, Doktor Morton! Vormittags basteln Sie einbißcheninIhremStudierzimmerherum,denNachmittagundAbendverbringenSieinunserernettenGesellschaft,undnachts—na,ichbinüberzeugtdavon,daßSie,wennSienichtzuHausesind,ganzgutdieNachtumdieOhrenzu schlagen verstehen. Wenn ich dagegen meinRackerlebenbetrachte!SeinGutbewirtschaften,sichmit

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demInspektorherumschlagen,dieödestenSitzungenimLandtagmitmachenmüssenundnebenbeizuHausedenbravenFamilienvaterspielen—brrr!«DoktorMorton lachtekurzundscharfauf.»Sie irren,

verehrtester Herr Baron! Ich bastle nicht in meinemStudierzimmer herum, sondern betreibe sehr ernsthafteForschungen! Und es gibt einsame Stunden genug, indenen ich das Haus, das ich gebaut habe, zum Teufelwünscheundamliebstenaufunddavonmöchte.«»WoranSiedochniemandhindert,Doktor!« ließ sich

ein jüngerer, aber sehr behäbiger Herr vernehmen.»Materiell sind Sie ja wohl ganz unabhängig, dawissenschaftliche Forschungen, soviel ich weiß, nichtgeradevielGoldeinzubringenpflegen.AlsokönnenSiesich jeden Augenblick auf die Bahn setzen undirgendwohin nach demSüden oderNorden, nachChinaoderIndiengondeln.Ichwürdeesauchsomachen,wennichinIhrerbeneidenswertenLagewäre.«Morton schwieg eine Sekunde, um dann trocken zu

erwidern: »Jetzt kann ich wegen meiner Experimentenicht fort. Und dann bin ich auch genug in der Weltherumgewesen,sodaßmichdasReisenkaumnochreizt.Spätervielleichtwieder——«Ein Herr mit der schnarrenden Stimme des

aristokratischen Offiziers unterbrach ihn: »Apropos,lieberDoktorMorton.NeulichwarmeinalterHerrhierinder Stadt, um ein Mittel gegen Kalk und ähnliche

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angenehmeChosenzusuchen,undalsichihmbeieinemhöchst langweiligen Abendessen von unserem KluberzählteundauchaufSiezu sprechenkam,da sagteer,daß er vor etwa vierzig Jahren einen Doktor FredericMortoninSchanghaikennengelernthabe.Siekönnendasnunnatürlichnichtsein,weilsiedamalswohlnochkaumdie Schulbank gedrückt haben. Aber vielleicht einVerwandtervonIhnen.«»Jawohl,meinverstorbenerOnkel,dersowieichhieß

undauchbalddaunddort inderWeltherumreiste.WarübrigensvonBerufArztwieich.Dasheißt,Arztdarfichmich ja nun wohl nicht nennen. Wenigstens habe ichnochnieeinenPatientengehabt.AbermeinenDoktorhuthabeichalsMedizinerdocherworben.«Der behäbige Herr lachte breit und behaglich: »Das

glaube ich, daß Ihnen, lieber Kapitän, das Abendessenmit dem alten Herrn nicht gerade sehr unterhaltenderschien. Ihre schöne Lolo war wohl nicht mit dabei?Wennichmichdaranerinnere,wiedasMädeldamalsimAstorhotel mit den Beinen in je einem Sektkübel standund dabei beide Flaschenhälse im Munde hielt —famoser Kerl das! Und die Beinchen — na, ich mußsagen!«DieGeschichtevonderDamemitdenbeidenBeinen

in den Sektkübeln kam Bob so spaßig vor, daß erunwillkürlich die Zeitung hatte sinken lassen, um denSprecheranzublicken.UndplötzlichfielenalleBlickeauf

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ihnundderdickeHerrriefverwundert:»Nanu,wohldasjüngsteMitglieddesLunaklubs.Was

machenSiedennhier,holderKnabe?«Eine Sekunde nur setzte der Herzschlag des Knaben

aus,dannsprangerindieHöhe,schwenktegeschicktdieZeitung so, daß man nicht länger sein Gesicht sehenkonnte,undliefmitdenWorten:»Ich warte auf Papa, er wird wohl schon gekommen

sein!«ausdemZimmer.EineMinutespäterwareruntenbeiTroll,derfreudig

anihmmitdenunerläßlichenKüssenindieHöhesprang.

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XX.KapitelBobschmiedetPläne

Es ereignete sich der immerhin seltene Fall, daß eindreizehnjähriger Knabe, statt sich zu Bett zu legen, inseinem Zimmer bis Mitternacht auf und ab ging, umnachzudenken.WenigstenspflegenKinderdassonstnichtzu tun. Denn das eigentliche Nachdenken, das GrübelnundÜberlegen,isteinVorrechtderErwachsenen,dieoftgenug ausdenWirrnissendesLebensnicht einund auswissenunddannmitdenHändenindenHosentaschenimZimmer oder auf der Straße herumlaufen, um einegewisse Logik in Gedanken und Geschehnisreihen zubringen. Man kann sogar sagen, daß diese Form desNachdenkens eine Angelegenheit der Männer ist, dennnurseltenpflegteseinemweiblichenWeseneinzufallen,im Zimmer auf und ab zu gehen oder die Straßeentlangzulaufen, um nachzudenken. Sie pflegen dazuliebereinenSchaukelstuhlzubenützen,undesgehtauch,oderesgehtauchnicht.BobaberliefwieeinkleinerManninseinemZimmer

einher, weil es ihm ganz wirr im Kopf war und er dieBewegung brauchte, um den Knäuel im Gehirn zuentwirren. Schließlich entwickelte der kleine Detektiv,

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derabernichtwieinKriminalromanendiesesschwierigeHandwerk aus Passion betrieb, sondern aus tiefemSchmerzundvollerVerzweiflung,zweiGedankenreihen,dereneineinderFrage:»Wasweißich?«,dieandereaberin der Frage: »Wie komme ich in dasHaus desDoktorMorton?«gipfelte.Was weiß ich? Ich vermute vieles und weiß wenig,

sagtesichBob.Ichweiß,daßmeinguterHund,nachdemer tagelang vergeblich den Strumpf meiner Gertiebeschnuppert, plötzlich diesen Strumpf imZusammenhang mit einem Mulatten gebracht hat, derSamheißtundDienerbeiDoktorMorton indemHauseBlumenstraße 12 ist.Desweiterenweiß ich, daßGertieund ich unmittelbar vor dem Verschwinden desMädchensmitdiesemSamzusammengestoßensind. Ichvermutenun,daßTrollsichnichtgeirrthat,sondernderMulatteSamnochimmer inBerührungmitGertiesteht.Daß also Gertie sich im Hause des Doktor Mortonbefindetoderbefand.DiesemWissenundVermutenstehtaber anderes gegenüber: Ich weiß, daß Doktor MortonMitglied eines vornehmen Klubs, ein reicher undgelehrterHerrist.Undichweiß,daßreicheundgelehrteHerren Kinder weder zu essen noch zu verkaufenpflegen; was also sollte Doktor Morton mit Gertiemachen?WelchesInteressekönnteeran ihrhaben?Dasarme, süße Mädel zu rauben, zu töten, oder vor ihrerunglücklichenMutter zu verbergen?Allerdings, ich bin

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noch sehr jung, und es gibt viele Dinge, die ich nochnichtverstehenkann.ProfessorBrummelhatwohlrecht,wennersagt;manmußdasLebenvonGrundauskennen,um es richtig zu verstehen. Ich verstehe ja auch nicht,warum dieses Mädchen, das Lolo heißt, in zweiSektkübelnstandundauszweiFlaschenaufeinmaltrank,undwarum solche Unart dem dickenHerrn so gefallenhat. Und was er über die Beine dieser Dame sagte,verstehe ich erst recht nicht.Beine hat schließlich jederMensch.AllerdingshatzumBeispielGertiesehrschöneBeine.DashateinmalauchMamazuPapagesagt.UndvieleanderekleineMädchenhabenhäßlicheundplumpeBeine. Wie aber komme ich in das Haus des DoktorMorton, sodaß ichmichgründlichumsehenkann?Wasimmer ich auch tun würde, dieser Sam oder seineSchwester Sarah werden mich nicht hineinlassen. IchkanndochunmöglichzuDoktorMortongehenund ihmsagen: Sie, ich möchte in Ihrem Hause nach Gertiesuchen!Ichglaube,erwürdemichumbringen.Abereinesistsicher:ichmußunbedingtindasHaus,weilichmichüberzeugenmuß, obGertie dort ist.Man sagt: »Wo einWille,daistaucheinWeg.«Nun,ichhabedeneisernenWillenundmußauchdenWegfinden.Aber schließlich wurde der arme kleine Junge so

müde, daß ihmganzwirr imKopfwar, und so legte ersich denn endlich nieder und schlief schwer undtraumlos, bis ihn Troll nach gewohnterWeise kurz vor

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achtUhrweckte.Trollmachtediessehreinfach,indemermit einer Pfote die Türklinke niederdrückte, sich zumBettedesKnabenbegabundmitdenZähnendieDeckevon ihm fortzog. Wachte Bob dann noch nicht auf, soleckte ihm Troll die Fußsohlen ab, was sich immer alshöchstwirksamerwies.DieGlutwelle,dienunschonvieleTagelangdieStadt

umfangen hielt und ihreBewohner in dieBerge und andie See trieb, hatte in dieser Nacht einem warmen,sommerlichen Regen Platz gemacht. Als Bob zumFenster hinausguckte, war die Welt mit grauen Fetzenbehangen und der Regen rieselte unermüdlich vomgrauen Himmel auf die grauen Straßen nieder. Sonstpflegte solches Wetter bei Bob heftigen Unmutauszulösen, da dann die Gefahr bestand, daß er seinenBücherschrankgründlichinOrdnungbringenundGertiean die langweilige und prosaische Arbeit desStrümpfestopfensgehenmußte.Aberheutewardasallesanders. Gertie war fort, wer weiß wo, und seinBücherschrank befand sich in tadelloserOrdnung, da erihn seit vierzehn Tagen nicht mehr geöffnet hatte. Undüberdies paßte der Regen ihm sehr in den Kram, da erdadurch Gelegenheit fand, mit dem alten invalidenParkwächterMatthiasungestörtzusprechen.So war es auch. Der Alte hatte sich in den

Geräteschuppen verkrochen und rauchte eben mürrischseine Pfeife, als ihn Bob in dem menschenleeren Park

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aufsuchte. Sofort erhellte sich nun allerdings seineMiene,erludBobein,aufderumgestürztenKarrenebenihmPlatzzunehmen,undfragtebedächtig:»Na,jungerHerr,bringenSieNeuigkeiten?«Bob nickte. »Jawohl, große Neuigkeiten, Herr

Matthias,ichbinGertieaufderSpur.«MatthiaszogdieAugenbrauenhoch.»Na,na!Daßes

unsnurnichtwiedersogehtwievorher!«»Nein, Herr Matthias, diesmal glaube ich fest daran.

Undübrigenswargarnichtiches,derdieSpurgefundenhat,sondernTroll.«Trollbelltebestätigendkurzauf,undBoberzähltenunalles,wasderTagvorherihmgebrachthatte.Der Alte wiegte bedächtig den Kopf. »Scheint was

daran zu sein,möchte selbst nicht glauben, daß dasmitdem Mulatten nur Zufall ist. Und Troll hat eine guteNase,dasmußeinBlinder sehenundeinTauberhören.Aber was nun, junger Herr? Wie wollen wir an denDoktorMorton,oderwiederSatanmitseinerschwarzenBrutheißt,heran?«»Ja,das istdieFrage; ichglaubeaber,wirsolltendas

zusammenmitderliebenFrauKriklberaten.SieisteineklugeFrauundhatmichundGertiegern,undTroll,derjaeigentlichihrgehört,weilsiemirdasGeldfürihngab,erst recht!Wiewärees,HerrMatthias,wennwirgleichmalzuihrgehenwürden?Ichbinüberzeugt,daßesFrauKriklsehrfreuenwird,IhreBekanntschaftzumachen.«

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Matthias sah recht zweifelnd auf seine alte,abgetrageneUniformhinabundbrummte:»Möchtenichtdarauf schwören, daß es die gute Dame gar so freuenwird, einen alten Soldaten wie mich kennen zu lernen.Undaußerdemdarfichmicheigentlichgarnichtvonhierentfernen.Aberverdamm'mich,ichtueesdoch!Kommteh' keine Menschenseele bei dem Hundewetter in denPark,sogardenLiebespärchenistesheutezunaß.«Bob begriff das vollständig und dachte, daß er und

Gertie heute auch kein sonderliches Vergnügen daranhaben würden, im Freien spazierenzugehen, und sopilgerten sie denn, Bob in seiner Regenhaut wie einjunger Prinz aussehend, der Alte schäbiger als jeeinherhumpelnd, und Troll, gleichmütig undselbstbewußt, wie es einem Hunde mit zehn Ahnengeziemt, zuFrauKrikl.Bobhatte rechtgehabt.DiealteDame freute sich entschieden, die Bekanntschaft desInvaliden zu machen, was eigentlich nurselbstverständlich war, da sie den kleinen Jungenvergötterte und deshalb alles das,was er tat und liebte,für gut hielt und ebenfalls verehrte. Sogar der Papageisetzte eine freundlicheMiene auf und begrüßte die dreimiteinemschallenden:»Hallo,gutenMorgen,Gesindel.«Frau Krikl erwies sich durchaus als Dame vonWelt

undMenschenkenntnis.FürBobbrachtesieeinduftendesHonigbrot nebst einem Stück Schokolade herbei, derInvalide,dersichrespektvollaufdieäußersteStuhlkante

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gesetzthatte,bekameinordentlichesGlasKognaknebsteinemKäsebrot vorgesetzt undTroll labte sich an einerWurst. Und nun erzählte abermals Bob ausführlich mitallen Einzelheiten von der Jagd hinter dem MulattenSam,vondem,waserüberDoktorMortonerfahren,undseinem Aufenthalt hinter der holländischen Zeitung imLunaklub.Frau Krikl lauschte mit atemloser Spannung und als

Bob fertigwar, rannen ihrTränenderErgriffenheitüberdiehagerenWangen.»Bobbie,mein süßer Junge,« rief sie, »du bist klüger

alsdieältestenLeute!WiegeschickthastdudasindemKlubgemacht;wirklich,dieserlederneSherlockHolmeskönntevondirlernen!«Schonaber tauchtewiederdiebangeFrageauf:»Was

nun?« und peinliche Minuten des tiefsten Schweigenskamen,dasichalledenKopfzerbrachen,ohnezueinemErgebniszukommen.FrauKriklerbotsich,dasHausdesDoktor Morton aufzusuchen, um dem Mulattenwahrzusagen. »Wie eine Hexe sehe ich ohnedies aus,«sagte sie, wehmütig lächelnd, »und diese ungebildetenhalbenHeidensindabergläubischundlassensichfürihrLebengernweissagen.«DerVorschlagwurde ernstlich inErwägung gezogen,

aberschließlichvonBobverworfen.»HättewenigZweck,TanteSibylle,bestenfallskämst

duindasDienerzimmerundnichtweiter.Wahrscheinlich

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aber auch das nicht, dennwenn dieserDoktor etwas zuverbergen hat, so werden die Mulattin und ihr Brudersicher genau darauf achten, daß sich niemand unbefugteinschleicht, denn dieser Herr Morton sieht mir ganzdarnachaus,alsobmangründlichAngstvor ihmhabenwürde,wennman seinUntergebener ist.AbervielleichtkönntesichHerrMatthiasuntereinemgutenVorwandalsPolizeimannverkleidetindasHausbegeben.«Diesmal erhob der alte Parkwächter energisch

Einspruch.»JungerHerr,verlangenSievonmir,wasSiewollen!Wenndadurchdas liebe, blondeDinggefundenwird, sobin ichbereit,michvondemMulatten zuBreizerhackenzulassen.AberalsPolizistverkleiden—nee,dasgibt'snicht!DaswäreAnmaßungeinesbehördlichenTitels,Betrug,Hausfriedensbruch,undichwillIhnennursagen,daßichgernesterben,abernichtmeinealtenTageim Gefängnis beschließen will! Nee, verlangen Sie dasnichtvonmir!«Bobmußteihmrechtgeben,undFrauKriklsprachden

Wunschaus,mansollenichtstun,wasgegendieGesetzeverstieße. Und nun fiel allen dreien wieder nichts ein.Bob sah düster durch das offene Fenster auf die Straßehinaus, und einegrenzenloseMutlosigkeit überkam ihn.Sein Blick fiel auf einen Schornsteinfeger, der eben indasHausgegenübertrat.DaflogeinEinfalldurchseinenKopf,demerauchsofortAusdruckgab.»Wenn man sich als Kaminfeger verkleiden würde,

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könntemanambestenindasHauskommen.«Der Invalide sprang so jäh auf, daß ihm Joko ein

wütendes »Halt's Maul!« zurief und auch Troll ausseinemgesättigtenHalbschlummererschreckterwachte.»Junge, Junge, das hat dir der liebe Herrgott

eingegeben!Schornsteinfeger,daswäresoeinGedanke!Und läßt sich vielleicht machen, denn mein Neffe, derSohn meiner Schwester selig, istSchornsteinfegermeister! Wenn der will, so klappt dieGeschichte!«»Er muß wollen!« schrie Bob erregt, »und er muß

michalsLehrlingmitnehmen.«Nur Frau Krikl schien vorerst nicht begeistert. Sie

begann zu schluchzen: »Bobbie, was kann aber darauswerden!Wehe,wenn du entdecktwirst, dann ist es umdichgeschehenundichsehedichnichtwieder.«»Unsinn, Tante Sibylle,« beruhigte sie Bob, dessen

Wangenglühten;»tauchenderHerrSchornsteinfegerundichnacheinerStundenichtauf,dannweißtdu,daßwirinGefahrsind,undalarmierstebendiePolizei!«Undnunwurdeallesgenaubesprochen,undesgaltnur

nochdieEinwilligungdesSchornsteinfegerseinzuholen.Das schiennicht so leicht, dennderhattebis abendszutun, kleidete sich dann zu Hause nach gründlicherReinigung um undwar erst gegen neunUhr abends imWirtshaus»ZumlustigenZecher«ordentlichzusprechen.Bob dachte angestrengt nach, dann leuchteten seine

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Augenauf.»Espaßtganzgutheute,HerrMatthias!VaterundMutter sindauf einGartenfestbeiKonsulHallstadtgeladen und werden sicher nicht vor Mitternachtzurückkehren.AlsokannichmichnachdemAbendessenleichtfortschleichen.«Kleine pädagogische Bedenken waren bald zerstreut,

undeswurdeverabredet, daßderParkwächterumneunUhrabendsBobandemParkeingangerwartensolle,undweiterwurde verabredet, daßTanteKrikl zur kritischenZeit, wenn der Plan ausgeführt werden sollte, mitMatthias in der Konditorei in der Gartenstraße wartenwürde,umimNotfalleHilfezuholen.Nie im Leben hatte Bob gewußt, daß Stunden so

langsamverrinnenkönntenwie an diesemTage.Sicher,es gab für einen Jungen oft genugStunden desHarrensund Bangens, so vor der Zeugnisverteilung oder amWeihnachtsabend, bevor man in das Zimmer mit demChristbaum hereingelassen wurde, aber das alles warnichtsgegendenschleppendenGangdiesesNachmittagsund Abends. Endlich, gegen halb neun UhrverabschiedetesichVaterundMutterinfestlicherToilettevon ihrem Jungen, der nun rasch sein Abendbrothinunterwürgte,danndemPersonal»GuteNacht!«sagte,sich auf sein Zimmer begab, um dieses nach wenigenMinuten leise und vorsichtig, diesmal ohne BegleitungTrolls, der sich wie gewöhnlich vor der Tür zu BobsZimmer niederlegenmußte, zu verlassen. Und vor dem

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ParkstandauchschonMatthiasundwartete.Die Untergrundbahn brachte sie rasch nach dem

Vorort,indemderSchornsteinfegerPeterMöllerwohnteund in dem auch dasWirtshaus »Zum lustigenZecher«lag,undfürBobwardaseinhistorischerTag,dennzumerstenmal in seinem Leben betrat er, und noch dazu zunachtschlafender Zeit, ein richtiges Wirtshaus, in demgetrunken, geraucht, geflucht und gespucktwurde.HerrMöller, ein blonder, sympathischer, blauäugiger Herr inmittleren Jahren, dem jetzt sicher niemand seinenschwarzenBerufangemerkthätte,saßimKreiseandererehrsamerGewerbetreibender an seinemStammtisch undmachteriesiggroßeundkugelrundeAugen,alserseinenOnkelMatthias mit einem allerliebsten, kleinen Jungenhereinkommensah.Herr Matthias winkte ihn heran, stellte vor, bestellte

dreimächtigeGläserBier—Bobhätteniemalsgedacht,daß ein Mensch aus derartig großen Krügen trinkenkönnte — und die schicksalsschwere Unterredungbegann.Herr Matthias sagte: »Peter, du weißt, daß ich kein

FreundvonverrücktenGeschichtenbinundmeinganzesLeben lang ein ordentlicherMensch war.Wenn wir dirjetzt also eine Geschichte erzählenwerden, die wie einMärchenklingt,sodarfstdunichtglauben,daßwirnurindie Vorstadt und hieher ›Zum lustigen Zecher‹gekommen sind, um dir einen Bären aufzubinden,

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sondern dumußt, bevor du zu fluchen anfängst, immermich anschauen und dir sagen: Da sitzt mein OnkelJochen Matthias, und der ist kein Lügner und keinAufschneider. Und jetzt stelle ich dir nochmals diesenjungen Herrn da vor, Bob Holgerman, den Sohn desFabrikbesitzersHolgerman, bei dem du vielleicht schondieEssengekehrthast.«PeterMöllernickteselbstbewußtundspiekunstgerecht

anderSchulterdesOnkelsvorbeiineinenSpucknapf.»Dieser junge Herr, der mein Freund ist, ist ein

wundervoller,kleinerKerl,doppeltsoklugalslang,under hat einen großen Schmerz und dann ein paarwunderbareSachen erlebt undwird dir jetzt selbst alleserzählen.«Bob, der in verschiedenenGeschichten gelesen hatte,

daßmansichvorBeginneinerlängerenRedezuräuspernpflegt, tat desgleichen und erzählte dem biederenSchornsteinfeger, der so aufmerksam zuhörte, daß seinBierwarmwurde,allesvomAnfangbiszumEnde.UnderschloßmitdenWorten:»LieberHerrMöller,SiesindderMann,dermirhelfenkann,wennerwill! Ichweiß,daßdasvielverlangtist,undSiehätteneingutesRecht,mitmirgrobzuwerden,aberbedenkenSie,daßessichumeinliebes,kleinesMädchenundumeinengräßlichenSchurkenhandelt,unddaßeinearmeFrausichzuTodegrämen wird, wenn ihr Kind nicht wiederkommt. Undnoch eines, Herr Möller: Die Polizei hat eine hohe

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Belohnung ausgesetzt und mein Vater ebenfalls. WennSiemirhelfenwollenundwirGertiefinden,sogehörtdiehalbe Summe Ihnen, ich sage die halbe und nicht dieganze, dennauch ichbrauchedannGeld, einerseits, umGertie etwas sehr Schönes, eine Puppenküche mitNickelgeschirr oder gar ein ledernes Lamm zu kaufen,und anderseits möchte ich der guten Frau Krikl dasgeborgte Geld zurückgeben. Und dann ißt auch GertiesehrgernemitSchokoladeüberzogeneMandeln,diesehrteuersind.«PeterMöller trank jetzt seinGlas auf einen Zug aus,

setzteesdannschwerundwuchtignieder,schlugmitderFaustaufdenTischundsagte:»Gottverdamm'michund lass'michniemalsmehr in

einenSchornsteinkriechen,wenn ich Ihnennichthelfenwill, junger Herr! Nicht der Belohnung wegen, obwohlichgegenGeldniemalseinenHaßgehabthabe,sondernwegen des kleinen Mädchens! Himmel noch einmal,meineMary ist jetzt vier Jahre alt und hat auch blondeLocken, und wenn ich denke, daß ihr einmal so etwaszustoßen könnte, dann möchte ich gleich aus der HautunddemSchurkenandieGurgelfahren!JungerHerr,wirmachendieSache!Waskannunsgeschehen? Ihnengarnichts, weil Sie noch zu jung sind, und auch mir nichtviel. Wir dringen ja nicht gewaltsam ein, also ist vonHausfriedensbruchkeineRede.Höchstens,daßichwegengrobenUnfugs auf einpaarTage insLochkomme!Na,

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läßtsichauchertragen!«UndnunwurdederFeldzugsplaninallenEinzelheiten

besprochen.UmvierUhrnachmittagshatteBobbeiMeisterMöller

anzutreten, wo er als Schornsteinfegerlehrlingangekleidet werden sollte. Und dann würde es zu Fußnach der Blumenstraße gehen, wo man nach fünf Uhr,wenn Doktor Morton mit dem Mulatten fortgefahrenwäre, nach bestimmtem Plane das geheimnisvolle Hausbetretenwollte.Es war inzwischen halb zwölf geworden. Bob hatte

zum erstenmal einen kleinen Schwips, da er Bier nichtgewohnt war, und er beeilte sich, mit Hilfe einerAutodroschke rasch nach Hause zu kommen, bevor dieElterndawären.Allesginggut,undungesehenundungehörtkamerin

seinZimmer,vordemihnTrollschweifwedelndundmitallen Zeichen namenloser Hundefreude erwartete. Bobschlief in dieser Nacht sehr unruhig, die fieberhafteErwartung der kommenden Abenteuer ließ ihn immerwieder auffahren, und einmal träumte er, daß er undGertie, beide weiß gekleidet, auf einer riesigen Leiterdurch einen Schornstein geradeswegs in den Himmelkletterten.AmnächstenVormittagstatteteBobderkrankenFrau

Sehring einen Besuch ab. Er setzte sich an ihr Lager,streichelte die weiße, kraftlose Frauenhand, beugte sich

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über die unglückliche Mutter und sagte leise: »FrauSehring,ichkannIhnennochnichtsNäheressagen,aberichglaube,wirwerdenGertiebaldwiederhaben!HaltenSiemirNachmittagdieDaumen,FrauSehring,esisteinwichtigerTag;ichhoffe,daßwirheutenochalleswissenwerden.DerArztwürde sichermeinen, ich hätte Ihnendas nicht sagen sollen, weil es Sie aufregt, aber ichdenke,daßeinwenigHoffnungnichtschadenkann.«Jäh richtete sichFrauSehring in ihremBette aufund

beschwordenKnaben,ihralleszusagen.AberBobbliebfest.»Es geht nicht, Frau Sehring, weil sonst alles

fehlschlagen könnte. Ich weiß ja auch gar nicht, obunsereGertienochamLebenist.Aberichmeine,wirallemüssenendlichGewißheithaben,weilwiressonstnichtmehrertragenkönnten.«Da sah Frau Sehring dem Knaben in die großen,

dunklen,umschattetenAugen,siesah,wieeingefallendiesonst so runden Kinderwangen waren, sie sah, wie esschmerzlichumseinenMundzuckte,undsiezogseinenLockenkopf an ihr dumpf und unregelmäßig klopfendesHerz,umdieStirnedesKnabenzuküssen.»Wasimmerduauchvorhast,Bobbie,Gottseimitdir

undhelfediraufallenWegen.«WeinendbrachFrauSehringinihremBettezusammen,

und schluchzend entfernte sich Bob, um den WächterMatthiasaufzusuchenundnocheinekurzeBesprechung

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mitFrauKriklzupflegen.

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XXI.KapitelDiebeidenSchornsteinfeger

Aus einem schmucken Jungen mit schneeweißer Hautwurde innerhalb weniger Minuten ein regelrechterschwarzerSchornsteinfegermitvölligverrußtemGesicht,Kapuze, Strickbündel um die Hüften, Steigeisen imGürtel und Leiter über der Schulter. Peter Möllerbetrachtete wohlgefällig seinWerk, erklärte, daß keinerseiner Kollegen auch nur einen Augenblick zweifelnwürde,einenordentlichenKaminfegervorsichzuhaben,unterwies den Knaben nochmals im Gebrauch derverschiedenen Instrumente, steckte ihm vorsichtshalberauch noch ein mächtiges Taschenmesser zu und danngingensielos.Auf der Straße erregte immerhin der kleine, schlanke

Schornsteinfegerlehrling neben seinem Meister einigesAufsehen,wenigstensunterdenweiblichenDienstboten,die, abergläubisch wie sie sind, gerne mitSchornsteinfegern in Berührung kommen. Hie und dastreifte ihn auch eine Frauensperson absichtlichmit derHand, weil solche Rußflecken Glück bringen, und einhübsches, jungesDing bat ihn sogar um einenKuß, fürden sie ihm Geld anbot. Bob wies solche Ansuchen

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verachtungsvoll zurück, indem er ihr die Zungeherausstreckte.Einige Minuten vor fünf Uhr waren sie in der

Blumenstraße angelangt. Es hatte zu regnen aufgehört,vom blauen Himmel strahlte die Sonne unbarmherzignieder und die Straße war menschenleer. Um die Eckeherum lugten die beiden unauffällig nach dem HauseDoktor Mortons. Richtig, gerade in diesem AugenblickwurdedasGartenportalgeöffnetundgleichdaraufrolltedas große, blaue, geschlossene Automobil davon. NunhieltensiesichnochetlicheMinutenaufderStraßeauf,flüsterten einander rasch noch einige Bemerkungen zuund gingen dann auf das Haus zu, um gemächlich dieGartenglockezuziehen.DieMulattin kamausdemHauseherausundnäherte

sich dem Gartenportal. So wie sie aber der beidenschwarzenMänneransichtigwurde,riefsieunwirsch:»Nix, Nix. Schornstein ist erst vor vierzehn Tagen

gekehrtworden,«drehtesichumundgingzurück.Aber Peter Möller rief ihr nach: »Nutzt nichts,

Madame, wir müssen doch herein. Die Polizei hatgemeldet,daßFunkenausdemSchornsteinfliegen!Daskann ein kleines Dippelbaumfeuerchen sein, und wenndasnichtinOrdnungkommt,brenntIhnendasHausüberdemKopfzusammen.«ImNuwarSarabeimGartengitter.»Oh,dumeineGüte!Ja,wassollichdenndamachen?

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Niemand istzuHauseals ich,eswirddochnichtgleichbrennen.«Möller lachte scheinbar vergnügt, während Bob vor

Aufregung innerlich zu zappeln begann. »Sie haben dagarnichtszumachen,schöneFrau,alsunsnachsehenzulassen.Na,undbrennenwirdesnichtgleich,aberineinpaarStunden,wennalles schläft,kannesdenschönstenBrandgeben,dendieBlumenstraßeerlebthat.«Nunmehr schloß die Mulattin die Gartentür auf und

ließ die beiden eintreten. Sie war sehr erschreckt undkreischte ein über das andereMal »Himmel!« und »Dumeine Güte!«, und jammerte: »Wenn der Herr nur dawäre,oderwenigstensSam!«SiebetratennundurchdasHaustordieHallederVilla

MortonundBobklopftedasHerzbiszumHalsehinauf.Aber er nahm sich zusammen, straffte dieMuskeln undsah rasch und flink wie ein Wiesel in dem schönengroßen Raum umher. Unheimlich sah es hier durchausnichtaus,imGegenteil,sehranheimelndsogar.Kostbarealtenglische Möbel, prachtvolle orientalische Teppiche,Jagdtrophäen an denWänden, mächtige Stoßzähne vonElefanten, silbernes Gerät. In einer Nische einTelephonapparat, auf den Frau Sara eben aufgeregt undnochimmerjammerndzuschritt.EinfurchtbarerGedankedurchflog Bobbies Schädel. Die Mulattin würde jetztsichernachdemLunaklubtelephonieren,umihrenHerrnoderBruderherbeizuholen.

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Bob packte Möller am Arm und flüsterte ihm zu:»Rasch,dieFrauaufhalten!«Und Möller verstand zwar nicht den Zweck dieser

Aufforderung,aberergehorchteundriefderMulattinzu:»Madame,sindhierimHauseFüllöfenoderKamineodereineZentralheizung?«RichtigwandtesichSaraihmzuundsagte:»Ineinigen

Zimmern haben wir Füllöfen, in den meisten aberKaminefürHolzfeuerung.«DiesenAugenblickhatteBobbenützt,umblitzschnell

mit dem geöffneten Taschenmesser an das TelephonheranzuspringenunddiebeidenDrähte,diesichoberhalbdes Apparates entlang zogen, knapp am Holze desApparatesdurchzuschneiden.Wirklich stand nun Frau Sara schon am Telephon,

kurbeltewiebesessenundschimpfte,weil sichdasAmtnichtmeldete.BobaberhattedieKühnheit,inallerRuhezusagen:»Eswirdkaputt sein.Wahrscheinlichhängtdasdamit

zusammen,daßdort irgendwo inderMauerdieLeitunggeht,wodasFeuerfrißt.«Peter Möller biß sich auf die Lippen, um nicht

herauszuplatzen, aber die Mulattin erschrak, schlug dieHändeüberdemKopfezusammenundrief:»Alsobitte,schauenSienurnachundlöschenSie,soraschesgeht.«»Dazu sind wir ja da,« brummte Möller, »und nun

führen Sie uns zunächst überallhin, wo es Öfen und

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Kaminegibt.«Sara nahm einen Schlüsselbund, schrie, die beiden

mögennur janichts rußigmachen,undbegann, sievoneinemZimmerindasanderezuführen.DieRäumelagenimHalbkreisumdieHalleherum,sodaßjedervonhieraus seinen Eingang hatte, alle aber auch untereinanderdurchmächtigeSchiebetürenverbundenwaren.BobwardurchdieprachtvolleEinrichtungderZimmerüberrascht.Mansah,daßalledieseTeppiche,DekorationsstückeundMöbel nicht bei Möbelhändlern zusammengekauft oderaufBestellunggearbeitetwaren,sondernSammelobjektelangerReisenundwunderbareErzeugnissechinesischen,indischen, birmanischen Kunsthandwerkes oder alteStückeausderRenaissance-oderderEmpirezeitoderderEpochederKöniginAnnawaren.NirgendsfandBob,dersich gut umsah, während sein Meister die Kamineuntersuchte, irgendwelcheverdächtigeSpuren.Nein,daswaren nicht die Verbrecherhöhlen eines Kindesräubersoder Mörders, sondern die mit raffiniertem Luxusausgestatteten Räume eines kunstsinnigenWeltenbummlers.Die Öfen und Kamine in allen Räumen waren nun

untersucht worden, und der Schornsteinfeger sagte zuSara, die immer hinter ihnen hergegangenwar und jedeschwarze Spur sorgfältig mit dem Staubtuch entfernthatte:»Nun,Madameken,gehenwirobenhinauf.«Brummend und unwillig schritt Sara voran die mit

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Teppichen belegte Treppe hinauf, und die drei betratenzuerst einen köstlich ausgestatteten, ganz in weißemMarmor gehaltenen Baderaum, an den sich der ReihenacheinGarderobezimmer,dasSchlafzimmerdesDoktorMorton und ein Frühstückszimmer in schottischerEinrichtung anschlossen. Dieses letztere Zimmer wurdenach der anderen Seite durch eine Türe abgeschlossen,diegepolstertundmitgrünemBillardtuchüberzogenwar.Die Polstertüre hatte keine Klinke, sondern nur einschmales, für einen flachen Schlüssel berechnetesSchlüsselloch.»MachenSiemalhierauf,Madame,«sagteMöller.Aber dieMulattin drängte ihnweg. »Hier gibt's kein

Aufmachen,das istdasLaboratoriumdesHerrnDoktor,dakannniemand'rein.«Möller und Bob sahen einander rasch an, und Bob

fühlte,wieerunterderRußschichtimGesichterbleichte.Er hatte das Empfinden, daß sein Blut in rasender Eilevom Herzen in den Kopf und von dort wiederzurückströmte. Lauerte hinter dieser Tür nicht dasSchicksal, begann hier nicht die Lösung desGeheimnisses, war er etwa nur ein paar Schritte vonGertieentfernt?SchweigendverließensiedasZimmerundbetratenden

Vorraum, der hier im ersten Stockwerk imVergleich zudem unteren auffallend klein war. Peter Möller, derÜbung und Erfahrung hatte, wurde sofort stutzig und

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flüsterte,während Sara die enge Treppe zumDachstuhlvoranschritt,Bobzu:»AußerdemeinenverschlossenenZimmergibtes,an

diesesanschließend,mindestensnocheinenRaum,sonstmüßtederVorraumgrößer sein.«Laut aber sagteer, alssieaufdemDachbodenangekommenwaren:»So, jetzt werden wir die Geschichte gleich haben,«

undbeganndieeisernenTüren,dienebeneinanderindieMauer eingefügt waren, zu öffnen. Sie führten in dieverschiedenenKaminedesHauses.MöllerbeugtesichscheinbarsehreifrigindieLöcher,

hantierte in ihnen mit dem Besen, klopfte und rüttelteumherund sagtedann, über undübermit frischemRußbedeckt,zuSara:»Ich glaube, in dem einen Kamine da, der zum

Küchenherdeführt,glimmtdieMauer.Bitte,bringenSieeinen Kübel Wasser, damit ich den Besen mit einemnassenLappenumwickelnkann!«Sara ging, und Möller flüsterte, das Alleinsein

benützend, dem Knaben zu: »Junger Herr, nun müssenSie zeigen, ob Sie ein Kerl sind! Der Kamin da führtnichtindieKüche,sondernnachmeinerBerechnungundwennmichnichtderTeufelnarrt,indasZimmermitdergepolsterten Türe. Kriecht einer durch den Schlot hierherunter, so kommt er durchdenKamin in dasZimmerhinein, denndaßdort einKaminundnicht einFüllofenist, erkenne ich an dem starken Luftzug. Ich kann aber

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nichtdurch,ichbinzustark!Wenneseinerkann,sosindSiees jungerHerr!Alsoaufgepaßt:DerHakenwirdamStrickbefestigt,denSieumdenLeibhaben,dannkommtder Haken hier um das Mauerstück, Sie binden dasandereEndedesStrickesfestumdieHüftenundkriechenhinunter.WennSiewiederheraufwollen,sobenützenSiedenStrickalsLeiterundziehensichnachoben.Übrigenswarte ich ja hier, so daß nichts geschehen kann. DrohteineGefahr, so rufenSie zumir herauf umHilfe, dannwirdmeinBrowningguteArbeittun.«BobzitterteamganzenKörpervorAufregung.»Alles

will ich tun, lieberHerrMöller,undwennesdasLebenkostet.«Schonwar aber dieMulattin erbostmit einemKübel

vollWasserangekeuchtgekommen.Möllermanipuliertemit Hilfe eines nassen Fetzens im Schlot herum undmeintedannachselzuckend:»Es istso,wie ichesmirgedachthabe,daglimmtes

irgendwo, aber es sitzt tief, ich kommemit demBesennichthin.«GrobundherrischschrieerdenKnabenan:»Los,Bob, statt hierMaulaffen feilzuhalten,wirst du

jetzt 'runterkriechen! Und wenn du zur Brandstellekommst und dir die Pfoten verbrennst, so heule nicht,sondern kratze die Stelle ordentlich aus, wenn du nichtwillst,daßichdirdeinLederversohle!«Ohnemit derWimper zu zucken, sachgemäßwie ein

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echter Schornsteinfegerlehrling,machte sichBob bereit,wickelte den Strick auf, flocht ihn durch die breiteÖsedes Einhakens, ließ das andere Ende durch denMeistersich um den Leib binden, der Haken wurde an derÖffnung der eisernen Kamintüre eingehakt, und eins,zwei, drei, schlüpfteBob, sichmit den Füßen über denTürrandschwingend,indasfinstere,etwaanderthalbFußimDurchmesserbreiteLochhinab.Bob war immer der beste Turner in seiner Klasse

gewesen, und das kam ihm nun zustatten. Behend wieeine Eidechse, preßte er die schräg nach auswärtsgedrehtenFußsohlenandieZiegelsteine,währendermitdenEllbogen,dieerebenfallsandieWanddesZylinderspreßte, dem Körper Halt gab. Ließ er die Füße los, sohieltersichmitdenEllbogen,hatteermitdenSohlenandenRitzenzwischendenZiegelnHaltgefunden,soschoberwiederdieEllbogennach,undsokamerlangsam,abersicher, mit schmerzenden, wundgeriebenen Gliedernhinunter, Schritt auf Schritt, Spanne auf Spanne. NunverengtesichderZylinder,undBobmußtemitallerKraftseinen schlanken Körper dehnen und strecken, umweiterrutschen zu können. Plötzlich stießen seine Füßeauf Widerstand, er war auf dem Boden des Kamins indemgeheimnisvollenZimmerangelangt.Aber wie weiter? Sein Oberkörper steckte in dem

engen Zylinder, die Beine hatten Bewegungsfreiheit indem breiten Kamin. Mit gewaltiger Anstrengung

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grätschte er dieBeine, beugte sichnieder, stießmit denFüßenvorwärts,esklirrteundklappertevonbrechendemSteinzeug, er rutschte aus, dieBeine sausten durch eineÖffnungirgendwohin,undersaßnunaufdemBodendesKamins, der Oberkörper in Dunkelheit, die Beine imHeizraum, die Füße schon im Zimmer. Eine letzte,verzweifelte Anstrengung, ein Vorwärtsschieben derBeine, und Bob lag auf dem Rücken, sprang auf undbefandsichindemSaale,dernachdereinenSeiteindasFrühstückszimmerführte.

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XXII.KapitelEineKorrespondenzdurchdieTürspalte

Verwirrt, betäubt, die schmerzenden Augen mit StaubundRußgefüllt,bliebBobstehenundbrauchteMinuten,bevorerseineUmgebungsehenkonnte.DerSaalwarinWeißgehaltenundlagimHalbdunkel.Esbefandsichinihm kein regelrechtes Fenster, sondern nur eine kleineMilchglasscheibe ganz oben, die durch ein Eisengittergeschütztwar.KurzentschlossendrehteBobdenSchalteranderWand,undnunwarderSaalvondenindieDeckeeingefügten elektrischen Lampen in schneeweißes Lichtgetaucht.InderMittedesZimmersstandeingroßesStreckbett,

wie esBob schon in denZimmern vonÄrzten gesehenhatte, ringsumher an den Wänden aus weißen Kachelnstanden Retorten, große Glaskübel, Apparate,untereinandermit Gummischläuchen verbunden, Regalemit Tuben und Instrumente aus Nickel,Medizinschränkchen, kurzum, es sah wie derOperationssaal eines Krankenhauses aus. Alles peinlichsauber,wie ungebraucht.Nur neben demStreckbett aufdemweißenLinoleum,mitdemderBodenbespanntwar,einigerostbrauneSpritzer,undmitSchaudernerinnerteer

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sich, gelesen zu haben, daß Blut solche rostbrauneFärbungannehme.Bob versuchte sich zu orientieren, indem er die

Richtung vom ersten Stock zum Dachboden festhielt.Diese Tür mußte wohl zu dem Frühstückszimmer inschottischer Einrichtung führen, das sie zuletzt betretenhatten. Aber an der gegenüberliegenden Wand warwieder eine Tür. Auch sie gepolstert, diesmal aber mitweißemLederüberzogen,auchsieohneKlinke,sondernnur mit einem schmalen Schlüsselloch. Was und wermochte sich hinter dieser Tür befinden? Der Bodenbrannte dem Knaben unter den Füßen. Er durfte nichtlänger zögern, mußte wieder zurück durch den Kamin,ohneetwaserreichtzuhaben.WirrzogendieGedankendurch sein Hirn. Nichts Verdächtiges hatte er gesehen;nichts, was der Polizei eine Handhabe bieten konnte.AberwaswardortindemZimmernebenan?FührteetwaauchdorthineinWegdurchdenKamin?Bobfühlte,daßer nicht mehr die Kraft aufbringen würde, jetztzurückzukriechen und dann neuerdings durch einenanderenSchlotabwärtszusteigen.Abgesehendavon:Esbestand die Gefahr, daß die Mulattin Verdacht faßte,LärmschlugundnacheinemPolizistenrief.BobversuchtedurchdasSchlüssellochzublicken.Es

gingnicht,derBlickdrangnichtdurch.Erwarfsichnunflach aufdenBodenundpreßtedieAugenandieRitzezwischen Polstertüre und Fußboden. Immerhin — er

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erhaschteeinenLichtschimmer.Undjetztwaresihm,alsbewegte sich ein Schatten durch dieses Licht.Aber daskonnte auch Täuschung sein. Vielleicht, wenn er ausvoller Lungenkraft hätte in die Ritze hineinbrüllenkönnen! Vielleicht, daß— vorausgesetzt, daß sich dortein Wesen befand — dieses ihn hören würde. Aber erdurftejanichtschreien,durftekeinAufsehenerregen!Bobsprang,währendihmdieSchläfenhämmerten,auf

und sah verzweifelt um sich.Auf einemweißen Tischelag ein Block Papier und in einem Glase standennebeneinander viele gespitzte Bleistifte. Ein Gedankekam ihm. Durch diese Ritze mußte sich doch wohl einBogenPapierschiebenlassen!ErrißeinBlattvomBlockherunter und schrieb auf dieses mit zitternden Fingern:»Istdortjemand?«Er warf sich wieder auf den Boden und schob den

Bogen langsam,vorsichtigdurchdieRitze, soweit,daßergeradenochdenRanddesPapieresdiesseitssah.Keuchend, mit schmerzendem Schädel und

wildklopfendem Herzen blieb Bob liegen. Von obendurchdenKaminhörteerMeisterMöllerrufen:»Na,wird's,Junge,wasmachstdudennsolange?«IndiesemAugenblickaberbewegtesichderRanddes

Papieres und verschwand! Also lebte jemand in demZimmer nebenan, hatte das Papier gesehen und zu sichhereingezogen!Bobsprangauf,ranntezumKamin,brülltehinauf:

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»Hab'dieStelleschon;gleich,indrei,vierMinutenbinichfertig«undwartete,mitgeballtenFäustenregungslosdastehend.Wartete eineMinute, zählte bis hundert, biszweihundertunddreihundert,undzwischendemZählenstöhnte er immerwieder: »LieberGott, sei gut und hilfuns!«Undda—daanderTürritzeregteessich,derweiße

Bogen kammit einemwinzigen Rande zumVorschein!MitdemFingernagelkrallte sichBob indasPapierundkratzte es in das Zimmer hinein, bis er es aufhebenkonnte. Und auf der anderen Seite stand mit großen,verschmierten, ungelenken, braunen Buchstabengeschrieben:»Ich,GertieSehring,bingefangenundmußsterben!«DaschüttelteeinKrampfdenKörperdesKnaben,sein

Rücken steifte sichvorGrausenundSchmerz, und eineSekundewaresihm,alswürdeeralleKraftverlierenundniederstürzen. Aber eiserner Wille bäumte sich in ihmauf.MiteinemSprungewarerbeimKamin,schlangsichdas frei baumelnde Ende des Strickes um die Hüften,krochindasLoch,rief:»Meister,fertig!Bitteanziehen!«und stand wenige Minuten später wieder auf demDachboden,ummiteinertonlosenStimme,dieihmselbstfremdklang,zusagen:»EsistjetztallesinOrdnung,wirkönnengehen!«Kaumwaren sievonSarahinausgelassenworden, als

BobseineNägelindieHanddesSchornsteinfegersgrub,

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sodaßdieseraufschrie.»Gertie ist imHause gefangen, ich habe den Beweis

dafür.HerrMöller,rasch,wirmüssensieretten,bevorsiestirbt!«MeisterMöller,dernunhinterdemKnabeneinherlief,

wurdeausdessenWortenzwarnichtklug,abererglaubteihmunbedingt.»Also,was ist jetzt zu tun?«keuchteer.»Am besten, wir gehen zurück, bringen die schwarzeCanailleumundholendeineGertie!«»Nein,«sagteBob,stehenbleibend,»nein,HerrMöller,

so geht es nicht. Bitte, laufen Sie in die Konditorei zuIhremOnkelundFrauKriklundwartenSiealledreidannruhig in der Nähe des Hauses Morton, bis ich mit derPolizei komme.« Er reichte dem Schornsteinfeger dieHand und rannte, was ihn die kleinen Beine tragenwollten, der großen Verkehrsstraße zu, bis ihm endlicheine leere Autodroschke entgegenkam. Er rief demChauffeur sein »Halt!« zu. Als der aber den kleinenSchornsteinfeger vor sich sah, begann er zu fluchen,schrie: »Halt' deine Urgroßmutter zum Narren!« undwollte davonfahren. Aber mit einem gebieterischenabermaligen »Halt!« sprang Bob zum Wagenschlag,schwang sich über diesen hinweg in das Innere derDroschkeundrief:»MachenSiekeineScherzemitmir, ichbinDetektiv!

Und fahren Sie, so rasch Sie können, zumPolizeipräsidium.«

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AufdenChauffeurwirktendieWorte»Detektiv«und»Polizeipräsidium« geradezu elektrisierend; mitaufgerissenem Munde stierte er den kleinen schwarzenKerlmitderLeiterunddemBesenanundfuhrmitdemseltsamenPassagierinhöchsterundvorschriftswidrigsterGeschwindigkeit davon, so daß das Ziel in wenigenMinuten erreicht war. Bob war außer Rand und Band,hatte sich in Feuer und Flamme, in Dynamit undNitroglyzerinverwandelt,schriedemChauffeurein»Hierwarten!« zu, brüllte denPolizisten, der ihm indenWegtrat,mitdenWorten»ZurKriminalpolizeimuß ich!« soan, daß der Mann entsetzt zur Seite sprang, flog dieStufenhinauf,rastedurchdiezweioderdreiZimmer,dieihn von Herrn Crispin trennten, ohne jemandem Redeund Antwort zu stehen, und schon hatte er, ohne zuklopfen, die Türe zum Allgewaltigen aufgerissen undstand keuchend, mit fliegendemAtem, kaum fähig, einWorthervorzubringen,vorihm.Herr Crispin, der eben in das Studium dickleibiger

Akten vertieft gewesen, war ordentlichzusammengefahren und sah mit weit aufgerissenenAugendenkleinenSchornsteinfegervorsich.»Wie wagen Sie es, hier unangemeldet

hereinzukommen, und was wollen Sie von mir?«herrschteerdenKnabenan.In diesem Augenblick erst entsann sich Bob der

Tatsache, daß er noch immer die Kleidung eines

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Schornsteinfegers trug, was ihn aber nicht sonderlichanfocht.Ersagtesich,jetztheißtes,klugundvernünftigreden, lehnte den krummen Besen mitsamt der kurzenLeiter an den Schreibtisch des Herrn Crispin underwidertesoruhigundwohlgesetzterkonnte:»Ich bin Bob Holgerman, Herr Crispin, und komme,

um Ihnen mitzuteilen, daß ich endlich Gertie Sehringgefundenhabe!«Herr Crispinwar fassungslos,was sich eigentlich für

einen höheren Beamten der Kriminalpolizei einerMillionenstadt nicht gehört.Wohl erkannte er nunBob,abererwarfestdavonüberzeugt,daßessichwiederumeinen Dummenjungenstreich handle, und so sagte erstreng:»Junger Mann, ich habe Ihnen bereits einmal durch

IhrenvonmirsehrgeschätztenVatermitteilenlassen,Siemöchten der Polizei Ruhe geben und uns mit IhrenDummheitennichtbelästigen.ZumeinemBedauernseheich,daßSiedieseDummheiteninVerkleidungfortsetzenwollenund———«SoartigaberBobauchsonstwar,diesmal ließerden

Herrn Crispin nicht ausreden. »Herr Crispin,« sagte er,während ein Lächeln über sein geschwärztes Gesichthuschte,»ichmußSiebitten,mirdieStrafpredigtspäterzuhalten,wennGertieinSicherheitist.IchhabenämlichvonGertieebendieseZeilenbekommen.«Sprach's,zogausdemBrustlatzdenBogenPapier,der

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nunschonreichlicheSpurenvonRußaufwies,undhieltihn demPolizeichef unter dieNase.Zögernd las dieser,dannblickteerBobgroßan,undnunwareres,der ihnruhigausredenließ.Hastig, aber in wohlgeordneten Sätzen erzählte Bob

vondemAnkaufdesPolizeihundesTroll, vonderSpur,die der Hund hinter dem Mulatten her aufgenommenhatte, von dem Hause des Doktor Morton, von demBesuch des Lunaklubs, von dem Komplott mit demSchornsteinfegermeister PeterMöller und demErgebnisdesEindringensindasHausNr.12derBlumenstraße.InHerrnCrispinstiegesheißauf.Einerseitserfaßteer

die ungeheure Blamage der Polizei in ihrer ganzenBedeutung, andererseits überwältigte ihn dieBewunderungvordemMutundderEnergiedeskleinenJungen,unddaereinwackerer,braverMannwar,sohielter nicht länger an sich, packte den rußigen Kopf BobszwischenbeideHände,beugtesichzuihmnieder,küßteihn auf die Stirn, bekam einen schwarzen Mund undsagte:»BobHolgerman,wennnichtallestrügt,sohabenSie Wunderbares getan! Und nun wollen wir an dieArbeitgehen!«EineMinutespäterwardasZimmerdesInspektorsmit

Polizei-undKriminalbeamtengefüllt.Mitwenigen,aberklaren Worten erörterte Herr Crispin die Sachlage undtrafseineAnordnungen.»Sie, Lorensen, nehmen vier Ihrer zuverlässigsten

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Leute, ferner einen Polizeischlosser und den PolizeiarztDoktorWolters inAutomobilenmitsichundlassensichvon dem jungen Mann da nach dem Hause in derBlumenstraße bringen. Sie läuten die Mulattin heraus,überwältigen sie sofort, dringen in das Haus ein undlassen, falls das Weib die Schlüssel nicht herausgibt,durch den Schlosser die betreffenden Türen sprengen.Bestellen Sie vorsichtshalber ein Sanitätsauto nach demHause, da das Mädchen vielleicht nur liegendfortgeschafftwerdenkann.Sie,Perkins, nehmen sechsMannmit zumLunaklub,

überwältigenohneUmständedenChauffeurSam,der jawahrscheinlichvordemKlubgebäudemitdemAutodesDoktor Morton wartet, und verhaften dann den DoktorMorton. Aber mit aller Vorsicht, wenn ich bitten darf!Der Mann ist gefährlich, er muß überrascht werden,damit er weder Gelegenheit hat, zu entkommen, nochsich selbst zu richten. Und nun nur noch einenAugenblick,bisichdieHaftbefehleunterschriebenhabe,und dann los! Jede Sekunde Verzögerung kannverhängnisvollwerden!«Bevor fünf Minuten um waren, saß Bob mit dem

KriminalbeamtenLorensenunddemArztDoktorWoltersin einem Auto, dem Auto, das ihn hergebracht hatte,während hinter ihnen ein zweites, vollbepackt mit vierweiterenKriminalbeamtenunddemSchlosser,undhinterdiesem der Krankenwagen fuhr. Zwei andere

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geschlossene Automobile sausten in entgegengesetzterRichtungzumLunaklub.Bob, der Arzt, Lorensen — sie sprachen kein Wort

während der kurzen Fahrt. Lorensen war ganz in seineAufgabe vertieft, der alte Doktor Wolters beobachtetehinter den Brillengläsern den Jungen in derSchornsteinfegertracht und stellte fest, daß auch dieRußschwärzedie totenbleicheFarbedesGesichtesnichtverdecken konnte. Bob selbst aber biß sich die Lippenfastwundundkrallte,umseineErregungzubemeistern,die Finger in das Leder des Sitzes. Und die SekundenwurdenihmzuStunden,unddieMinutenzuEwigkeiten——Es war fast sieben Uhr, als sie vor dem Hause des

Doktor Morton hielten, und noch erhellte die ebenniedergehende Sonne den Himmel. Man brauchte amGittertor nicht zu läuten; dennSara stand imVorgarten,begoßebendieBlumenundhattediebeidenAutomobile—derKrankenwagen kam später an—gleich erblickt.Neugierig war sie ganz an das Gitter getreten, an demnunderkleineSchornsteinfegermiteinerganzenAnzahlvon Männern stand. Verwundert, aber instinktiv eineGefahr witternd, dachte sie gar nicht daran, das Toraufzuschließen,sondernfragteknurrend:»WaswollenSiedennhier?«Eine alte, häßliche Dame mischte sich unter die

Männer, ein alterMann in derUniform eines Invaliden

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humpelteeinher,einHundsprangmitriesigenSätzenanBobemporundschleckteihmdenRußausdemGesicht.Verwirrt, ängstlich, heimtückisch wiederholte die

MulattindieFrage:»Wassolldas,waswillmanhier?«LorensentratdichtandasGitter.»Öffnen Sie nur ruhig, wir haben mit Ihnen zu

sprechen.«»Denke nicht daran, zu öffnen,« kreischte Sara, »der

Herr Doktor ist nicht hier und ich lasse niemandenherein!Scherteuchmitdemverfl——Burschendazum—«Sie kam nicht dazu, ihren frommen Wunsch zu

beenden, denn mit katzenartiger Geschwindigkeit hatteLorensenblitzschnelldurchdieGitterstäbegegriffenundmit beiden Händen die Kehle der Mulattin eisernumklammert, daß sie keinen Lautmehr von sich gebenkonnte. Sie schlug, während ihr der Schaum vor denMundtrat,mitdenbläulichenFingernägelnindieHändedesBeamten,abernichtlange,dennschongriffenandereMännerhände durch das Gitter, packten unbarmherzigihre Arme, rissen sie nieder und preßten sie an dieEisenstäbe, so daß das Weib nur mehr mit den Füßenumherschlagen,abersichsonstnichtrührenkonnte.Underst als das gelblichbraune Gesicht eine bläulicheFärbung annahm, lockerte Lorensen den Griff so weit,daßdieMulattinAtemschöpfenkonnte.Inzwischenhatteaber der Schlosser schon emsige Arbeit getan, und das

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Tor flog auf, so daß die Männer mit Bob eindringenkonnten. Und nun, als Saras Hände in den stählernenSpangen lagen, konnte sie Lorensen loslassen. Sie stießnach der Befreiung ihrer Kehle ein furchtbares Geheulaus, daß die Leute auf der Straße zusammenliefen undFrau Krikl sich die Ohren zuhielt, während Trollfeindselig knurrte und bereit gewesen wäre, die Frauniederzureißen.Lorensen überlegte einen Augenblick und gab dann

zweiBeamteneinenWink.»DasWeibmachtdieganzeStraße rebellisch.Mit ihr

werdenwir ja doch nichts anfangen können, also raschmit ihr nach der Polizei mit dem Auto. Und wenn sienichtaufhörtzubrüllen,sokriegtsieeinenKnebelindenMund.«SchonwarSaraindasAutogehoben,dasmit ihrund

zweiBeamtendavonsauste,währendLorensenmit zweianderen,demSchlosserundBob,dasHausbetrat,nichtohnevorherdasGartentorwiederverschlossenzuhaben,sodaßdieMenschenmenge,zwischenihrMeisterMöller,MatthiasundFrauKrikl,aufgeregtzurückbleibenmußte.NungingendieDingeinEilevorsich.Eins,zwei,drei,

hatte der Polizeischlosser das Haustor aufgeschlossen,undallestürmtenhinterBobherindasHaushinein,dieTreppehinauf.SchweigendwiesBobaufdiePolstertüre.Der Schlossermachte sichwiederum an dieArbeit, dieaber nicht leichtwar.Mit gewöhnlichenNachschlüsseln

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undKrummhakenwardemkunstvollenYaleschloßnichtbeizukommen, esmußtedieKreissägeangelegtwerden,mit der die Zunge des Schlosses abgeschnitten wurde.NunwarmanindemZimmer,dasderKnabedurchdenKaminvorkaumeinerStundebetretenhatte.Mit geballten Fäusten, am ganzen Körper zitternd,

wiesBob auf die nächsteTüre und sagtemit seltsamer,rauherStimme:»HinterdieserTüremußGertiesein!«AbermalstratdieStahlsägeinTätigkeit.Allehattedas

Fieber der Spannung ergriffen, Herr Lorensen rief demSchlosser »Rasch, rasch!« zu, und dieser ließ vorErregung seine Instrumente fallen, um dann in rasenderEiledieScheibezudrehen,diedasdiamantharteMesserin Bewegung setzte. Rrrtsch! Das Eisenstück wardurchgesägt, die schwere, dicke, von innen und außengepolsterteTür flogaufundgewährtedenZutritt in einmittelgroßes, künstlich durch eine schwacheDeckenlampe beleuchtetes Zimmer. Bob hatte sich andemSchlosservorbeigedrängtundwardererste jenseitsder Schwelle. Verwirrt durchdrang sein Auge dasHalbdunkel,dannhatteererblickt,wasersuchte.Ganzineiner Ecke, in einem Lehnstuhl, kauerte Gertie in denKleidern,diesiebeiihrerEntführunggetragenhatte,undsah aus käseweißem Gesicht, um das wirr diegoldblonden Locken hingen, mit großen, entsetztenAugennachdenEindringlingen,wobeisieerschrecktdie

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Ärmchen, die an den Handgelenken weiße Verbändetrugen,wiezurAbwehremporhob.Einen Augenblick blieb Bob stehen, dann schrie er:

»Gertie, meine kleine Gertie!« und stürzte auf dasMädchen zu; dieses aber sank in dem Augenblick, alsBobeserreichte,vornüberausdemStuhl,schlugschwermitderStirnaufdemBodenaufundbliebleblosliegen.Bob warf sich über den Körper und streichelte das

Gesicht des kleinen Mädchens, das seitwärts zu liegengekommenwar.»Gertie,ichbines!Ich,Bob!Ichbring'dichzudeiner

liebenMama!Gertie, jetztdarfstdunicht tot sein,hörstdu!«Gertie rührte sich nicht. Aber schon hatte Doktor

Wolters sie aufgehoben, den federleichten, entsetzlichabgemagertenKörperaufdasBett,dasimZimmerstand,gelegtundbehorchtedasHerz.Erleichtertaufatmend,sagteerdann:»Esistnichts,nureinetiefeOhnmacht.Wirtragendas

Mädchen sofort hinunter in den Wagen, denn es istbesser, wenn es nicht an diesem Orte zur Besinnungkommt, sonst könnte es den schönsten Nervenschockgeben.Überhaupt—wirallehabenjavorläufighierwohlnichtsmehrzutun.«Lorensen verneinte. »Nein, alles andere ist Sache der

Staatsanwaltschaft. Ich werde nur einige Schutzleuteherbeordern,diedasHausbewachen.«

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Unten vor der Villa hatte sich indessen eineungeheuereMenschenmengeangesammelt,dieerregtvonfurchtbaren Verbrechen schrie, die sich in dem Hauseereignet haben sollten.Wohl hatten sichFrauKrikl undauchderalteMatthias,diesichinderMengebefanden,intiefes Schweigen gehüllt, aber Meister Möller ließ sichdoch bewegen, einiges von Kinderraub und einemkleinenMädchenzusprechen,dashiergefangengehaltenwurde, undbaldhieß es unter denAngesammelten, daßdas ganze Haus von Kinderleichen voll sei, und wüsteDrohungen gegen Doktor Morton und seine Bedienungwurdenlaut.TiefesSchweigenentstand,alsdieBeamtendasToröffnetenundDoktorWoltersdasblondeKindmitdemtodbleichenGesichtindenKrankenwagenhob.Bobsprangnatürlich ebenfalls in diesenWagen, nachdemerseineFreunderaschbegrüßtundihnenzugeflüsterthatte,daßGertielebeundersieallemorgenbesuchenwerde.IndergroßenErregunghatteerTrollvergessen,aberdieserwahrhaftig nicht seiner, denn der brave Hund schwangsich, als wenn er wüßte, daß es nunmehr keinerHeimlichkeitmehr bedürfe, sofort neben den ChauffeurdesKrankenautosaufdenfreienSitz.WeichundfastlautlosliefdergroßeWagenaufseinen

breitenGummirädernüberdenAsphalt.DiewürzigeLuftdes Sommerabends schlug durch das offene Fensterherein, und plötzlich öffnete Gertie die Augen, sah umsich, lächelteBob, der an ihremLager neben demArzt

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saß,mattanundschlangdiedünnenÄrmchenumseinenHals. Als der alte, abgehärtete Polizeiarzt sah, wie derkleinerußigeJungezartundleisedasblondeKindküßteundihmzärtlicheKosewortezuflüsterte,damußteersichgewaltigschneuzenundheftigdieBrillengläserputzen.

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XXIII.KapitelGelösteRätsel

Acht Uhr war längst vorbei, und im Hause desFabrikbesitzers saßenHerr Holgerman und seineGattineinanderschweigendgegenüber,ohneandieSpeisen,dieaufdemTischestanden,zurühren.FrauHolgermansahbesorgtaufihrenTellernieder,HerrHolgermanhattedieStirngerunzeltundumseinenMundzucktees.Ungestümschlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, daß dieGläserklirrten.»Morgenmußder Jungevorausfahren!Fängtnungar

nochan,sichbisindieNachtherumzutreiben!SiehtauswieeinSchatten,ißtnichtordentlich,lungertdenganzenTagwerweißwoherumundwirdsichundunsnochdengrößten Ärger bereiten! Wahrhaftig, so geht es nichtweiter!«FrauHolgermanmachteeinenschüchternenEinwand.

»Duhast ja recht,Artur, aber bedenke,wie unglücklichder arme Junge ist.DieGeschichtemitGertie geht ihmnäher, als man es bei einem Kinde in seinem Alterannehmen sollte. Er verzehrt sich in Schmerz undUnruhe, und ich möchte dich bitten, ihm kein rauhesWortzusagen;laßihmZeit,zuvergessen.«

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HerrHolgerman,schonversöhnlichergestimmt,wollteerwidern, kam aber nicht dazu. Er horchte auf. DasRattern eines Automobiles kam näher, aber einesAutomobiles, das sich nicht durch die Töne dergewöhnlichen Hupe anmeldete, sondern durch denSirenentoneinesSanitätswagens.ErregtsahendieGatteneinanderan.DerTonkamnäher,nunklangerschonganznahe;keinZweifel,dasAutomobilhieltvorihremHause.Frau Holgerman schrie auf: »Bob wird gebracht, es istihmetwaszugestoßen!«Herr Holgerman war mit drei Sätzen draußen und

stürmte die Stufen zur Haustüre hinunter; er stürztehinaus, gefolgt von seiner Frau. Aber schon stand Bobvor ihnen,nichtBob,wie sie ihnnochmittagsgesehen,sondern ein kleiner, schmieriger Schornsteinfeger mitBobs Gesichtszügen. Und rief ihnen zu: »Papa,Mama,nichtbösesein,daßichsospätkomme,aberdafürbring'ich Gertie zu euch! Nicht wahr, das ist recht so, dennwenn sie gleich zu Frau Sehring käme, so könnte diesemitihremHerzleidenschwerenSchadendavontragen!«Und während Frau Holgerman weinend und lachend

ihren Jungen umarmte und herzte und Herr HolgermansichandenKopfgriffundnichtwußte,wasdasalleszubedeuten habe, kam auchDoktorWolters, derGertie inseinen Armen hielt. Nun war rasch die notwendigeVerständigung erzielt, undwenigeMinuten später ruhteGertie in Bobs Bett, wo sie nach einem Schlafpulver

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sofort fest einschlief, bewacht von Troll, der sichmerkwürdigerweiseweigerte,seinengewohntenPlatzvorder Tür einzunehmen, sondern darauf bestand, imZimmer zu bleiben und sich neben dem Bettauszustrecken.Währenddiesallesgeschah,warauchderandereTeil

der polizeilichen Maßnahmen programmgemäßverlaufen.Der Kriminalbeamte Perkins hatte das große blaue

Automobil des Doktor Morton wenige Schritte vomLunaklub entfernt vor einem Wirtshaus angetroffen, indemderChauffeur,derMulatteSam,gemächlichseinenSchoppen trank. Nach kurzer Verständigung betratPerkins unauffällig mit dreien seiner Leute dieSchankstube,undeinenAugenblickspäterhattensiesichdesMulattenbemächtigt.Perkinswaraufihnzugetreten,hielt ihm den Haftbefehl vor, rief: »Im Namen desGesetzeserkläreichSiefürmeinenGefangenen«,undimselben Augenblick hatten zwei Männer die Hände desMulatten im Gelenk umgedreht, worauf ein dritter diestählernen Armbänder anlegte. Wohl hatte der riesigeKerl dannmit den Füßen,wie toll um sich geschlagen,aber das nützte ihm nichts. Mit den Kolben ihrerRevolver schlugen ihm die Beamten auf die Knie, daßihmHörenundSehenverging,und schleppten ihndannzu einemder bereitstehendenWagen, um ihn nun, auchan den Beinen gefesselt, nach dem Polizeipräsidium zu

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bringen.DannkamderschwierigereTeilderAufgabe,dermit

wenigerDerbheitausgeführtwerdenmußte.Perkinswiesdem erstaunten Türhüter des Lunaklubs seineLegitimation vor und befahl ihm, ihm und seinen zweiBeamten vorauszugehen und ihnen unauffällig DoktorMorton zu zeigen. Doktor Morton saß am SpieltischebeimBakkarat und strich eben ein paarGoldstücke ein,als Perkins auf ihn zutrat und mit leichter Verbeugungsagte:»HerrDoktorMorton,ichhabeeinenHaftbefehlgegen

Sie wegenMenschenraubes und erkläre Sie für meinenGefangenen.«Entsetzt sprangen die anderen Herren von ihren

Stühlenempor.DoktorMortonaber, ausdessenGesichtalle Farbe gewichen war, blieb ruhig sitzen und sagtetonlos:»Gewiß,ichwerdeIhnenfolgen«,standauf,griffblitzschnell in die Westentasche und machte eineBewegungnachdemMundehin.AberPerkinshattemitsolch einerMöglichkeit gerechnet. Bevor dieHand denMund noch erreicht hatte, war sie von Perkins miteisernem Griff umklammert worden, einer der anderenBeamten packte die andereHand, dieArme desDoktorMorton wurden nach rückwärts gebogen und hinterseinemRückeninHandschellengelegt.VonallenSeitenströmtendieMitgliederdesLunaklubsherbeiundhörten,wie ihr angesehener Genosse Doktor Morton, der jetzt

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das Haupt gebeugt hielt, mit eiserner Ruhe sagte: »Ichhabe verspielt und gebe die Partie verloren«, um dannüber die Treppe als Häftling das Gebäude zu verlassenund in Begleitung der Polizeibeamten nach demPolizeihauptgebäudezufahren.

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XXIV.KapitelDieVerjüngungskurdesDoktorMorton

Es war fast Mitternacht, als in einem Zimmer derKriminalpolizei zwei Herren einander gegenübersaßen.Der eine vor dem Schreibtisch, der andere nicht weitdavon neben dem Schreibtisch. Und hätte nicht an derTür ein baumlanger Polizist mit dem Revolver in derHand gestanden und nicht an einem kleinen Tischchenein Schreiber gesessen, der Bogen auf Bogenvollkritzelte, so hätte man wirklich an einefreundschaftlicheUnterhaltungdenkenkönnen.Der Herr vor dem Schreibtisch war der Inspektor

Crispin, der andere Herr im Lehnstuhl der verhafteteDoktorMorton,demvorherinderZelledieGiftpillenausder Westentasche, das Taschenmesser und alle anderenbedenklichenGegenstände abgenommenwordenwaren.Während Herr Crispin mit verschränkten Armen dasaßund der Schreiber schrieb, stützte Doktor Morton dasjetzt sehr welk und gealtert aussehende Haupt auf denrechtenArmundsagte:»Ich habe Sie bitten lassen, noch heute nacht meine

Aussagenzuprotokollieren,weilesmirumnichtsmehrzu tun ist als umBeschleunigung desVerfahrens.Mein

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Lebenistverfallen,undeinverfallenesLebensollmansoraschalsmöglichseinemEndezuführen.IchwerdedaherjetzteinvollesGeständnisablegen,nichtetwaausReue,sondernausZweckmäßigkeit,undweileinLeugnennurdasersehnteEndehinausschiebenwürde.WennSiedieinmeinemBesitzebefindlichenPapiere,

DokumenteundAufzeichnungendurchsehenwerden, sowerdenSieerfahren,daßichnichtderFünfzigerbin,derich zu sein scheine, sondern nahezu achtzig Jahre altbin.«»Unmöglich,«entfuhresdemPolizeiinspektor.»Sehr schmeichelhaft, Herr Crispin, aber es ist doch

so. Ich werde, oder besser gesagt, sollte in wenigenMonaten achtzig Jahre werden. Und wenn ich Ihnenerkläre,wieeskommt,daßichumsovieljüngeraussehe,so habe ich damit auch erklärt, warum ich dieses armekleine Mädchen in meine Gewalt gebracht habe undanderekleineMädchenhabesterbenlassen.«Crispinfuhrempor:»AlsoSiehabendieKinder,diein

derletztenZeitverschwundensind,aufdemGewissen?«»Jawohl, Herr Crispin, ich bin gewissermaßen der

MördermehrererkleinerMädchen.WennmandasTötenin Notwehr und aus Selbsterhaltungstrieb einen Mordnennen will. Doch ich will alles in Kürze und Ruheerzählen.Ich wurde also vor nahezu achtzig Jahren als Sohn

eines armen Landarztes geboren, und es stand fest, daß

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ich auch Arzt werden sollte. Gerade als ich unterunsagbaren Entbehrungen kurz nach dem Tode meinerEltern das medizinische Doktordiplom errungen hatte,starbeinentfernterVerwandter,denichniegesehenhatte,da er in jungen Jahren nach Südamerika ausgewandertwar. Ichwar sein alleiniger Erbe und plötzlichBesitzereines ungeheuren Vermögens. Mein Lebensweg lag fürmich nun klar und fest umrissen vor mir. Reisen undforschen und das Leben in vollen Zügen genießen.Reisen,weilicheinerasendeSehnsuchtnachAbenteuernund fernenLändern hatte; forschen,weil ich von einemtief inneren Trieb besessen war, den Rätseln undGeheimnissenderNaturnäherzukommen,unddasLebengenießen,weilichesbisherentbehrtundnurinelendemdünnem Aufguß kredenzt erhalten hatte. Ich verbrachtedie nächsten Jahrzehnte in Südamerika und denVereinigten Staaten, in Indien und China, in Japan undSibirien,inParisundRom,lerntedieganzeWeltkennen,sprachbaldalleKultursprachenunddrangdabeilangsamin die medizinischen und physiologischen Geheimnisseder ältesten Völker ein. Wenn Gelehrte sich die Mühenehmen sollten, meine Schriften durchzustudieren, sowerden sie außerordentlichwertvollesMaterial auf demGebietederHeilkundeentdecken,dasmich,wennicheshättewollen,zumberühmtenMannegemachthätte.Sowurde ich sechzig Jahre alt, als ichplötzlichnach

einer anstrengenden Reise über die Kordilleren

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zusammenbrach und mich krank und gebrochen fühlte.Mühseligkonnte ichnochmeinebeabsichtigteReisebisRio de Janeiro fortsetzen, wo ichmich von dem erstenArzt untersuchen ließ. Das, was er mir sagte, wirkteeinfachniederschmetternd.›LieberHerrDoktorMorton,‹meinte der brasilianische Arzt, übrigens ein Deutscher,achselzuckend, ›Sie haben stark gelebt, haben gegessenund getrunken, wie es Ihnen behagte, haben tausendNächtezumTaggemachtundmüssennundieRechnungzahlen.Arteriosklerose,Verkalkung,Altersschwäche.Siehaben ja so schöne, pharmakopeutische undphysiologischeEntdeckungengemacht,versuchenSieesnuneinmal,demAlterneinHindernisentgegenzusetzen.ErfindenSieendlicheinVerjüngungsmittel.‹UnddieWortedesdeutschenArztesfaßtenWurzel in

meinem Gehirn und in meiner Seele. Ich wollte nichtlangsam absterben, wollte nicht als Greis dahinsiechen,wolltenochleben,langeundvollundohneBeschwerden.Eswürdezuweitführen,wollteichIhnenjetztschildern,wie ich Tag undNacht ohneUnterbrechung inmeinemZimmerhockteundnachdachte.SchließlichkamichzurÜberzeugung, daß sich eine Verjüngung nur auf demWege der Blutübertragung erzielen lassen würde, undbegann meine Experimente mit demmenschenähnlichsten Tiere, dem Affen, zu machen.Glücklicherweise befand ich mich ja in Brasilien, woman Affen noch leichter haben kann, als hier

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Meerschweinchen. Nach monatelangen, mehr oderweniger erfolglosen Versuchen hatte ich endlichhintereinander eine Reihe von Erfolgen. Es gelangmir,durch dieÜbertragung desBlutes jungerAffen auf altediese ersichtlich zu verjüngern, äußerlich und innerlichihre Lebenskraft zu erhöhen; Tiere, die bisherkümmerlich im Winkel gehockt hatten, neuerdings zuanstrengenden Klettereien fähig zu machen; Affen, diealle Zeichen des Marasmus aufwiesen, jugendlichaussehen zu lassen. Allerdings führten etwa zwanziggelungeneTransfusionenzufolgendenFeststellungen:DieBluttransfusionhatte nurbeiAffenderselbenArt

Erfolg.Die Übertragung mußte vom anderen Geschlecht

ausgehen, das heißt, die Verjüngung eines altenmännlichenAffengeschahnurdann,wennderjungeAffeweiblichenGeschlechteswarundumgekehrt.Unddrittensstellteessichheraus,daßderjungeAffe,

aus dessen Adern das Blut für den zu verjüngendengenommenwurde,unfehlbarnachkurzerZeitverfielundeinging, trotz der sorgsamsten Pflege und derwissenschaftlichsten Nahrungszufuhr zwecks frischerBlutbildung.MeineGiernachJugend,meinWunsch,weiterlebenzu

können, war nun somächtig und überwältigend inmir,daßichnichteinenAugenblickzögerte,dieExperimenteauch an mir auszuüben.Mit recht großerMühe konnte

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ich mich in den Besitz eines kleinen Mädchensspanischer Abkunft setzen. Ich brachte die KleineunschwerineinenDämmerschlaf,daichaufdemGebietederHypnosevielvermag,undschrittzurTat.Ichöffnetemeine rechte Pulsader und die des Mädchens, das ichhochübermir zu liegenbrachte, und stellte nunmittelsGummischlauches auch die Verbindung zwischen denbeiden Öffnungen her. Da der von oben kommendeLuftdruck stärkerwar, soverhinderte ermeinBlutnacheinigenMinutenamAusströmen,undichkonnteetwaeinLiterBlutdesKindesinmeineAdernpumpen.Nach sechsmaliger Transfusion wurde die kleine

Spanierin von Herzschwäche befallen und starb. IchselbstfühltewohleinegewisseFrische,aberlangenichtin dem Ausmaße, das ich erhofft hatte. NeuerlicheUntersuchungen und Blutforschungen brachten mir dieÜberzeugung, daß ein voller Erfolg nur dann eintretenwürde, wenn ich das Blut mir ganz gleichartigerMädchen, also hellhäutiger und hellhaariger, erlangenkönnte. Das erschwerte natürlich die Sacheaußerordentlich, da in Brasilien die Zahl der BlondensehrgeringunddieblonderKinderminimalist.Auchwaresmirklar,daßichfürweiterederartigeTransfusionganzandere Instrumente, und vor allem eine zuverlässigemenschlicheHilfehabenmüsse.Recht verzagt reiste ich mit einem Küstendampfer

nordwärts nach den Vereinigten Staaten, um von New

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Orleans aus mit der Bahn weiterzufahren. In NewOrleans herrschte am Tagemeiner Ankunft gerade eineregelrechte Negerhetze. Mehrere Schwarze, die sichangeblichgegeneineweißeFrauvergangenhatten,warenschon gelynchtworden, und der Pöbel suchte nun nacheinem Geschwisterpaar, das im Negerviertel aus demFensterherausaufWeißeheißesWassergeschüttethabensollte. Diese zwei, es waren Mulatten, wurden mitBluthunden gesucht, und der Mob raste eben mit denBestiennachdemHotelzu, indemichabgestiegenwar.Plötzlich flog die Tür meines Zimmers auf, und hereinstürzte ein riesiger junger Mulattenbursche, hinter ihmseineetwaachtzehnjährigeSchwester.Siefielenvormirauf die Knie, winselten um Gnade und Erbarmen undbatenmich,sievor ihrenVerfolgernzuretten.Eswarendies die Geschwister, die vom Pöbel gesucht wurden.Nun,ichverbargsietatsächlichbeimir,ließsiedieNachtin dem Kofferverschlag neben meinem Zimmerverbringen und nahm sie am anderen Tag frühmorgensmitmirnachNewYork.VondaanhingenSamundSaramit hündischer Treue an mir, und da ich sie außerdemimmer auf dem Wege der Suggestion unter meinemWillen hielt, so hatte ich an ihnen gefügige,willenlose,unbedingt ergebene Werkzeuge. Langsam brachte ichihnendieÜberzeugungbei,daß, falls ichsienichtmehrbeschützen könnte, sie beide der Justiz verfallenwären,ichalsomeinLebenverlängernmüsse,umauchdasihre

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zu sichern. Ich konnte nunmehr Sam und und Saraunbesorgt verwenden, einerseits, um die Mädchen, dieich brauchte, in meine Gewalt zu bekommen,andererseits, um mir bei den operativen Vorgängenbehilflichzusein.In New York gelang es mir unschwer, ein blondes,

gesundesKindzubekommen,undnachdemichmirallenotwendigen chirurgischen Instrumente verschafft hatte,diemeinenZweckenentsprachen,schrittichabermalszurTransfusion, die diesmal vorzüglich gelang. Nachviermaligem Blutwechsel starb das Kind, aber ich warwie neu geboren, bekam eine frische, jugendlicheGesichtsfarbe, alle meine Sinne belebten sich inungeheurerWeise, und ich fühltemichneuerdings allenStrapazen und Anforderungen gewachsen. Nach Ablaufeines halben Jahres allerdings stellten sich wiederZeichenvonMüdigkeitundAbspannungbeimirein,undich wußte, daß ich ein neues Opfer brauche, um demAlternTrotzbietenzukönnen.NewYork ist groß, einer kümmert sichnicht umden

andern,dasGewissenistabgestumpft,undeskonntenausden Vierteln der Armen Kinder spurlos verschwinden,ohnedaßsichdieÖffentlichkeitweiterdarüberaufgeregthätte. Immerhin — leicht war die Sache nicht. Ichmachte, bevor ich an eine Transfusion schritt, natürlichimmer erstBlutproben, ummich zuüberzeugen, obdasBlutdesMädchensnichtverseuchtoderkrankhaftinder

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Zusammensetzung sei. Und da machte ich denn dieErfahrung, daß dies unter zehn Kindern des Volkes beiacht der Fall war, und daß ererbte und erworbeneKrankheiten, die ersteren häufiger, das Blut für meineZwecke unbrauchbar machten. Dies erschwerte meinVorhaben ganz außerordentlich, denn nach vollzogenerBlutprobe mit solchem Ergebnis mußte ich die Kinderwiederlaufenlassen.Denn,HerrCrispin,ichwiederholees, ich bin keinMörder, ich bin auch nicht die brutaleBestie, für die Siemich haltenmögen, sondern ich binnur ein Mensch, der das eigene Leben über das deranderen stellte, was im Prinzip wohl die meistenMenschentun.Esmehrten sich imLaufeder Jahre alsodieFälle, in

denen Kinder auf zwei bis drei Tage verschwundenblieben, umdannmit einer Stichwunde amHandgelenkund in verstörtem Zustande zu den Elternzurückzukehren. Was vorgegangen war, wußten dieMädchenniemals,daichsie,sowiesieinmeinerGewaltwaren, in einen Dämmerzustand versetzt hatte — aberimmerhin wußten sie, daß sie mit Gewalt irgendwohingebrachtwordenwaren.Die Häufigkeit solcher Vorkommnisse begann

schließlichAufsehenzuerregenunddieÖffentlichkeitzubeschäftigen, und ich zog es vor meinen Aufenthalt zuverändernundabwechselndinChikago,PhiladelphiaundSanFranziskozuleben.MeineErfahrungundÜbungbei

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der Vorbereitung und Durchführung der jeweiligenVerjüngungskuren war im Laufe der Jahreaußerordentlich gewachsen und ich sah es kleinenMädchenfastaufdenerstenBlickan,obsiegeeignetfürmich waren oder nicht. Bekam ich ein blondes, sehrgesundes und kräftiges Kind in meine Gewalt, sodauerten dieWirkungen der Bluttransfusion beimir biszuzehnMonaten;wardasKindschwächlichundzart,sowurde schon nach drei Monaten eine Wiederholungnotwendig. Vor sechs Jahren übersiedelte ich in dieseStadt und ließmirmit großemAufwand vonGeld undMühedasHausinderBlumenstraßeerbauen,dasmeinenZweckenbisindiekleinsteEinzelheitentsprachundmirjedeSicherheitzubietenschien.IndieserMillionenstadtscheinen Kinder noch leichter und unbemerkter zuverschwinden als in den Städten der amerikanischenUnion. Zweimal ereignete es sich, daß von den Elternnicht einmal eineAbgängigkeitsanzeige erstattet wurde,und einmal, als ich mit meinem Automobil an einembrennendenWohnhausvorbeifuhr,konnteichmichdreiergeeigneterMädchen bemächtigen, von denenman dannannahm,daßsiebeidemBrandeumsLebengekommenseien.DasVerschwindenderkleinenRuthClemensundMary Peters — das waren die letzten Fälle — machteallerdingseinigesAufsehen.«Den Kriminalinspektor überfiel ein starres Entsetzen

überdiekühle,sachlicheArt,inderDoktorMortonseine

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zahllosen Kindermorde förmlich registrierte, und erkonnte nicht umhin, auszurufen: »Das alles klingt sograuenhaft, daß ich es lieber für einen bösen Traumhaltenmöchte.«DoktorMortonnickte.»Ja,es ist furchtbar,daßeiner,

umzuleben,anderetötenmuß.Aberungewöhnlichistesdoch nicht.WievielMenschen zumBeispiel sind schondurch die Regierungen umgebracht worden, weil diesesich einbildeten, ohne diesen oder jenen Fetzen Landnichtlebenzukönnen.ÜbrigensirrenSiesich,wennSieglauben, daß ich ganz herzlos bin. Ich habe schwereinnere Kämpfe durchgemacht, bevor ich mich darangewöhnt habe, den Tod von Kindern zugunsten meinesLebensalsUnabänderlichkeitzubetrachten.Aber was sollen diese nutzlosen

Auseinandersetzungen? Lassen Sie mich lieber meinenBerichtbeenden.Vor etlichen Wochen erregte im Jubiläumspark ein

kleinesblondesMädchenmeineAufmerksamkeit,dessenGesundheit, Feinrassigkeit und Gepflegtheit ersichtlichwaren. Ich schickte Sam hinter dem Mädchen her underfuhrbald,wasichwissenwollte.Nurerwiesessichalsschwierig, an dieKleine heranzukommen, da sie immerin Gesellschaft eines Knaben war, der nicht von ihrerSeite wich. Ich hatte es mir nun einmal in den Kopfgesetzt,diesesMädchen fürmichzuverwenden,undsosann ich über Mittel und Wege nach, die Kinder auf

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einige Minuten von einander zu trennen. Nun, gar soschwerwar esnicht. Ich erfuhr, inwelchesGymnasiumderjungeMannging,erkundigtemichnachdemNamenseines Professors und benützte zur Ausführung meinesPlanesdenTagderZeugnisverteilung.WährendSammitdem Auto langsam in der Nähe des Parkes umherfuhr,lief ich rasch in ein Restaurant, telephonierte das Hausdes Fabriksbesitzers Holgerman als Professor Brummelanundbat,denKnabensofortzuverständigen,ermögemich anrufen. Als ich dann sah, daß tatsächlich dieKinderdenParkverließen,fuhrichihnenimAutonach.Hätte Gertie Sehring nicht unten gewartet, so hätte ichmein Vorhaben eben verschieben müssen; es ging aberallesganznachWunsch.Gertie blieb auf der Straße, ich fuhr langsam an ihr

vorbei, riß die Tür des Autos auf, beugte mich hinaus,winktederKleinen,diesofortnäherkam,fragte,obhierdasHausdesHerrnHolgermansei,undalsGertieeifrigbejahte,hatteichihrauchschondieKehlezugedrückt,sodaßsiekaumnocheinenSchreiausstoßenkonnte,undsiezu mir hineingehoben. Unterwegs nach meinem HauseversetzteichdieKleinetrotzihresWiderstrebensineinenhypnotischen Schlaf, aus dem ich sie erst am nächstenTageerweckte. Ichmußhier,umganzbeiderWahrheitzu bleiben, zugeben, daß mir kein Kind so viel zuschaffengemachthat,wieGertieSehring.Sobaldsieausdem Schlaf erwachte, führte sie furchtbare Szenen auf,

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wandsichinWeinkrämpfenundließsichwedervonmirnoch von Sara beruhigen.Nach einigen Tagen gab sichdas, aber von da an saß die Kleine, der wir gewaltsamNahrung beibringen mußten, vollständig verstört undbewegungslos in der Zimmerecke, so daß ich ernstlichfürchtete,siezuverlieren,bevordieBluttransfusion,dieichwiedersehrnotwendigbrauchte,beendetseinwürde.BisherwurdedieTransfusiondreimalvorgenommen,undich hatte vor, heute die vierte, morgen die fünfte zubewerkstelligen, was ja wohl gleichzeitig das Ende desKindesbedeutethätte.Jetzt,wofürmichallesvorbeiundmeinLebenverwirktist,freueichmich,daßGertienochlebt und hoffentlich auch am Leben bleiben wird. Undnun, Herr Crispin, habe ich Ihnen alles mitgeteilt undbitte, so rasch als möglich dem ordentlichen Gerichtüberwiesen zuwerden. Ich habe das Leben geliebt unddasAlterngehaßt,aberderTodhatkeineSchreckenfürmich, obwohl ich es entschieden vorgezogen hätte,freiwilligmitHilfemeinerGiftpillen zu sterben als aufdemSchafott.«

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XXV.KapitelDerHelddesTages

Der Tag, der für Bob anbrach, war für ihn ein großer,einer jener Tage, dessen Erinnerung ihn nie mehr imLebenverlassenkonnte.UmsechsUhrmorgensschonwarGertieinBobsBett

erwacht,hattesichaufgesetzt,schlaftrunkenundverwirrtdie Äuglein gerieben und nicht gewußt, wo sie sichbefand. Als sie den großen Hund neben dem Betterblickte,wollte sieargerschrecken,aberTrollverstandeswunderbar, sie zu beruhigen, indem er denKopf aufihreKnie legte und sie treuherzig ansah,woraufGertie,die gerade hatte weinen wollen, es vorzog, ihn zukraulen,und langsamzuerkennenbegann,daßsienichtmehrdortsei,wosiegesterngewesenwar.TrollhieltnunaberdenZeitpunktfürgekommen,das

HausvondemErwachendeskleinenMädchens,dasmitden langen blonden Locken, die über Bobs Nachthemdfielen, süß und lieb wie ein Engel aussah, zuverständigen,under tatdies, indemermitderPfotedieTür öffnete und kurz aber entschieden in den Korridorhinausbellte,waszurFolgehatte,daßsichsehrraschdasZimmermitMenschenfüllte.ZuerstkamBob,derschon

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seit einer Stunde auf dieses Erwachenwartete, und nunjubelnd und jauchzend seine kleine Freundin umarmteund küßte. Worauf Gertie seinen Hals umschlang, ihngroß ansah und mit ihrem glockenhellen Stimmchensagte: »Bobbie, wie komme ich hieher? Dies ist dochdeinZimmer und deinBett!Wo istmeineMami?Bob,ichhabesehrHäßlichesgeträumtundglaube,daßichimSchlafevielgeweinthabe.«Aber nunkamen auchHerr undFrauHolgermanund

hinter ihnen ein freundlicher dicker Herr mit einergoldenen Brille. Es war dies der Hausarzt der FamilieHolgerman,dernunallehinausschickte,Gertiegründlichuntersuchteunddann,alsdieanderenwiederimZimmerwaren,sagte:»DasKind istwohlauf und soweit gesund, nur durch

einenäußerstgroßenBlutverlust,deraufdieSchnitte indenPulsadernzurückzuführen ist, furchtbargeschwächt.Siemußnunvielessen,vielruhenundwomöglichhinausaus der heißen Stadt an die See. Dann wird sich dieKleineineinpaarWochenwiederganzerholen.«Worauf Herr und Frau Holgerman einander ansahen

und lächelnd einen Blick des Einverständnissestauschten.Was nun aber eigentlich mit Gertie geschehen war,

wußtenochniemandvondenAnwesenden,dochsolltensie es bald erfahren, denn kaum hatte Gertie ihrFrühstück, bestehend ausMilch undweichenEiern,mit

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Appetitverzehrt,alsauchschonHerrCrispinmiteinemSchreiber und einem höheren Beamten derStaatsanwaltschafterschien,umdieKleine,fallsderArztes erlaubenwürde, zuvernehmen.DerArzthattenichtseinzuwenden, und so setzten sich denn die Beamten,nachdemHerr Crispin unten imWohnzimmer kurz vondemGeständnisdesDoktorMortonberichtethatte,zumBette Gerties, das Bob und seine Eltern maßloserschüttertumstanden.HerrCrispinstreicheltedieHandund die Locken der ein wenig scheuenGertie und fingsehrgeschicktauffolgendeWeisean:»Liebes kleines Mädchen, wir müssen von dir

erfahren,wasdirdiebösenMenschen,ausderenHändendichdeinFreundBobbefreithat,getanhaben.Duwirstdich sicher daran erinnern, daß du vor mehr als zweiWochen gewaltsam fortgeschleppt wurdest. Denke nungutnachunderzähleuns,wiedasgekommenistundwasnachherallesgeschah.«WährendTotenstille imZimmer herrschte, sahGertie

bewegungslosvorsichhin,wandtedasKöpfchenBobzuundsagte:»Bobbiesollsichzumirsetzen.«BobsetztesichandenRanddesBettes,sienahmseine

Hand,drücktesieheftig,dachteeinigeMinutennachundbeganndann:»Nunmehrerinnere ichmich——ja, ichsollte vor langer, langer Zeit vor dem Hause auf Bobwarten, der zumTelephon gegangenwar. Plötzlich kamein schönes Automobil, das wir schon vorher gesehen

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hatten, angefahren, das von einem häßlichen, braunen,großenManngelenktwurde.Auchihmwarenwirvorherbegegnet. DieWagentür ging auf, ein alter Herr beugtesich heraus, winkte mir zu, fragte mich etwas, was ichnichtmehrweiß,undalsichantwortenwollte,packteermich am Hals und riß mich in den Wagen hinein.WährendderFahrt hielt er einenArmummich, sodaßich mich nicht bewegen konnte, und mit der anderenHanddrückteermireinTuchfestvordenMund,sodaßich auchnicht schreienkonnte.Mirwurde schlecht undganzdunkelvordenAugen,undalsicherwachte,warichin einem Zimmer, in dem elektrisches Licht brannte.Kaumhatte ichdieAugengeöffnet,als ich furchtbarzuschreien begann,worauf eine häßliche schwarze Personhereinkam und mit einer Puppe vor mir hin und hertanzte,ummichlachenzumachen.Ichschrieabernochmehr,bisderalteHerrausdemAutokamundmichfestundstarransah, sodaß ichzu schreienaufhörenmußte.Dannweißicheigentlichgarnichtsmehr.Immerwarmir,alswennichschlafenmüßte,allesschienganzdunkelzusein, und ich weiß nur, daß mir der alte Herr oft sehrwehe getan hat, während mich die schwarze Personfesthielt, und daß ich dann nachher immer so furchtbarmüde war und glaubte, sterben zu müssen. Und immerwarichallein,undsaßdanninderEckeineinemgroßenStuhl, wollte laut schreien, konnte es aber nicht, undweinteganzleise,daßmeineAugenbrannten.Unddann

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waresmireinmal,alsobeinweißesMäuschen inmeinZimmerhineinhuschte,sodaßichfurchtbarerschrakundganzwachdavonwurde.Wie ichaberhinsah,bemerkteich, daß es keine Maus war, sondern ein weißes BlattPapier, das ganz von selbst von der Tür her in dasZimmerkroch.UndweilichmichindiesemAugenblickewach fühlte, stand ich auf und ging zu demPapier hin,hob es auf, und da las ichmühsam dieWorte: ›Ist hierjemand?‹Und da tanzte alles um mich her und ich wäre fast

umgefallen,aberichnahmmichsehrzusammen,weilichwußte, daß ich rasch antworten müßte. Ich hatte aberkeine Tinte und keineBleifeder, und so nahm ich denneineTafelSchokolade,diemanmiraufdenTischgelegthatte,machte siemit derZunge feucht und schrieb hin,daßich,GertieSehring,dawäreundsterbenmüßte.UnddannschobichdenZettelwiederunterdieTüre,krochinmeinenStuhlundwartete,lange,lange.Wasdannweitergeschah und wie ich hierhergekommen bin, weiß ichnicht.«GertiewarmitihrerErzählungzuEnde,aberauchmit

ihrerKraft.Bleich lehnte sie sich in dieKissen zurück,und als sie sah, wie alle ringsum, sogar die ernstenMänner, die sienichtkannte,weintenoderdochTränenindenAugenhatten,dabegannauch sie jämmerlichzuweinenundnach ihrerMutter zu schreien, bisBob sichüber sie beugte und sie streichelte. Da fielen ihr die

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Augenzuundsieschliefsanftein.HerrCrispin und die anderenHerren empfahlen sich,

und nun galt es, Gerties Mutter vorzubereiten. DieseAufgabe übernahmen Frau Holgerman und Bobgemeinsam. Sie fanden Frau Sehring im Lehnstuhl undbei etwas besserem Befinden; sie erhob sich sogar, umden beiden entgegenzugehen, wobei sie Boberwartungsvoll ansah. FrauHolgerman schlug denArmumdieschmalenSchulternderFrauundsagtefreundlichlächelnd:»FrauSehring,heutebringenwirbessereBotschaftals

sonst. Wir wissen schon, daß Gertie am Leben undgesundistundbaldbeiIhnenweilenwird.«FrauSehringschriegellendauf.»Gertie!Woistmein

Kind!Ichwillhinzuihr!«Die Wärterin kam hinzu. Frau Sehring wurde mit

sanfterGewaltgenötigt, sichzu setzen,undwußtenachwenigen Minuten, daß ihr Kind aus den Händen eineswüsten Unholds gerettet sei und eben drüben sanftschlummere. Freude kann töten — Freude kann auchbeleben. Frau Sehring war nicht zu halten. AlleHinfälligkeitwar von ihr geschwunden, raschwechseltesie den Schlafrockmit einem Straßenkleid und lief mitFrau Holgerman und Bob hinüber, um beim ErwachenihresKindeszugegenzusein.SiewurdealleinamBetteGerties gelassen, allein konnte sie dasWiedersehenmitdem verloren geglaubten und wiedergefundenen Kinde

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feiern———Bobbies aber harrten neue Aufregungen. Plötzlich

begannen Automobile, eines nach dem andern,heranzurasen, und ihnen entstiegen Reporter derverschiedenenZeitungen.ZehnmalhintereinandermußteBobseineGeschichteerzählen, jamanzwangihnsogar,nochmals das Schornsteinfegergewand anzuziehen, umsichsophotographierenundzeichnenzulassen,undalledie gewichtigen Zeitungsmänner behandelten ihngeradezu mit Ehrfurcht. Die ersten Mittagsblätterveröffentlichten denn auch schon seitenlange Berichte,unddieMittagsausgabeder»Tribüne«verstiegsichsogarzuderBehauptung:»Zweifellos ist Bob Holgerman, der dreizehnjährige

Amateurdetektiv,heutedieinteressantestePersönlichkeitdesReiches.«Mittags fühlte sich Gertie so wohl, daß sie mit ihrer

Mutter bei Holgermans speisen konnte, und zwar nichtim Bette, sondern bei Tisch. Auch der Hausarzt waranwesendunderhobsichgerade,umeineTischredeüberdiewunderbarenErlebnisseGertiesundBobszuhalten,als Unerwartetes geschah. In der ganzen Stadt war dieGeschichte des Doktor Morton das einzigeTagesgespräch, und da hatte irgendwer irgendwo dasLosungswort ausgegeben, zum Hause des HerrnHolgermanzuziehen,umdentapferenkleinenJungenzufeiern. Unterwegs schwoll die kleine Menschenmenge

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lawinenartig an, und plötzlich war es eine ungeheureMasse aufgeregterLeute, diedieStraßen füllteundnunzumHausedesFabrikbesitzersHolgermandrängte.UndgeradeindemAugenblicke,alsderArztmitdenWorten:»BobundGertie,siemögenlangeleben«,seinGlaszumMunde führte, brauste durch die offenen Fenster dertausendstimmige Ruf: »Hoch Bob Holgerman, hoch,hoch,hoch!«Und die ganzeMenge begann zu toben und zu rasen

und nach Bob zu schreien, und einzelne junge Leutemachtensichdaran,durchdieFensterdesErdgeschosseseinzusteigen, so daß Herr Holgerman, sich die Haareraufend,Bobbat,aufdenBalkonhinauszutreten.UnddaGertie ein neugieriges und ein ganz klein wenig eitlesWeibchenwarundTrollprinzipiellseinemjungenHerrnwieeinSchatten folgte, sogeschahes,daßalledrei aufdem Balkon erschienen, umbraust von den HochrufenunddemJubelgeschreiderMenschenmenge.Als sich schließlich die Massen verlaufen hatten,

erklärte aber Herr Holgerman aufs bestimmteste:»Kinder, die Stadt beginnt nun auch mir zu heiß zuwerden.MorgenmitdemerstenZugfahrenwiralle,FrauSehringundGertienatürlichmituns,nachderSee.«»UndTroll?«wandteBobfragendein.»Trollkommtmit,«lautetedielachendeAntwort.»UndFrauKriklundHerrMatthiasundHerrMöller?«

fragteBobkühnundbeharrlich.

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»Hm,« meinte Herr Holgerman, der inzwischen alleGeheimnisse seines Sohnes kennen gelernt hatte,belustigt,»wennsiewollen,könnensieauchmitkommen.Platz ist genug in derVilla, die ich dort unten gemietethabe.«Herr Matthias aber und sein Neffe, der

Schornsteinfegermeister, erklärten während desNachmittagsbesuches, den sie abstatteten, keineZeit fürsolcheUnternehmungenzuhaben.UndsowaresnurdieüberglücklicheTanteSibylleKrikl,diemitnachderSeefuhr.

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XXVI.KapitelDoktorMortonsEndeundeinjungesBrautpaar

SechsWochenspäterkehrtensieallenachderHauptstadtzurück. Frau Sehring gekräftigt und erholt, Bob braunwieeinMatrose,Gertieblühendundschönernochalssiegewesen. Frau Krikl als zärtliche, glückliche »Tante«.Nicht nur der nahende Schulbeginn hatte aber dieHeimreise notwendig gemacht, sondern eine andere,ernste und wenig erfreuliche Angelegenheit. DieSchwurgerichtsverhandlunggegenDoktorMortonwegenmehrfachenMeuchelmordes,gegenSamwegenBeihilfeundgegenSarawegenentfernterBeihilfewaranberaumtund die Zeugenaussage Bobs unbedingt notwendig,währendmanaufdiederkleinenGertieverzichtethatte.Doktor Morton, der im Untersuchungsgefängnis

schrecklichverfallenundnun tatsächlich auchäußerlicheinachtzigjährigerGreisgewordenwar,verweigertejedeAntwort und verwies nur auf sein Geständnis in derNacht nach seiner Verhaftung. Sam und Sara erklärtenheulendundweinend, daß sie denBefehlen ihresHerrngehorcht hatten. Als Hauptzeuge trat aber Bob auf, dermit der Haltung eines kleinen Weltmannes seineGeschichte erzählte, immer wieder vom Beifall der

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Zuhörerunterbrochen.DasUrteil lautete auf Todesstrafe fürDoktorMorton

und denMulatten Sam, auf lebenslängliches Zuchthausfür Sara. Und der unselige Mann, der seineGelehrsamkeit in tierischer Selbstsucht statt zum Heileder Menschheit zu seinem eigenen Wohl und zumVerderben unschuldiger Kinder angewandt hatte, starbmitseinemwillenlosenSklaveneinigeTagespäterdurchHenkershand.AndiesemTageriefdasEhepaarHolgermanfeierlich

und ernst die beidenKinder zu sich, und nach einigemRäuspern ließ der Fabrikbesitzer folgende Rede vomStapel:»Kinder, so ungern ich es tue, ich muß euch jetzt

voneinander trennen. Bobs Bleiben in dieser Stadt istvorläufignichtmehrmöglich.DukannstalszweibeinigeWeltberühmtheitnichthieraufwachsen,ohneSchadenandeinerSeelezunehmen.AuchinderSchulewäreaufdieDauer deine Stellung den Mitschülern und Professorengegenübernichthaltbar.UndnochausanderenGründen,die ich dir heute noch nicht erklären kann, ist es gut,wennduvonhier fortkommst.Bob,mein lieber,kluger,tapferer Junge, du weißt, wie ungern ich mich von dirtrenne, aber esmuß zu deinem eigenenBesten so sein.Ich habe alles vorbereitet: du fährst morgen nach derSchweiz in ein Pensionat in Lausanne, wo du deineSchulpflichtbeendenwirst.IndenFerienwirstduimmer

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beiunsundbeideinerkleinenFreundinsein,dieunsnunein zweites Kind geworden ist, das wir gemeinsammitihrerMutterhegenundpflegenundliebenwollen.UndinfünfJahren,wenndumitderSchulefertigbist,trittstduzumirindieFabrikein,unddannnochzwei,dreiJahre,unddubisteinMann,undichwerdedannderletztesein,deresverhindernwird,wennduGertiezudeinerkleinenFrau und zu unseremTöchterchenmachenwillst. Dennwenn je das schöne Wort am Platze war: ›Was Gottzusammengefügt,dassollderMenschnichtscheiden‹,sohier!«Eng aneinandergeschmiegtwie ein Brautpaar standen

dieKinderdaundlächeltenseligunterTränen.