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Perspektiven. Für Alle Strategie der Diakonie Deutschland 2020

Für Alle Strategie der Diakonie Deutschland · 4 Dokumentation Strategieprozess Schematische Darstellung des Strategieprozesses Mittelfristige Strategie der Diakonie Deutschland

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Perspektiven.Für Alle Strategie der Diakonie Deutschland 2020

2 Dokumentation Strategieprozess

Inhaltsverzeichnis

03 Vorwort

04 Schematische Darstellung des Strategieprozesses

06 Exemplarischer Ablauf eines Forums

Zukunftsforum I am 27. Februar 2015 in Düsseldorf07 Zentrale Entwicklungen und Heraus forderungen der deutschen Sozialpolitik

Impulsvortrag von Prof. Dr. Christoph Butterwegge24 Auswertung Düsseldorf

Zukunftsforum II am 6. März 2015 in Leipzig26 Das Soziale in Europa

Impulsvortrag von Sven Giegold MEP37 Auswertung Leipzig

Zukunftsforum III am 21. April 2015 in Hamburg40 Regeln der Kommunikationsgesellschaft

Impulsvortrag von Richard Gaul49 Auswertung Hamburg

Zukunftsforum IV am 11. Mai 2015 in Frankfurt/Main52 Vortrag I

Sozialer Zusammenhalt in Deutschland – Herausforderungen für Politik und Gesellschaft Impulsvortrag von Thorsten Schäfer-Gümbel

59 Vortrag II Zukunftsfähigkeit sozialer Dienste. Ansätze der Innovationsförderung in der Sozialwirtschaft Impulsvortrag von Professor Dr. Andreas Schröer

69 Auswertung Frankfurt/Main

Zukunftsforum V am 14. Juli 2015 in Nürnberg71 Ergebnisse

Interviews zur Umfeldanalyse74 Die interviewten Personen75 Ergebnisse der Interviews zur Umfeldanalyse

Zusammen fassung78 Trends und Impulse für die Strategieplanung

Mittelfristige Ziele der Diakonie Deutschland84 Handlungsleitende Ziele 2016 – 2020

86 Auszug Diakonie Texte 2012 bis 2015

Vorwort des Vorstandes Dokumentation Strategieprozess 3

Sehr geehrte Damen und Herren,liebe Leserinnen und Leser,

wie entwickelt sich das Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten fünf Jahren? Welche Trends werden im europäischen Kontext unsere Gesellschaft ver-ändern? Welche weiteren internationalen und nationalen Fak-toren werden diese Entwicklungen beeinflussen und welche Konsequenzen und Chancen ergeben sich aus diesen Ver-änderungen für die Diakonie?

Diesen Fragen haben wir uns zusammen mit gut vierhundert Leitungsverantwortlichen der Diakonie in Deutschland gestellt. In fünf großen Strategieforen haben wir die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Rahmen unserer mittelfristigen Strategieplanung 2020 analysiert und diskutiert. Wir haben diesen Prozess beteiligungsorientiert und transparent gestaltet und dadurch das breite Know-How innerhalb unseres Verban-des, aber auch die wertvolle Expertise und die konstruktiv – kritischen Rückmeldungen unserer Partner nutzen können. Dafür sind wir sehr dankbar.

Wir freuen uns, dass dieser umfangreiche Beratungs- und Diskussionsprozess innerhalb eines Jahres abgeschlossen werden konnte und die Ergebnisse mit der vorliegenden Doku-mentation nun allen Interessierten und Verbündeten der Diakonie in Deutschland zugänglich werden. Mit der Erarbei-tung und der Umsetzung der mittelfristigen Zielplanung der Diakonie Deutschland werden die gewonnenen Erkenntnisse für unseren Verband und für unsere Gesellschaft Früchte tragen. Zusammen mit unseren Partnern in Gesellschaft und Politik wollen wir die entstehenden Chancen nutzen und Ver-

änderungen zum Wohl der Menschen und unseres Gemein-wesens aktiv und evangelisch profiliert gestalten. Wir wollen Perspektiven gestalten. Für Alle.

Sehr herzlich danken wir allen, die ihre Expertise und ihre Perspektiven in diesen Prozess eingebracht haben. Unser besonderer Dank gilt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der fünf Zukunftsforen für ihre intensive Beteiligung, den fünf Hauptreferenten für ihre weiterführenden Impulse sowie den 19 Expertinnen und Experten, die für sehr aufschlussreiche Einzelinterviews zur Verfügung standen. Nicht zuletzt danken wir Herrn Claus Philippi, B’VM Beratergruppe für Verbands-Management, für seine professionelle Begleitung.

Wir hoffen, dass Sie die vorliegenden Ergebnisse auch für Ihre eigenen Strategie- und Innovationsplanungen mit Gewinn lesen und nutzen können. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen und sind gespannt auf Ihre weiteren Rückmeldungen auf unsere Arbeit.

Ihre

Ulrich Lilie Maria Loheide Dr. Jörg Kruttschnitt Präsident Vorstand Vorstand Recht, Sozialpolitik Sozialökonomie und Personal

Vorwort des Vorstandes

Der Vorstand der Diakonie Deutschland (v.l.n.r.): Pfarrer Ulrich Lilie, Präsident, Maria Loheide, Vorstand Sozial politik und Dr. Jörg Kruttschnitt, Vorstand Recht, Sozialökonomie und Personal. Foto: Hermann Brede-horst

4 Dokumentation Strategieprozess

Schematische Darstellung des Strategieprozesses

Mittelfristige Strategie der Diakonie Deutschland 2016 – 2020

8 Trends und 13 Ziele

Diskussion der Ergebnisse mit den Gremien und mit den Leitungsverantwortlichen

der Diakonie Deutschland

Zukunftsforum V Nürnberg, 14. Juli 2015

Diskussion der vier wichtigsten Trends

Zusammenfassung und Bündelung der Ergebnisse der Zukunftsforen und

der Umfeldanalyse

Auswertung und Bündelung der Zukunftsforen

Auswertung und Bündelung der Experteninterviews

Zukunftsforum IV Frankfurt, 11. Mai 2015

Zukunftsforum III Hamburg, 21. April 2015

Zukunftsforum II Leipzig, 6. März 2015

Zukunftsforum I Düsseldorf, 27. Februar 2015

19 Experten interviews

Umfeldanalyse Zukunftsforen

Dokumentation Strategieprozess 5

Dr. Jörg Kruttschnitt, Vorstand Recht, Sozialökonomie und Personal der Diakonie Deutschland, übernahm mehrfach die Moderation der Vorträge.Diakonie Deutschland. Foto: Dr. Christian Oelschlägel/Diakonie Deutschland

Kolleginnen und Kollegen aus Landes- und Fachverbänden, von diakoni-schen Unternehmen und Einrichtungen sowie des Bundesverbandes der Diakonie Deutschland beteiligten sich intensiv an insgesamt fünf Foren. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

6 Dokumentation Strategieprozess

Exemplarischer Ablauf eines Forums

Zukunftsforum I

27. Februar 2015 in Düsseldorf

11.00 Uhr

11.15 Uhr

11.30 Uhr

12.00 Uhr

13.15 Uhr

13.30 Uhr

14.30 Uhr

Begrüßung

Prof. Dr. Uwe Becker

Vorstand Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Eröffnung

Ulrich Lilie

Präsident Diakonie Deutschland

Ablauf heute, Gesamtprozess, Aufgaben

Maria Loheide

Vorstand Sozialpolitik, Diakonie Deutschland

Vortrag und Diskussion

„Zentrale Entwicklungen und Herausforderungen in der deutschen

Sozialpolitik“ Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln

Moderation:

Dr. Jörg Kruttschnitt

Vorstand Recht, Sozialökonomie und Personal, Diakonie Deutschland

Trendscouting

Einführung in die Workshop-Phase

Claus Philippi

B‘VM | Beratergruppe für Verbands-Management

Mittagspause

Impulsgruppen

Vorstellung der Trendcluster

Claus Philippi

Pause

Trendgalerie

Präsentation und Priorisierung

Claus Philippi

16.00 Uhr

16.30 Uhr

17.00 Uhr Abschluss

Ulrich Lilie

17.15 Uhr Ende

Zukunftsforum I

27. Februar 2015 in Düsseldorf

11.00 Uhr

11.15 Uhr

11.30 Uhr

12.00 Uhr

13.15 Uhr

13.30 Uhr

14.30 Uhr

Begrüßung

Prof. Dr. Uwe Becker

Vorstand Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe

Eröffnung

Ulrich Lilie

Präsident Diakonie Deutschland

Ablauf heute, Gesamtprozess, Aufgaben

Maria Loheide

Vorstand Sozialpolitik, Diakonie Deutschland

Vortrag und Diskussion

„Zentrale Entwicklungen und Herausforderungen in der deutschen

Sozialpolitik“ Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln

Moderation:

Dr. Jörg Kruttschnitt

Vorstand Recht, Sozialökonomie und Personal, Diakonie Deutschland

Trendscouting

Einführung in die Workshop-Phase

Claus Philippi

B‘VM | Beratergruppe für Verbands-Management

Mittagspause

Impulsgruppen

Vorstellung der Trendcluster

Claus Philippi

Pause

Trendgalerie

Präsentation und Priorisierung

Claus Philippi

16.00 Uhr

16.30 Uhr

17.00 Uhr Abschluss

Ulrich Lilie

17.15 Uhr Ende

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 7

Zukunftsforum I

am 27. Februar 2015 in Düsseldorf

Zentrale Entwicklungen und Heraus-forderungen der deutschen SozialpolitikImpulsvortrag von Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Ich möchte dieses Zukunftsforum mit einem Bonmot begin-nen, bei dem ungewiss ist, von wem es stammt. Die einen schreiben es Winston Churchill zu, die anderen Karl Valentin:

PROGNOSEN SIND SCHWIERIG, BESONDERS WENN SIE DIE ZUKUNFT BETREFFEN.

Ich will diesen Gedanken weiterführen: Am ehesten kann man die Zukunft wohl dann voraussagen, wenn man sie aktiv selbst gestaltet. Das ist für mich ein Postulat, welches ich an den Anfang meines Referats zum Thema „Zentrale Entwicklungen und Herausforderungen der deutschen Sozialpolitik“ stellen möchte. Was die Armutsbekämpfung – Schlüsselelement einer positiven Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates – angeht, fehlen schließlich nicht Daten, sondern Taten. Trotz-dem wird in der Öffentlichkeit häufig so getan, als bedürfe es aktuellerer und besserer Statistiken, um der Armut wirksam zu begegnen. Die mediale Öffentlichkeit ist sehr fixiert auf neue Zahlen und die Empirie der Armut. Umso dankbarer bin ich, dass Sie die Strukturzusammenhänge in den Vordergrund rücken und über die Zukunft der Sozialpolitik wie auch der Diakonie nachdenken wollen. Das impliziert zugleich, sich mit den Strukturen unserer Gesellschaft zu beschäftigen.

Die deutsche Gesellschaft ist stark durch Individualisierungs-prozesse, also die Auflösung der „Normalfamilie“ und die zunehmende Vielfalt der Lebensformen bestimmt. Mit beidem werden wir in Zukunft stärker als in der Vergangenheit zu tun haben. Es lässt sich zudem feststellen, dass auch das „Normal arbeitsverhältnis“ ausgehöhlt worden ist und es andere Beschäftigungsformen gibt, die ein größeres Gewicht erlangen. Neben der Prekarisierung von Arbeits- und Lebens-bedingungen, einem Schlüsseltrend, der sich trotz Einführung des großkoalitionären Mindestlohns fortsetzen dürfte, schrei-tet die soziale Polarisierung voran: Die schon jetzt Armen – beziehungsweise von Armut bedrohten Menschen – werden ärmer, die Reichen und Hyperreichen zahlreicher. Denn wir leben in einem finanzmarktdeterminierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das Gewinnerinnen und Gewinner sowie Verliererinnen und Verlierer hervorbringt. Wenn der Niedrig-

Professor Dr. Christoph Butterwegge eröffnet die Reihe der Foren-Vor-träge in Düsseldorf mit einem Plädoyer für Wohlfahrtsstaat, Gerechtigkeit und Bekämpfung der Armut. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

8 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

lohnsektor, in dem fast ein Viertel aller Beschäftigten tätig ist, das Haupteinfallstor der heutigen Erwerbs- und der künftigen Altersarmut bildet, wächst auch der Reichtum. Denn niedrige Löhne bedeuten nun einmal hohe Gewinne.

Außerdem gibt es eine durch den neuen Primat der Ökono-mie bedingte Sinnkrise des Sozialen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von neoliberaler Hegemonie, also der öffent-

lichen Meinungsführerschaft des Marktradikalismus oder zumindest seinem spürbaren Einfluss auf das Denken der Bevölkerungsmehrheit. Nicht mehr der Mensch oder die Menschlichkeit, sondern der Markt steht jetzt im Mittelpunkt aller Bestrebungen. Marktmechanismen und Konkurrenz-beziehungen halten Einzug auch in Gesellschaftsbereiche, die bisher davon frei waren oder – wie etwa das Sozial- und Gesundheitswesen – gar ein Gegengewicht hierzu gebildet hatten. Wettbewerb wird inzwischen überall ganz groß geschrie-ben, ohne dass seine zum Teil zerstörerische Wirkung aus-reichend Beachtung findet. Wohlfahrtsverbände konkurrieren mit gewerblichen Anbietern. Daran knüpft der Gesetzgeber die Hoffnung, durch verstärkten Wettbewerb die Effizienz beziehungsweise Effektivität der Leistungen zu steigern, vor allem jedoch Kosten senken zu können. Auch der Blick auf die Diakonie lässt schließen, dass selbst Einrichtungen der Freien Wohlfahrt durch neue Steuerungsmodelle, Manage-

menttechniken, Controlling und permanente Evaluation und damit letztlich durch einen betriebswirtschaftlichen Tunnel-blick mancher Führungskräfte geprägt sind. Möglicherweise ist dieser ökonomisch effizient. Er birgt aber die Gefahr, die großen gesellschaftlichen und vor allem sozialethischen Fragen aus dem Blickfeld zu verlieren.

Das deutsche Sozialsystem und die Großen Erzählungen unserer Zeit

Zur gesellschaftspolitischen und moralischen Desorientierung tragen auch Diskurse bei, die das Denken vieler Menschen in eine bestimmte Richtung lenken (sollen) – eine Richtung, die von mächtigen Interessen vorgegeben wird. Haltlose, zweifel-hafte oder fragwürdige Behauptungen im Hinblick auf gesell-schaftliche Entwicklungstendenzen wie die, dass man auf-grund des Geburtenrückgangs und der „Vergreisung“ unseres Landes die Renten kürzen müsse, werden zu öffentlichen Diskursen verdichtet, denen sich niemand entziehen kann. Der demographische Wandel, die Globalisierung und in abseh-barer Zukunft vielleicht auch noch die Digitalisierung sind die „Großen Erzählungen“ unserer Zeit, mit denen eine Abwehr-haltung gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, Solidarität und sozialem Verantwortungsbewusstsein erzeugt werden soll.

Globalisierung bezeichnet einen objektiv ablaufenden Pro-zess, wird aber auch dazu benutzt, bestimmte, gesellschaft-lich mächtige, Interessen durchzusetzen. Auf den ersten Blick leuchtet es jedem ein, dass in dieser neoliberalen Logik der Wirtschaftsstandort Deutschland in Konkurrenz zu allen anderen Wirtschaftsstandorten steht. In dieser Betrachtung ist ein generöser Sozialstaat bloß ein Klotz am Bein der Wirt-schaft, stört eher und gefährdet Wachstum und Wohlstand. Besonders kurz nach der Jahrtausendwende ist uns das in unzähligen TV-Talkshows von immer denselben „Experten“ mit der Quintessenz nahegebracht worden, unser Sozialstaat sei zu großzügig und werfe das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus. Die hohen Lohnnebenkosten beeinträchtigten unser Wirtschaftswachstum, hiess es da, und schadeten unserem Wohlstand. Um auf den Weltmärkten wieder kon-kurrenzfähig zu werden, müsse man sich des Sozialstaates mehr oder weniger entledigen. Wenn man beobachtet, welche „Wirtschaftsstandorte“ auf den Weltmärkten reüssieren, stellt man fest: alle diese Volkswirtschaften haben ein entwickeltes Wohlfahrtsstaat-System. Er sieht zwar in den USA, in Japan,

Nachfragen und Diskussion am Ende des Vortrags. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 9

in Schweden oder in den Niederlanden jeweils anders aus, aber die genannten Länder sind mehr oder weniger entwi-ckelte Wohlfahrtsstaaten. Länder, die keine oder ganz geringe „Lohnnebenkosten“ haben wie Mozambik, Burkina Faso oder Bangladesch sind dagegen weit abgeschlagen. Nicht zufällig, denn wenn man Arbeitskräften im Zeichen der Globalisierung abverlangt, geographisch mobil und beruflich flexibel zu sein – so dass sie heute in Kiel und morgen in Konstanz und viel-leicht nächsten Monat in Tokio oder New York eingesetzt werden können –, dann muss man ihnen und ihren Familien auch ein hohes Maß an sozialer Sicherheit gewähren.

Es war deswegen ein ideologischer Zusammenhang, den Wohl-fahrtsstaat mit seinem ausgebauten System der sozialen Sicherung als Gefährdung des wirtschaftlichen Erfolges zu brandmarken. Wer die Volksrepublik China als Gegenbeispiel nennt, dem sage ich, dass man nicht Äpfel mit Birnen ver-gleichen darf und erst recht nicht Kirschen mit Kürbissen. Die Volksrepublik China hat nämlich fast 20 Mal so viele Einwoh-ner und exportiert trotzdem nur wenig mehr als die kleine Bundesrepublik. Schon um die Jahrtausendwende, als viele

von Deutschland als dem „kranken Mann Europas“ sprachen, war sie wirtschaftlich sehr erfolgreich und stark auf den Welt-märkten vertreten. Im letzten Jahr hat sie einen unvorstellbar hohen Exportüberschuss von 217 Milliarden Euro erwirtschaf-tet. Dies ist übrigens einer der Gründe, warum die Länder der südeuropäischen EU-Peripherie mit Griechenland an der Spitze in die Bredouille geraten sind.

Jedenfalls kann überhaupt keine Rede davon sein, dass das Soziale den wirtschaftlichen Erfolg beeinträchtigt. Trotzdem ist durch die negativ besetzte Verknüpfung von Globalisie-rung und Wohlfahrtsstaat den Menschen vermittelt worden: Das Soziale, so wie wir es gewohnt sind, schadet uns. Des-sen können wir uns nicht mehr so bemächtigen, wie das in der Vergangenheit der Fall war und wir können uns auch nicht mehr dieses hohe Maß an sozialer Sicherheit leisten, wie das in der alten Bundesrepublik der Fall war.

Die andere „Große Erzählung“ unserer Zeit ist der demo-graphische Wandel. Es ist bekannte Tatsache, dass die Menschen länger leben und die Gesellschaft ein höheres

Der Status quo, Anforderungen, Wünsche, Ziele – alles wird in thematisch organisierten Arbeits-gruppen festgehalten. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutsch-land

10 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

Durchschnittsalter aufweist. Mit den Konsequenzen dieser an sich erfreulichen Entwicklung muss sich die Diakonie auseinandersetzen: Wie verändert sich die Gesellschaft auch politisch dadurch, dass die Bevölkerung kollektiv altert und es tendenziell mehr ältere Menschen und infolgedessen mehr Pflegebedürftige gibt?

Immer wieder wird aber ein Horrorszenario entworfen: Man könne nicht mehr Renten in der bisherigen Höhe zahlen, weil es immer mehr Alte und immer weniger Junge gebe. Die Höhe der Rente hängt jedoch gar nicht von der Demographie, das

heißt von der Alterszusammensetzung der Bevölkerung ab, ist also keine Frage der Biologie, sondern erstens eine Frage der Ökonomie und zweitens eine Frage der Politik. Ökonomisch lautet die entscheidende Frage: Wie groß ist der gesellschaft-liche Reichtum, der erwirtschaftet wird, und zwar zu dem Zeitpunkt, an dem die Rente gezahlt werden muss? Da nützt es nichts, auf Kapitaldeckung umzustellen, wie mit der Ries-ter-Reform ansatzweise geschehen. Wenn nämlich viele alte Menschen die von ihnen erworbenen Wertpapiere und Aktien zur Sicherung ihres Lebensstandards verkaufen müssen und es zeitgleich nur wenige Junge gibt, die Wertpapiere kaufen, dann wird der Kurs dieser Wertpapiere in den Keller gehen. Die eigentliche Kardinalfrage ist jedoch eine politische: Wie wird der höchstwahrscheinlich auch in Zukunft weiter wachsende Reichtum auf die unterschiedlichen Klassen und Schichten, aber

auch auf die unterschied lichen Altersgruppen in der Gesell-schaft verteilt?

Ich mache es plastischer: Wenn die Bevölkerungszahl abnimmt und, wie zum Beispiel die Prognos AG in Basel in einem Gut-achten für die Rürup-Kommission vorausgesagt hat, das deutsche Bruttoinlandsprodukt in den nächsten 40 oder 50 Jahren durchschnittlich um 1,7 Prozent und die Arbeitspro-duktivität sogar um 1,8 Prozent pro Jahr wächst, dann ist es irgendwann doppelt so groß. Wenn die Bevölkerungszahl gleichzeitig abnimmt, wie allenthalben prognostiziert, müsste eigentlich für jeden mehr da sein. Das weiß jeder, der schon einmal eine Torte für den Kindergeburtstag gebacken hat. Kommen weniger Kinder und die Torte ist doppelt so groß, bleibt für jedes Kind ein riesiges Tortenstück übrig. In der öffentlichen Diskussion ist uns aber das Gegenteil eingeredet worden. Der demographische Wandel bestimme, hieß es allent-halben, wie hoch die Rente sein dürfe. Entweder müsse der Beitrag zur Gesetzlichen Rentenversicherung drastisch ange-

hoben werden, was wegen der steigenden „Lohnnebenkosten“ abgelehnt wird. Oder die Renten müssten gekürzt werden. Eine andere Alternative existiert angeblich nicht.

Mit der Demographie wurde auch die Riester-Reform begrün-det. Diese ist mit verantwortlich dafür, dass es heute schon Altersarmut gibt und wahrscheinlich in Zukunft vermehrt geben wird. Es sei denn, wir reißen das Ruder herum, stärken

Petra Zwickert, Leiterin des Zentrums Migration und Soziales im Diakonie Bundesverband. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

Engagierte Diskussionen und …Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 11

die Gesetzliche Rentenversicherung und greifen wieder auf das bewährte Umlageverfahren statt der Kapitaldeckung mit finanzmarktbedingten Ausfall- und Zinsrisiken zurück. Neben der Tatsache, dass es immer mehr ältere Menschen geben wird, die arm sind, ist ein damit zusammenhängendes ande-res Problem noch gar nicht ausreichend in den Blick gerückt: Früher hielt man Kindern und alten Menschen zugute, dass sie nicht für ihre soziale Misere verantwortlich sind. Alte gal-ten als würdige Arme, weil sie nicht mehr erwerbstätig sein und sich aus ihrer prekären Situation „herausarbeiten“ kön-nen. Heute gilt der alte Mensch jedoch als unproduktiv, wenn er nicht zur Weiterarbeit über das gesetzliche Renteneintritts-alter bereit ist, und man macht ihm den Vorwurf, er habe nicht privat vorgesorgt, wenn er eine zu geringe Rente hat, um in Würde zu leben.

Armut und soziale Ausgrenzung (im Alter)

Altersarmut avanciert nicht nur in Hinblick auf das verfüg-bare Einkommen der Betroffenen zu einem viel drängenderen Problem als heute. Das Rentenniveau wird seit der Jahrtau-sendwende von 53 Prozent vor Steuern bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent abgesenkt – also um rund ein Viertel gekürzt.

Zugleich kommt es in stärkerem Maße als früher zu einer Stigmatisierung der älteren Menschen. Wer nicht selbst vor-gesorgt hat, ist vermeintlich selbst schuld. Auch das hat für diakonisches Handeln eine enorme Bedeutung: Wie geht man damit um, wenn neben der Entwürdigung und Entsicherung von Arbeit eine Abwertung von Menschen stattfindet, wie wir sie in der Vergangenheit noch nicht erlebt haben?

Die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen führt zusätzlich dazu, dass Menschen immer weniger Renten-anwartschaften erwerben können. Als Ergebnis der Absenkung des Rentenniveaus und tendenziell sinkender Rentenanwart-schaften aufgrund längerer Zeiten der Erwerbslosigkeit, pre-kärer Beschäftigung und gebrochener Erwerbsverläufe werden wir Altersarmut schlimmstenfalls in ähnlichen Formen erleben wie in der Nachkriegszeit.

Ich sehe die Tendenz, dass sich die Armut in die Mitte der Gesellschaft hinein ausbreitet und dort verfestigt. Zudem dürfte es auch wieder verstärkt absolute, existenzielle bezie-hungsweise extreme Armut geben. Auch Armutsforscher sprechen von der Bundesrepublik als einer Gesellschaft, in der es fast ausschließlich relative Armut gibt. Das heißt: Die Grundbedürfnisse der Menschen können befriedigt werden,

… kreative Entwicklung von Schaubildern entstehen in den Arbeitsgruppen der Foren. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

12 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

das Problem der Armen besteht „nur“ in mangelnder Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Ich widerspreche dieser Einschätzung. Es gibt auch wieder größere Teile der Bevölkerung, die absolute Armut fürchten müssen. Schon längst trifft dies so genannte Illegale – ich nenne sie treffender: illegalisierte Migrantinnen und Migranten. Auch sehr viele aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien Zugewanderte leben in menschenunwürdigen Verhältnissen und werden sozial ausgegrenzt. Das gilt besonders für Städte wie Mannheim, Dortmund und Duisburg, wo sich das Problem in bestimmten Stadtteilen konzentriert.

Solche misslichen Entwicklungen werden von den etablierten Parteien bisher kaum zur Kenntnis genommen. Und wo das Problem erkannt wird, begegnet man ihm mit rassistischen Ressentiments und eher mit ordnungs- als sozialpolitischen Maßnahmen. Im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wird Armut letztlich nur im Zusammenhang mit der Armut ost-europäischer Arbeitsmigranten thematisiert: Dreimal kommt Armut im Kontext von Armutsmigration oder Armutszuwan-derung vor. Ansonsten wird sie viermal in der Dritten Welt lokalisiert und taucht höchstens einmal als „Bildungsarmut“ im Zusammenhang mit dem Analphabetismus sowie einmal als Überschrift „Altersarmut verhindern“ auf. Dort steht aber nicht „verringern“ oder „bekämpfen“, sondern tatsächlich „verhindern“ – ganz so, als gäbe es diese noch gar nicht. Das Wort „Kinderarmut“ kommt auf den 185 Seiten des Koalitionsvertrages überhaupt nicht vor.

Unter dem Strich, so mein Resümee, gibt es Armut in Deutsch-land laut Koalitionsvertrag nur, wenn sie durch Bulgaren und Rumänen importiert wird. Reichtum kommt im Koalitionsver-trag zweimal vor – einmal als Naturreichtum und einmal als Gedankenreichtum. Dies zeigt, dass CDU, CSU und SPD für die soziale Polarisierung überhaupt nicht sensibel sind. Der Koalitionsvertrag spiegelt Blindheit gegenüber der Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich wider. Er folgt dem Dogma: keine Steuern erhöhen und Reiche nicht belasten! Dabei zeigt er völlige Ignoranz gegenüber dem Problem der wach-senden sozialen Ungleichheit, das seine extremste Ausfor-mung in absoluter Armut findet. Angesichts dessen ist die Verpflichtung der Diakonie umso größer, in politische Willens-bildungs- und Entscheidungsprozesse einzugreifen.

Die neoliberale Deformation des Gerechtigkeitsbegriffs

Parallel zur Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen sowie zur Deregulierung des Arbeitsmarktes hat eine Deformation des Gerechtigkeitsverständnisses der Bevölkerungsmehrheit stattgefunden. Mithin wurzelt die Sinnkrise des Sozialen nicht zuletzt in einem gewandelten Gerechtigkeitsverständnis. Es gilt nicht mehr Bedarfsgerechtigkeit als für den Sozialstaat konstitutives Element – an ihre Stelle ist nun die Leistungsge-rechtigkeit getreten. In meinem Buch „Armut in einem rei-chen Land“ habe ich Peer Steinbrück zitiert, der 2013 als Kanzlerkandidat gefragt wurde, ob er noch zu einer Aus-sage aus dem Jahre 2003 stehe – was er bejahte: Damals

Maria Loheide, Vorstand Sozial-politik und Ulrich Lilie, Präsident Diakonie Deutschland. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutsch-land

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 13

hatte Steinbrück betont, künftig müsse soziale Gerechtigkeit heißen, dass sich die Politik nur um diejenigen kümmere, die für sich und unsere Gesellschaft Leistung erbringen, die arbeiten, Kinder erziehen oder Arbeitsplätze schaffen. Das ist für mich ein Fall für den Verfassungsschutz. Denn in Artikel 20 und Artikel 28 unseres Grundgesetzes heißt es: Die Bundes-republik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat beziehungs-weise ein sozialer Rechtsstaat.

In der Sprache der Juristen bedeutet das: Sie soll es sein. Die Väter und Mütter unserer Verfassung haben darunter natür-lich verstanden, dass der Staat sich gerade um jene Menschen kümmern muss, die im Verständnis von Peer Steinbrück keine oder wenig Leistung erbringen: Obdachlose, Drogen-abhängige und Menschen mit schwersten Behinderungen.

Dies – und nichts anderes – besagt das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes.Außerdem wurde das für den Sozialstaat ebenfalls konstitu-tive Maß an Verteilungsgerechtigkeit in Misskredit gebracht. Hierbei geht es um einen Ausgleich zwischen Arm und Reich und darum, diese Kluft nicht immer tiefer werden zu lassen. Aus der Verteilungs- ist unter der Hand die Teilhabegerech-tigkeit geworden. Ich denke dabei auch an die EKD-Denk-schrift „Gerechte Teilhabe“, in der zwar viele richtige und wichtige Dinge stehen, die aber schon durch ihren Titel dazu beigetragen hat, dass sich in der Öffentlichkeit immer mehr die Idee festsetzt, es komme gar nicht mehr so sehr auf Ver-teilungsgerechtigkeit an, sondern auf Teilhabegerechtigkeit. Darunter wird dann zum Beispiel der Zugang von Kindern zu Bildungsinstitutionen verstanden und dass Erwachsene

Die für die weitere Bearbeitung besonders wichtig erachteten Trends werden von von den Teilnehmenden mit Klebepunkten versehen. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

14 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Darin soll sich die Gerech-tigkeit im Wesentlichen erschöpfen. Dem Begriff „Teilhabe-gerechtigkeit“ liegt, wie der Jesuit und Sozialethiker Fried-helm Hengsbach zu Recht kritisiert hat, ein Blick von oben nach unten statt von unten nach oben zugrunde: Der Fürst gewährt seinen Untertanen Teilhabe. Wir müssen uns statt-dessen um die Beteiligung und die Partizipation sorgen. Aber ich will mich gar nicht auf semantische Spitzfindigkeiten ein-lassen. Teilhabegerechtigkeit tut so, als ginge es gar nicht mehr so sehr ums liebe Geld, sondern nur noch um die Teil-habe, die man seitens des Staates ermöglichen muss. Ich halte das für paradox in einer Gesellschaft, in der das Geld so wichtig ist wie noch nie und in der das Geld so ungleich und so ungerecht verteilt ist wie nie zuvor. In dieser Gesell-schaft soll die Verteilung des Geldes nicht mehr ausschlag-

gebend sein, sondern die Teilhabe? Man braucht heute doch fast überall Geld, um sich beteiligen zu können. Wie ein klu-ger Mensch gesagt hat, kommt man mit dem Hartz-IV-Regel-satz nicht mal in das Foyer eines Theaters, viel weniger in eine Vorstellung. Wer Zugang zum Kino, zum Theater, zu Kul-tureinrichtungen, zu Sport- und Freizeitaktivitäten haben will, der braucht – manchmal sogar viel – Geld.

Das von der damaligen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen geschnürte Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, welches den Kindern in landläufig „Hartz-IV-Familien“ genannten SGB-II-Bedarfsgemeinschaften zehn Euro pro Monat gewährt, um beispielsweise eine Musikschule zu besuchen oder in einen Sportverein zu gehen, verkennt, dass dazu (viel) mehr nötig ist. Für das Letztere braucht man

Christoph Radbruch, Vorstandsvorsitzender der Pfeifferschen Stiftungen Magdeburg und Vorsitzender des DEKV. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 15

nun mal auch einen Ball, ein Trikot und einen Trainingsanzug. Dies ist jedoch mit zehn Euro pro Monat nicht zu realisieren. Gerade weil das Geld in solchen Familien fehlt, gibt es Par-tizipationsdefizite. Deswegen müsste man die Verteilungs-gerechtigkeit erhöhen, um mehr Teilhabegerechtigkeit zu ermöglichen.

Der dritte Bereich, in dem ich eine Verunstaltung des Gerech-tigkeitsbegriffs feststelle, ist die Tabuisierung der sozialen Gerechtigkeit und ihre Verdrängung durch den politischen Kampfbegriff „Generationengerechtigkeit“. Andockend an den demographischen Wandel wird so getan, als verliefe die soziale Scheidelinie in der Bundesrepublik heute zwischen Jung und Alt. In Wirklichkeit verläuft die soziale Trennlinie aber mehr denn je zwischen Arm und Reich, und zwar inner-halb jeder Generation.

Als Hartz IV am 1. Januar 2015 zehn Jahre alt wurde, tat die Bundesagentur für Arbeit so, als sei die Erwerbslosigkeit durch das Gesetzespaket und die „Agenda“-Reformen praktisch verschwunden. Einige reden schon von „Vollbeschäftigung“, obwohl es trotz mancher Bereinigung der Statistik immer noch fast drei Millionen offiziell registrierte Arbeitslose und fast fünf Millionen „Unterbeschäftigte“ beziehungsweise Arbeit-suchende gibt. Berücksichtigt man die „Stille Reserve“, also jene Menschen, die sich erst gar nicht auf den Arbeitsmarkt trauen, sind es annähernd sechs Millionen, die eine Beschäf-tigungsmöglichkeit suchen. Für mich ist das paradox: Wer als Erwerbsloser von der Arbeitsagentur einen Gutschein erhält und aufgefordert wird, zu einem privaten Jobvermittler zu gehen, ist zwar weiter erwerbslos, fällt aber seit 2009 aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Auf diese Art wurden etwa 100.000 Menschen mit einem Federstrich aus der amtlichen Statistik gestrichen.

Behauptet wird nicht nur, die Arbeitslosigkeit sei durch Hartz IV verschwunden, sondern auch, Armut sei eigentlich gar nicht mit Hartz IV verbunden. Ich entgegne: Die Kinderarmut hat sich drastisch erhöht. Im Dezember 2004 – unmittelbar vor dem Inkrafttreten von Hartz IV – waren knapp über eine Million Kinder in der Sozialhilfe, im Frühjahr 2007 lebten mehr als 1,928 Millionen Kinder unter 15 Jahren in SGB-II-Bedarfs-gemeinschaften, landläufig Hartz-IV-Haushalte genannt. Da ist also fast eine Verdopplung der Zahl jener Kinder eingetre-ten, die auf dem Fürsorgeniveau leben. Seither sank die Zahl der Kinder im Hartz-IV-Bezug um 300.000. Ministerin von der

Leyen hat das als großen Erfolg ihrer Politik gefeiert. In Wirk-lichkeit war dafür erstens der demographische Wandel verant-wortlich. Es gibt heute nur noch 10,65 Millionen Kinder unter 15 Jahren in Deutschland. Damals gab es noch 11,44 Millionen und wenn Sie fast eine Million Kinder weniger haben, leben natürlich auch ein paar 100.000 Kinder weniger im Hartz-IV-Bezug. Zweitens war auch die Reformierung des Kinderzu-schlags zum 1. Oktober 2008 keine wirksame Armutsbekämp-fung. Damals haben die Jobcenter meistens alleinerziehende Mütter gedrängt, statt des Arbeitslosengeldes II den Kinder-zuschlag und Wohngeld für die Familie zu beantragen. Damit fielen die Mütter und ihre Kinder aus Hartz IV heraus, obwohl sie nur ein paar Euro mehr hatten und immer noch arm waren. Wenn heute 1,64 Millionen Kinder unter 15 Jahren in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften leben und diese Zahl sogar wieder steigt, dann ist das eine Bankrotterklärung der Befürworter von Hartz IV. Dann ist das auch für die etablierten Parteien ein Offenbarungseid und für die Bundesregierung ein Armuts-zeugnis sondergleichen.

Aber nicht nur die Kinderarmut hat sich erhöht, sondern es gab auch noch nie so viele reiche Kinder wie heute. Sehr wohlhabende und reiche Eltern verschenken kurz nach der Geburt ihrer Kinder einen Teil ihres Vermögens, zum Beispiel ihres Wertpapierdepots, um mehr Steuerfreibeträge in Anspruch zu nehmen. Das heißt, wir haben in Deutschland nicht nur mehr arme Kinder, sondern auch eine wachsende soziale Ungleichheit in der jungen Generation.

Die beiden reichsten Männer der Bundesrepublik, die Gebrüder Albrecht (Gründer der Aldi-Ketten Nord und Süd), sind vor einiger Zeit mit jeweils über 90 Jahren gestorben. Ihr Privat-vermögen belief sich auf 20 bis 30 Milliarden Euro – zwei alte Männer lebten in unvorstellbarem Reichtum. Auf der anderen Seite gibt es zunehmend alte Menschen, die öffentliche Toi-letten putzen, frühmorgens Zeitungen austragen oder Regale einräumen. Es sind inzwischen 812.000 Menschen über 64 Jahre, die Minijobs haben. Davon sind allein 128.000 Personen im Alter von 75 und mehr Jahren. Das macht deutlich, dass es Altersarmut nicht erst im Jahr 2030 gibt, sondern bereits heute. Unter den alten Menschen in Deutschland sind gleich-wohl viele Reiche und Hyperreiche. Das bedeutet: Der Begriff „Generationengerechtigkeit“ führt völlig weg von der sozialen Realität, ja er desorientiert im Grunde. Er ist aus meiner Sicht dringlich zu verabschieden. Zuerst aufgetaucht in der Pro-grammatik der FDP und der Grünen, schließlich leider auch

16 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

der Volksparteien, erfasst er die gesellschaftliche Wirklichkeit nämlich in keiner Weise.

Wie der Sozialstaat transformiert wird

Was hat sich institutionell verändert? Die durch Reformen der „Agenda 2010“ und die Hartz-Gesetze vorangetriebene Transformation des Sozialstaates will ich wenigstens stich-wortartig skizzieren, denn daraus erwachsen neue Heraus-forderungen und zusätzliche Aufgaben für die Diakonie.

Aus dem Wohlfahrtsstaat ist ein nationaler Wettbewerbsstaat geworden, wie es Joachim Hirsch nennt. Ich benutze lieber meine eigenen Worte: Das Soziale ist mehr und mehr dem

Ökonomischen untergeordnet worden. Damit übernimmt der Sozialstaat wesentliche Elemente kapitalistischen Wirtschaf-tens wie Konkurrenz, Leistung und Marktgängigkeit, die ihm vorher abgingen. Das gilt nach innen, wo ambulante Pflege-dienste miteinander konkurrieren und teilweise nur Profit für ihre privaten Eigner hervorbringen sollen, wie nach außen, wenn der Wohlfahrtsstaat nunmehr dazu beiträgt, den „Wirt-schaftsstandort D“ konkurrenzfähiger zu machen. Das ist eine historische Zäsur, deren Bedeutung für die Gesell-schaftsentwicklung gar nicht überschätzt werden kann.

Das System der sozialen Sicherung ist unter Otto von Bismarck im 19. Jahrhundert geschaffen worden, um die unsozialen Kollateralschäden kapitalistischen Wirtschaftens zu bewältigen. Jetzt werden dieselben Elemente und Bewegungsgesetze, die für marktwirtschaftliche Tätigkeiten gelten, in den Sozial-staat hineinimplantiert. Dieser soll sich dann auch noch inter-national so betätigen, dass er die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft erhöht. Das ist eine völlige Verände-rung sozialstaatlichen Handelns, mit der wir es heute und wahrscheinlich auch in Zukunft zu tun haben werden.

Aus dem Sozialstaat wird zudem mehr und mehr ein Minimal-staat gemacht. Leistungen sind gekürzt, Anspruchsvoraus-setzungen verschärft und Kontrollmöglichkeiten ausgebaut worden. Die Sanktionen im Rahmen von Hartz IV sind skan-dalöse, zutiefst ungerechte Maßnahmen, welche die Verän-derung des Sozialstaates illustrieren. Unter-25-Jährigen wer-den bei der zweiten Pflichtverletzung, das heißt, wenn sie zum zweiten Mal einen Job nicht annehmen oder eine Trai-ningsmaßnahme – wie das fünfte vom Jobcenter angeord-nete Bewerbungstraining – ausschlagen, nicht nur alle Geld-leistungen gestrichen, sondern auch Miet- und Heizkosten nicht mehr ersetzt. Das heißt, der Staat produziert an dieser Stelle Obdachlosigkeit bei jungen Menschen. In keinem Land der Welt werden junge Menschen härter angefasst als ältere, weil man üblicherweise zu Recht davon ausgeht, dass junge Menschen ihre Persönlichkeit noch entwickeln müssen und können. Unser Jugendstrafrecht sieht ebenfalls vor, dass ein 17-Jähriger, der jemanden totgeschlagen hat, weniger hart bestraft wird als ein 50-Jähriger, der dieselbe Straftat begangen hat. Nur bei den Hartz-IV-Regelungen ver-hält es sich bei den Sanktionen für Unter-25-Jährige umge-kehrt. Dies zeigt, wie sehr man das Soziale verändert und mit Strafen verbunden hat. Die Fachliteratur spricht in die-sem Zusammenhang von einer Veränderung des Sozialstaa-

Dagmar Argow, Diakonie im Kirchenkreis Düsseldorf-Mettmann NEANDER-DIAKONIE GmbH. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutsch-land

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 17

tes in Richtung eines Kriminalstaates, der besonders in den USA schon voll ausgebildet ist, wo man die Armen kurzer-hand wegsperrt.Neben der sozialen Spaltung ist das für mich ein ganz domi-nanter Trend, mit dem wir es zu tun haben werden: die Krimi-nalisierung, Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung von Menschen. Ihr kann nicht allein mit sozialpolitischen Maßnah-

men begegnet werden. Darüber hinaus muss der Alternativ-diskurs zur Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von sozialem Verantwortungsbewusstsein, Barmherzigkeit, Mildtätigkeit, Solidarität oder wie man es auch immer nennt, gefördert wer-den. All dies hat in der Sinnkrise des Sozialen gelitten.

Aus dem aktiven Sozialstaat ist ein aktivierender Sozialstaat geworden, welcher der Tauschlogik von Leistung und Gegen-leistung unterliegt. Wenn ein Diplomingenieur, der vielleicht jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat, längere Zeit erwerbslos ist und Arbeitslosengeld II erhal-ten will, muss er im Ein-Euro-Job auch bereit sein, einen öffentlichen Park zu fegen oder Essen in einer Schulmensa auszuteilen. Das ist an sich nichts Ehrenrühriges, sondern etwas Notwendiges und Sinnvolles. Es kann aber besonders dann erniedrigend und demütigend und unsozial sein, wenn der Betroffene damit aus dem Leistungsbezug gedrängt werden soll und weniger Qualifizierte auf diesen Stellen dafür entlassen werden. Auch fällt es heute kaum noch jemandem

auf, dass eine völlige Verkehrung sozialstaatlichen Handelns stattfindet. Im Art. 20 und im Art. 28 Grundgesetz steht schließ-lich nicht, die Bundesrepublik Deutschland sei dann ein sozi-aler Bundesstaat beziehungsweise ein sozialer Rechtsstaat, wenn der Arbeitslose eine Gegenleistung erbringt. Dass man Leistungen nur gegen Gegenleistung bekommt, ist ein Para-digmenwechsel im deutschen Wohlfahrtsstaat. Er ist aller-dings noch nicht einmal ins Bewusstsein derjenigen getreten, die sich tagtäglich – beispielsweise im Rahmen der Sozialen Arbeit – mit diesen Problemen beschäftigen. Die damit ver-bundenen Veränderungen sehe ich sehr kritisch, wenngleich es natürlich auch für Ein-Euro-Jobber/innen durchaus Sinn machen kann, solche Tätigkeiten zu verrichten – diese „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ sind ja relativ gut angenommen worden. Vor allem dann, wenn sie unter Zwang übernommen werden, ist aber der Sozialstaat in seinem Wesen verändert.

Der nächste ist für mich ein ganz zentraler Punkt: Aus dem traditionellen Bismarck’schen Sozialversicherungsstaat wird mehr und mehr ein Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchen-staat. Das ist zugegebenermaßen etwas polemisch formu-liert, weil man ja sonst in den Massenmedien und in der Öffentlichkeit nicht gehört wird. Heute wird den Menschen, die mit dem Arbeitslosengeld II nicht auskommen, von man-chem Jobcenter-Mitarbeiter der Gang zur Lebensmitteltafel empfohlen. Auch das ist eine qualitative Veränderung. Aus Sozialstaatsbürgerinnen und -bürgern, die soziale Rechte haben, auf Transferleistungen und darauf, dass ihr soziokul-turelles Existenz minimum – oder wie es das Bundesverfas-sungsgericht in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 formuliert hat: ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ – gesichert ist, werden mehr und mehr Almosenempfänger.

Das damit verbundene ehrenamtliche, bürgerschaftliche und zivilgesellschaftliche Engagement halte ich für unentbehrlich. Aber es darf den Sozialstaat nur ergänzen und nicht ersetzen. Unsere Gesellschaft entwickelt sich aber in letztgenannte Richtung. Wir fallen zurück in eine Zeit, in der es nur die Wohl-fahrt, die Fürsorge oder Almosen, aber keine entsprechen-den Rechtsansprüche gab, bis sie mit dem Bundessozial-hilfegesetz 1961 eingeführt wurden. Darin sehe ich einen fatalen Trend, der die Zukunft mit prägen dürfte: Sozialversi-cherungen werden zurückgedrängt, etwa mit der Riester-Reform, mit der Rürup-Reform und mit den Hartz-Gesetzen, insbesondere mit Hartz IV. Die Sozialversicherungen bilden

Pfarrer Thorsten Nolting, Diakonie Düsseldorf. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

18 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

demnächst womöglich nicht mehr den Kern unseres Sozial-staatsmodells. Wir haben stattdessen eine Kehrtwende voll-zogen, hin zu einem Fürsorgemodell.Damit verbunden spaltet sich unser Gemeinwesen: Auf der einen Seite bildet sich ein Wohlfahrtsmarkt, auf dem sich Menschen, die sich das finanziell leisten können, soziale Sicherheit kaufen, beispielsweise in Gestalt einer Kapital-lebensversicherung oder eines Riester-Vertrages. Auf der anderen Seite werden Menschen, die sich das nicht leisten können, auf den Wohltätigkeitsstaat verwiesen, wie ich ihn im Unterschied zum Wohlfahrtsstaat nennen möchte, also auf die mehr oder weniger gut organisierte Privatwohltätigkeit. Der Wohltätigkeitsstaat ist kein Wohlfahrtsstaat im klassi-schen Sinne mehr, weil er nur noch die Armen und Bedräng-ten aufsammelt und sie mit einem Almosen versorgt. Zuneh-mend wird auf Spenden und Mäzenatentum gesetzt. Es wäre allerdings keine Lösung, Deutschland aus einem Volk der Dichter und Denker zu einem Volk der Stifter und Schenker zu machen. So gut es ist, wenn insbesondere Prominente und Reiche spenden, so schlecht wäre es, wenn den Reichen und Hyperreichen überlassen würde, wofür sie spenden und damit letztlich auch, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt. Stattdessen müssen demokratisch legitimierte Gremien ent-scheiden, wo das Geld am dringendsten gebraucht wird.

Folgen der US-Amerikanisierung des Sozialstaates

An dieser Stelle ein paar Gedanken zu den Folgen einer neo-liberalen Reformpolitik: Die US-Amerikanisierung des Sozial-staates führt zu einer US-Amerikanisierung der Sozialstruktur. Dazu trägt eine Steuerpolitik bei, welche die Reichen mehr und mehr entlastet und die weniger Betuchten stärker belas-tet. Bei Ersterem denke ich etwa an die mehrfache Senkung des Spitzensteuersatzes in der Einkommenssteuer und die wiederholte Senkung der Körperschaftssteuer für Kapital-gesellschaften. Bei Letzterem denke ich zuerst an die Mehr-wertsteuererhöhung zum 1. Januar 2007. Ich nenne das eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip. Im Evange-lium des Matthäus heißt es sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben und wer wenig hat, dem wird das Wenige auch noch genommen.“

Mit der US-Amerikanisierung der Sozialstruktur ist eine US-Amerikanisierung der Stadtentwicklung verbunden. Die deut-schen Städte, besonders die Großstädte, zerfallen deutlich

in Luxusquartiere auf der einen und Elendsquartiere auf der anderen Seite. Das ist eine Entwicklung, die wir unbedingt im Auge behalten müssen und auf die Wohlfahrtsverbände reagie-ren müssen. Sie nimmt in meinen Augen sogar noch zu, zum Beispiel durch Gentrifizierung und Verdrängung von Mittel-schichtfamilien aus bestimmten Quartieren.

Im Gange ist auch eine US-Amerikanisierung der sozialpoliti-schen Kultur. Das neoliberale Mantra lautet: Wenn jeder für sich sorgt, ist für alle gesorgt. Angeblich kommt es auf die Leistungsfähigkeit des Einzelnen an und jeder muss sehen, wo er bleibt. Diese Devise hat sich in den Köpfen festgesetzt und führt zur Entsolidarisierung, sofern ihr nicht auf breiter Front entgegengetreten wird. Wie in den USA wird es zuneh-mend nicht mehr als skandalös oder problematisch empfun-den, wenn sich die Gesellschaft spaltet.

Neulich saß ich in einer TV-Talkshow, in der auch eine Hartz-IV-Betroffene zu Gast war, die eine Perücke trug, weil sie fürch-tete, für ihre Position von anderen Arbeitslosengeld-II-Emp-fängern gescholten, angegriffen oder ausgegrenzt zu werden. Sie vertrat nämlich die Auffassung, mit den 399 Euro Arbeits-losengeld II plus Heiz- und Mietkosten könne man gut aus-kommen. Später haben mich Studierende gefragt, ob diese Frau vom Sender „gekauft“ war. Manche dachten, sie habe das nur für ein sattes Honorar gesagt. Eher hat Hartz IV bewirkt, dass in unserer Gesellschaft immer mehr Menschen mit immer weniger zufrieden sind. Auch bei uns gibt es viele Menschen, die nicht nach den strukturellen Ursachen für die Massenerwerbslosigkeit fragen, sondern dafür individuelle Ursachen verantwortlich machen und damit die Schuld für ihre soziale Misere auf sich nehmen. Wenn jemand nicht ver-mittelbar ist und keinen Job findet, sieht er den Grund dafür häufiger nicht im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschafts-system, sondern im eigenen Versagen.

Das sind Veränderungen in den Köpfen, die sich wahrschein-lich in Zukunft noch stärker ausprägen werden. Für das Soziale hat das natürlich enorme Konsequenzen. Wenn aber diese Analyse richtig ist, muss gefragt werden, was man dagegen setzen kann.

Alternativvorschläge und Gegenstrategien

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 19

Aus der Defensive heraus ist der Sozialstaat nicht zu retten, nur mittels einer Gegenoffensive seiner Verteidiger und Ver-teidigerinnen und überzeugender Alternativvorschläge. Damit sich die Globalisierung der Ökonomie ohne Nachteile für Arbeitnehmerinnen, Erwerbslose und/oder Arme vollziehen kann, muss ihr eine Globalisierung, zumindest eine Europäi-sierung der Sozialpolitik folgen. Mag der „Weltsozialstaat“ auch für immer eine Utopie bleiben, die Durchsetzung ent-wickelter Wohlfahrtsarrangements im EU-Rahmen wäre schon jetzt möglich.

Eine moderne Zivilgesellschaft bindet die politische Teilhabe ihrer Mitglieder an hohe materielle und soziokulturelle Min-deststandards, deren Gewährleistung dem Wohlfahrtsstaat

obliegt. Auf diese Weise wird soziale Sicherheit zum Kern-bestandteil einer neuen Form der Demokratie, die mehr bein-haltet als den regelmäßigen Gang zur Wahlurne, das leidliche Funktionieren des Parlaments und die Existenz einer unab-hängigen Justiz. Öffnung statt Schließung beziehungsweise Kooperation statt Konfrontation nach außen und Inklusion statt sozialer Ausgrenzung nach innen lauten die Leitlinien einer Sozialpolitik, die den Globalisierungsprozess nicht ohnmächtig begleitet, sondern seine Impulse nutzt, um das wohlfahrtsstaatliche Arrangement von nationalstaatlichen Beschränkungen zu befreien.

Es gibt im Grunde zwei Wege einer alternativen Sozialstaats-entwicklung, die man wählen kann. Das eine Konzept sucht

Die Arbeit in kleinen Gruppen ermöglicht die Möglichkeit, dass jede und jeder sich zu den Themen einbringen kann, die ihr/ihm besonders am Her-zen liegen. Foto: Anieke Becker/Diakonie Deutschland

20 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

das Bismarck’sche Sozialstaatsmodell zu überwinden, das andere schreitet auf dem bewährten Entwicklungspfad zügig voran, verwirklicht progressive Reformen und sucht seine Stärken besser zu entfalten.Im ersten Fall verlässt man den Pfad des Bismarck’schen Sozialversicherungsstaates und führt ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ein. Das ist für mich ein Irrweg aus der Armut, weil es die davon Betroffenen desorientiert. Eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip, die über alle Menschen 800, 1.000 oder 1.500 Euro ausschüttet, kann nicht die Antwort auf Armut und soziale Ausgrenzung sein. Das entspricht nicht meinem Gerechtigkeitsverständnis. Danach muss, wer erwerbsfähig ist, auch seinen Lebensun-terhalt bestreiten können. Der Staat kann und soll nicht alle gleich behandeln. Das wäre auch deshalb für mich paradox, weil solche Pauschalzahlungen etwa an Götz Werner, den Gründer der dm-Drogeriemarktkette und bekanntesten BGE-Propagandisten einfach Fehlausgaben wären. Zwar sagen dann die neunmalklugen Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens, dass ihm der Staat dieses wieder weg-steuern muss. In dem Moment beißt sich die Katze jedoch in den Schwanz, denn dann wäre es kein bedingungsloses Grundeinkommen mehr. Wenn Hartz-IV-Initiativen glauben, durch das bedingungslose Grundeinkommen würden sich ihre Mitglieder der Kontrolle der Jobcenter entziehen kön-nen, verkennen sie, dass statt der Jobcenter dann eben die Finanzämter nach anderen Einkommensquellen, Schwarz-arbeit oder Ähnlichem fahnden würden. Und die wären ver-mutlich auch nicht viel netter zu ihren neuen „Kunden“ als Jobcenter heute.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde einem Kombi-lohn für alle gleichen. Wenn der Staat dafür sorgt, dass alle seine Bürger auskömmlich leben können, eine Wohnung haben, gut gekleidet und gesund sind, muss der Unternehmer ja kei-nen hohen Lohn mehr oben drauflegen. Wenn die Menschen zu Recht – und das würden sie sicher auch bei einem bedin-gungslosen Grundeinkommen – beschäftigt sein wollen, weil sie ihre Identität aus der Arbeit und einer sinnerfüllten Tätig-keit ziehen, könnten Unternehmer, die auf Dumpinglöhne setzen, den Niedriglohnsektor noch weiter ausdehnen. Für mich ist das bedingungslose Grundeinkommen keine sinnvolle Antwort auf diesen Prozess einer Prekarisierung, Entwürdigung und Entwertung der Arbeit.

Sehr viel besser wäre meines Erachtens der Ausbau bezie-hungsweise die Fortentwicklung des bestehenden Sozial-systems. Gegen die soziale Exklusion hilft nur ein inklusiver Sozialstaat, dessen institutionellen Kern eine solidarische Bürgerversicherung bildet. Die im bestehenden System vor-handenen Sicherungslücken können durch seine Universali-

sierung geschlossen werden: Eine allgemeine Versicherungs- und Mindestbeitragspflicht für sämtliche Wohnbürger_innen – eben nicht nur Arbeitnehmer_innen – würde die Sozialversi-cherung auf eine breitere Grundlage stellen, wobei der Staat die Beiträge im Falle fehlender oder eingeschränkter Zah-lungsfähigkeit voll oder teilweise subventionieren – das heißt grundsicherungsorientiert und bedarfsbezogen zuschießen – müsste. Sie würde die spezifischen Nachteile des deutschen

Gut 100 solcher Charts sind auf den ersten vier Foren entstanden. Sie bilden die Trends für die geplante künftige Arbeit der Diakonie ab; einige davon sind im Folgenden zu sehen. Foto: Diakonie Deutschland

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 21

Sozialstaatsmodells ausgleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des „rheinischen“ Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur, nämlich die Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe, seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit – das nennt man Äquivalenzprinzip – sowie seine Barrieren gegen Egali-sierungstendenzen. Diese drücken sich zum Beispiel aus in: Beitragsbemessungsgrenzen; Versicherungspflichtgrenze in der Kranken- und Pflegeversicherung; Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- beziehungsweise Steuerpflicht. Der entscheidende Pluspunkt von Bismarcks Sozialsystem gegenüber anderen Modellen liegt darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuer-mitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität wider-rufen werden können, sondern durch Beitragszahlungen erworbene und verfassungsrechtlich garantierte Ansprüche.

Entscheidend für die Realisierung einer sozialen Bürger- beziehungsweise Zivilgesellschaft ist, ob es gelingt, das gesellschaftliche Klima im Rahmen einer politischen (Gegen-)Mobilisierung zu verbessern und eine neue Kultur der Solida-rität zu entwickeln. Mag es auch nach den Terroranschlägen von New York beziehungsweise Washington am 11. September 2001 sowie einer seither noch mehr als bisher um sich grei-fenden Verkürzung des Sicherheitsbegriffs auf militärische Optionen, polizeiliche Interventionen und Geheimdienstaktio-nen schwerer sein, für demokratische Offenheit, Toleranz und Solidarität zu werben, so eröffnet doch dies allein Perspek-tiven für eine humane Gesellschaft, in der Mitmenschlichkeit und nicht der (Welt-)Markt das Zusammenleben bestimmt.

Sie haben gemerkt, ich hänge sehr am Sozialstaat. Mancher wirft mir vor, ich wolle den Sozialstaat der 1970er-Jahre wie-der zurückhaben. Ich antworte: Das wäre sicher besser als der Rückfall hinter den Sozialstaat der 1870er-Jahre. Damals hat man den Leuten an faulenden Zahnstümpfen und großen Zahnlücken angesehen, dass sie arm waren.

Nein! Ich will einen modernen Sozialstaat, der sich einstellt auf die veränderten Arbeits-, Familien- und Lebensbedingun-gen der Menschen. Zum Beispiel muss es dringend neue Antworten und großzügige Lösungen für Alleinerziehende geben. Die befinden sich mit einem Kind zu 40 Prozent in Hartz IV – und zu fast 60 Prozent, wenn sie zwei oder mehr Kinder haben!

Was ich anstrebe: eine solidarische Bürgerversicherung. Im Grunde will ich den Bismarck’schen Sozialstaat, der kein Ide-alstaat, sondern patriarchalisch, autoritär und repressiv war, weiterentwickeln und ausbauen. Er soll wieder auf ein festes finanzielles Fundament gestellt werden. Dazu müssten auch diejenigen Gruppen in die Verantwortung für eine humane gesellschaftliche Entwicklung einbezogen werden – zum Bei-spiel die Absicherung sozial benachteiligter Gruppen gegen Armut –, die bisher davon ausgenommen waren. Einzubezie-hen sind alle, die in privilegierten Systemen oder aber gar nicht in den sozialen Sicherungssystemen waren und die sich deshalb bestenfalls über die Zahlung von Steuern an deren Finanzierung beteiligt haben.

In die solidarische Bürgerversicherung gehören auch Frei-berufler, Selbstständige, Beamte, Abgeordnete und Minister. Die Verbeitragung ihres meist relativ hohen Einkommens würde den Sozialstaat deutlich entlasten. Klar ist, dass damit auch spätere Kostensteigerungen verbunden sind. Aber ich denke, die sind zu schultern, wenn mit Kapitaleinkünften, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachteinkünften wei-tere Einkunftsarten einbezogen werden. Warum sollen diese eigentlich nicht mit verbeitragt werden? An der paritätischen Finanzierung bei Lohn- oder Gehaltseinkommen darf sich jedoch nichts ändern. Hier sollen wie bisher die Arbeitgeber gleichermaßen an der Finanzierung beteiligt bleiben, eventuell über eine Wertschöpfungsabgabe, die im Volksmund „Maschi-nensteuer“ genannt wird.

Meine Vorstellung von der Bürgerversicherung beinhaltet, dass sie allgemein sein soll: Mit der Kranken-, Pflege- und Renten-versicherung sollen alle geeigneten Versicherungszweige einbezogen sein. Die Arbeitslosen- und gegebenenfalls die Rentenversicherung müssten zu einer Erwerbstätigenversi-cherung umgestaltet werden. Außerdem soll die Bürgerver-sicherung einheitlich sein. Es darf keine mit ihr konkurrieren-den Sondersysteme geben. Private Versicherungen könnten jedoch Zusatz- und Ergänzungsleistungen erbringen. Die Bei-tragsbemessungsgrenze müsste entweder wesentlich erhöht werden oder wegfallen. Warum soll die Solidarität in West-deutschland bei 6.050 Euro Monatseinkommen und in Ost-deutschland bei 5.200 Euro Monatseinkommen enden? Gerade dann, wenn man mehr verdient, kann man doch dazu beitragen, dass auch schlechter bezahlte Menschen wie

22 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

Lagerarbeiter und Verkäuferinnen im Alter ihr Auskommen haben.

Die Bürgerversicherung muss alle Wohnbürgerinnen und Wohnbürger, das heißt auch Migrantinnen und Migranten ein-beziehen. Wer erwerbsfähig ist, sollte über seine Beiträge zur Finanzierung der solidarischen Bürgerversicherung beitragen. Wer nicht erwerbsfähig ist, für den müsste der Staat Beiträge zahlen. Das geschieht – kaum wahrgenommen – schon jetzt in der Gesetzlichen Unfallversicherung. Für Schülerinnen und Schüler, Kita-Kinder, Studierende und ehrenamtlich tätige Menschen zahlt der Staat Beiträge, damit sie beispielsweise auf dem Weg zur Kita oder zur Uni versichert sind. Kaum jemand merkt es, aber der Staat tut es. So würde ich es mir bei der Bürgerversicherung auch wünschen.

In die Bürgerversicherung müsste eine soziale Grundsicherung integriert sein, die diesen Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient. Sie müsste bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein. Die soziale Grundsicherung hat dafür zu sorgen, dass jeder würdevoll und menschenwürdig leben kann, auch wenn er aus den anderen Sicherungssystemen heraus-fällt. Diese Aufgabe stellt sich in einer Gesellschaft, die heute sehr viel reicher ist, als frühere Gesellschaften es waren.

Die solidarische Bürgerversicherung ist angesichts der beste-henden Macht- und parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse nur durch eine breite Bürgerbewegung realisierbar, deren Kristallisationskern die Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts-verbände und globalisierungskritische Netzwerke wie ATTAC bilden sollten. Geschaffen werden müsste eine Bewegung ohne falsche Berührungsängste, die sich für eine Umkehr von der oben kritisch beleuchteten Entwicklung des Sozialstaates einsetzt. Das wäre für mich der Königsweg, um dem Sozialen wieder eine Zukunft zu geben.

Konsequenzen für die Diakonie: (Re-)Politisierung statt Kulti-vierung der Samariterperspektive!

Für die Diakonie hat die skizzierte Entwicklung gravierende Folgen. Ausgaben der öffentlichen Hand müssen durch das Nadelöhr der Standortlogik, die nur durch politischen Druck, außerparlamentarische Mobilisierung und eine Wiederbele-bung sozialer Bewegungen außer Kraft gesetzt werden kann. Möglicherweise wird die Expansion des Sozialbereichs – dessen Volumen sich, gemessen an der Anzahl der haupt-

amtlich dort Beschäftigten, in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht hat – in Stagnation oder Regression übergehen, obwohl sich die sozialen Probleme weiter zuspitzen. Wenn die Vermehrung von „sozialen Brennpunkten“ aufgrund der Regierungspolitik in Bund und Ländern zu Flächenbränden

führt, ist die Sozialarbeit und Sozialpädagogik „vor Ort“ mit ihrer „Feuerwehr“-Funktion überfordert. Mit dem Problem-druck nimmt auch die Arbeitsbelastung von Sozialarbeiter-innen und Sozialpädagogen drastisch zu.

Das Sozialpolitische in der Postmoderne weist, was paradox klingen mag, mittelalterliche Züge auf. Auch im Handlungs-feld der Diakonie lassen sich Tendenzen zur „Refeudalisie-

Ein großes Thema auf allen Foren: Fragen der Tarifentwicklung und der Wettbewerbsfähigkeit. Foto: Diakonie Deutschland

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 23

rung“ erkennen: Fürsorge tritt wieder mehr an die Stelle der gesetzlich garantierten Sozialhilfe, Rechtsansprüche verkom-men zu Gratifikationen nach Gutsherrenart und viele Bürger werden zwar offiziell als „Kunden“ bezeichnet, aber in die Rolle von Bittstellerinnen und Bittstellern bei karitativen Ein-richtungen zurückgedrängt. Statt die Samariterperspektive zu kultivieren, muss die Diakonie ein gesellschaftspolitisches Mandat wahrnehmen und sich – die Rolle eines berufenen Anwalts der Armen ausfüllend – stärker in öffentliche und Fachdiskurse einmischen.

Wer über die wachsende Armut und Möglichkeiten zu ihrer Bekämpfung spricht, darf über den privaten Reichtum nicht schweigen. Nötig ist die Skandalisierung der sozialen Ungleich-heit mit dem Ziel, eine neue Kultur der Solidarität zu begrün-den. Es geht aber nicht bloß um die Erhaltung des Sozial-staates, vielmehr auch um die Bewahrung der Demokratie. Demokratische und soziale Frage müssen miteinander ver-bunden werden: Demokratie ist mehr als ein Regelwerk, das es Staatsbürgerinnen erlaubt, alle vier oder fünf Jahre ihre Stimme abzugeben. Demokratie bedeutet, dass alle Wohn-bürgerinnen eines Landes über dessen Entwicklung mitbe-stimmen (können), indem sie an den politischen Willensbil-dungs- und Entscheidungsprozessen teilnehmen. Hierzu müssen sie über die materiellen Mittel verfügen, um auch in weit entfernten Orten – zum Beispiel der Bundeshauptstadt Berlin – stattfindende politische und Bildungsveranstaltungen sowie Aktionen, Kundgebungen und Demonstrationen besu-chen zu können. Wie soll dies jedoch ein Hartz-IV-Bezieher tun, dessen Regelbedarf-Anteil für Mobilität nicht einmal aus-reicht, um sich innerhalb der eigenen Stadt fortzubewegen, also etwa eine Monatsfahrkarte für den öffentlichen Nahver-kehr zu bezahlen?

Auf dem richtigen Weg ist die Diakonie, wenn sie an das Gemeinsame Wort der Kirchen von 1997 anknüpft, das rigide, sanktionsbewährte Armutsregime namens „Hartz IV“ zu überwinden sucht und dem damit verbundenen sozialen

Klimawandel entgegenwirkt. So muss sie der neoliberalen Standortlogik, die kaum weniger zerstörerisch wirkt als die Blocklogik des Kalten Krieges, argumentativ entgegentre-ten – vor allem jedoch die Kardinalfrage aufwerfen, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen: Soll es eine brutale Konkurrenzgesellschaft sein, die Leistungsdruck und Arbeits-hetze weiter erhöht, Erwerbslose, Ältere und Behinderte aus-grenzt sowie Egoismus, Durchsetzungsfähigkeit und Rück-sichtslosigkeit honoriert, sich aber über den Verfall von Sitte, Anstand und Moral wundert; oder eine zivile, soziale Bürger-gesellschaft, die Kooperation statt Konkurrenzverhalten, Mitmenschlichkeit und Toleranz statt Gleichgültigkeit und Elitebewusstsein fördert? Ist ein permanenter Wettkampf auf allen Ebenen und in allen Bereichen, zwischen Bürgerinnen, Quartieren, Kommunen, Regionen und Staaten wirklich anzu-streben, bei dem die – sicher ohnehin relative – Steuergerech-tigkeit genauso auf der Strecke bleibt wie hohe Lohn-, Sozial- und Umweltstandards? Eignet sich das Marktprinzip als gesamtgesellschaftlicher Regelungsmechanismus, obwohl es auf seinem ureigenen Terrain, der Volkswirtschaft, aus-weislich einer sich verfestigenden Massenarbeitslosigkeit, kläglich versagt? Wer diese Fragen überzeugend beantwor-tet, gestaltet die Zukunft unseres Landes aktiv mit. Und das wünsche ich uns von ganzem Herzen!

Zum Referenten: Prof. Dr. Christoph Butterwegge studierte Sozialwissenschaft, Jura, Philosophie und Psychologie. Nach Promotion und Habilitation war er unter anderem in der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung tätig. Seit 2011 ist er geschäftsführender Direktor des Instituts für Ver-gleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Wissenschaftliche Schwerpunkt-themen des auch publizistisch Tätigen: Rechtsextremismus, Gewaltprävention, Migrationspolitik, Globalisierung und Sozialstaat.

24 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum I

Workshop Trend Impuls Punkte

Werte politische – medial unterstützte Dis-kreditierung der Freien Wohlfahrts-pflege (Exot, EU)

Öffentliche Diakonie sein Kampagnenfähigkeit aufbauen (anwaltschaft liches Engagement vs. Unternehmen) IQ-WeQ

18

Sozialstaat Tarifentwicklung in der Diakonie schränkt die Wettbewerbsfähigkeit ein

Die Diakonie Deutschland setzt sich für einen Flä-chentarif Diakonie Deutschland ein, der die Wett-bewerbsfähigkeit der Träger möglich macht

15

Kirche und Diakonie in der Gesellschaft

Sozialraum/Gemeinwesen/Quartier gewinnt an Bedeutung

Kooperationen von Kirche und Diakonie im Sozial-raum fördern

15

Kirche und Diakonie in der Gesellschaft

Zunehmender Relevanzverlust in einer säkularen Gesellschaft

Themen nachhaltig öffentlich besetzen und glaub-würdig handeln

13

Demografie und Fachkräftemangel

Der Wettbewerb um Auszubil-dende / Mitarbeitende wird stärker

Berufsbilder und Marke Diakonie selbstbewusster und „lauter“ kommunizieren

Wertschätzung für alle Gruppen von Mitarbeiten-den praktizieren und kommunizieren

Eine für Mitarbeitende attraktive Tarifgestaltung herbeiführen (einheitliche Leitwährung)

Pflegeberufe: Sich für eine attraktive Pflegeausbil-dung stark machen (Generalistik)

11

Werte Vom Verbandsfunktionär zum Social Entrepreneur

Austausch zwischen Funktionär und Entrepreneur Von der Abwehrstrategie zum Teil der Lösung (Paternoster) = Netzwerk Kommunikation

9

Rolle der Wohlfahrts-verbände

Werteverbindlichkeit in der Gesell-schaft ist gesunken

Verband bietet Orientierung, z. B. diakonischer Katechismus Wertegerüst für Entscheidungen in diakonischen Unternehmen

9

Verhältnis von Kirche und Diakonie

Das interne Auseinanderdriften von Kirche und Diakonie

a) ekklesiologische Engführung b) Macht: Bedeutungsverlust, Öko-nomisierung, Professionalisierung c) Identifikation mangelhaft d) Sozialmarkt e) Ressourcenverschwendung

Entwicklung einer gemeinsamen Kultur

ad a) Foren zum Diskurs ad b) Strukturen ad c) Repräsentanzen ad d) sozialethische Positionierung; stärkere gemeinsame wirtschaftliche Steuerungs-kompetenz ad e) Ressourcenbündelung

9

Armut / Migration Zunehmend migrationsbedingte Herkunft aus anderen Sprachen kulturellen Prägungen religiösen Prägungen mit anderen beruflichen Quali-fikationen

viele Menschen mit Kriegs- und fluchtbedingten Traumata

sich als Arbeitgeber anbieten

ACK-Klausel überprüfen

interkulturelle Öffnung der vorhandenen Angebote intensivieren

Migrationsfachdienste ausbauen

politisch: Zugang für erwachsene Flüchtlinge zu Qualifizierung (SGB II und SGB III)

7

Wettbewerb Ende des aktivierenden Sozial-staates in Sicht Wohin geht es weiter?

Diakonie des Wandels (Gewissen, Identität, Profil, Idee, Rolle) Gemeinwohlökonomie

3

Auswertung Düsseldorf

Zukunftsforum I Dokumentation Strategieprozess 25

Workshop Trend Impuls Punkte

Finanzierung Ungleiche Kassenlage der Kommu-nen und Länder schafft ungleiche Situationen

Erhalt des Länderfinanzausgleichs

Finanzierung der Kommunen sichern2

Technik weitere rasante Entwicklung von Kommunikationstechnik

soziale Netzwerke präsent mitspielen2

Sozialstaat In vielen Arbeitsbereichen der Dia-konie ist ein Preisverfall erkennbar

Die Wertigkeit der Arbeit in der Sozialwirtschaft muss auf ein anderes Niveau gebracht werden Gesellschaftspolitische Einflussnahme

2

Demografie und Fachkräftemangel

Der demographische Wandel erfor-dert neue Konzepte sozialer Arbeit

Analyse des demographischen Wandels (Ent-ideologisierung)

Dazu beitragen, dass der demographische Wandel nicht zum intergenerativen Konflikt wird

Investitionen in die soziale Arbeit selbstbewusst fordern

Intelligent um die Ressource Ü65 werben

1

Technik Zunehmender Einsatz von Technik wird Versorgungsformen, Betreuung … verändern/ verbessern

ethische Reflexion

Bewusstsein schaffen1

Finanzierung Unterfinanzierung der sozialen Leis-tungsgesetze wird weiter zunehmen

Es müssen zusätzliche Finanzierungsquellen hier-für erschlossen werden a) alle Einkommensarten berücksichtigen b) Umverteilung vorsehen

DD muss politisch Position beziehen („unabhängig“)

0

Armut / Migration Wachsendes gesellschaftliches Potential an Spannungen (Fokus Migration) Schuldzuweisungen Ausgrenzung

permanente gesellschaftliche Klimapflege

0

Sozialstaat Ökonomisierung des Sozialen schreitet voran

Sozialstaatsgebot darf nicht durch die verschärf-ten Wettbewerbssituationen ausgehebelt werden. Aufforderung: politische Lobbyarbeit

0

Armut/Migration Wachsende Erfahrung mit Identitätssuche Integration

0

Anm. der Red.: Die hier abgedruckten Formulierungen sind im exakten Wortlaut von den handschriftlichen Notizen der Teilnehmenden übernom-

men.

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Das Soziale in EuropaImpulsvortrag von Sven Giegold MEP

Mich hat Ihre Anfrage sehr gefreut. Die Diakonie ist ja einer der größten Arbeitgeber in Deutschland – die meisten Menschen wissen nicht, wie groß die Diakonie eigentlich ist. Wenn Sie die Leute fragen, wer sind die großen Player in der deutschen Wirtschaft, dann kommen sie, glaube ich, nicht zuerst auf die Diakonie. Dass Sie trotzdem mit so einer Strategieversamm-lung soziologisch einsteigen, finde ich sehr, sehr schön.

Wenn man über das Soziale in Europa nachdenkt, dann geht es in der klassischen Sozialpolitik darum durchzubuchsta-bieren, was Europa im Bereich der Arbeitslosenversicherung, der Armutsbekämpfung, der Bildungspolitik, der Gesundheits-dienstleister und so weiter macht. Alles das ist wichtig, aber im Verhältnis zu dem, was sozial derzeit in Europa passiert, ist das alles unwichtig. Das ist die zentrale These, die ich mit ein paar Daten untermauern will.

Schauen Sie sich die aktuelle Armutsberichterstattung Euro-pas an: Der Vergleich zwischen 2008 und 2012/ 2013 – das sind die aktuellsten Daten, die die EU-Kommision europaweit veröffentlicht – zeigt klar, wie sich das Risiko von Armut oder sozialem Ausschluss verändert hat. Eine ganze Reihe von Ländern hat mit einem großen Anstieg der Armutsquote zu tun. Wir haben drei Länder, in denen es halbwegs stabil ist nach diesen Daten und wir haben auch eine Reihe von Ländern mit Abnahme. Ganz deutlich wird die Spaltung. Es gibt etliche Länder, denen geht es derzeit mit Europa ziemlich gut, das könnten Sie auch an anderen Indikatoren ablesen, an der Wirt-schaftsentwicklung und an der Entwicklung der Arbeitslosig-keit – da komme ich gleich noch drauf.

Wir haben also diese Spaltung und es gibt eine Reihe von Ländern, denen geht es relativ gut – auf der Grafik haben Sie links Tschechien, Finnland, Österreich, die Slowakei, Polen

und Rumänien. Umgekehrt gibt es die Länder, in denen es eine hohe Steigerungsrate von Armut gibt: Bulgarien, Grie-chenland, Ungarn, Litauen, Irland, Italien, Zypern, Spanien, Malta, Luxemburg und Dänemark, da sehen Sie schon, da sind auch genau die Länder dabei, über die wir derzeit viel reden. Die Länder, in denen es große Unzufriedenheit gibt, den Aufstieg radikaler Parteien, das sind genau die Länder, die diese großen sozialen Probleme haben.

Und dazwischen haben Sie auch Länder mit einem Anstieg, darunter übrigens auch die Eurozone als Ganzes, das ist die-ses EA18, also Euro-Area 18, und die EU 28 insgesamt. Dazu gehört natürlich auch Portugal, ein weiteres Krisenland in diesem Reigen – und in Frankreich muss man erwarten, dass sich diese Entwicklung irgendwann auch einstellen wird, wenn wir die nächsten Jahre abwarten. Das folgt einfach aus der dynamischen Entwicklung der Arbeitslosigkeit dort.

Noch dramatischer sieht man, was eigentlich passiert, wenn man sich auf der Zeitschiene die Entwicklung der Arbeitslosig-keit in Europa anguckt. Und zwar schafft diese Darstellung eigentlich etwas mehr Transparenz, als man das über die normalen Arbeitslosenquoten sieht. Zunächst einmal fällt die-ser Berg ins Auge – das ist die absolute Zahl der Arbeitslosen aufeinander geschichtet nach Ländern. So sieht man erstmal, dass die Zahl der Arbeitslosen erheblich angestiegen ist. Im Jahr 2000 waren das europaweit – ist alles schlimm genug – 13 Millionen Menschen, 2014 waren wir bei 19 Millionen. Das Interessante ist aber die Veränderung, wo die Arbeitslosen derzeit leben. Während Deutschland bis 2005 einen richtig hohen Anteil an allen Arbeitslosen in Europa hatte, hat sich dieser Anteil dramatisch verringert. Wie Sie alle aus Ihrer all-täglichen Arbeit wissen, haben wir in Deutschland auch noch sehr viele Arbeitslose und auch viele Menschen, die Schwierig-

Zukunftsforum II

am 6. März 2015 in Leipzig

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Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 27

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Das Soziale in Europa

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Das Soziale in Europa

28 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum II

keiten haben, in den normalen Arbeitsmarkt hineinzukommen. Aber wenn wir europaweit darauf schauen, und dazu haben Sie mich ja eingeladen, dann ist die relative Entwicklung so:

In Frankreich ist der Anteil gestiegen, genauso in Italien. Aber ganz besonders in Spanien kam es zu einer enormen Aus-weitung der Arbeitslosigkeit. Und dann kommen daraufhin die zwei anderen Krisenländer Griechenland und Portugal. Während die zu Beginn des Zeitraums, europaweit gesehen, nahe der Nachweisgrenze waren, haben sie – obwohl das ja nun wirklich kleine Länder sind – inzwischen einen hohen beziehungsweise relevanten Anteil an der Gesamt-Arbeitslo-sigkeit. Und dann haben Sie noch die restlichen Länder des europäischen Nordens und die restlichen Länder des euro-päischen Südens.

Auch hier zeigt sich wieder diese enorme Spaltung in Europa. Einigen Ländern geht es mit der europäischen Entwicklung derzeit gut – und anderen geht es zunehmend schlecht. Das ist die Botschaft.

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Gini Koeffizient für erweitertes Einkommen und Cash Einkommen

Ganz ähnlich ist es logischerweise auch mit der Entwicklung der langfristigen Arbeitslosigkeit, die sich als „arbeitslos ein Jahr und länger“ definiert. Da sieht man wieder den Wert von 2008 und den Wert von 2013. Man erkennt, dass generell der Anteil der Langzeitarbeitslosen bei allen Arbeitskräften in den verschiedenen Ländern fast überall angestiegen ist, mit Aus-nahme Dänemarks und Luxemburgs – aber ganz besonders natürlich hier in Griechenland, Spanien, Ungarn und Zypern. Das sind die Länder, in denen es zu einem wirklich dramati-schen Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit gekommen ist.

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Ganz ähnlich sieht es aus bei der Jugendarbeitslosigkeit. Das ist natürlich besonders dramatisch. Wenn die junge Generation keinen Zugang zum Arbeitsmarkt findet, erlebt sie dies als Ent-wertung der erworbenen Fähigkeiten. Auch viele junge Akade-miker sind betroffen, die das Nichtvorhandensein von Berufs-chancen als besonders wenig nachvollziehbar erleben. Und was natürlich ganz schlimm ist, sind das Leid und die soziale Abkop-pelung von der Gesellschaft, die damit häufig verbunden sind.

Auch da sieht man wieder in vielen Ländern einen ganz deut-lichen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit. Den niedrigsten Wert in dem Betrachtungszeitraum gab es in der Regel 2008. Umgekehrt sieht man am Wert von August 2014: Praktisch überall hat die Jugendarbeitslosigkeit zugenommen und die Spaltung wird klar erkennbar: Während es viele Länder gibt, die noch nie eine so dramatische Jugendarbeitslosigkeit hat-ten und auch relativ wenig Zuwachs, gibt es Länder mit einem ganz dramatischen Anstieg, wo die Jugendarbeitslosigkeit schon immer hoch war: Italien, Griechenland, Spanien. Die lagen schon zu Beginn der Krise bei 20 Prozent, sind inzwi-schen aber eben bei 40, 50, 55 Prozent Jugendarbeitslosig-keit. Jetzt stellen Sie sich mal vor, was los wäre in Deutsch-land, wenn hier 55 Prozent Jugendarbeitslosigkeit herrschte. Allein das aber ist ein deutliches Indiz für die Verschlechterung der sozialen Situation in vielen Ländern.

Ich könnte Sie jetzt weiter quälen mit Horrorzahlen aus ver-schiedenen Ländern, mit Beispielen und so weiter. Was ich aber sagen will: Wenn man auf das Soziale in Europa guckt, dann lautet die zentrale Frage derzeit nicht: Machen wir in Zukunft am Europäischen Semester ein bißchen da oder dort.

Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 29

Sondern die zentrale Frage ist die soziale Spaltung, die wir der-zeit in Europa haben und die dramatische Verschärfung von Armut und Arbeitslosigkeit in einer ganz relevanten Anzahl von Ländern. Diese dramatische Verschärfung hat natürlich Konsequenzen und gleichzeitig haben wir in Deutschland in der öffentlichen Debatte eine Grundtendenz: Obwohl wir das Land sind, das zusammen mit einigen wenigen weiteren Län-dern von der Europäischen Integration und ganz besonders von der gemeinsamen Währung am allermeisten profitiert hat, wollen wir jenen, von denen wir profitiert haben, eigentlich nichts abgeben.

Schauen Sie sich die dramatischen Umfragedaten zum jüngs-ten Griechenland-Paket an. Wir haben 70 Prozent der Bevöl-kerung, die dem ursprünglich skeptisch gegenüberstanden. Es gibt jetzt eine neuere Umfrage, da sind es nur noch 50 Pro-zent, das finde ich immer noch schlimm genug. Noch krasser würde es aber, wenn man danach fragen würde, ob wir bereit wären, die Ärmsten in Europa mit direkten Hilfen zu unter-stützen. „Transferunion“ ist ja zu einer Art Unwort in Europa und in Deutschland geworden. Keiner traut sich mehr, den Begriff in den Mund zu nehmen, abgesehen von denen, die ihre Ablehnung betonen möchten. In Deutschland geht es der Wirtschaft gut. Sie profitiert in mehrerlei Hinsicht von dieser Krise. Die niedrigen Zinsen entlasten den Staat wie die Unter-nehmen. Investitionen lassen sich in Deutschland ganz beson-

ders billig finanzieren, während unsere „Konkurrenten“ in Süd-europa viel höhere Zinsen zu zahlen haben.

Zweitens ist es so, dass durch die Krise der Außenwert unse-rer Währung geschwächt ist, und der schwächere Außenwert der Währung führt natürlich zu billigeren Exporten. Wer profi-tiert davon zuerst? Natürlich der, der viel zu exportieren hat. Und deshalb geht es der deutschen Wirtschaft mit diesem niedrigeren Euro-Kurs viel besser. Wäre Deutschland allein mit seiner Währung, wäre diese längst dramatisch angestie-gen, sowohl im Wert gegenüber unseren Nachbarn als auch gegenüber unseren wichtigsten Konkurrenten weltweit. Und die Gewinne, die hohen Leistungsbilanzüberschüsse, die wir deshalb erwirtschaften, die führen zu einer Verbesserung der sozialen Situation bei uns – selbst wenn die Erträge sehr ungleich verteilt sind. Aber insgesamt kann man sagen, geht es Deutschland mit dieser Entwicklung ziemlich gut.

Die Frage, vor der wir in Europa stehen ist: Lassen wir zu und hält Europa es aus, dass eine gemeinsame Währung, ein gemeinsamer Markt ohne einen gemeinsamen Sozialstaat, ohne einen gemeinsamen Steuerstaat, ohne einen gemein-samen Investitionsstaat – das haben wir ja bisher alles in Europa nicht – praktisch zerfällt in eine Peripherie und in ein Zentrum. Ein Zentrum, das profitiert, dem es damit gut geht, und umgekehrt ein ganzer Kamm von Regionen und Staaten, die es unter diesen Bedingungen schwer haben, erfolgreich zu wirtschaften. Das ist die Frage.

Ich war gerade letztes Wochenende in Griechenland, habe mit den verschiedensten Akteuren geredet, Herrn Tsipras (griechischer Ministerpräsident Anm.d.Red.) getroffen und Herrn Varoufakis (bis Juli 2015 Finanzminister im Kabinett Tsipras Anm.d.Red.). Das Interessante war die Debatte, dass sie sich als Peripherie fühlen, während wir Deutschen das Zentrum sind. Genauso habe ich das in Spanien erlebt. Das ist dort viel, viel klarer, als wir das hier zu sagen bereit sind. Und wir kennen das ja in Deutschland auch. In Deutschland profitieren manche Regionen stärker und manche weniger. Aber zwischen ihnen haben wir ganz verschiedene Ausgleichs-mechanismen, sei es einen gemeinsamen Sozialstaat mit einer Arbeitslosenversicherung, mit gemeinsam finanzierten Gesundheitsdienstleistungen bis hin zum Länderfinanzaus-gleich. Beim Länderfinanzausgleich – das ist ökonomisch fast noch das Unwichtigste von allen Ausgleichsinstrumenten – regen sich komischerweise viele so auf. Tatsächlich ist aber

Oberkirchenrat Eberhard Grüneberg, Vorstandsvorsitzender Diakonie Mitteldeutschland, moderiert in Leipzig eine Arbeitsgruppe zum Thema ‚Demografischer Wandel und Fachkräftemangel‘. Foto: Barbara-Maria Vahl/Diakonie Deutschland

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Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 31

der Sozialstaat das viel wichtigere Instrument der gleichmäßige-ren regionalen Verteilung in Deutschland; und wir haben einen gemeinsamen Steuerstaat, der Ungleichheiten ausgleicht.

Das alles haben wir in Europa nicht. Europa ist geschaffen worden mit der Idee eines gemeinsamen Marktes, durch den es zu mehr Wettbewerb und Austausch kommen sollte. Wir haben die Grundfreiheiten, von denen irgendwie alle profitie-ren können. Das führt aber nicht unbedingt zu einer gleich-mäßigen Entwicklung aller Regionen, sondern zu ungleicher Entwicklung, wenn sich der Wettbewerb in voller Härte aus-wirkt. Deswegen brauchte es eigentlich sozialen Ausgleich – etwas, das in der Konstruktion Europas nicht vorgesehen war. Die Währungsunion hat im Grunde den wichtigsten Puf-fer, den Länder bei solch ungleicher Entwicklung hatten – nämlich die Abwertung zugunsten der Wettbewerbsfähig-keit – aus dem System genommen, ohne ihn durch andere Mechanismen zu ersetzen.

Ich will nicht missverstanden werden. Ich bin wahrlich kein Euro-Kritiker. Ich finde es aber richtig, dass man nüchtern analysiert, wo wir derzeit in Europa stehen und was daraus folgt. Aus meiner Sicht ist es im Angesicht der sozialen Spal-tung und der ökonomischen Erfolgsspaltung eine Chimäre zu

behaupten, dass es einfach durch Strukturreformen in den schwächeren Ländern wieder zum Ausgleich und zu einer gleichmäßigen Entwicklung kommen könne. Strukturrefor-men sind natürlich notwendig. Ich möchte da genauso wenig missverstanden werden. Es gab in den Krisenländern Fehl-entwicklungen. Von der Korruption über Steuerflucht bis hin zu Rigiditäten am Arbeitsmarkt und überregulierten Produkt-märkten, die zu weit gegangen sind. Daher war und ist es notwendig, dass es Strukturreformen in diesen Ländern gibt. Nur ist das nicht hinreichend. Es war und ist in keiner Wäh-rungsunion hinreichend zu sagen, die Gewinner können ein-fach gewinnen und die Verlierer müssen Strukturreformen durchführen. Das funktioniert schon deshalb nicht, weil auch die Gewinner natürlich nicht untätig sind und versuchen, ihre Position weiter zu nutzen. Und es gilt gerade in der Frage regionaler Ungleichheiten die Grundregel der Wirtschafts-geographie, dass tendenziell immer wieder auf den dicksten Haufen geschissen wird bei neuen Investitionen, gerade bei den ertragreichsten Investitionen. Sie fließen nicht in die Regionen, wo die Arbeitskosten krisenbedingt sinken, son-dern sie fließen dorthin, wo die besten Bedingungen für die Zukunft vorherrschen. Zu befürchten ist also, dass die Spal-tung nicht über den Markt allein aufgelöst wird. Dafür spricht auch noch ein Weiteres, denn als Folge aus dieser Krise resul-tiert die Verschuldung der verschiedenen Länder. Sie hat sich sehr unterschiedlich entwickelt. (s. Grafiken auf der vori-gen Seite)

Entgegen dem, was öffenlich immer erzählt wird, ist makro-ökonomisch nicht nur die Verschuldung des Staats, sondern der Gesamtwirtschaft entscheidend. Und zwar die Auslands-verschuldung. Das Chart stellt die die Entwicklung der soge-nannten Netto-Auslandsposition dar. Die Netto-Auslands-position bildet ab, wie sehr eine Volkswirtschaft im Ausland verschuldet ist beziehungsweise wieviel Vermögen sie im Ausland aufgebaut hat. Wenn man im Ausland verschuldet ist, muss die heimische Wirtschaft praktisch erstmal die Zins-zahlungen und Gewinne erwirtschaften, die aus dieser Aus-landsverschuldung folgen. Wenn man übermäßig im Ausland verschuldet ist, bremst das die wirtschaftliche Entwicklung im Inland, weil man ständig Zinsen und Gewinne abführen muss, bevor man im eigenen Land etwas zu verteilen hat.

Hier sieht man eine absolut dramatische Entwicklung: Deutsch-land hatte eine ausgeglichene Nettoauslandsposition bis etwa im Jahr 2007. Seitdem bauen wir in großem Maße Aus-

Jede Konferenz bedarf der Planung und Organisation – unter anderem gehörte zum Projektteam Dr. Christian Oelschlägel, Persönlicher Refe-rent des Präsidenten. Foto: Barbara-Maria Vahl/ Diakonie Deutschland

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landsvermögen auf. 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts haben wir inzwischen im Ausland an Vermögen, netto. Das sind Fabriken, Land, Schuldtitel – alles Mögliche kann das sein. Und umgekehrt gibt es Staaten, deren Auslandsschulden immer größer werden. Das sind Irland, Portugal, Griechen-land und Spanien. Frankreich und Italien sind inzwischen deutlich im negativen Bereich, aber noch nicht dramatisch.

Aber die vier erstgenannten Staaten haben inzwischen eine Netto-Auslandsposition von minus 100 Prozent des Brutto-inlandsprodukts oder mehr – das ist eine ganze Jahreswirt-schaftsleistung. Diese Staaten sind im Ausland verschuldet und müssen darauf Zinsen oder Gewinne zahlen, und zwar netto. Wenn sich dieser Trend nicht umkehrt, werden diese Länder in einer Art Schuldknechtschaft gefangen bleiben.

Das ist ein ganz biblisches Thema und ich finde, damit müs-sen wir uns beschäftigen. Sie kennen das aus Ihrer Schuld-nerberatung und wir haben in Deutschland dafür ja aus guten Gründen Regeln, dass man an irgend einem Punkt mal sagen kann: Es geht nicht mehr. Wir müssen einen neuen Aus-gleich finden zwischen Schuldnern und Gläubigern. Und genau diese Frage wird sich in Europa auch stellen. Wie gehen wir mit den Ländern um, die diese hohen Schulden-stände haben?

Herr Tsipras zieht ja derzeit durch die Lande und fordert eine Schuldenkonferenz – und ich finde, dass der Mann im Kern Recht hat. Denn diese Schulden werden nie zu marktwirt-schaftlichen Zinsen zurückgezahlt werden. Aus meiner Sicht haben wir nur eine Chance, wir haben eigentlich nur eine Wahl: Entweder wir streichen einen Teil der Schulden, oder wir sorgen dafür, dass alle Länder in Zukunft die gleichen niedrigen Zinsen haben wie wir auch. Wenn die Länder Portugal und Griechenland die derzeit vom Markt geforder-ten Zinsen zahlen müssen, werden sie dieses Geld niemals zurückzahlen können. In jedem Fall ist das eine Form der Umschuldung, und ab einem bestimmten Punkt der Ver-schuldung ist das auch angemessen. Nur sollte man das nicht einfach nur so gewähren.

Jetzt werde ich noch ein wenig weiter entwickeln, was wir aus meiner Sicht jetzt tun sollten. Basis ist die ernüchterne Bilanz der Bildung eines Zentrums und einer Peripherie, ver-bunden mit einer dramatischen sozialen Entwicklung an der Peripherie, mit zunehmender politischer Destabilisierung. Das gefährdet die Idee und die Begeisterung für das euro-päische Projekt. Bitter.

Es gibt nun im Grunde genommen zwei Möglichkeiten: Ent-weder wir hauen alles kaputt – das wollen die „Kollegen“ der AfD im Europa-Parlament oder die Europaskeptiker verschie-dener linker oder rechter Couleur in verschiedenen europäi-schen Ländern. Sie sagen im Kern: In Europa darf es oder soll es oder wird es – je nach Schattierung – so etwas wie einen gemeinsamen Wirtschaft- und Sozialraum niemals geben und soll es auch nicht geben. Aus diesem Grund müs-sen wir das jetzt kaputt hauen. Ich halte das für einen drama-tischen Fehler, denn Europa wird nur gemeinsam in der Welt für seine Werte stehen können. Das sagt auch die Kanzlerin und mit ihr sagen das eigentlich alle Pro-Europäer. Das ist keine Option! Im Übrigen würde sie auch die sozialen Folgen

Wichtiges Trendthema: Tariffragen. Foto: Diakonie Deutschland

Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 33

nicht beseitigen. Denn in dem Moment, wenn wir den Euro kaputtschlagen, haben wir in diesen Krisenländern, die jetzt schon am Rande stehen, eine humanitäre Katastrophe. Da können Sie sich auf was einstellen! Wenn es dazu kommt, dann haben wir sprunghaft Zahlungsausfälle in diesen Län-dern, im Zusammenbruch tiefe politische, soziale und ökono-mische Verwerfungen.

Das ist auch der Grund, warum die Griechen wirklich nicht aus dem Euro heraus wollen: Weil sie genau wissen, dass das in eine humanitäre Katastrophe führen würde. Die Schul-den sind dadurch ja nicht sofort weg, sondern der Außenwert der Schulden würde sich noch weiter erhöhen und im Übrigen käme es zu einer Kapitalflucht in einem Ausmaße, die das Land völlig destabilisieren würde. Gleichzeitig würden bei einer dramatischen Abwertung die verbliebenen Vermögens-werte des Landes zu Schleuderpreisen auf den Markt gewor-fen. Das gleiche hätten Sie in Portugal oder in Irland. Deshalb war es für sie alle niemals eine reale Option, aus dem Euro herauszugehen. Eine Währung zu schaffen ist eine Sache, sie wieder aufzulösen, ist mit enormen Kosten verbunden! Des-halb ist diese Option des Zerschlagens sowohl zukunftsver-gessen als auch in den Krisenländern absolut keine soziale und auch keine wirtschaftliche Option.

Es muss also darum gehen, Europa und insbesondere die Eurozone so zu konstruieren, dass sie für alle Regionen funk-tionsfähig wird. Und aus meiner Sicht sind das sieben zent-

rale Punkte, mit denen wir eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik schaffen können.

Das Soziale in Europa Sven Giegold, MdEP

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Zukunft für den Euro & Europa: Kurskorrektur zu einer gemeinsamen

Wirtschafts- und Finanzpolitik 1.  Strenge Regeln zur Durchsetzung eines erneuerten Stabilitäts- und

Wachstumspakts – Soziale Ausgestaltung, Zukunftsinvestitionen

2.  Eine Europäische Investitionsoffensive – ökologisch & sozial

3.  Eine Lösung des Schuldenproblems. Zugang zu günstigen Krediten für alle Euro-Länder: Schuldentilgungsfonds mit starken Sichheiten finanziert durch Euro-Bonds

4.  Finanzierung durch: Europäisch gegen Steuerhinterziehung & -dumping, europäisch koordinierte Vermögensabgaben, Finanztransaktionssteuer, Besteuerung von Umweltbelastung

5.  Regulierung und Restrukturierung des Bankensektors: Gemeinsame Aufsicht, Gläubiger müssen bei Konkurs haften, Trennbanken

6.  Abbau von Ungleichgewichten: Mehr Wettbewerbsfähigkeit in den Defizitländern, Erhöhung der Nachfrage in den Überschussländern

7.  Stärkung der Demokratie in Europa & der Eurozone

Ich spreche ganz bewusst nicht von einem gemeinsamen Sozi-alstaat – ich habe ja auch aufmerksam die Wahlprüfsteine der Diakonie Deutschland zur Europawahl 2014 gelesen. Schon deshalb kommt das selbstverständlich nicht in Frage. Spass beiseite: Ich bin mit Ihnen völlig einer Meinung: Wir sind nicht an dem Punkt, einen gemeinsamen Sozialstaat zu schaffen. Und ich sehe das auch nicht in den nächsten übersehbaren Jahrzehnten. Das werden wir nicht hinbekommen.

Sven Giegold, seit 2009 Grünen-Abgeordneter im Europa-Parla-ment, plädiert in Leipzig für einen Schuldentilgungsfonds in Europa; einen europäischen Sozialstaat hält er für Zukunftsmusik. Foto: Barbara-Maria Vahl/Diakonie Deutschland

34 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum II

Aber wir können etwas anderes schaffen. Ich glaube, es stimmt, dass einige Länder Wirtschaftsmodelle gewählt haben, die sich als nicht nachhaltig erwiesen haben. Das gilt für die Krisen-länder mit übermäßiger Verschuldung wie auch für die Über-schussländer wie uns, mit einem Zuwenig an Verteilung und einem Zuviel in den Export-Überschüssen. Deshalb ist die Forderung richtig, dass wir eine neue Stabilitätskultur überall in Europa brauchen. Allerdings, und das ist etwas Neues, brauchen wir nicht nur Regeln, die den Ländern Grenzen setzen, sondern wir brauchen auch eine gemeinsame Investi-tionspolitik. Und diese gemeinsame Investitionspolitik ist mit dem Juncker-Plan jetzt zumindest in den Anfängen, selbst wenn der Plan viele Schwächen hat. Aber es ist zumindest eine Richtungskorrektur zu sagen: Wir brauchen in Europa auch Anstrengungen für gemeinsame Investitionen, und die sollten nach unserer Überzeugung überproportional den Kri-senländern zur Verfügung stehen.

Ganz besonders klug wäre es, wenn diese Investitionsprojekte einen europäischen Mehrwert hätten. Also ein wirklicher euro-päischer Binnenmarkt für Daten, ein europäisches Eisenbahn-netz, ein echter Wandel hin zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz mit einem europäischen Energienetz, das uns unabhängig macht von Importen, von unsympathischen Ländern mit ihrem Öl und ihrem Gas.

Es ist absurd, was wir derzeit machen. Die Energieminister diskutieren, ob wir die Importe aus Russland durch Importe aus Saudi-Arabien und Aserbaidschan ersetzen. Was ist das denn für eine Option! Wir müssen dafür sorgen, dass wir auf erneuerbare Energien und Energie-Effizienz setzen. Das kön-nen wir in Europa auch und es geht sogar relativ kostengüns-tig. Genauso brauchen wir, glaube ich, Investitionen in unsere Hochschul- und unsere Bildungssysteme. Das können wir europaweit machen und die niedrigen Zinsen, die wir derzeit haben, sind ja eigentlich eine Einladung, langfristig rentable Projekte zu finanzieren. Wann, wenn nicht jetzt, kann man so etwas günstig machen. Wir brauchen eine europäische Investitionsoffensive.

Das Dritte ist, dass wir eine Lösung des Schuldenproblems brauchen, und da ist nach wie vor der beste Vorschlag ein Schuldentilgungsfonds, damit die niedrigen Zinsen in einem Teil der Länder Europas allen Staaten zugute kommen. Dazu hat der Sachverständigenrat mit dem Schuldentilgungsfonds einen vernünftigen Vorschlag gemacht. So können die Länder ihre Schulden in einen gemeinsamen europäischen Topf legen, der dann mit Eurobonds finanziert wird. Damit dann die star-ken Staaten die Schulden der armen Länder nicht irgenwann einfach zahlen, müssen zugleich Sicherheiten geliefert werden. Das ist ein Interessensausgleich, der zumindest für die Peri-pherie-Länder ein großer Schritt nach vorne wäre. Er würde die Schuldenlast, zumindest solange wir noch auf dem jetzi-gen Niveau bleiben, tragbar machen.

Oberkirchenrat Christian Schönfeld, Direktor des Diakonischen Amtes/Diakonie Sachsen. Foto: Barbara-Maria Vahl/Diakonie Deutschland

Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 35

Mein vierter Punkt ist – und ihn finde ich ganz zentral: der Kampf gegen Steuerhinterziehung und Steuerdumping in Europa. Während der europäische Sozialstaat – glaube ich –Zukunftsmusik ist und man auch in vielerlei Hinsicht überlegen kann, ob er wünschenswert ist, wir werden ihn nicht schaffen. Was wir schaffen könnten, sind womöglich soziale Ziele, die ähnlich verbindlich werden wie wirtschaftliche Ziele. Das ist denkbar. Man würde es den Ländern überlassen, wie sie diese erreichen. Aber im Kern wird es auf absehbare Zeit keinen europäischen Sozialstaat geben. Schon deshalb nicht, weil das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt ja durchaus gelitten hat in den letzten Jahren. Infolgedessen werden die Menschen nicht bereit sein, diesen für sie so wich-tigen Teil des Staates – den Sozialstaat – im klassischen Sinne immer weiter zu vergemeinschaften. Was wir aber tun können ist, die Voraussetzung für das Soziale zu verbessern. Und die Voraussetzung für die Finanzierung des Sozialen durch den Staat ist, dass er in der Lage ist, sich auskömmlich zu finan-zieren. Obwohl die Verteilung zwischen Arm und Reich unglei-cher geworden ist, ist in den meisten europäischen Ländern die Fähigkeit gesunken, diejenigen, die am meisten haben, zu besteuern. Es liegt ganz entscheidend am Steuerwettbewerb, dass die Großunternehmen sich einen schlanken Fuß machen können. So ist der LuxLeaks-Skandal mit Steuersätzen von ein, zwei, drei Prozent ja nur die Groteske dieser Entwicklung. Während die lokal gebundene Wirtschaft tendenziell mit höhe-ren Steuern belastet ist, rechnen sich Unternehmen, die es können, transnational arm und reiche Privatpersonen verbrin-gen relevante Teile ihrer Vermögen in Steueroasen, um sich der Besteuerung zu entziehen. Länder wie Deutschland haben darauf mit Instrumenten wie der Abgeltungssteuer reagiert, die dazu führt, dass Kapitalerträge heute niedriger besteuert werden als Arbeitseinkünfte.

Diese Entwicklungen könnten wir beseitigen, wenn wir europa-weit gegen Steueroasen, Steuerhinterziehung und Steuer-dumping vorgehen würden. Wir brauchen europäische Mindest-steuersätze und eine effektive europäische Steuerkooperation. Zumindest an dieser Front kommt wirklich etwas in Gang. Das Bankgeheimnis ist selbst in den hartgesottensten Län-dern wie der Schweiz Geschichte. In wenigen Jahren werden die steuerlichen Informationen von Privatpersonen auch aus der Schweiz automatisch fließen und wir erzielen langsam auch Fortschritte im Kampf gegen das Steuerdumping der Großunternehmen. Wenn wir das verstärken, dann können

alle Staaten in Europa ihre Zukunftsinvestitionen und ihren Sozialstaat besser und vor allem auch gerechter finanzieren. Das könnte Europa leisten. Damit hätten wir doch die Basis für das Soziale in Europa insgesamt stabilisiert. Deshalb meine ich auch, dass Wohlfahrtsverbände mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit viel mehr auf die Fragen der Besteuerung eingehen sollten.

Fünftens gibt es einige weitere Reformnotwendigkeiten im Finanzmarktbereich. Vor allem ist das too-big-to-fail-Prob-lem bei den Banken noch nicht gelöst und im Bereich der Kapitallebensversicherung haben wir gewaltige Struktur-probleme.

Sechstens braucht eine gemeinsamere Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr Demokratie. Wir müssen die Art und Weise, wie wir in Europa Entscheidungen treffen – gerade innerhalb der Eurozone – verändern.

Vielleicht haben einige von Ihnen diese hervorragende Doku-mentation über die Troika von Harald Schumann gesehen. Dieser Film zeigt, wie das Krisenmanagement in den Krisen-ländern gemacht wurde: hinter verschlossenen Türen durch die EZB, die EU-Kommission und den Internationalen Wäh-rungsfonds und legitimiert durch eine nicht transparente Ver-sammlung der Finanzminister in Europa, die Euro-Gruppe. Das Europaparlament hat dort faktisch keine Kontrollrechte. Der Bundestag hat zwar wie auch andere nationale Parla-mente Kontrollrechte, aber immer nur gegenüber seinem jeweiligen Finanzminister. Was wirklich in den Versammlungen passiert, ist ganz schwer zu kontrollieren. Was die Troika, also die Beamten, die die europäischen Programme in den Krisenländern umsetzen, wirklich verlangen, ist sehr schwer exakt nachzuvollziehen. Noch unklarer ist, wer eigentlich welche Forderung durchgesetzt beziehungsweise welche Reform verweigert hat. Klar ist, dass in allen Krisenländern die sogenannten „kleinen Leute“ und der Mittelstand enorme Reformlasten tragen mussten. Der griechische Staatshaus-halt ist um ein Drittel geschrumpft! Mit den entsprechenden sozialen Konsequenzen, die Sie ja alle kennen. Ähnlich wie in Portugal und Irland waren die Einschnitte auch hart, aber nirgendwo wurden die Vermögenden wirklich belastet. Es wurde nirgendwo effektiv gegen Steuerhinterziehung vorge-gangen. Das heißt, es gab eine krasse soziale Ungleichheit im Reformprozess. Das war nur möglich, weil die Entschei-dungen nicht demokratisch getroffen worden sind. Ich bin

36 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum II

mir sicher, wenn diese Programme im Europaparlament bei uns entschieden worden wären – auch bei den jetzigen liberal-konservativen Mehrheiten – hätten sie sozialer ausgesehen. Wenn man also der Meinung ist, dass Europa ein Mehr an Ausgleich und eine gemeinsamere Wirtschafts- und Sozial-politik braucht, dann braucht es gleichzeitig eine Vertiefung der Demokratie. Ansonsten werden die Menschen das nicht mitmachen und zwar zu Recht, weil natürlich Entscheidung und Macht auch Verantwortung voraussetzt.

Für mich hängt die Zukunft des Sozialen entscheidend daran, dass der Euro und Europa zusammenhalten. Wenn das aus-einanderfällt, dann hat die Diakonie wirklich was zu tun. Europa zusammenhalten, das wird uns – davon bin ich zutiefst über-zeugt – nur gelingen, wenn wir den Steuerstaat und die Wirt-schafts- und Finanzpolitik stärker mit einer Investitions-Agenda europäisieren und das mit einer Vertiefung der Demokratie in Europa verbinden.

Wenn wir dagegen in Deutschland so weitermachen und so tun, als wenn die Profiteure der europäischen Integration nichts zu teilen und mit den anderen gemeinsam zu machen hätten, sondern stattdessen schulmeisterlich auftreten und den anderen sagen, was sie alles richtig machen sollen, dann wird der Euro – davon bin ich ziemlich fest überzeugt – politisch

nicht zu halten sein. Länder mit einer grassierenden Arbeits-losigkeit und Armut werden irgendwann unter demokrati-schen Bedingungen sagen, das halten sie nicht länger aus. Es werden sich dann anti-europäische und populistische Ten-denzen in einer Weise durchsetzen, dagegen ist das, was wir bisher erlebt haben und erleben, vermutlich noch erst der Anfang. Zu einer Änderung des Klimas in Deutschland, einer demokratischen Vertiefung in diesem Sinne beizutra-gen: Das ist auch eine Aufgabe für unsere Kirche und ihre Diakonie.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Zum Referenten: Sven Giegold studierte Wirtschaftswissenschaften und Politik, unter anderem in Birmingham. Im Jahr 2000 gehörte er zu den etwa 200 Gründungsmitgliedern von Attac-Deutschland und zählte zu den prägenden Aktivisten bei der europäischen Koor-dination des Netzwerks. Mitbegründer und Vorstand (seit 2005) des Tax Justice Network. Seit 2008 ist Giegold Mitglied der Grünen und seit 2009 Abgeordneter und aktuell Sprecher von B90/Grüne im Europaparlament. Unter anderem ist er auch beim Evangelischen Kirchentag aktiv.

Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 37

Workshop Trend Impuls Punkte

Kirchliches Arbeits-recht und Entwick-lung diakonischer Träger

Zunehmende Differenzierung der Wettbewerbsbedingungen nach Branchen und Regionen erfordern flexibleres kirchliches Arbeitsrecht außen: die anderen sollen besser bezahlen innen: Tarifbindung stärken, Flexibi-lisierung nach Branchen, Regionen und betrieblichen Erfordernissen

Tarifbindung stärken (kein Flächentarif) Wettbewerbsbedingungen beachten Allgemeinverbindliche Tarifverträge oder Flexibilie-rung wettbewerbsfähiger AVR Osten braucht andere Bedingungen

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Säkularisierung Säkularisierung als gemeinsame Herausforderung für Kirche, Diako-nie kleiner werdende Kirche wachsende soziale Herausforderun-gen und gesellschaftliche Erwar-tung an Kompetenz und Leistungs-fähigkeit der Diakonie

Befähigung, dass Wesens- und Lebensäußerung lebendig wird und eingehalten bleibt diakonische Träger bei der Lösung des „Loyalitäts-dilemmas“ unterstützen gemeinsam Projekte tragen: Asyl Dialog von Kirche und Diakonie (im weitesten Sinne) fördern Bildung, Befähigung und Begleitung der Mitarbei-tenden

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Demografischer Wandel und Fach-kräftemangel

Ungleiche Lebensverhältnisse Stadt-Land-Gefälle führt zu einem Auseinanderdriften von Bedarf und Bedarfsdeckung

Prior1: Daseinsfürsorge aus dem Preiswettbewerb herausnehmen Prior 2: Differenzierung und Flexibilisierung (z. B. Arbeitsrecht)

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Diversifizierung der Gesellschaft

Das diakonische Profil (die Relevanz des Christlichen) bleibt weiter ein Erfordernis an alle Mitarbeitenden, es wird gestaltet von christlichen und nicht christlichen Mitarbeiten-den

Es braucht ein klares Signal des Bundesverban-des, dass die Säkularisierung mit ihren Auswirkun-gen auf die diakonische Arbeit bejaht und als Chance gesehen wird

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Säkularisierung Soziale Arbeit ist aus Steuern und Abgaben in der Zukunft nicht mehr finanzierbar

Prior 1: Gemeinwohlökonomie / -Bilanz erstellen (ökonomische Vorteile für Unternehmen) 10

Soziale Heraus-forderungen

Gruppe der Menschen am Rand der Gesellschaft steigt Zahl der Bedürftigen steigt

Beratung für diese Gruppen finanziell als Pflicht-leistung sichern Netzwerke vor Ort stärken Aufmerksamkeit (kirchlich) für diese Gruppen initi-ieren

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Auswertung Leipzig

38 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum II

Workshop Trend Impuls Punkte

Kirchliches Arbeits-recht und Entwick-lung diakonischer Träger

Konzentrationsprozesse zu großen Trägern Trägervielfalt geht verloren

Wie können Träger professionell, lokal verwurzelt überleben? Wie können zukunftsfähige Strukturen entstehen, die die Vielfalt diakonischer Initiativen erhalten? Wie können Start-up-Unternehmen gefördert wer-den?

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Werte und Orientierung

Menschen suchen Orientierung in einer unübersichtlichen Umwelt

Klare (Positionierung) Haltung als Orientierung bei Wissen um die Konflikte bei den einzelnen Men-schen

7

Kirchliches Arbeits-recht und Entwick-lung diakonischer Träger

Der Druck auf den 3. Weg nimmt zu Rechtsfrage Wettbewerbsbedingungen Angriffe der Gewerkschaften Selbstaushöhlung des 3. Wegs durch Nichtanwender Öffentliche Diskussion

3. Weg auf Zukunftsfähigkeit, Alternativen prüfen Hängt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht am 3. Weg?

6

Soziale Heraus-forderungen

Bedarf für mehr ambulante (vernetzte, personenzentrierte) Angebote besteht

Trend der Ambulantisierung nicht verpassen ambulantes Angebot muss ein „Mehr“ haben als das stationäre Angebot (Zuwendung)

4

Finanzierung mehr branchenfremde internationale Leistungserbringer Wettbewerbsdruck nimmt auf Unternehmen der Diakonie zu

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus (Preis-, Qualitätsaspekte) und wie kommen/wollen Kirche und Diakonie darauf reagieren? 4

Werte und Orientierung

zunehmend Personengruppen, die sich an der gesellschaftlichen Dis-kussion / Gestaltung nicht mehr beteiligen

Wahnehmen, identifizieren, benennen, neue Betei-ligungsmöglichkeiten suchen

3

Demografischer Wandel und Fach-kräftemangel

Die Verschiebung der Alterspyra-mide führt zu stärkerer Altersarmut

Angebote für Selbsthilfestrukturen, Quartiersma-nagement, sozialer Wohnungsbau (barrierefrei) 3

Demografischer Wandel und Fach-kräftemangel

Wir sehen einer integrierten Aus-bildung und einer Akademisierung eines Teils der Pflege entgegen

Wir brauchen Ausbildungsstrukturen, die dieser Entwicklung gewachsen sind 3

Diversifizierung der Gesellschaft

Die diakonische Arbeit braucht zukünftig immer mehr ausländische Fachkräfte

Wir brauchen konzeptionelle Klärung/Unterstüt-zung beim Aufbau von Willkommens-/Anlaufstruk-turen für ausländische Fachkräfte in den Regionen Wir brauchen europäische Netzwerke für Fach-kräfteausbildung und -austausch

3

Zukunftsforum II Dokumentation Strategieprozess 39

Workshop Trend Impuls Punkte

Finanzierung Zunehmende (qualitativ/quantitativ) Bedarfe bei bestenfalls unveränder-ten Finanzierungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand

Welche Konsequenzen hat das für Effizienz in der Leistungserbringung

Überprüfung regulatorischer Qualitätsstandards, z. B. FK-Dienste Kombination von Mitarbeitenden unterschiedlicher Qualifizierung (und Bezahlung) und Einsatz Ehrenamt

3

Soziale Heraus-forderungen

Zahl der Menschen, die zu uns kommen, steigt

Arbeitsfeld Migration stärken, ausbauen Entwicklung Integrationskonzepte (Sprache, Bildung, Arbeit, Wohnen)

2

Werte und Orientierung

Entsolidarisierung in der Gesell-schaft (durch versteckte Diffa-mierung, Diskriminierung, Stigma-tisierung)

Deutlichmachung von gesellschaftlichen Einflüs-sen; wider Pauschalisierung Aufklärungskampangen

2

Finanzierung zunehmender Bedarf an Kapital für Non- und Ersatzinvestitionen bei leeren öffentlichen Kassen und „Überfluss“ am privaten Kapital-markt

Diakonische Unternehmen können und sollten dar-auf reagieren und die Aspekte Kreditfähigkeit und Einflussnahme der Kreditgeber stärker berücksich-tigen

1

Anm. der Red.: Die hier abgedruckten Formulierungen sind im exakten Wortlaut von den handschriftlichen Notizen der Teilnehmenden übernom-

men.

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/zukunftsforum-ii-leipzig.html

40 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

Regeln der KommunikationsgesellschaftImpulsvortrag von Richard Gaul

Zukunftsforum III

am 21. April 2015 in Hamburg

Ich möchte Sie heute für die Medien, also alles, was Sie lesen, hören und sehen, sensibilisieren.

Zunächst möchte Ihnen ein bisschen die Agenda, also die Regeln der Kommunikationsgesellschaft, erläutern. Wenn ich Medien sage, meine ich nicht Zeitung und Fernsehen, sondern alles, was als Kommunikationsträger funktioniert. Das sind natürlich auch Internet und die sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Ich nutze alle diese Medien, damit ich weiß, worum es geht.

Zuerst will ich ein bisschen auf die Macht der Bilder in den Medien eingehen. Dann werde ich Ihnen am Beispiel von Christian Wulff zeigen, wie er strategisch absolut falsch mit den Medien umgegangen ist. Wulff wäre noch Präsident, wenn er im Umgang mit den Medien nicht dramatische handwerk-liche Fehler gemacht hätte. Anschließend gehe ich auf das Thema Kirche und die Medien ein und ich werde schließlich etwas zu Kommunikation sagen.

Die Medien

Zunächst also ein paar Worte zu den Medien. Die Medien selektieren willentlich oder unwillentlich. Nicht weil sie böse sind, nicht nach einem Plan. Ein Beispiel: Etwa 80 Prozent der Deutschen sind in mittelständischen Unternehmen beschäf-tigt – in der Berichterstattung geht es jedoch zu 80 Prozent der Unternehmensberichterstattung um die Großkonzerne. Dies führt zu einer völlig absurden Wahrnehmung. Wenn in einem Großkonzern 2000 Arbeitsplätze abgebaut werden sollen, dann gibt das eine Meldung in der Tagesschau. Dass zeitgleich im Mittelstand neue Leute eingestellt werden, findet in den Medien fast keinen Widerhall. Daher rührt auch die große Verblüffung darüber, dass wir in den letzten fünf Jahren in Deutschland einen dramatischen Zuwachs an Beschäftigung gehabt haben. Denn die Großkonzerne haben ihre Mitarbeiter-zahl nicht auf- sondern abgebaut. Diese Fehlwahrnehmung hat damit zu tun, dass der Mittelstand zu wenig kommuni-ziert. Der macht sein Ding und denkt, es reicht, wenn er es richtig macht. Das reicht aber eben nicht.

Jedes Land hat seine eigene Bewertung der Welt. In den USA war bis vor ein paar Jahren nur Lateinamerika böse, heute

Richard Gaul, langjähriger Kommunikationschef bei BMW in München, heute selbstständiger Kommunikationsberater und Gesellschafter bei Zehle-Gaul-Communications, referiert in Hamburg zu Möglichkeiten kluger Mediennutzung für Diakonie und Kirche. Foto: Markus Scholz

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 41

sind es natürlich auch Afghanistan und Arabien. Die deut-schen Medien sehen die Welt immer in düsteren Farben, auch Deutschland selbst übrigens. So glauben in Deutsch-land interessanterweise zwei Drittel der Menschen, dass Unternehmer böse sind, nehmen ihren eigenen Chef davon aber aus. In den Neuen Bundesländern glauben zwei Drittel der Leute, dass es der Bevölkerung in Ostdeutschland nach dem Fall der Mauer schlechter ging, aber zwei Drittel glauben das von sich wiederum nicht. So unterscheiden sich Wahr-nehmung und Wahrheit. Indes nutzt die Wahrheit selbst gar nichts, wenn die Wahrnehmung geschönt ist. Deswegen reicht es auch nicht, das Richtige oder etwas Gutes zu tun.

Denken Sie an den Tsunami 2004 in Asien, bei dem 230.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Die Berichterstattung über den Tsunami war riesig, weil auch deutsche Touristen ums Leben gekommen sind. Die ausführliche Darstellung hatte einen direkten Effekt auf die Gesamthöhe der Spenden. Bei den Überschwemmungen in Pakistan im Jahr 2010 sind 400.000 Menschen ums Leben gekommen. Die Berichter-stattung über diese Katastrophe war deutlich geringer. Wenn nicht berichtet wird, findet der Horror quasi nicht statt. Darum ist die Berichterstattung über die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer so wichtig. Die Tatsache, dass jetzt berichtet wird, dass es jetzt Bilder gibt, wird die Politik zwingen, zu handeln.

Ein anderes Beispiel ist „BSE“ (umgangssprachlich als Rinder-wahnsinn bezeichnete Seuche Anm. d. Red.). Als die Bericht-

erstattung über die Rinderseuche auf dem Höhepunkt war, ging der Fleischkonsum runter. Als die Berichterstattung nachließ, stieg er wieder. Das Problem BSE ist nicht gelöst. Es kommt nur nicht mehr medial vor. Welches Land hatte die meisten BSE-Fälle? Viele denken sofort an England! Aber es war im Verhältnis zur Bevölkerung die Schweiz. Die Schweiz hat nur nicht darüber geredet. Die Engländer haben Riesenmengen von getöteten Kühen auf einen gro-ßen Haufen gelegt und verbrannt. Das ergab Bilder und Bilder bleiben in Erinnerung.

Oder das Thema „Euro“: Wenn man die Titel des Spiegel aus den letzten Jahren zusammenstellt, gewinnt man den Eindruck, dass die Situation ganz dramatisch ist: Das ganze Euroland brennt ab, wir sind in der Schuldenfalle, der Euro ist tot, die Welt geht bankrott, der Euro zerbröselt, Akropolis adieu, der Euro zerbricht, Inflation.

Wir haben aber im Moment ein Problem mit der Deflation und zwar seit einigen Jahren. Der Kurs des Euro blieb davon fast unbeeindruckt, der Spiegel übrigens auch. In einem Artikel hat der Spiegel selber mit großem Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass der Euro immer noch besteht, obwohl dau-ernd so negativ berichtet werde.

Bilder in den Medien

Pausen werden auch genutzt, um die Ergebnisse aus anderen Arbeitsgruppen zu studieren. Foto: Markus Scholz

42 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

Jetzt komme ich mit der Gewichtung der Bilder. Als Mensch legen wir viel Wert auf unsere Intellektualität. Aber in der Wahr-nehmung spielt zu 80 Prozent das Bild, 15 Prozent der Ton und nur zu fünf Prozent Inhalt eine Rolle. Ganz viel unserer Kommunikation findet auf nonverbalem Weg oder über Bilder statt. Deshalb sind in den Medien Bilder unglaublich wichtig.

Natürlich brauchen sie auch Fakten, die stimmen müssen. Aber sie müssen mit Bildern unterlegt sein. Ein Foto sagt dabei oft nicht die Wahrheit, fügt nur eine weitere Information hinzu. So ist zum Beispiel nicht der Moment der Aufnahme entschei-dend, sondern der Moment der Veröffentlichung. Mercedes hat mal über dreißig Jahre lang den Reitsport subventioniert

und es gab auch ein Foto eines Mercedes-Vorstandsvorsit-zenden als Reiter auf einem Pferd. Dieses Foto wurde später immer wieder genutzt, wenn etwas schief ging. Der Tenor war: „Hohes Ross“ oder „vom Pferd gefallen“.Bilder muss man inszenieren, und fast alle Bilder sind insze-niert. Da gibt es zum Beispiel die Inszenierung der Katze von Clinton. Oder die Inszenierung des Besuchs von Frau Merkel auf der Hannovermesse. Tatsächlich sieht Frau Merkel von der Hannovermesse nichts, sondern nur rückwärts laufende Fotojournalisten.

Es gibt ein Foto aus dem ägyptischen Luxor im Regen. Als es in Luxor einmal einen schweren Anschlag gab, wurde die-ses Foto in Ermangelung von Fotos vom Tatort genutzt und das Wasser rot eingefärbt. Bekannt sind auch die Fotos der Nomenklatura in der Sowjetunion. Wer verstoßen wurde, wurde auch von allen Fotos getilgt.

Oder das Beispiel BMW. Als BMW Rover gekauft hat, demons-trierte ein Mann in der Uniform der Beefeater vor dem Rover-werk und kam damit in alle Medien. Die Medien schrieben dazu, dass sich ein englischer Arbeiter dafür einsetze, dass Rover englisch bleibe. Er wurde so zur Symbolfigur. Tatsäch-lich handelte es sich um einen pensionierten Polizisten, der nie für Rover gearbeitet hatte. Bis heute demonstriert er zu vielen Anlässen, so zum Beispiel zur Eheschließung von Charles und Camilla oder gegen den Euro. Die Medien nutzen ihn als Symbolfigur, weil die Gegenseite keine Bilder bereitstellt.

Ein weiteres Beispiel: Als William und Kate Middleton heira-teten, zeigte die BUNTE Kates Kleidung. In Klammern nannte sie jeweils den Preis, um zu belegen, wie bescheiden Kate gestylt war. Eine Woche später wurde das Foto erneut genutzt, diesmal mit einem anderen Bildausschnitt, es war auch das Luxusauto zu sehen. Aussage diesmal: Verschwendung! Sie sehen: Es ist nicht wichtig, was auf dem Foto zu sehen ist, sondern was man daraus macht.

Trauen Sie also nie den Bildern und denken Sie, wenn Sie etwas machen, immer an die Bilder und wie sie hinterher ver-wendet werden könnten!

Das Beispiel Wulff

Engagierte Diskussionsbeiträge, aufmerksame Zuhörer in Hamburg: Günter Hartung (Mitte), Dr. Jörg Antoine und Dirk Ahrens. Foto: Markus Scholz

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 43

Jetzt komme ich zu Christian Wulff. Jedes Ereignis hat seine visualisierbare Aufmerksamkeitskurve der öffentlichen Wahr-nehmung. Ein Thema findet statt, Fachzeitungen oder Fach-medien berichten und es verschwindet auch wieder. Manch-mal kommt es dann wieder hoch und verschwindet vielleicht auch wieder. Oder es wird zum Skandal hochstilisiert und wird damit zum Thema in der öffentlichen Wahrnehmung.

So war es bei Christian Wulff. Er hatte vom Februar 2010 bis Februar 2012 zwei Jahre Zeit zum Reagieren. Im Februar 2010 gab es eine Anfrage im Landtag in Niedersachsen, wer sein Haus finanziert habe, beziehungsweise, ob er eine finanzielle Beziehung zur Familie Geerkens habe. Das hat Wulff wahr-heitsgemäß verneint. Aber die juristische Wahrheit ist nicht immer die mediale Wahrheit. Er hatte die Frage juristisch wahrheitsgemäß beantwortet, aber medial nicht. Wenn er damals gesagt hätte: „Ich habe zu Herrn Geerkens keine Beziehung, aber zu seiner Frau. Sie hat mir für den Bau mei-nes Hauses Geld geliehen, ich habe ihr dafür die entspre-chenden Zinsen gezahlt,“ wäre das Thema durch gewesen. Dann gab es Recherchen in Spiegel und Bild zum Thema.

Spiegel und Bild vermuteten Carsten Maschmeyer als Hinter-mann und wollten Einsicht ins Grundbuch. Diese Einsicht hat der Anwalt von Herrn Wulff mit Recht nicht erlaubt. Dann wurde auf Einsicht ins Grundbuch geklagt und heraus kam, dass Maschmeyer an der Hausfinanzierung nicht beteiligt war. Wulffs Anwälte dachten, dass die Sache damit erledigt sei. Wenn die Medien aber einmal auf jemanden fixiert sind, ist man gut beraten, das Thema ernsthaft weiterzuverfolgen, statt zu hoffen, es komme irgendwann zu seinem Ende.

Der Rest ist bekannt. Wulff hatte, als er anfing, eine vergleichs-weise gute Position in den Medien. Politiker haben in der Mehrzahl der Fälle immer eine sehr negative Presse. Wulff war dagegen in einer außerordentlich positiven Lage. Auch als Bundespräsident ist Wulff sehr, sehr positiv wahrgenom-men worden. Die knappe Wahl hat ihm nicht geschadet. Er hat sich als CDU-Politiker in der Werte-Debatte positiv posi-tioniert. Und dann kam das. Das ist der Übergang von posi-tiv zu negativ. Daraufhin konnte Wulff sich nicht mehr retten.

Viele Institutionen sagen, wenn über uns nicht viel berichtet wird, ist das kein Problem. Aber es ist im Gegenteil höchst gefährlich. Ich möchte das am Beispiel eines Glases Wasser erläutern. Geben Sie dort einen Tropfen Gift hinein, ist das Wasser tödlich. Wenn Sie aber einen Eimer Wasser haben und tun dort denselben Tropfen Gift rein, schmeckt’s nur ein bisschen schlecht. Über wen kaum berichtet wurde, für den ist jeder Skandal im Ergebnis hochgefährlich.

In der Medien-Evaluierung gibt es die sogenannte Wahr-nehmungsschwelle, das ist 1,5 Prozent der Gesamtbericht-erstattung. Wulff hat mit der Negativ-Berichterstattung die Wahrnehmungsschwelle überschritten. Tatsächlich ist er noch negativer dargestellt worden als zu Guttenberg. Bei allem Respekt auch gegenüber zu Guttenberg: Was zu Gut-tenberg getan hat, war schwerer Betrug! Was Wulff getan

… die unter Oberthemen an der Moderationswand gruppiert werden. Foto: Markus Scholz

Auf Karten notieren die Teilnehmenden von ihnen als wichtig wahrge-nommene Trends …

44 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

hat, hat – wie wir jetzt wissen – vor Gericht mit einem Frei-spruch geendet.

Ich erinnere daran, dass Wulff als Oppositionsführer in Nieder-sachsen den ehemaligen Bundespräsidenten Rau wegen nicht abgerechneter Flugmeilen öffentlich scharf mit den Worten kritisiert hatte: „Ich möchte einen Bundespräsidenten haben, der moralisch sauber ist.“ Wenn man auf die Bühne treten will, ist es immer suboptimal, vorher die Latte zu hoch zu hängen.

Auch Annette Schavan hat als Wissenschaftsministerin Herrn zu Guttenberg mehrfach extrem aggressiv beurteilt. Selbst

wenn man total sauber ist und keinen Fehler gemacht hat, ist das unklug. Aber wenn es auch nur den Hauch von eigenem möglichem Fehlverhalten gibt, darf man so etwas gar nicht machen. Nur wer ohne Schuld ist, soll den ersten Stein wer-fen! Auch darum haben die beiden diese so negative Presse bekommen. Noch zwei Beispiele: Als erstes die Abholung von Klaus Zum-winkel wegen schwerer Steuerhinterziehung. Natürlich war das Fernsehteam am Morgen des 14. Februar 2008 nicht zufällig vor seinem Haus und die Staatsanwältin nicht zufällig am Tag zuvor beim Friseur. Da ist gezielt ein Fernsehteam informiert, also angerufen worden. Und wenn man weiß, wie Fernsehen funktioniert, dann muss das einen Tag vorher gewesen sein.

Claus Philippi, Geschäftsführer und Partner in der B’VM GmbH Deutschland, hat für die Diakonie Deutschland den Strategieprozess begleitet. Foto: Markus Scholz

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 45

Zweitens: Im Frühjahr 2013 kam heraus, dass Hoeneß Steuer hinterzogen hatte. Sechs Wochen später hat ein bayerischer Politiker an die bayrische Landtagswahl gedacht und ent-schieden, dass eine Öffentlichkeit zu dieser Sache zur Wahl nicht ideal wäre. Deswegen wurde die Information dann dem „Focus“ gesteckt, der die Geschichte im April gebracht hat. Bis zur Wahl im Herbst war die Geschichte dann durch. Kom-munikation ist immer auch Inszenierung.

Jetzt zu Diakonie, Kirche und Medien:

Wer sind Ihre Wettbewerber? Kommunikativ sind Ihre Wett-bewerber zum Beispiel unglaublich kommunikationsstarke NGOs. Ich sage immer, das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Wenn Sie es gut machen, die NGOs es aber nur gut meinen, ist es in der Sache nicht bedrohlich. Aber als Kommunika-tionsplattform müssen Sie diese NGOs unglaublich ernst

nehmen.

Ich will das an einem Nachruf auf Günther Grass zeigen. In der „Welt“ berichtete ein Autor, wie öffentlich auf die SS-Mit-gliedschaft von Grass reagiert wurde. Es sei ein Sturm der Häme losgebrochen, der für manchen Beobachter Anlass

war, sich über den geistigen Zustand der „Welt“ Gedanken zu machen. Grass hatte sich selber in Jahrzehnten auf eine unglaublich hohe moralische Stufe begeben. Dann kam seine SS-Geschichte heraus und auf einmal sind alle aus den Löchern gekommen, die von ihm irgendwann mal ange-griffen wurden und haben ihn mit Häme übergossen. Das genau ist das hohe Risiko von positiven Institutionen. Die Missbrauchsskandale in der katholischen als auch in der evangelischen Kirche sind medial auch deshalb so breit gelau-fen, weil es Vertreter der evangelischen Kirche waren, die nicht-öffentlich unterstrichen, in der katholischen Kirche sei es schlim-mer gewesen. So etwas kann man nicht mehr retten. Man kann nicht sagen: Wir haben da nur eine Schule gehabt. Bei diesen Themen sind Sie als Institution unglaublich gefährdet.

Beispiel „Unicef“: Bei Unicef wurde mit einem ausgeschiede-nen Geschäftsführer oder Top-Manager ein Beratervertrag mit einem Honorar geschlossen, das, gemessen an dem, was die Unternehmensberatung McKinsey nimmt, allenfalls eine Aufwandsentschädigung war. Gemessen an Unicef war der Betrag aber hoch. Unicef ist mit der ganzen Beraterge-schichte unklug umgegangen und hatte deswegen solche Medienprobleme. Der Anlass hatte mit dem Kerngeschäft von Unicef überhaupt nichts zu tun. Er war auch für seine wirtschaftliche Lage mehr oder weniger irrelevant. Das Image zählt und das war nicht so positiv.

In den Medien wird das Christentum selber übrigens eher negativ bewertet. Zwar hat die katholische Kirche mengen-mäßig einen viel höheren Anteil an der Berichterstattung als die evangelische Kirche, weil dort der Papst einen hohen Berichterstattungsgrad hat. Und auch der Islam kommt häu-figer – und ebenfalls sehr negativ – vor als die evangelische Kirche. Das Christentum ist in der Medienberichterstattung nicht automatisch auf der Seite der Guten. Und: Die Institu-tion spielt eine Rolle, aber nicht die Person. Die handelnden Personen und die Gläubigen spielen fast gar keine Rolle. Der Islam ist im Fernsehen sichtbar. Und obwohl die Protes-tanten im Jahr 2012 die beste Medienberichterstattung seit 2000 hatten, kam die evangelische Kirche fast nicht vor. Das ist kommunikativ gar nicht gut. Von der katholischen Kirche schafft es immerhin die Bischofskonferenz in die Medien. Von der evangelischen Kirche kam der Kirchentag sehr posi-tiv weg, aber vom Umfang her viel zu wenig. Die Aktiven in der evangelischen Kirche befassen sich monatelang mit dem Kirchentag und dann findet er medial nur an den Veranstal-

Steffen Becker, Pressesprecher Diakonie Hamburg, moderiert eine Arbeitsgruppe zum Thema Kommunikation und Digitalisierung. Foto: Markus Scholz

46 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

tungstagen statt: glückliche, junge Leute und schöne Bilder und dann ist es wieder vorbei. Selbst wenn Sie im Jahr vier-zehn Tage lang Kirchentag machten, würde das nicht reichen. Ich nenne das Feuerwerkskommunikation: Sie geben viel Geld aus und dann kommt das Feuerwerk, Sie staunen und dann gehen Sie wieder rein und trinken weiter. Der Kirchen-tag ist toll, aber zu wenig.

Die EKD kommt medial vor, aber das Diakonische Werk kommt seltener vor als die Evangelische Landeskirche Sachsen. Dabei hat das Diakonische Werk mehr als 400.000 Mitar-beiter. Volkswagen hat mit seinen 600.000 Angestellten kaum mehr. Dass so eine große Institution wie die Diakonie so gut wie nie vorkommt, ist gefährlich. Das ist wie beim Tropfen Gift im Glas Wasser. Weil es so wenig Berichterstattung gibt, bekommt Negativ-Kommunikation gleich ein außerordentlich großes Gewicht.

Übrigens sind die großen Medien ziemlich oft nur die Nach-läufer. Die ersten sind die kleinen: Die Edathy-Affäre wurde von einer kleinen hessischen Zeitung aufgedeckt. Von dort aus ist sie explosionsartig in die Medien gekommen.

Kommunikation ist planbar

Mein wichtigster Punkt für Ihren zukünftigen Strategie-Pro-zess: Kommunikation findet nicht statt, sondern ist planbar.

Ein Parteitag zum Beispiel findet nicht statt, damit die Partei sich für irgendetwas entscheidet, sondern damit die Medien berichten. In meiner Zeit bei BMW war ich einmal beim Partei-tag der SPD. Ein riesengroßer Raum mit vielen leeren Stühlen. Um 19 Uhr wurde der Saal plötzlich wie auf Bestellung voll. Pünktlich waren alle wieder da, damit sie von der Kamera

erfasst werden. Auch das Podium änderte sich. Jetzt saß nicht mehr die zweite oder dritte Garde da, sondern Gabriel und Konsorten, weil das Fernsehen sendete. Viertel nach sieben waren alle wieder weg und um acht waren alle wieder wegen der Tagesschau da. Aber ein Parteitag ist eine Inszenierung. Wenn Sie Sachen machen wie den Kirchentag, dann ist das eine Insze-nierung.

Viele Unternehmen möchten erst einen Kommunikationsplan entwerfen. Mir geht es aber zuerst um die strategischen Ziele. Die müssen so definiert sein, dass alle sie verstehen. Dabei geht es nicht mehr um Kommunikation oder Transparenz, sondern um Partizipation. Das gilt für Sie in Ihrer Struktur und Organisation. Das gilt aber auch für Volkswagen. Bei Volks-wagen sind das in der Summe 1,5 Millionen Menschen, die mit dem Unternehmen unmittelbar und mittelbar zu tun haben. Wenn der junge Verkäufer nicht überzeugt ist von den Bot-schaften, dann ist alles vertan. Deswegen gehört zur großen Strategie die Partizipation. Sie ist planbar. Sie müssen also aus den strategischen Zielen des Unternehmens und der Institution Kommunikationsziele ableiten.

Meine Grundregel lautet: Mehr als drei Sachen können sich die Leute nicht merken.

Für die Jahresplanung in der Kommunikation kriegt man eigentlich nur drei Ziele durch. Ich habe das einmal labor-mäßig gemacht. Bei einer Automobilausstellung sind die BMW-Leute mit allen ihren Zielen hingegangen. Da haben wir in der Summe fünfzehn Ziele formuliert. Im Ergebnis waren wir im besten Fall mit drei von den 15 Zielen in 50 Prozent der Medien. Bei der nächsten Automobilausstellung sind wir mit drei Zielen reingegangen und haben in 80 Prozent der Medien

Vormittagspause und Austausch in der Sonne. Foto: Markus Scholz

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 47

alle drei Ziele platziert. In den restlichen 20 Prozent der Medien zwei weitere Ziele.

Das ist ein unglaublich schmerzhafter Prozess. Weil die Leute, die etwas ganz Tolles machen, Abschied nehmen müssen von ihren Vorstellungen. Und es ist ganz oft ein Kommunika-tionsthema und nicht das wichtigste Thema der Institution. Ein Kommunikationsthema muss erzählbar sein. Daran muss eine Strategie entwickelt werden, eine Kommunikationsstra-tegie und eine Unternehmensstrategie. Wie kriege ich diese Kommunikationsziele in die Öffentlichkeit hinein? Dann muss geplant werden. Entweder mache ich selber etwas oder ich suche trojanische Pferde, denn ständig passiert etwas, auf das ich aufsetzen kann. Noch mal ein Beispiel aus der Auto-

mobilindustrie. Vor ein paar Jahren begann das Jahr der Automobilindustrie mit der Automobilausstellung in Detroit am 15. Januar. Vor vier Jahren ist ein Autohersteller eine Woche vorher zur Spielemesse nach Las Vegas gegangen. Da war er alleine mit seiner Technologie: Internet und Bild-schirme im Auto. Der Erfolg – eine Riesenberichterstattung. Inzwischen ist das auch vorbei. Nun muss er sich wieder etwas Neues einfallen lassen. Man muss also da hingehen, wo einen keiner erwartet. Das nenne ich trojanisches Pferd. Da muss es einen Plan geben, dann muss die Umsetzung gemacht und durchgeführt werden. Natürlich muss auch evaluiert werden: Welche Ziele sind tatsächlich in die Öffent-lichkeit gekommen, welche strategischen Ziele des Unter-nehmens, welche Kommunikations ziele? Das wird dann rück-gekoppelt. Wurde es geschafft, das Kernthema durchzu kriegen? Ich meine damit nicht den Claim. Ein Claim ist zum Beispiel „Audi – Vorsprung durch Technik“, „Mercedes – das Beste oder nichts“ oder „BMW – Freude am Fahren“. Ich meine das inhaltliche Kommunikationsziel. Es geht nicht um dieselbe Formulierung, sondern darum, dass per Resonanzanalyse vergleichbar festgestellt wird, welche Kernbotschaften ange-kommen sind und daraus sind Rückschlüsse auf die zukünf-tige Kommunikation zu ziehen.

Wenn BMW beim Thema Umwelt eine schlechte Presse hätte, wäre das schlecht. Denn wenn Sie Ihre Tochter zur Schule fahren und Ihre Tochter sagt, ich will einen Block vorher raus, ich will von dem Lehrer nicht mit diesem Auto gesehen wer-den, dann haben Sie ein Problem. Auch darum hat BMW die-sen unglaublichen Aufwand mit dem Elektroauto betrieben, denn das Elektroauto macht BMW zu den Guten.

Und dann möchte ich noch mit einem Vorurteil aufräumen: Es gibt keine Kampagne von Medienkonzernen. Das gibt es nicht, dass Verlage sich mit einer Kampagne gegen die Kir-chen oder Konzerne stellen. Aber es gibt einzelne Journalis-ten, die das tun. Da hilft es auch nichts, bei Elfriede Springer anzurufen. Das hat Christian Wulff erfahren. Man muss statt-dessen mit einzelnen Medien, Bloggern und Internetmenschen umgehen. Kommunikation und PR ist Wahrnehmung. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist unsere Wirklichkeit.

Diese Wahrnehmung der Wirklichkeit wird bestimmt durch das große Netz der vielen, vielen Medien. Der Anteil von digi-talen Medien wächst, aber ein Thema wird erst richtig zum großen Thema, wenn es sich auch in den traditionellen Medien

Bedeutender Trend – unter anderen: die Sorge um das deutsche Sozial-system … Foto: Diakonie Deutschland

48 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

findet. Nach wie vor ist Fernsehen das Kernmedium für die Wahrnehmung – auch wenn die jungen Leute kein Fernsehen mehr schauen. Über wen nicht berichtet wird, der kann nicht wahrgenommen werden. Wer nicht wahrgenommen wird, der

existiert nicht. Und wer nicht wahrgenommen wird, hat irgend-wann ein Akzeptanzproblem.

Wenn Sie in eine Krise kommen, und sei sie noch so klein, weil Sie als Guter einen Fehler machen, haben Sie kein Konto,

von dem Sie leben können. Und Sie haben keine Herolde, die für Sie tätig sind. Natürlich sind Ihre Kunden für Sie tätig. Aber Kunden kommen, werden bedient und gehen wieder. Ihre Kommunikation können Sie nicht den Anderen überlassen. Darum ist transparente Kommunikation in das ganze Unter-nehmen, in die ganze Organisation hinein wichtig!

Mein wichtigster Punkt: Heute geht es nicht mehr, die Kom-munikation den Kommunikatoren zu überlassen. Heute muss jeder in der großen Organisation ganz viel wissen. Bei Strate-gie-Prozessen ist es immer wieder so: Der Vorstand macht sich Gedanken, Papiere entstehen und werden verteilt. Dann ist der Vorstand fertig. Jetzt muss es durch die „Lehmschicht der zweiten Ebene“. Der Prozess des Durchtragens ist unglaublich wichtig. Denn Kommunikation braucht Nachhal-tigkeit. Wenn Sie sich also innerhalb der Strategieprozesse für eine Strategie entschieden haben, die transparent und partizipativ ist, halten Sie sie durch. Ändern Sie nicht alle drei Wochen – weil eine neue Sau durchs Dorf läuft – Ihre Strate-gie. Halten Sie sie durch und sorgen Sie dafür, dass diese in die ganze Organisation hinein getragen wird. Das dauert. Wenn Sie es nicht schaffen, dass die Themen bis in die Strukturen hinein durchkommen, dann können Sie es genauso gut lassen.

Vielen Dank!

Zum Referenten: Richard Gaul studierte Volkswirtschaft und Politik und war anschließend 15 Jahre als Journalist tätig - unter anderem beim "Kölner Stadtanzeiger" und der "Stuttgarter Zeitung", sowie als stellvertretender Ressortleiter Wirtschaft bei der ZEIT. Ab 1989 war er Kommunikationschef der BMW AG. Heute ist er als selbstständiger Kommunikationsberater in Berlin tätig und seit Mai 2008 Vorsitzender des Deutschen Rates für Public Relations (DPRP).

... und die Frage, wie es sich im europäischem Kontext behaupten kann. Foto: Diakonie Deutschland

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 49

Auswertung Hamburg

Workshop Trend Impuls Punkte

Gesellschaftliche Werteentwicklung

Selbstverantwortung für die Suche nach Selbstbestimmung (Neube-schreibung Individualität)

Nukleus der gemeinsamen Interessen zwischen Diakonie und Menschen finden 20

Armut/Migration Es wird nur das gemacht, was sich rentiert!

Stärkere Verbindung zwischen gemeindlicher, unternehmerischer und anwaltschaftlicher Diakonie

20

Fachkräftegewinnung Frachkräftemangel in allen sozialen Bereichen bei regionaler/fachbezo-gener Differenzierung

Strategie für vielfältige Berufsbiographien Employability Aus-/Bildung, FSJ, Freiwilligendienste

18

Digitalisierung Geschwindigkeit der Kommunika-tion steigt. Wer nicht sofort reagiert, wird nicht mehr wahrgenommen

Top down in Unternehmen funktioniert nicht mehr Mitarbeitende zu Unternehmenssprechenden machen (qualifizieren, delegieren) Mitarbeitende müssen wissen, wofür steht das Unternehmen Kultur: fehlerfreundlich, fürchte dich nicht!

17

Entkirchlichung und Säkularisierung

Säkularisierung Mehr Theologie für Arbeitsfelder und Mitarbeiter 16

Ehrenamt/Bürger-schaftliches Engage-ment

Freiwilliges Engagement wird ein zunehmend wichtiger Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe (insbe-sondere für Migranten, Menschen mit geringem Einkommen, persön-lichen Behinderungen)

Schaffung von Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement Austausch organisieren: Beispiele guter Praxis Wortführer/In zu FSJ und BFD

16

Wirtschaftliche Rah-menbedingun-gen / Refinanzierung

Die Verschärfung des Wettbewerbs (-gedankens) führt zu einer Gefähr-dung der öffentlichen Finanzierung

Das deutsche Sozialsystem mit Zähnen und Klauen verteidigen und es bewerben. Auch auf europäischer Ebene und nach innen Spezialfall: Ausschreibungen als angemessenes Instrument im Sozialwesen bestreiten (sich aber „fit“ machen)

15

Armut/Migration Steigende Armutsentwicklung Steigende Erwartungen an die Dia-konie

Stärkere Zusammenarbeit und Profilierung von Kirche und Diakonie Mehr Mut zu klarer sozialpolitischer Aussage!

14

Fachkräftegewinnung Zunehmende Diversität der Mitar-beiterschaft

Attraktivität: Entwicklungsperspektiven, Entloh-nung, Arbeitszeit

12

Herausforderungen für die Träger

Trägerkonzentration nimmt zu – unterschiedliche Ausprägung

Strategie zur Sicherstellung / Entwicklung des diakonischen Profils auf allen Ebenen Auch: Zugehörigkeit muss nach außen sichtbar sein

11

Gesellschaftliche Werteentwicklung

Suche nach persönlichem Sinn und Bedeutung

Foren / Formen direkter Ansprache stärken (spiritu-ell, organisatorisch, personell, authentisch, christ-lich)

11

50 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum III

Workshop Trend Impuls Punkte

Digitalisierung Bedarf nach Orientierung steigt Die Marke „Diakonie“ im Sinne der Vertrauens-bildung stärken Storytelling Corporate Identity und Corporate Design stärken

10

Demographie Wachsende Städte, schlechte Nah-versorgung im ländlichen Raum

mobile diakonische Dienstleistungen entwickeln /kirchliche Orte nutzen Kompetenzprofile für diese Dienste entwickeln Finanzierung sichern technische Entwicklungen nutzen

10

Entkirchlichung und Säkularisierung

Partizipation Wir sind überall8

Wirtschaftliche Rah-menbedingun-gen / Refinanzierung

Es besteht die Gefahr, dass die „europäische Sozialpolitik“ (Social Business Initiative) das solidarische Sozialsystem verdrängt (D) bzw. verhindert (z. B. Osteuropa)

Chancen und Risiken der Social Business Initiatives prüfen Das deutsche Sozialsystem in Europa erläutern und bewerben

7

Herausforderungen für die Träger

Zunahme von Migration und Ein-wanderung

Ausbildung von interkultureller und interreligiöser Kompetenz und Weiterentwicklung der eigenen Strukturen (z. B. Loyalitätsrichtlinie)

6

Europa Zunehmende Vergabepraxis bei sozialen Dienstleistungen

Die Kernaussagen des deutschen Sozialstaatsmo-dells einfach und positiv auf europäische Politike-bene transportieren und Anliegen gemeinsam vor-antreiben. Eurodiaconia stärken

6

Digitalisierung Personalisierung, Individualsierung Trennung privat / öffentlich; Beruf/privat; Laie/Experte Hilfsfelder lösen sich auf Big Data Bedeutungsverlust der Verbände

konsequent vom Nutzenden/Adressaten her kom-munizieren (z. B. GuteFrage.de) Unsere Daten verantwortungsvoll sammeln und konsequent nutzen (Diakonie ist einer der größten Player auf dem Sozialmarkt) Über verschiedene Kanäle kommunizieren via Partizipation und Selbstorganisation „auf der Welle surfen“

4

Ehrenamt/Bürger-schaftliches Engage-ment

Kirche und Diakonie haben ein riesi-ges flächendeckendes Potential für bürgerschaftliches Engagement in der Zivilgesellschaft und nutzen es (noch) nicht

Impulse für die strukturelle Einbindung Freiwilliger in der Diakonie Impulse für die Finanzierung von Freiwilligenenga-gement und Innovationen in den Strukturen der Diakonie

3

Zukunftsforum III Dokumentation Strategieprozess 51

Workshop Trend Impuls Punkte

Wirtschaftliche Rahmenbedingun-gen / Refinanzierung

Die Schuldenbremse und Kommu-nalisierungstendenzen führen zur Verschlechterung der öffentlichen Refinanzierung

Alternative Finanzierung prüfen Fundraising, Mäzenatentum, Europäische Mittel, Genossenschaftsmodelle, Privatinvestoren Wert der sozialen Arbeit kommunizieren

1

Europa Realitäten in Europa beinflussen zunehmend auch unsere Sozialpoli-tik und unser Handeln.

Schneller Transfer von Impulsen und Entwicklun-gen durch effiziente Arbeitsstrukturen und Netz-werke

1

Demographie älter werdende Menschen (Pflege-bedürftigkeit)

neue Versorgungsformen entwickeln neue Lebensformen (Wohngemeinschaften etc.) im Lebensraum stationäre Wohnformen weiterentwickeln palliative Versorgung stärken

1

Demographie Älter werdende Menschen (mobil, stabil, fit, einsatzfreudig)

vielfältige ehrenamtliche Einsatzmöglichkeiten organisieren Freiwilliges Soziales Jahr / BFD Motivation für das Ehrenamt, die Ehrenamtskultur stärken

0

Fachkräftegewinnung größere Vielfalt der Anbieter auf dem Markt

0

Ehrenamt/Bürger-schaftliches Engage-ment

Im Sozialraum hält zunehmend nur bürgerschaftliches Engagement die demografische Veränderung der Gesellschaft zusammen

Politische Lobbyarbeit für den Wert der Freiwilligen-arbeit und Wertschätzung der unterschiedlichen Motivation (junge Menschen, unterschiedliche Milieus …)

0

Anm. der Red.: Die hier abgedruckten Formulierungen sind im exakten Wortlaut von den handschriftlichen Notizen der Teilnehmenden übernom-

men.

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/zukunftsforum-iii-hamburg.html

52 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

Sozialer Zusammenhalt in Deutschland – Herausforderungen für Politik und GesellschaftImpulsvortrag von Thorsten Schäfer-Gümbel

Zukunftsforum IV

am 11. Mai 2015 in Frankfurt/Main

Vortrag I

Zunächst ganz herzlichen Dank für die Einladung zu diesem Strategie-Workshop. Sie haben mir ein paar Fragen mitgege-ben, die nicht so ganz einfach sind, insgesamt vier. Ich soll Ihnen erstens ein bisschen was erzählen aus meiner Sicht zur Frage der Entwicklung in den kommenden fünf Jahren. Der gesellschaftlichen, der ökonomischen, der sozialen, der kul-turellen. Das verbinden mit der Frage, welche Herausforde-rungen stecken eigentlich in diesen Entwicklungen. Und das gepaart mit der Frage, drittens, was heisst das eigentlich vor dem Hintergrund der Finanzkrise von Bund, Land, Kommunen und Sozialversicherungen. Und letzte Frage, was heißt es für die Diakonie. Ich werde das alles in zwanzig Minuten nicht

auflösen, will aber eine Zuspitzung versuchen und mit einer kleinen Provokation enden. Damit Sie verstehen, warum ich zu bestimmten Einschätzun-gen und Perspektiven komme, will ich eine sehr grundsätz-liche Bemerkung an den Anfang stellen: Ich bin Sozialdemo-krat. Das kann und will ich nicht verleugnen und deswegen ist für mich die Rolle und vor allem die Perspektive der Arbeits-gesellschaft von zentraler Bedeutung. Weil für mich meine Parteiarbeit nach wie vor nicht nur einen Beitrag leistet, Ein-kommen zu sichern, sondern eben auch einen emanzipato-rischen Charakter hat. Es geht um Sinnstiftung, auch im Bereich der Arbeit, und deswegen kann ich zum Beispiel per-sönlich mit Diskussionen zum bedingungslosen Grundein-kommen wenig bis gar nichts anfangen. Ich will das ganz bewusst an den Anfang stellen, weil ich mich am Anfang in der Tat mit der Frage der Arbeitsgesellschaft beschäftigen will. Das passt aktuell eigentlich ganz gut in den Kontext, weil mit der Denkschrift Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt der EKD aus der letzten Woche sehr viele und kluge und richtige Dinge gesagt wurden.

Ich will mich darum am Anfang mit der Arbeitsgesellschaft beschäftigen und sagen, es gibt zwei Megatrends, die die Arbeitsgesellschaft in den nächsten Jahrzehnten massiv weiter beeinflussen werden. Zwei Trends, die in den letzten Jahren schon deutlich spürbar und erkennbar waren und die Arbeitswelt bereits verändert haben. Ich zumindest bin der Auffassung, dass zumindest, was das eine Thema angeht, die damit verbundenen Entwicklungen erst am Anfang stehen und es völlig offen ist, in welche Richtung das geht. Ich meine die zunehmende Globalisierung und die damit verbundene Arbeitsteilung und zweitens das Thema der Digitalisierung. Weil mit beiden großen Trends vor allem eine massive Arbeits-

Thorsten Schäfer-Gümbel, Stellvertretender SPD-Parteivorsitzender (Bund) und Landes- und Fraktionsvorsitzender der SPD Hessen, referiert in Frankfurt. Foto: Simone Schilling

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 53

verdichtung, eine Verdichtung des Arbeitsalltags und damit auch der Belastung verbunden ist. Weil mit beiden Trends eine massive Beschleunigung im Arbeitsleben verbunden ist wie eine massive Entgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit. Das heißt, Arbeit und Familie über sieben Tage die Woche hinweg ohne die lange üblichen Grenzen zwischen beiden Lebensbereichen und mit einer zunehmenden Spaltung. Nicht nur in Arm und Reich, sondern auch in „wertvoll“ und „nicht wertvoll“ – auch bezogen auf die Einkommensseite und die Qualifikation. Ich denke, dass das Thema Verdich-tung kein ganz neuer Trend ist. Verdichtung hat in den ver-gangenen Jahren stetig zugenommen. Sie sehen das unter anderem auch an der massiven Zunahme an psychischen Erkrankungen und Belastungen, die es inzwischen nicht mehr nur im Bereich der Arbeitswelt gibt, sondern die Sie inzwischen auch in der Schullandschaft finden. Was heute von den Schulpsychologen rückgekoppelt wird, läßt schließen, dass diese Verdichtung und der Leistungsdruck längst auch in der Schule angekommen sind und massiv zugenommen haben. Die Acht ist nur ein äußeres Symbol hierfür. Es ist aber nicht das einzige. Ich will ausdrücklich sagen, dass allein die Über-windung der G8-Struktur noch lange nicht bedeutet, dass die-ses Thema der Steigerung des Leistungsdrucks vorbei wäre;

dies gilt auch für die ganz normalen Bildungswege im Rah-men von G9 – auch wenn ich mich hier nur auf die Gymnasial-bildung konzentriere. Es geht um die Erfahrung der Beschleu-nigung – das hat viel mit dem Thema Digitalisierung zu tun. Wir haben es überall mit Beschleunigung zu tun. Es wird Ihnen allen so gehen.

Früher haben Sie einen Brief geschrieben, dann haben Sie ein paar Tage später mit der Post ein paar Rückmeldungen bekommen, die konnten Sie ein paar Tage liegen lassen, dann haben Sie darauf geantwortet. Wenn Sie heutzutage eine Mail bekommen, kann es Ihnen passieren, dass Sie eine Stunde später bereits einen Anruf bekommen, warum ist eigent-lich noch keine Antwort da, wann reagierst Du? Und das ist, glaube ich, das äußere Zeichen dafür, wie sehr die Beschleu-nigung auch in der Arbeitswelt zugenommen hat. Das hat natürlich Konsequenzen in der Frage der Anforderungen an den Einzelnen; mit diesen Belastungen kommt der eine bes-ser zurecht als der andere. Die Verbreitung von Burnout ist ein Hinweis darauf, dass wir hier ein ernstes Thema haben. Und wenn Sie psychiatrische Krankenhäuser oder Einrichtun-gen präsent haben, wissen Sie, wovon ich rede. Ein weiteres

… und an Fragen in Hinblick auf den Umgang mit Flüchtlingen – wiewohl die großen Fluchtbewegungen nach Deutschland erst im August einsetzen. Fotos: Diakonie Deutschland

Großes Interesse an der Klärung des Zusammenwirkens von Kirche und Diakonie …

54 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

wichtiges Thema ist die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit. Das ist im Rahmen der Digitalisierung das ganz große Thema, das weiterhin zunehmen wird. Daran ändert sich auch nichts, wenn es inzwischen große Firmen wie BMW gibt, die interne Anweisung geben, dass nach 17:00 Uhr die IT-Systeme nicht mehr auf den Smartphones auflaufen. Es gibt mehr als genug Arbeitgeber und Arbeitsfelder, wo das überhaupt nicht gere-gelt ist und die sich bisher jeder kollek tiven Form von Arbeits-recht und Arbeitsschutz entziehen – was natürlich zusätzliche Belastungen entstehen lässt. Ich habe neulich eine kleine Runde von jungen Menschen in meinem Wahlkreis zusam-

mengerufen, die in den letzten zwölf Monaten Mitglieder mei-ner Partei geworden sind und wir haben zusammen die Frage der 35-Stunden-Woche diskutiert. Da haben die mich ange-guckt, als sei ich von einem anderen Stern; wovon ich eigent-lich reden würde und in welcher Wirklichkeit ich mich noch bewege?

Selbstverständlich ist es so, dass, wenn der Chef um 20:00 Uhr eine Anfrage hat, man auf diese Anfrage auch entspre-chend antwortet. Es ist natürlich eine Selbstverständlich-keit, hat aber natürlich Konsequenzen, weil fehlende Ruhe-zeiten und eine permanent hohe Belastung den Einzelnen in besonderer Weise fordern. Auch das ist ein Grund, warum Menschen mit den Belastungen der Arbeitswelt zunehmend nicht mehr zurechtkommen – immer mit dem Hinweis dar-auf, dass es auch viele gibt, die damit kein Problem haben. Wobei die spannende Frage ist, wie lange und in welcher Art und Weise auch andere Themen damit verbunden sind. Und beide, Globalisierung wie Digitalisierung, werden die Spal-tung erhöhen und die Ungleichheit in unserem Land. Das fängt beispielsweise bei der Frage des Einkommens an.

Sie sehen, welche irrsinnigen Summen in bestimmten Bran-chen und Unternehmen inzwischen bezahlt werden. Ich habe kürzlich ein wunderbares Beispiel erlebt, wie man das auch anders machen kann. Ich war in Bremen, in Wiesbach, bei einem Unternehmen der Bauwirtschaft. Das ist ein spanischer Großkonzern mit einer Belegschaft von 120.000 Beschäftigten, der als Genossenschaft organisiert ist. In diesem Unternehmen

Claus Philippi erläutert das Proce-dere des Arbeitsprozesses, zu dessen Ergebnissen jede, jeder mit seinen Ideen, Beobachtungen, Anregungen beiträgt. Foto: Simone Schilling

Pfarrer Dr. Wolfgang Gern, Vorstandsvorsitzender der Diakonie Hessen und Nassau, im Gespräch mit Sr. Heidi Steinmetz, Oberin des Frank-furter Diakonissenhauses, und Thorsten Schäfer-Gümbel. Foto: Simone Schilling

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gibt es eine Richtlinie, die besagt, dass der Vorstandvorsit-zende nicht mehr als acht mal so viel verdienen darf wie der Lagerarbeiter dieses Unternehmens. Wenn man den Lager-arbeiter ordentlich bezahlt, ist acht mal mehr ziemlich viel Geld. Das wäre jetzt bei der Deutschen Bank 1 : 500 – ohne Berücksichtigung des Investmentbankings. Ich kenne nieman-den, der 500 mal mehr wert ist mit seiner Tagesarbeit als jemand anderes. Und ich glaube, dass das ein, vielleicht sogar der schärfste Punkt ist, den ich hier benennen kann, wenn ich über die zunehmende Spaltung rede. Aber es geht auch um andere Themen.

Sie wissen vielleicht, dass inzwischen im Rahmen der Indus-trie die Frage diskutiert wird, wie eigentlich die aktuell vorher-sehbare Zukunft aussehe. Nach der Cebit konnte man sich den einen Strang anschauen, wie in der Tat die Digitalisierung dazu führt, dass sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Werkstraße so einrichten können, wie es für sie am besten ist, weil sie durch das digitale Prinzip geführt werden. Es gibt

aber auch das andere Beispiel, dass sie inzwischen über eine Datenbrille praktisch zu ihren Fertigkeiten geführt werden und es überhaupt keiner Form der Qualifizierung mehr bedarf, außer dass sie im Prinzip den Anweisungen über Datenbrille folgen. Welche Konzeption sich am Ende durchsetzt, oder ob es am Ende beides geben wird, das kann ich Ihnen nicht sagen, da sind sich die Wissenschaftler, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände noch sehr, sehr uneinig. Aber weitere Trends wird es geben und dies wird massive Auswirkungen auch auf Qualifizierung von Beschäftigten haben. Es wird am Ende auch Konsequenzen haben für die Spaltung in der Arbeitswelt – und ich glaube, dass darin ein ganz großes Thema für uns liegt. Es gab vor wenigen Wochen eine Studie der OECD. Ich zitiere sie selten, weil ich zu dieser Organi-sation ein gespaltenes Verhältnis habe, tue dies in diesem Fall aber gern, weil sie eine empirische Studie vorgestellt hat mit der Überschrift „wachsende Ungleichheit verhindert Wachstum“ oder „zunehmende Ungleichheit verhindert Wachstum.“

Pausengespräche an der frischen Luft in Frankfurt. Foto: Simone Schilling

Sichtung und Auswertung der zusammengetragenen Trends und Impulse in Frankfurt. Foto: Simone Schilling

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Es ist das erste Mal, dass die OECD eine Studie vorlegt, die im Kern mit dem neoliberalen Dogma der letzten 25 Jahre bricht, dass Ungleichheit am Ende Wachstum und Wohlstand organisiert, weil manche so erfolgreich sind, dass schon irgend etwas übrig bleiben wird für den Rest. Sondern erst-mals sagt die OECD, dass genau das Gegenteil der Fall sei. Zunehmende Ungleichheit verhindert Wachstum und Wohl-stand. Das ist eine riesige Chance, die Debatte der sozialen Spaltung noch einmal anders aufzunehmen. Ich habe in mei-ner Partei gelegentlich das Problem, dass ich beim Sprechen über soziale Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt mitt-lerweile den Eindruck habe, man sei von einem anderen Stern, völlig unmodern und überhaupt nicht in der Lage, den Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft überhaupt noch gerecht zu werden. Und wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, das Tempo mitzugehen, dann sei das zunächst ein indivi-duelles Versagen und nicht ein systemisches. Ich glaube, dass mit dieser Untersuchung der OECD jetzt eine reale Chance besteht, sie gesellschaftspolitisch miteinander umzusetzen und da, um ehrlich zu sein, setze ich ziemlich intensiv auf Sie.

Ich habe jetzt nicht geredet über die Auswirkungen der Demo-graphie, noch über Vereinsamung, nicht über die Spaltung zwischen Stadt und Land, nicht über die Frage der Spaltung in den Städten noch über die Frage der Gemeinwesenorien-tierung. Auch habe ich nicht geredet über Integration, nicht über die Anforderungen im Gesundheitsbereich, in der Pflege, auch nicht von der psychiatrischen Überforderung und ich habe auch noch nicht über Flüchtlinge geredet. Dazu will ich aber jetzt in der Tat eine kurze Bemerkung machen, was mir ein besonderes Anliegen ist, bevor ich dann zu Ihrer zweiten Frage komme.

17 Millionen Flüchtlinge, sind nach Angaben des Flüchtlings-hilfswerks derzeit auf der Welt unterwegs. Es gibt noch andere Zahlen, die besagen, dass es bis zu 51 Millionen sind und damit weit mehr als jemals zuvor nach dem Zweiten Welt-krieg. Und es gibt dennoch in Deutschland eine Diskussion

angesichts von 200.000 Flüchtlingen, die im vergangenen Jahr aufgenommen wurden, dass das Boot voll sei, die Belastungs-grenzen erreicht seien, dass nichts mehr gehe. Ich halte das für grundfalsch und ich glaube, dass wir dagegen auch laut und deutlich Position beziehen müssen. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern auf dieser Welt ist der Beitrag der Bundes-republik Deutschland, gemessen an der Europäischen Union, sicherlich ein nennenswerter, guter und großer Beitrag, aber gemessen an den Leistungen vieler anderer Länder auf dieser Welt lächerlich! Wenn ich mir die Situation derzeit im Libanon anschaue, wo bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 4 Milli-onen Menschen inzwischen 1,4 Millionen registrierter Flücht-linge leben. Ein Land, das ökonomisch, sozial, politisch in einer völlig anderen Situation ist als die Bundesrepublik Deutsch-land. Wenn ich mir die Türkei anschaue, mit etwa 1,3 Millionen Flüchtlingen, oder auch Jordanien, um nur drei in diesen Tagen zu nehmen, wird, glaube ich, deutlich, worum es geht. Der Landrat des Lahn-Dill-Kreises – das ist ein mittelgroßer Land-kreis in der Mitte Hessens, ein Landkreis mit starker Industrie-arbeit – hat vor wenigen Wochen gesagt: Wenn er im selben Umfang wie der Libanon Flüchtlinge aufnehmen würde, dann hätte er in den letzten drei Jahren etwa 42.000 Flüchtlinge aufnehmen müssen, allein aus Syrien. Und deswegen glaube ich, sind wir alle aufgefordert, und das ist mir extrem wichtig auch am heutigen Tage, klar Position zu beziehen in der Flücht-lingsfrage, dass das Boot bei Weitem nicht voll ist. Dass wir allerdings auch mit ein paar Herausforderungen zu kämpfen haben, weil man die Städte, Gemeinden und Kreise mit den Aufgaben nicht alleine lassen darf. Das fängt ganz besonders bei der Versorgung von minderjährigen unbegleiteten Flücht-lingen an, wo wir in der Jugendhilfe mit die größten Heraus-forderungen in diesen Tagen, Wochen und Monaten haben. Dies gilt dann aber auch für die Integration der Flüchtlinge, die für sehr, sehr lange Zeit in unserem Land bleiben werden, weil die Rückkehr vieler Flüchtlinge auf viele Jahre aus meiner Sicht eine Illusion ist – selbst wenn es gelingt, militärische Auseinandersetzungen mit dem IS im Nordirak und in Syrien zu gewinnen – um nur ein Beispiel zu nennen. Nichtsdesto-trotz werden wir auch dort zu agieren haben. Ich glaube,

… und zu spontaner Diskussion. Fotos: Simone SchillingDie Moderationswände laden ein zum Studieren all der Anregungen …

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 57

dass gerade die Wohlfahrtsverbände in der Flüchtlingsver-sorgung in den nächsten Jahren ein ganz großes Arbeitsfeld haben werden. Den Jugend hilfebereich habe ich ganz dezi-diert angesprochen. Damit will ich einen Punkt machen, weil wir sonst überhaupt keine Chance haben miteinander zu reden, und eine kleine Bemerkung machen zu den Konsequenzen aus der Finanz-krise von Bund, Land, Kommunen und Sozialversicherungen, und ich will gleich an dieser Stelle – weil diese Anforderung so formuliert wurde – an einem Punkt hart und energisch widersprechen: Es gibt keine Finanzkrise auf Bundesebene. Auf der Bundesebene gibt es kein Etatproblem. Sie werden in den nächsten Wochen und Monaten erleben, dass das angebliche Etatproblem auf der Bundesebene noch viel, viel, viel kleiner ist, als es in den letzten zwei Jahren beschrieben wurde und dies hat natürlich extrem viel mit der außerordent-lich guten Konjunkturlage in der Bundesrepublik Deutschland zu tun. Weil wir mit milliardenschweren Mehreinnahmen rech-nen, auch angesichts der Wachstumsprognose in diesem und im nächsten Jahr. Völlig anders sieht allerdings in unserem föderalen System die Situation in der Landesfinanzierung und vor allem auf der kommunalen Seite aus – wenngleich es dort deutliche Unterschiede gibt. Die kommunale Finanzsituation in Baden- Württemberg ist deutlich anders als die in Hessen, die kommunale Finanzsituation in NRW ist völlig anders als die in Bayern. Dies stellt wechselseitig Bedingungen – einer meiner wichtigsten Sätze, wenn ich über Kommunalpolitik rede, lautet immer: Ob der soziale Zusammenhalt funktioniert oder nicht, entscheidet sich nicht in den Grundsatzreden des Bundestages, des Europäischen Parlaments oder der Landtage, sondern entscheidet sich vor Ort. Weil vor Ort, in der Kommune, entschieden wird, ob die Sozialstation finan-ziert wird, ob es Infrastruktur gibt, wie die Kindergärten finanziert werden, wie alle möglichen Formen der sozialen Infrastruktur unterstützt werden, auch der Gemeinwesenar-beit, um ein weiteres Beispiel zu nehmen. Dort entscheidet sich, welche Möglichkeiten an sozialstaatlichem beziehungs-weise organisiertem Zusammenhalt es geben kann oder nicht. Und deswegen wird die Auseinandersetzung über die Angemessenheit der Finanzierung auf der kommunalen Ebene geführt. Und der Verteilungskampf, der dort derzeit herrscht, der auch in den nächsten Jahren schärfer wird, ist eine Aus-einandersetzung, die Sie unmittelbar als Wohlfahrtsverband betreffen wird.

Natürlich werden die Kommunen versuchen, Einsparungen vorzunehmen, weil sie dazu gezwungen werden. Deswegen kann ich auch der Diakonie nur raten, in solchen Fragen klar Position zu beziehen und nicht so zu tun, als wäre das die Auseinandersetzung der kommunalen Ebene – nach dem Motto, macht mal und danach reden wir mit euch. Wenn die Kommunen in dieser Auseinandersetzung alleine bleiben, dann ist es anschließend auch Ihr Problem. Daher ist es meiner Meinung nach wichtig, sich in solche Auseinanderset-zungen einzumischen, sich einzubringen und nicht erst nur zuzugucken, was da alles passiert – und dies gilt ähnlich auch auf der Landesseite. Deswegen wird die Verteilungsfrage auch weiterhin auf der Tagesordnung bleiben, wenngleich wir alle wissen, dass es in unserem Steuer- und Finanzsystem Nach-

steuerungsbedarf in erheblichem Umfang gibt. Ja, es gibt Belastungen, insbesondere für bestimmte Einkommens-situationen. Auf der anderen Seite sind andere Einkommens-situationen und Einkommensarten besonders geschützt. Dazu gab es eine massive politische Auseinandersetzung im vergangenen Jahr, die, muss man fairerweise sagen, die SPD allerdings nicht als diese Auseinandersetzung geführt hat. Da würde ich so mancher öffentlicher Einschätzung auch aus meiner Partei deutlich widersprechen. Dass wir aus anderen Gründen aber im Ergebnis verloren haben, heisst nicht, dass wir sie nicht wieder angehen werden.

Konzentrierte Arbeit in der Kleingruppe. Foto: Simone Schilling

58 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

Aber auch das ist eine Auseinandersetzung, die wir nicht gewinnen, wenn wir diese Auseinandersetzung alleine führen. Bei der Sozialversicherung, da werden wir in den nächsten Jahren deutlich unterschiedliche Entwicklungen erleben. Bei den Krankenkassen sehen wir bereits jetzt, dass wir es in den nächsten Monaten mit einer Vielzahl von Auseinander-setzungen und Herausforderungen zu tun bekommen, weil ihre Finanzierungslage sehr schwierig ist. Obwohl es viele Rücklagen gab, sind diese aber im Kern aufgebraucht. Alle, die sich damit näher beschäftigen, wissen, dass wir Finan-zierungsthemen haben, die nicht unerheblich sind. Das gilt beispielsweise für die Krankenhäuser, allerdings auch, weil Politik an anderen Stellen nicht bereit war, Entscheidungen zu treffen, die notwendigerweise irgendwann anstehen. Eine ähnlich kritische Situation werden wir in den nächsten Jahren im Bereich der Rentenversicherung bekommen. Bei der Pflege passiert jetzt etwas. Das einzige, wo man über einen längeren Zeitraum hin sehen kann, dass es eine relativ stabile Finan-zierungssituation gibt, ist bei der Arbeitslosenversicherung – was auch mit der extrem guten Konjunkturlage zu tun hat. Die allerdings sehr stark abhängig ist von Faktoren, die wir national nicht beeinflussen können. Kein Mensch weiß, was in den nächsten Monaten in Griechenland passiert. In jedem Fall wird dort viel Arbeit investiert werden müssen – um nur eins von mehreren Themen zu nehmen, die uns am Ende beschäftigen werden.

Letzter Punkt: Sie wollten wissen, was das für Sie als Diako-nie heißt: Da entziehe ich mich ganz gnadenlos. Ich kann Ihnen hierzu keinen Ratschlag geben. Wie Sie mit diesen Herausforderungen umgehen, das müssen Sie schon selbst wissen. Bewusst sich einmischen zu wollen, das ist für mich auch deutlich schwieriger als für viele andere, weil ich als Politiker natürlich von außen auch politische Anforderungen zu erfüllen habe. Die habe ich an zwei Stellen versucht anzu-deuten, aber letztlich müssen Sie selbst entscheiden, in wel-cher Form Sie sich in dieser Gesellschaft engagieren und einmischen wollen und was Ihre Schwerpunkte sind. Das gilt für fachliche Schwerpunkte genauso wie für politische.

Ich will allerdings am Ende doch noch eine kleine Provoka-tion loswerden – und das auch, weil ich in den letzten Jahren auf meinen Parteitagen regelmäßig über eine Frage disku-tiere, die Sie vielleicht ein bißchen überraschen wird. Nämlich über die Frage zum Verhältnis von Religion und Kirche auf der einen Seite und Politik auf der anderen. Diese Debatten werden auch auf Parteitagen der sozialdemokratischen Par-tei in den nächsten Jahren schwieriger, weil wir feststellen, dass es einen zunehmenden Anteil Menschen in unserer Gesellschaft gibt, der mit Religion und Kirche gar nichts anfangen kann – wie es umgekehrt auch Leute gibt, für die Religion und Kirche wichtiger werden. Aber der Teil, der in einer kritischen Solidarität zu Kirche und Religion steht, der nimmt ab, auch innerhalb der Parteien. Sie haben heute schon eine Situation, dass bei den Grünen wie auch bei der FDP, der Piratenpartei und der Linkspartei sowieso im Kern eine sehr große Distanz zu Religion und Kirche besteht und dies natürlich auch Spannungsthemen sind. Das ist in unse-ren Reihen immer noch klar sortiert. Ich habe Mehrheiten, aber ich merke, dass die Auseinandersetzungen an Zuspit-zungen zunehmen. Und eines der Symbolthemen ist das kirchliche Arbeitsrecht. Ich will das hier offen sagen: Ich glaube, dass Sie da eine ganz große Baustelle haben, wenn Sie das nicht regeln. Das gepflegte und wattierte Verhältnis zwischen Kirche und Politik, auch zwischen Religion und Staat, wird in Zukunft so nicht mehr zu halten sein, davon bin ich überzeugt. Es ist mir ein Herzensanliegen – und dies hier ein Versuch -, Ihnen das Wissen um diese Baustelle mitzuge-ben.

Herzlichen Dank!

Zum Referenten: Thorsten Schäfer-Gümbel ist Landesvorsitzender und Fraktions-vorsitzender der hessischen SPD und seit November 2013 Stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Unter anderem war er in Gießen für die Implementierung des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“ zuständig. Im SPD-Parteivorstand ist das Thema Finanzmarkt ein besonderer Schwerpunkt. Schäfer-Gümbel kommuniziert intensiv über Soziale Netzwerke.

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Zukunftsfähigkeit sozialer Dienste. Ansätze der Innovationsförderung in der SozialwirtschaftImpulsvortrag von Professor Dr. Andreas Schröer

Zukunftsforum IV

am 11. Mai 2015 in Frankfurt / Main

Vortrag II

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Einladung. Meine Auf-gabe wird es heute sein, ein paar Anmerkungen zum Thema Zukunftsfähigkeit der Sozialen Dienste zu machen und ich möchte fast bei dem Schlusswort dessen, was Herr Schäfer-Gümbel eben ausgeführt hat, anknüpfen. Er sagte nämlich, es gebe keinen Ort, an dem über über kreative Lösungen für anstehende Probleme nachgedacht wird. Und genau diese Leerstelle ist Thema meines Vortrags. Ich gebe zu, Zukunfts-fähigkeit ist ein unbestimmter Begriff. Ich mag ihn auch nicht besonders. Er soll heißen, dass Organisationen in der Lage sind, Lösungen für die Probleme zu erarbeiten, die in Zukunft auf sie zukommen werden. Ich hatte mir überlegt, beispiel-haft einige gesellschaftliche Herausforderungen zu nennen,

auf die die sozialen Dienste in Zukunft reagieren müssen. Ich kann das jetzt aber sehr kurz machen, weil auch hier mein Vorredner eine sehr schöne Vorlage geliefert hat, und so kann ich mich eigentlich auf den Punkt konzentrieren: Wie müssen wir in der Diakonie – oder allgemeiner: Wie müssen denn die sozialen Dienste auf diese gesellschaftlichen Heraus-forderungen reagieren?

 

| 5.05.2015

•  Gesellscha':  Schere  zwischen  arm  und  reich  

•  Gesellscha':  Demografische  Entwicklung:  abnehmende  KirchenmitgliedschaH,  FachkräHemangel  

•  Technik:  Digitalisierung  &  weitere  Technisierung  der  Pflege  (AAL,  Smart  Metering,  etc.)  

•  Poli@k:  EU-­‐WirtschaHs-­‐  und  Sozialpoli(k:  Social  Business  Ini(a(ve;  Social  Investment  Package  

Künftige Herausforderungen für die sozialen Dienste

Neue  Dienstleistungen  

Neue  GeschäHsmodelle  

Neue  Managementmodelle  

Nun, es gibt ein paar Herausforderungen, die kennen wir seit langem und die werden sich in Zukunft wahrscheinlich noch verschärfen. So wird etwa die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufgehen und die demographische Entwicklung geht weiter.

Dann wissen wir, wir müssen neue Lösungen finden und wir müssen die Lösungen verbessern, die wir bisher in dem Bereich der sozialen Dienste entwickelt haben, sie optimie-

Professor Dr. Andreas Schröer bei seinem Impulsreferat in Frankfurt. Foto: Simone Schilling

60 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

ren, auch den veränderten Bedarfslagen anpassen. Das ist uns alles bekannt. In einer anderen Sprache könnte man sagen: Man muss dafür neue Dienstleistungen beziehungsweise neue Dienstleistungsmodelle entwickeln.

Gesellschaftliche Entwicklungen, wie zum Beispiel der demo-graphische Wandel, fordern uns auch neue Management-modelle oder Lösungen ab. Zum Beispiel wird die Frage, wie eigentlich altersgerechte Personalentwicklung gehe oder wie wir mit der zunehmenden kulturellen Diversität in unseren diakonischen Unternehmen umzugehen hätten, eine Aufgabe sein, vor der werden wir, insbesondere Sie, in Zukunft ste-hen, und da muss auch auf Managementebene reagiert wer-den.

Dann nehmen wir die von Herrn Schäfer-Gümbel angespro-chene Digitalisierung. Digitalisierung führt zu einer Verände-rung der sozialen Beziehungen. In dem Moment, in dem ich über Software mit Ihnen kommuniziere, haben wir eine andere Beziehung, als wir sie möglicherweise jetzt im face-to-face-Kontakt haben. Das wird Auswirkungen haben auf die Art und Weise, wie wir Hilfe leisten, wie wir soziale Dienstleis-tungen erbringen. Im Moment ist noch nicht so richtig abseh-bar, es deutet sich aber an, dass es nicht nur ein anderes Dienstleistungsmodell sein wird, nicht nur eine andere soziale Beziehung, sondern dass damit möglicherweise ganz andere Geschäftsmodelle einhergehen, dass andere Finanzierungs-formen Einzug halten in den Bereich der sozialen Dienste, was man an dem Beispiel der Digitalisierung schön deutlich machen kann.

Wenn man sich die neuere Entwicklung anguckt, zum Beispiel Smart Metering, also das intelligente Auslesen von Haus-haltsdaten, können soziale Dienstleistungen darauf reagieren. Wenn zum Beispiel ein paar Tage lang der Herd nicht ange-schaltet worden ist in einem bestimmten Haushalt, wird diese Information an die Diakonie gegeben und die kann dann bei-spielsweise jemanden in den Haushalt schicken, der nach-sieht, ob alles in Ordnung ist und gegebenenfalls Hilfe leistet. Das sind ja die Modelle, an denen gerade gearbeitet wird.

Da stellt sich natürlich auch die Frage nach deren Finanzie-rung. Ist das die traditionelle SGB-Finanzierung oder kommen da ganz andere Mischfinanzierungen auf uns zu. Wenn man diesen Bereich der Digitalisierung nimmt, dann wird deutlich, wir können das noch nicht ganz genau absehen – aber wir

brauchen ein Feld innerhalb der Diakonie, innerhalb der sozi-alen Dienste, auf dem wir versuchen, Antworten zu erarbei-ten, auf dem wir experimentieren und neue Lösungen entwi-ckeln, testen und überlegen, was für uns brauchbar ist, was mit unserer Werthaltung vereinbar ist und welchen Weg wir gehen wollen.

Ich glaube, die nur angedeuteten gesellschaftlichen Entwick-lungen machen deutlich, dass es einen Ort braucht, an dem man über diese Fragen nachdenkt. Ich möchte kurz auf einen letzten Aspekt eingehen, der durchaus Gegenstand eines eigenen Referats sein könnte. Wenn man den Blick nach Brüssel richtet und die gegenwärtigen wirtschafts- und sozialpolitischen Programme der EU-Kommission analysiert und die Schwerpunkte in der Forschungsförderung, dann ist unschwer zu erkennen, dass wir es hier mit einer anders gelagerten Herausforderung zu tun haben. Die EU-Kommis-sion hat ganz klar den Gesundheits -und Sozialmarkt oder die Gesundheits- und Sozialwirtschaft als Wachstumssegment im europäischen Binnenmarkt erkannt. Sie sucht nach Mög-lichkeiten, dieses Wachstum zu fördern, und setzt hierbei zunehmend auf die Entwicklung eines Kapitalmarkts für Sozialunternehmen, der aus öffentlichen und privaten Mitteln gespeist ist, und sie setzt auf Programme zur Förderung sozialunternehmerischen Handelns. Stichworte in diesem Zusammenhang wären Social Investment, Social Impact Investment oder die Social Business Initiative. Das sind alles Begriffe, die wir aus Brüssel kennen. Unter Social Investment oder soziale Investitionen versteht man das Zur-Verfügung-Stellen von privatem, aber zurückzuzahlenden Kapital für soziale Organisationen mit dem Ziel, deren Wirksamkeit zu erhöhen. Mit Social Impact Investment meint man nicht nur die private, sondern auch öffentliche Finanzierung, die mit Wirkungserwartungen einhergeht. Das ist also europäische Politik – und jetzt müssen wir gucken, welche Bedeutung hat die eigentlich für uns in der Bundesrepublik Deutschland.

Im Rahmen des G7-Prozesses zu Social Impact Investment formuliert das Mitglied der deutschen Beratergruppe, Michael Sommer vom Deutschen Caritas-Verband in Deutschland, dass die Sozialdienste grundsätzlich auskömmlich finanziert seien. Man sei sich in der Arbeitsgruppe einig gewesen, dass Social Impact Investment nicht die öffentliche Finanzierung dieser Dienste ersetzen könne.

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 61

Also, ich glaube, das ist relativ klar. Das ist die deutsche Situation, die wir haben. Ergänzend gäbe es aber Nischen, etwa im Bereich Innovationen, und auch auf lokaler Ebene seien Kooperationen zwischen Wirtschaft, Kommunen und Wohlfahrtsverbänden wünschenswert. Es gibt bestimmte Felder, in denen wir durchaus neue Finanzierungs- und Geschäftsmodelle erarbeiten können. Spannend fand ich, dass in diesem Arbeitsgruppenbericht explizit die Themen Innovationen, Entwicklung neuer Lösungen und Geschäfts-modelle genannt wurden.

Sommer weiter: Für die traditionelle Wohlfahrtspflege sei es allerdings eine Herausforderung, sich so zu organisieren, dass die privaten Investitionen wirklich genutzt werden können. In Deutschland habe man mit Social Impact relativ wenig Erfah-rungen. Die Zukunftsfähigkeit sozialer Dienste, so ließe sich also zusammenfassen, ist davon abhängig, dass es den sozi-alen Dienstleistungsorganisationen gelingt, den gesellschaft-lichen, technischen und politischen Herausforderungen erfolg-reich zu begegnen. Dies bedeutet etwa die Entwicklung neuer Dienstleistungsmodelle, neuer Lösungen und die Entwick-lung neuer Geschäftsmodelle.

 

| 5.05.2015

!  Soziale  Innova(onen  sind  neue  Kombina@on  sozialer  Prak@ken,    

!  die  darauf  zielen  auf  bestehende  Bedarfslagen  zu  reagieren,  bzw.  gesellschaHliche  Probleme  zu  lösen.    

!  Als  sozial  gelten  Lösungen,  wenn  sie  gesellscha'lich  akzep@ert,  bzw.  legi(miert  sind  (Gemeinwohl).    

!  Sie  werden  meist  auf  (Quasi-­‐)  Märkten  verbreitet  und/oder  als  neue  Rou(nen  ins@tu@onalisiert  (Howaldt/Schwarz  2010).    

!  Sie  beinhalten  meist  neue  soziale  Beziehungen  /  Koopera(onen  (Mulgan  2010).  

 "  Soziales  Unternehmertum  ist  die  

Entwicklung  und  Verbreitung  einer  sozialen  Innova(on  durch  eine  Organisa(on,  die  unternehmerisches  Denken  und  Handeln  mit  sozialen  Zielen  verbindet.

Was heißt „Soziale Innovation“?

Aspekte  Sozialer  Innova@onen  !   Bedarfe:  

!   Zeitlich  („zur  rich(gen  Zeit“)  !   Räumlich  („am  rich(gen  Ort“)  !   Norma(v  (in  Einklang  mit  der  Werteorien(erung  der  Organisa(on)  

   ! Ziele  Sozialer  Innova(on:    

!   Befriedigung  menschlicher  Bedürfnisse  (Caulier-­‐Grice  et  al.  2012,  Mulgan  et  al.  2007),    !   Änderung  sozialer  Beziehungen,    !   erhöhte  sozio-­‐poli(sche  Kapazität.    

!   Innova(on  sozialer  Dienstleistungen    (Mulgan  2006,  INNOSERV,  Nock  et  al.  2013)  

!   Dienstleistungsprodukt  !   Dienstleistungsprozess  !   grundlegende  Werte  (Kontext)  !   soziale  Praxen  (Leitbilder,  Kultur,  gesellschaHliche  Rahmung)  

Im Fachdiskurs wird in diesem Zusammenhang nicht von Zukunftsfähigkeit gesprochen, sondern der Begriff der Sozia-len Innovation verwendet. Ich erkläre nochmal, warum es im diakonischen Umfeld nicht ganz einfach ist, diesen Begriff zu verwenden. Weil er scheinbar eine große Wirtschaftsnähe insinuiert. Die Begriffe Innovation und Unternehmertum sind sehr nah beieinander und in dem Moment, in dem man diesen

Begriff im Munde führt, gerät man schnell unter den General-verdacht des Neoliberalismus. Daher möchte ich zunächst einmal fragen, was bedeutet der Begriff in der Sozialwissen-schaft und wofür wird er verwendet.

Soziale Innovationen sind neue Kombinationen sozialer Prak-tiken. Es geht um bestimmte Handlungsmuster, die darauf abzielen, auf bestehende Bedarfslagen zu reagieren bezie-hungsweise gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das ist ganz entscheidend für diesen Begriff der sozialen Innovationen, wie ich auch denke, dass er anschlussfähig ist im diakonischen Bereich. In dem Moment, wo wir sagen, es geht um Bedarfs-lagen, die wir haben, die sich aber auch verändern, haben wir das vor Augen, was uns wichtig ist und der Diakonie am Herzen liegt: nämlich die Gruppen der Adressaten, die Grup-pen der Klienten und deren Situation.

Soziale Innovationen setzen voraus, diese Bedarfslagen in den Blick zu nehmen und wirklich zu verstehen. Zu verste-hen, worin dieser Bedarf liegt, um darauf in neuer oder ver-besserter Form reagieren zu können. Durch eine neue Kombi-nation sozialer Praktiken. Als sozial gelten diese Innovationen dann, wenn sie gesellschaftlich akzeptiert sind. Nicht irgend-eine beliebige Lösung kann eine soziale Innovation sein, son-dern sie muss tatsächlich auch legitimiert und anerkannt sein in der Gesellschaft. Ein anderer Aspekt des Begriffs ist noch einmal ganz wichtig: der Gegensatz zum Begriff der Invention. Die Invention ist die Erfindung, aber die Innovation ist die Verbreitung der Erfindung. Die Innovation war nicht die Erfin-dung der Glühbirne, sondern ihr Vertrieb über den Globus.

Innovationen werden verbreitet oder als neue Routine institu-tionalisiert und, darauf macht auch mein Kollege Johannes Eurich in Heidelberg aufmerksam: Soziale Innovation heisst auch häufig Veränderung sozialer Beziehungen. Zum Bei-spiel werden neue soziale Beziehungen aufgebaut oder es enstehen neue Kooperationsformen. Soziale Innovationen reagieren also auf zeitlichen, räumlichen oder normativen Bedarf. Diese Tatsache erlaubt mir nun auch zu behaupten, die Entwicklung sozialer Innovationen sei eigentlich die tradi-tionelle Kernaufgabe der Diakonie seit ihren ersten Prota-gonisten. Was haben denn Friedrich von Bodelschwingh, Johann Friedrich Wichern oder Gustav Werner anderes getan, als auf neuartige Weise, nämlich durch Werke rettender Liebe auf gesellschaftlichen Bedarf zu reagieren, Lösungen zu entwickeln und diese dann zu verbreiten. In diesem Sinne

62 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

wird der Begriff Soziale Innovation für die Diakonie anschluss-fähig. Soziales Unternehmertum in diesem Sinne wäre dann die Ent-wicklung und Verbreitung einer sozialen Innovation durch eine Organisation, die unternehmerisches Denken und Handeln mit sozialen Zielen verbindet.

Jetzt kommt der Werbeblock, aber ich mache ihn, wie ich ver-sprochen habe, ganz kurz. Soziale Innovation ist ein Thema, das drei Institute veranlasst hat, ihre Forschungskapazitäten und -ergebnisse im Forschungsverbund „Zukunftsdienst – neue soziale Dienste“ zu bündeln. Wir wollen gemeinsam an diesem Thema weiterforschen und die Ergebnisse unserer Arbeit auch den uns nahe stehenden Organisationen und Ver-bänden zur Verfügung zu stellen. Mitglieder des Verbundes sind das Diakoniewissenschaftliche Institut der Universität Heidelberg mit dem Kollegen Johannes Eurich, das „Centrum für Soziale Investitionen und Innovationen” der Universität Heidelberg mit dem Forschungsleiter Georg Mildenberger und unser Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft der Evangelischen Hochschule Darmstadt.

 

| 5.05.2015

"  Forschungsverbund „neue soziale Dienste“: !  DiakoniewissenschaHliches  Ins(tut  der  

Universität  Heidelberg  (DWI):    Prof.  Dr.  Johannes  Eurich    

!  Centrum  für  Soziale  Innova(on  und  Inves((on  der  Uni  Heidelberg  (CSI):    Prof.  Dr.  Adalbert  Evers,  Dr.  Georg  Mildenberger    

!  Ins(tut  für  ZukunHsfragen  der  Gesundheits-­‐  und  SozialwirtschaH  der  Ev.  Hochschule  Darmstadt  (IZGS):    Prof.  Dr.  Andreas  Schröer  

Studien zu Sozialen Innovationen (Auswahl)

" Studien  &  Projekte  Forschungsverbund  !   INNOSERV:  Innova(on  in  Social  Services  (www.inno-­‐serv.eu)  (DWI/CSI)  !   TEPSIE:  theore(cal,  empirical  and  policy  founda(ons  of  social  innova(on  in  Europe  (www.tepsie.edu)  !   Soziale  Innova(onen  in  den  Spitzenverbänden  der  Freien  Wohlfahrtspflege  (CSI)  !   Mercator  Forschungsverbund  Soziales  Unternehmertum  (u.a.  CSI)  !   LaDU:  Labor  für  Diakonisches  Unternehmertum  (IZGS  in  Koopera(on  mit  der  Mission  Leben,  Darmstadt)    !   Andere:  Soziale  Innova(onen  in  Deutschland  (EBS)  

Sie sehen hier in der Präsentation einige Studien und Projekte, die in diesem Forschungsverbund von den einzelnen Partnern entstanden sind und die sich mit diesem Themenfeld der sozi-alen Innovation auseinandersetzen.

Vielleicht kennen Sie auch die eine oder andere Studie. TEP-SIE war ein EU-finanziertes Projekt, das sich sowohl mit dem theoretischen als auch empirischen Phänomen der sozialen

Innovation in Europa auseinandergesetzt hat. Dort wurde sehr viel Arbeit geleistet, besonders was die Theoriebildung angeht: Es wurden erste empirische Daten auf europäischer Ebene zum Thema soziale Innovation gesammelt und auch Trends im Bereich sozialer Innovation in Europa identifiziert. Ergebnis war: Soziale Innovation hat zunehmend etwas zu tun mit Massenkollaboration, mit Formen kollaborativen Kon-sums, mit sogenannter Prosumption – was bedeutet, dass die Differenz zwischen Konsument und Produzent häufig gar nicht mehr gegeben ist, denken wir nur an Dienstleistungen, Coproduktionen, Design, systemisches Denken. INNOSERV wird den meisten von Ihnen wahrscheinlich ein Begriff sein. Das war ein soziales Plattform-Projekt, für das man aus 20 europäischen Ländern innovative soziale Dienstleistungen ausgewählt, zusammengestellt und in kurzen Videoclips prä-sentiert hat.

 

| 5.05.2015

Soziale Innovationen

Erfolgskriterien für Soziale Innovationen:

Bedarfsorientierung

Machbarkeit Wirtschaftlichkeit

Innovative Lösungen

in Anlehnung an Human-Centred Design (IDEO 2011)

Formen  der  Innova@on  !  Neue  (oder  bessere)  soziale  Dienstleistungen  !  Neue  (oder  bessere)  Ressourcen-­‐Kombina(on  

!  Neue  (oder  bessere)  Governance-­‐Formen  

Wirkungsebenen  der  Innova@on  !  Makro  (Boeßenecker  2012):    

Sozialpoli(k,  regulatorische  Rahmen,  ins(tu(onelle  Normen  

!  Meso  (Wendt  2005):  GeschäHsmodelle,  Dienstleistungen,  Management  und  Governance-­‐Prak(ken,  

!  Mikro  (Parpan-­‐Blaser  2011):  Nutzer-­‐Par(zipa(on,  professionelle  Prak(ken  

Nun noch eine weitere und letzte begriffliche Bestimmung zu sozialer Innovation: Soziale Innovationen sind erfolgverspre-chend oder tatsächlich erfolgreich, wenn sie machbar und umsetzbar sind. Es geht nicht darum, ein Wolkenkuckucks-heim zu entwickeln, sondern um machbare und umsetzbare Lösungen – sonst werden sie auch nicht verbreitet werden. Dass sie, wirtschaftlich betrachtet, schonend mit den Res-sourcen umgehen, im Idealfall schonender als bestimmte bestehende Modelle, und dass sie gegebenenfalls auch neue Finanzierungswege für innovative Lösungen nutzen.

Zum Dritten und entscheidend ist die Orientierung am Bedarf: Innovation in der sozialen Arbeit als soziale Innovation erzeugt

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 63

namentlich für die Adressatinnen und Adressaten einen Mehr-wert. Wer aber sind denn nun bitte die kreativen Köpfe und die Organisationen, die diese sozialen Innovationen entwickeln und hervorbringen können und sollen und unter welchen Bedingungen können sie das?

Die kleinen Gründerorganisationen, die sogenannten Social Startups, von denen in den letzten Jahren an so vielen Stellen weltweit die Rede war, die von unterschiedlichen Stiftungen gefördert worden sind. Oder die von der britischen Regierung umworben werden.

Oder sind es die etablierten Sozialunternehmen, die, zumeist wohlfahrtsverbandlich organisiert seit Jahrzehnten – wenn nicht bereits länger als einem Jahrhundert – soziale Dienst-leistungen anbieten. Viele sozial-unternehmerische Gründun-gen sind spannend – denken Sie etwa an Raul Krauthausen und seine Wheelmap, also diese interaktive Karte, die Roll-stuhlfahrern anzeigt, wie barrierefrei öffentliche Gebäude sind; oder Andreas Heinekes „Dialog im Dunkeln“, eine Aus-stellung im Dunkeln, durch die blinde Menschen führen; oder die von Christian Hiss gegründete Regionalwert-AG, eine Bürgeraktiengesellschaft in der Region Freiburg zum Aufbau einer sozialökologischen Regionalwirtschaft. Diese Modelle sind fraglos Innovationen.

Allerdings zeigen jüngere empirische Studien im Rahmen des Mercator Forschungsverbundes, dass mehr als zwei Drittel der als Social Entrepreneurship bezeichneten Organisationen in Deutschland unter eine Million Euro Umsatz pro Jahr machen. Das bringt dem einen oder anderen von hier ein leises Lächeln ins Gesicht, weil man überlegt, will ich jetzt eine Transforma-tion der Sozialwirtschaft in Deutschland mit Organisationen bewältigen, die unter einer Million Euro Umsatz machen? Social Entrepreneurship ist also auf den Sozialmärkten immer noch und meistens ein Nischenphänomen.

Spannend fand ich auch, dass die Mercator-Studie sich mal angeschaut hat, wie denn die Gründungsbedingungen für neue Geschäftsmodelle bei social Startups sind, die auf der grünen Wiese neu gründen im Vergleich zu Gründungs-bedingungen der etablierten Sozialunternehmen. Es wurde festgestellt, dass die Gründungsbedingungen in den etab-lierten Sozialunternehmen besser sind, weil die Gründer auf der grünen Wiese mangelnden Zugang zu Ressourcen und

Finanziers haben, weil sie weniger Verbreitungsmöglichkei-ten haben, weil die Organisationen oft jahrelang klein und umsatzschwach bleiben, weil der Kontakt zu etablierten Anbietern häufig unterentwickelt ist.

Interessant ist also, über zwei Dinge nachzudenken: Zum einen, was können die etablierten Sozialunternehmen tun, um selber stärker zur Entwicklung der Innovation beizutragen – und wie können Formen von Partnerschaften zwischen eta-blierten Sozialunternehmen und social Startups aussehen, um gemeinsam soziale Innovationen zu entwickeln.

 

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in  der  Wohlfahrtspflege  (Nock  et  al.  2013):    !  Innova(onskapital:  

!  Finanzielles  Kapital:  in  Vorlage  gehen  können  -­‐>  Mindestgröße  der  Organisa(on  !  Personelle  Ressourcen:    !  Exper(se:  Felderfahrung  (Kontakt  zur  Basis),  Transferwissen,  Netzwerkkompetenz  

!  RisikobereitschaH  und  solide  Kalkula(on  

!  Möglichkeit  zur  Verste(gung  innova(ver  Ansätze  („langer  Atem“)  

!  Innerverbandliche  Offenheit  !  Bereichsübergreifender  Dialog  und  Zusammenarbeit  !  Zusammenwirken  verschiedener  Verbandsebenen  

!  Zwischenbetriebliche  Offenheit  !  Koopera(onsbereitschaH  mit  anderen  Akteuren  

Was sind organisationale Bedingungen für Soziale Innovationen?

Ich komme also zu dem Punkt, einmal zu schauen, was es denn für Möglichkeiten gibt, Innovationen in etablierten Sozial-unternehmen tatsächlich zu fördern. Da gibt es erstmal ein paar Hinweise aus einer 2013 für die Bundesarbeitsgemein-schaft der Freien Wohlfahrtspflege erstellten Studie des Cen-trums für Soziale Investitionen und Innovationen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (CSI), in der identifiziert wurde, was an organisationalen Bedingungen für soziale Innovationen erforderlich ist – das unterscheidet sich jetzt nicht so drama-tisch von anderen Feldern in der Innovationsforschung. Zum einen braucht es Innovationskapital, also Risikokapital. Die Frage ist, wo kommt es her? Es braucht also finanzielles Kapi-tal, um in Vorlage gehen zu können. Dazu braucht es eine Mindestgröße der Organisation, damit dieses Risikokapital überhaupt da ist. Es braucht viel personelle Ressourcen und Expertise, zum Beispiel Felderfahrung. Es braucht Mitarbei-tende, die in Kontakt mit der Basis sind, die in der Lage sind, so etwas wie Transferwissen aufzubauen, man braucht Netz-

64 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

werkkompetenzen. Das sind alles empirische Ergebnisse. Es braucht Risikobereitschaft und auch eine solide Kalkulation. Es braucht die Möglichkeit zur Verstetigung innovativer Ansätze, den berühmten langen Atem, und es braucht auch so etwas wie die innerverbandliche Offenheit, also eine bereichsüber-greifende Zusammenarbeit und einen bereichsübergreifen-den Dialog. Mit bereichsübergreifend meine ich zweierlei, nämlich dass Sie nicht nur in den Geschäftsfeldern denken wie Altenpflege, Jugendarbeit, Behindertenhilfe, sondern diese Bereiche auch übergreifend diskutieren – aber eben auch die Bereitschaft, innerhalb des Verbandes, in einer Region über neue Lösungen nachzudenken. Das ist zwar schön gefordert, andererseits steht aber der Wettbewerb der Anbieter dem entgegen und den gibt’s natürlich auch innerhalb des Verbands. Hier müssen wirklich Experimente gemacht werden, wie kann es auch unter Berücksichtigung des Wettbewerbs funktionieren? Und es braucht die soge-nannte zwischenbetriebliche Offenheit.

 

| 5.05.2015

Innovationsfördernde Faktoren in der Wohlfahrtspflege

CSI  (Nock  et  al.  2013)  

Entstehung   o  Extern:  Finanzierung  (Staat)  o  Poli(k,  Fachdiskurs  o  Forschung  (Hochschulen),  ZivilgesellschaH  

o  Intern:  Projek(nkubatoren  o  Bedarfsnähe  des  Personals  o  Hohe  Iden(fika(on  mit  Einrichtung  

Entwicklung   o  „Langer  Atem“  o  Personal  o  Diskussionsforen,  Gremien,  Besprechungen  o  Informa(onsnetzwerke  o  Vielfalt,  Interdisziplinarität  o  Gewachsenes  Innova(onsmilieu  o  Eigener  Koopera(onskosmos  

Verbreitung   o  Organisa(onsgröße,  Manpower,  Wirkungsmacht  

o  Verbandsinterne  Kommunika(on  o  Zusammenwirken  von  Verbandsebenen  o  Koopera(onsbereitschaH  

Ideen-generierung

Konzept bis Markt

Idee bis Konzept

Markt & Scaling

Jetzt hat diese Studie die innovationsfördernden Faktoren auch auf Phasen sozialer Innovation bezogen. Stoßen Sie sich bitte nicht an dieser Formulierung des Marktes. Das, was hier gemeint ist, ist das Konzept des Verbreitungsme-chanismus. Der Verbreitungsmechanismus kann der Markt, Quasi-Markt oder auch ein anderer Verbreitungsmechanis-mus in der bisherigen Finanzierungsform sein. Wir sprechen an dieser Stelle in der Innovationsforschung von Marktreife. Und in der vierten Phase sprechen wir vom Markt und Scaling, vom lokalen Angebot an einer Stelle bis hin zu dem über-regional verbreiteten Angebot. Und Sie sehen hier, dass die

eben genannten Aspekte der organisationalen Bedingungen für Innovationen jetzt einfach auf die unterschiedlichen Phasen der Entstehung, Entwicklung und Verbreitung von sozialen Innovationen bezogen werden.

 

| 5.05.2015

Hindernisse der Innovation in etablierten Sozialunternehmen

Was macht Innovation beim Träger manchmal schwer?

n=226

zu wenig Zeit sich über Verbesserung Gedanken zu machen

57,96%

131

zu wenig freie Mittel für die Entwicklung neuer Konzepte

53,10%

120

strukturelle Probleme (bspw. unüberwindbare Hierarchien)

47,79%

108

kein Austausch über funktionierende neue Ideen in anderen Einrichtungen

42,04%

95

⇒  Fehlende Ressourcen für Innovation und Innovationsförderung ⇒  Erfolgreiche Innovationen werden schlecht kommuniziert ⇒  Hinderliche interne Strukturen

Wie gut fühlen Sie sich als Mitarbeiter über Innovationsprozesse im Unternehmen informiert?

sehr gut informiert

eher gut informiert

teils - teils eher nicht informiert

gar nicht Informiert

Gesamt

2,21% (5) 25,66% (58) 37,17% (84) 30,09% (68) 4,87% (11) 226

Bekannt sind uns natürlich auch nur zu gut die Hindernisse für die Entwicklung von sozialen Innovationen in den Sozial-unternehmen – ich habe hier einfach mal Zahlen genommen von einer Studie, die im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit der Mission Leben entstanden sind, die sehr typisch sind für Sozialunternehmen.

Genannt wird hier immer, dass es zu wenig Zeit innerhalb der Organisation gibt, sich über Verbesserungen Gedanken zu machen, dass es zu wenig freie Mittel zum Entwickeln neuer Konzepte, dass es strukturelle Probleme gibt, zum Beispiel Hierarchien, die das Reden über Innovationen verhindern und auch einen mangelnden Austausch über funktionierende neue Modelle. Darauf kommt es ja an in einer Organisation: Da gibt es einen Träger, eine Einrichtung, ein Haus von den vielen, die man hat, die machen etwas völlig anderes – aber wissen es die anderen auch?

Bei Agaplesion zum Beispiel kann man sagen: Ja, die wissen es. Da gibt es Innovationskonferenzen, die treffen sich alle regelmäßig und da findet ein Austausch über innovative Modelle statt.

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 65

Aber ist das der Regelfall innerhalb von Diakonischen Unter-nehmen? Die Innovationsstudien zur Sozialwirtschaft, die ich kenne, sagen: Nein. Wie lässt sich denn Innovation fördern in sozialwirtschaft-lichen Unternehmen?

 

| 5.05.2015

Ansätze der Innovationsförderung

Fokus    

Intern   Organisa>onsübergreifend  

Vorgehen  

  Strukturen,  Prozesse  

&  M

ethoden  

!  Informa(onsmanagement  (Querdialog)  

!  Personalentwicklung  !  Innova(onsmanager/in  !  Innova(onszentrum  !  Produktmanager  !  F+E  Abteilungen  

!  Innova(on-­‐Hubs  !  Inkubatoren  !  Social  Innova(on  Labs  

#  Social  Impact  Lab  #  Labor  für  Diakonisches  

Unternehmertum  

Inform

elle  Prozesse  

&  Vernetzung     !  Informelle  Kanäle  

!  Gremien-­‐  und  Besprechungen  !  Organisa(onskultur  (Fehlerkultur)  !  Innova(on-­‐Teams  

!  PartnerschaHen  (z.B.  mit  Start-­‐Ups  oder  mit  Hochschulen)  

!  Netzwerke  !  Regionale  Innova(onsregimes,  

Innova(onscluster  

Es gibt eine Vielzahl von Modellen, wie das gehen kann und es gibt wirklich im Moment noch kein durchgängiges Raster, wie diese Modelle sortiert werden. Das ist so ein bisschen die Schwierigkeit. Ich zeige Ihnen jetzt hier mein eigenes, aber ob das der Weisheit letzter Schluss ist, das weiss ich nicht.

Sie sehen hier den Fokus der Innovationsförderung organi-sationsintern oder -übergreifend – und zum anderen: Ist das Vorgehen in der Innovationsförderung eines, das auf das Herstellen von Strukturen, Prozessen und Methoden setzt? Oder ist das Vorgehen stärker eins, das auf informelle Pro-zesse setzt, auf Informalität und Vernetzung? Und wenn man dieses Schema anwendet, dann sieht man in diesem oberen linken Kasten interne und stark auf Strukturen, Prozesse und Methoden setzende Ansätze, wie zum Beispiel Innovations-förderung, die ganz stark auf Informationsmanagement setzt. Dabei wird einfach dafür gesorgt, dass Information im Unter-nehmen über neu gefundene Lösungen und Modelle fließt. Ein anderer Weg ist die konsequente Personalentwicklung, um Leute zu befähigen, unternehmerisch tätig zu sein. Das eher traditionelle Innovationsmanagement, das wir häufig finden, wenn eine Organisation einen Innovationsmanager

als Stabstelle einrichtet und im Auftrag der Geschäftsführung dazu Innovationsprozesse anstößt oder ein Innovationszent-rum einrichtet. In diesem Modell werden strategische Ziele für die nächsten fünf bis zehn Jahre vorgegeben, für deren Umsetzung es Innovation in bestimmten Bereichen bedarf und die sollen in diesem Innovationszentrum tatsächlich vor-angetrieben werden. Das ein ein interner Fokus, der sehr stark auf gesteuerte Innovationsprozesse setzt.

Dann gibt es aber auch sehr stark die informelle Methoden der Innovationsförderung. Das finden Sie in diesem unteren Kasten hier auf der linken Seite, und da liegt die Betonung auf den informellen Kanälen. Die CSI-Studie hat herausge-funden, bisher geschieht Innovationsförderung in der Sozial-wirtschaft zumeist auf informelle Weise. Einer entwickelt etwas und dann kommt man ins Gespräch darüber und schaut, ob es andere Interessenten gibt. Oder in den Gremien gibt es eine Besprechungskultur, die es ermöglicht, neue Ansätze zu diskutieren.

 

| 5.05.2015

Ansätze  !  Informa(onsmanagement  !  Personalentwicklung  !  Innova(onsmanager/in  (Stabsstelle)  !  Innova(onszentrum    Instrumente:  !  Innova(onspreise  !  Spezialbudgets  !  Freistellungen  !  Anreizsysteme  !  Internetbasierte  Open  Innova(on  Konzepte  

Interne Strukturen und Prozesse

Beispiele:  !  Innova@onszentrum  der  

Evangelischen  Heims(Hung:  entwickeln  neue  Konzepte  und  GeschäHsmodelle  entlang  strategischer  Vorgaben:  z.B.  im  Bereich  Ambient  Assisted  Living  

   !  Informa@onsmanagement  und  

interne  Informa(onsweitergabe  auf  Innova@onskonferenzen,  z.B.  bei  Agaplesion  gAG  

 

Andere Ansätze setzen sehr stark auf die Entwicklung von innovativer Organisationskultur. Man will ein Klima schaffen, in dem innovative Menschen sich wohlfühlen.

Dann gibt einen anderen Ansatz der sogenannten Innovati-onsteams, also der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit zur Entwicklung neuer Lösungen in einer Organisation. Die setzen zum Beispiel auf Multidisziplinarität, Multiprofessiona-lität, die liegen quer zur Linienorganisation mit diesen Teams und haben den Fokus auf der Entwicklung von Innovation.

66 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

Die Deutsche Welle macht das zum Beispiel ganz stark, wir haben da ein sehr schönes Modell für so ein Innovations-team, das neue Verfahren entwickelt.

 

| 5.05.2015

Organisationsationsübergreifende Strukturen und Prozesse (vgl. Schröer 2014)

Innova@on  Learning  Lab   Innova@on  Incubator   Innova@on  Hub  

Erläuterung   Labor  in  Universität  in  Koopera(on  mit    soz.  Dienstleistern  

GeschäHsmodell-­‐Entwicklung,  basierend  auf  Forschungs-­‐ergebnis  

Geteilter  Büro-­‐  und  Mee(ng-­‐Raum  für  kollabora(ve  Lernprozesse  

Ressourcen  (sozial,  kulturell,  ökonomisch)  

Kulturell  (Exper(se,  Wissen)   Kulturell,  Sozial,  Ökonomisch  

Sozial  (Mee(ng  Space,  Exchange)  

Ansatzpunkt  (Hebel)   Forschung  Prozessdesign  

Forschung,  Exper(se   Vernetzung,  geteilter  Raum  

Phase  des  Prozesses  (Mulgan  2006)  

Zielt  auf  systemische  Veränderung  

Fokus  auf  Entwicklung  von  Piloten,  Nach-­‐hal(gkeit,  Scaling  

Fokus  auf  Entwicklung  von  Ideen,  Piloten,  Nachhal(gkeit,    

Beispiele   Catholic  University  of  Leuven  (Demen(a)  

Young  Founda(on  Launchpad  

Center  for  Social  Innova(on  (Toronto)  

Dann gibt es noch diesen Bereich der organisationsübergrei-fenden Strukturen und Prozesse, und die sind vielfältig. In Innovation Learning Labs – in Kooperation mit Hochschulen – wird versucht, ausgehend von Forschungsergebnissen, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Es gibt Beispiele im Bereich der Demenzforschung.

Es gibt die Innovation-Incubators, das sind Gründerzentren, in denen Geschäftsmodelle entwickelt werden, die finden in unterschiedlicher Trägerschaft statt. Und wir haben soge-nannte Innovationhubs: geteilte Büro- oder Arbeitsräume, Meetingräume, in denen unterschiedliche Leute, die an Inno-vationsprozessen arbeiten, sich zusammenfinden können; so etwas findet häufig organisationsübergreifend statt.

 

| 5.05.2015

Organisa@onsübergreifend  !  PartnerschaHen  (z.B.  mit  Start-­‐Ups)    

Wirkung2  Award    

!  Netzwerke  (Poten(al  der  Verbände  noch  nicht  genutzt)  

!  Regionale  Innova(onsregimes,  Innova(onscluster  Musterländle  Baden-­‐Würaemberg  

Informelle Prozesse und Vernetzung

Intern  !  Informelle  Kanäle  !  Gremien-­‐  und  Besprechungen  !  Organisa(onskultur  (Fehlerkultur)  

!  Flexibilität  &  Kontrolle  !  Interner  &  Externer  Fokus  (Quinn/Spreitzer  1991)  

!  Innova(on-­‐Teams:  bereichsübergreifende  Zusammenarbeit  zur  Entwicklung  neuer  Lösungen  und  Dienstleistungen  !  Mul(disziplinar(tät  !  Mul(professionalität  !  Quer  zur  Linienorganisa(on  !  Fokus  auf  Innova(on  (Entwicklung,  Konzept)  Deutsche  Welle  Innova@on  Team  hap://blogs.dw.de/innova@on/team/  

 

Eine Sache, die ich noch erwähnen wollte zu den informellen Prozessen: Die informellen Prozesse gibt es in der Organisa-tion, das habe ich schon gesagt, aber eben auch organisati-onsübergreifend. Da ist der spannende Punkt aus meiner Sicht, dass Partnerschaften hier ein ganz erfolgversprechen-des Modell sind; für sie wurde der Wirkung-Award vergeben, der Partnerschaften von etablierten sozialen Unternehmen mit social Startups prämiert hat. Ein Projekt, das an der EBS Business School stattgefunden hat. Die Idee einer Partner-schaft etablierter sozialer Unternehmen und solcher Start-Ups wäre wohl eine Form der organisationsübergreifenden Vernetzung.

Und schließlich die Entwicklung von regionalen Innovations-clustern. Im sozialen Dienstleistungsbereich ist das noch nicht wirklich ausgearbeitet worden. Hier ist eine Menge Potential drin.

Ich bin Baden-Württemberger, geboren in Freiburg und in Stuttgart aufgewachsen. Ich bin im Musterländle großge-worden. Wenn man in der Region Stuttgart aufgewachsen ist, dann weiß man, was es heisst, dass es regionale Innova-tionscluster gibt, wo Leute mit unternehmerischen Genen sehr viel an neuen Geschäftsmodellen, Erfindungen und so weiter arbeiten. Sie finden dort die nötigen Strukturen vor, eine gute Chance zur Vernetzung miteinander und Zugang zu Investoren. Das ist ein regionales Innovationscluster. Die Frage ist, kann es so etwas geben im Bereich der sozialen Dienstleistung?

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 67

 

| 5.05.2015

Region  Rhein-­‐Main  19  Standorte,  35  Einrichtungen  1.700  Mitarbeiter  6.000  Menschen  pro  Jahr  werden  sta(onär  und  ambulant  betreut    Leistungsbereiche:  !  Leben  im  Alter:  Wohnen  und  Pflegen  im  Alter,  Ambulante  Betreuung  !  Soziale  Arbeit:  Hilfen  für  Menschen  in  sozialen  Notlagen,  Hilfen  für  Kinder  und  Jugendliche,  Hilfen  für  

Menschen  mit  Behinderung  !  Berufliche  Bildung:  Schule  für  Altenpflege  und  Heilerziehungspflege,  Ins(tut  für  Fort-­‐  und  

Weiterbildung    Einrichtungsgründung:  !  Revungshaus  für  junge  Menschen  in  Hähnlein  (1850)    !  Elisabethens(H  in  Darmstadt  (1858),  Kinderheilanstalt  „Elisabethaus“  in  Bad  Nauheim  (1879),    !  Erziehungsanstalt  „Aumühle“  in  Darmstadt-­‐Wixhausen  (1885)  !  Hessischer  Landesverein  für  Innere  Mission  (1899).      Mission:  „Wir  handeln  im  christlichen  AuHrag  als  ein  diakonisches  Unternehmen.  Unser  Handeln  gilt  Menschen  in  schwierigen  Lebenslagen  und  orien(ert  sich  an  deren  Bedürfnissen.  Wir  fördern  Selbstbes(mmung,  s(Hen  Beziehungen  und  leisten  Beistand.  Wir  arbeiten  wirksam  und  wahrhaHig.“    

Informationen zur Mission Leben

 

| 5.05.2015

Das Labor für Diakonisches Unternehmertum: Grundkonzepte

in Anlehnung an Human-Centred Design (IDEO 2011) + Business Planning for Enduring Social Impact (Wolk & Kreitz 2009) + Business Model Generation (Osterwalder & Pigneur 2011)

Prinzipien  der  Durchführung:  !  Wissensvermivlung  !  Vernetzung  

!  Krea(vität,  Inspira(on,  Design  Denken  

!  Persönliche  Förderung  !  Transfer,  Implemen(erung,  

Verbreitung  

Fokus: Von der Idee zum Konzept

 

| 5.05.2015

Labor in Kooperation: Mission Leben – Ev. Hochschule Darmstadt

Hören (Feldforschung)

Bedarfsanalyse Den „Markt“ beobachten, ein vertieftes Verständnis der Bedürfnisse entwickeln und relevante Bedarfe identifizieren

Kreation und Ressourcenplanung Lösungsideen entwickeln, Ressourcen finden, Möglichkeiten prüfen, Experten konsultieren

Kreieren (im Team)

Ausarbeitung von Unternehmenskonzepten Prototypen entwickeln und Lösungen implementieren

Umsetzen

Geschäftsmodell A

Geschäftsmodell C Geschäftsmodell D

Geschäftsmodell X Geschäftsmodell F

Geschäftsmodell Z

Neue Dienstleistungen

Jury aus Experten, Investoren und

Geschäftsführung

Soziale Dienstleistungs-

NPO (I)

Soziale Dienstleistungs-

NPO (II)

!  Alle entwickelten und verfeinerten Konzepte werden eingereicht.

!  Eine Jury prüft, welche zwei Konzepte den Marktbedürfnissen wie auch der Identität der NPO am besten Rechnung tragen.

!  Diese zwei Konzepte, werden in der Praxis erprobt. Dafür werden Fördergelder zur Verfügung gestellt.

Für Sie interessant könnte auch das Modell sein, das wir gemeinsam mit der Mission Leben entwickelt haben. Das heisst Labor für diakonisches Unternehmertum und setzt auf die Entwicklung von Unternehmertum im sozialen Unter-nehmen. Es geht darum, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf den Weg zu bringen und dabei zu unterstützen, soziale Innovationen zu erarbeiten, so dass bedarfsorientierte, neue Lösungen für soziale Dienstleistungen entstehen, die mit einem Geschäfts modell verbunden sind. Es geht darin nicht nur um die Dienstleistungsidee, sondern um die Kom-bination von Dienstleistung und Geschäftsmodell. Dafür haben wir bestimmte Methoden, die in der Innovationsfor-schung und -förderung verwendet werden, auf den sozialen Dienstleistungsbereich übertragen.

Hier nenne ich besonders das Designthinking, das in Pots-dam am Hasso-Plattner-Institut vertreten wird, ein Konzept zur Entwicklung von Businessmodellen nach Osterwalder und Pigneur. Das war ein einjähriger Prozess, den die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter durchlaufen haben. Am Ende standen Geschäftsmodelle, die von der Geschäftsleitung trai-niert wurden und die nun in die Umsetzung kommen sollen.

Was können Sie tun?

68 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

 

| 5.05.2015

zur Stärkung der Innovationsfähigkeit von etablierten sozialen Dienstleistungsunternehmen: !  Innovationskapital investieren: Freiräume zur Entfaltung des Innovationspotential schaffen. !  Diversität (Interdisziplinarität, Bereichsübergreifendes Denken) und Intersektoralität fördern !  Auswahl und Förderung betriebsinterner Sozial-„Unternehmer“ (Intrapreneurs) !  Soziale Innovationen entstehen in planvollen, flexiblen und ergebnisoffenen Prozessen !  Top Down & Bottom Up Prozesse nutzen !  Es bedarf einer Vielzahl guter Ideen (Quantität, nicht nur Qualität), Mut zum schnellen Testen !  Partnerschaften fördern: Öffnung der Organisation zum Gemeinwesen, zu Hochschulen. !  Tripartite (Dreiseitigkeit): Beschäftigte, Nutzer und Forschung in Entwicklung einbeziehen !  Es gibt nicht eine beste Strategie der Innovationsförderung für diakonische Unternehmen, in

der Vielfalt liegt ihre Stärke. Was können die Verbände unternehmen? !  Ermutigung der Diakonie eine Austauschplattform für ihre Mitglieder zu schaffen, um

sich über gute Idee und Überwindungsoptionen für neue Dienstleistungs-Modelle auszutauschen.

Einige Handlungsempfehlungen…

Die Sozialunternehmen können im Wesentlichen Risikokapital akkumulieren und Innovationskapital investieren. Das wich-tigste für Innovation ist, dass es Freiräume gibt und ein biss-chen Kapital, um neue Lösungen zu entwickeln. Wenn man so etwas tut, dann gibt es eine Reihe von Hinweisen aus der Innovationsforschung, wie das zu machen ist, die Betonung liegt auf Diversität, Interdisziplinarität, bereichsübergreifen-dem Denken. Und eben auch: Partnerschaften fördern – und dieser Punkt ist gerade im Bereich der europäischen Diakonie einer, der uns sehr wichtig ist, nämlich der Begriff der drei-fachen Partnerschaft oder der Dreiseitigkeit (tripartite). Das heißt, in der Entwicklung von sozialen Organisationen die Perspektiven der Sozialunternehmen, der Nutzer, aber auch der Forschung zu berücksichtigen.

Was können die Verbände tun?

Sind die Verbände bereits existierende Netzwerke und Aus-tauschplattformen? Diese Netzwerke und Austauschplattformen könnten in Bezug auf soziale Innovation stärker dafür verwendet werden, dass sich die Mitglieder im Rahmen dieser Netzwerke über gute Ideen, über neue Geschäftsmodelle, neue Dienstleistungen, neue Lösungen, aber auch über Überwindungsoptionen der bisherigen Barrieren unterhalten. Wie kann das aussehen? Welcher Verband kann sich vorstellen, so etwas als Arbeits-auftrag, als eine sinnvolle und notwendige Aufgabe zu ver-stehen und hier vorangehen?

Ich danke Ihnen, dass Sie mir etwas mehr Zeit gewährt haben und freue mich auf die weitere Diskussion.

Zum Referenten:Professor Dr. Andreas Schröer leitet – zusammen mit Professor Dr. Michael Vilain – seit 2012 das Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt. Zuvor war er Assistant Professor of Public Administration an der Hatfield School of Government, Portland State University. Seine Forschungsschwerpunkte sind Themen der Führung (Leadership), Personalmanagement und Organisationsentwicklung im Nonprofit-Sektor, Evaluation und Wirkungsmessung.

Zukunftsforum IV Dokumentation Strategieprozess 69

Workshop Trend Impuls Punkte

Demografie und Armut

Soziale Ungleichheit nimmt zu – unsere sozialen Systeme tragen dazu bei (Schere)

– Werte und Würde– Sozialraumorientierung als Handlungsprinzip wird

in alle bundespolitischen Vorhaben und Gesetze transportiert

– Förderung des gesellschaftlichen Bewusstseins für inklusives Zusammenleben im weiteren Sinn

20

Fachkräftemangel und Arbeitsrecht

Die politische und gesellschaftliche Akzeptanz des 3. Weges sinkt sehr dramatisch

– breite Information über Stand der Dinge und Ent-wicklungsmöglichkeiten des kirchlich-diakoni-schen Arbeitsrechts – verständlich – erstellen. Intern – extern

– Steuerung eines innerverbandlichen Meinungs-bildungsprozesses für einen gemeinsam getrage-nen Weg

– an Dialog mit Gewerkschaften / Sozialtarif arbei-ten mit anderen Verbänden

17

Kirche und Diakonie Bedeutungsverlust kirchlich gepräg-ten Glaubens und der Kirche Diversität Diskurs über Menschenbild Selbstmarginalisierung

Diakonisierung der Kirche Zentrale Motivation für Diakonie: Dienst am Men-schen öffentliche Diakonie – erkennbar sein Entwicklung von Diversitätskonzepten Plausibiliserung des christlichen Menschenbildes

16

Entwicklungsanfor-derungen für die Trä-ger

Entsolidarisierung zwischen Kirche und Diakonie unter dem Druck des Ökonomischen

Systematischer Aufbau des diakonischen Profils der Kirchen: Diakonische Unternehmen sind Kirche!

14

Fachkräftemangel und Arbeitsrecht

Konkurrenz um Nachwuchs und Fachkräfte steigt bei höherer Diversität (kultu-rell/religiös) in der Gesellschaft

– mehr „soziale Berufe kann nicht jeder“– zusätzlich auf betrieblicher Ebene

verankern/vernetzen, z. B. Schulen– Kanon attraktiver Arbeitsbedingungen, wert-

bezogen, Gesundheitsförderung– Öffnung Loyalitätsrichtlinie bei höherer evan-

gelischer Profilierung– Fachkräftequote?

12

Flüchtlinge dauerhafter Zustand (nicht vorüber-gehend) Entwicklung einer Kultur des Umgangs und einer Haltung

– politische Lobbyarbeit auf Bundesebene - Kirche und Diakonie „Hand in Hand“– Unterstützung der Flüchtlinge durch ehrenamt-

liches Engagement– Begleitung der Ehrenamtlichen– Zusammenarbeit mit kommunaler Ebene– Handreichung/Positionspapier

9

Finanzierung/ Konkurrenz

Vermarktwirtschaftlichung Kompetenzsteigerung in Bezug auf diesen Trend Entwicklung einer eigenen (diakonischen) Position in Bezug auf Steuerung und Regulierung von sozi-alen Märkten

8

Auswertung Frankfurt/Main

70 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum IV

Workshop Trend Impuls Punkte

Finanzierung/ Konkurrenz

Beteiligungserwartung der gesell-schaftlichen Akteure und Individuen Anforderung des Marktes an die Diakonie nimmt zu. Verhältnis Sozi-alstaat, Zivilgesellschaft/ Kirche, Markt

Verstärkung partizipativer Verfahren Mut zur Restrukturierung Kultur- und funktionsbezogenes Management Präventive Beratung Kluger Einsatz von Geld/Ressourcen

5

Finanzierung/ Konkurrenz

Bewusstsein für die Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge steigt

öffentliche Lobbyarbeit innovative Angebote entwickeln

3

Digitalisierung Zunehmende Digitalisierung Doku Kommunikation Assistensysteme

Sicherstellung des Datenschutzes Positionierung zum kirchlich/diakonischen Daten-schutz vs. Innovation und wachsende Digitalisie-rung

2

Individualisie-rung / Diversität

Grundsatz: Diversität in der Gesell-schaft ist unumkehrbar Vielfalt als Chance vs. zwanghafte Abgrenzung

Richtungsvorgaben/Orientierung von Führungs-ebene zu: 1. Was ist unser diakonisches Profil? Was macht

uns aus?2. Verständigung über Grundwerte und Menschen-

bild (Diakonie für andere und mit anderen) bessere öffentliche Wahrnehmbarkeit Folge für kirchliches Arbeitsrecht

1

Digitalisierung Inklusion (Selbstbestimmung) erfor-dert digitale Assistenzsysteme

Kooperation mit Wirtschaft für innovative Entwick-lung erforderlich

1

Entwicklungsanfor-derungen an die Träger

Verbundbildung und Konzentration der Träger bei gleichzeitiger regio-naler Dezentralisierung

Trennung und Unterscheidung zwischen verbandli-cher und unternehmerischer Arbeit Ermöglichung diakonischer Arbeit durch strategi-sche Abstimmung zwischen Verband und Träger

0

Digitalisierung Fachkräftemangel führt zu stärkerer Automatisierung und Standardisie-rung der Dienstleistungen

Auseinandersetzung: technische Möglichkeiten vs. diakonische Ethik Wie weit darf es gehen?

0

Anm. der Red.: Die hier abgedruckten Formulierungen sind im exakten Wortlaut von den handschriftlichen Notizen der Teilnehmenden übernom-

men.

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/zukunftsforum-iv-frankfurt.html

Zukunftsforum V Dokumentation Strategieprozess 71

Ergebnisse

Zukunftsforum V

am 14. Juli 2015 in Nürnberg

Im Rahmen des Zukunftsforums V wurden die Ergebnisse der ersten vier Foren sowie der in Form von Interviews durchge-führten Umfeldanalyse vorgestellt und diskutiert.

1. Zusammenfassung der Diskussion, der Trends und Impulse für die Strategieplanung

Trends können in vier Gruppen zusammengefasst werden � Wo ist die Diakonie Akteur? � Wo ist die Diakonie Anwalt? � Wo kann die Diakonie Trends beeinflussen?

� Wo sind andere gefragt, Trends zu beeinflussen?

Die Trends benennen Risiken und keine Chancen � Nicht gegen Trends arbeiten, sondern die positiven

Trends entdecken, auf die man setzen kann � Diakonie soll sich nicht als Kritikerin, sondern als Gestal-

terin verstehen � Positive Trends identifizieren: Bildungsniveau steigt,

Beschäftigungsgrad steigt � Soziale Dienstleistungen werden von der Mitte der Gesell-

schaft in Anspruch genommen � Wenn soziale Risiken steigen, nimmt auch die Bedeutung

des Sozialen zu � Mit dem wachsenden Bedarf an Orientierung steigt die

Bedeutung christlicher Werte

Michael Bammessel, Präsident des Diakonischen Werkes Bayern. Foto: Dr. Christian Oelschlägel/Diakonie Deutschland

Claus Philippi, Geschäftsführer und Partner in der B’VM GmbH Deutschland. Foto: Dr. Christian Oelschlägel/Diakonie Deutschland

72 Dokumentation Strategieprozess Zukunftsforum V

Den Markt wahrnehmen, nicht nur unter Finanzierungs-aspekten

� Unternehmer fragen nicht, wo Geld herkommt, sondern wo Geld investiert werden kann

� Das eigene Wachstum der Diakonie wurde nicht reflektiert � Hat die Diakonie genügend Innovationskraft oder muss die

Zusammenarbeit mit anderen Akteuren verstärkt werden? � Die Impulse haben einen starken Tunnelblick

Unter den Trends fehlt die Renaissance des Lokalen, die Gemeinwesendiakonie

� Das Lokale zieht sich durch alle Themenbereiche � Diakonisches Engagement wird vor allem lokal wahrge-

nommen � Wachsende Bedeutung der Gemeinwesendiakonie

Im Anschluss an die Diskussion im Plenum wurden drei zent-rale Trends in Arbeitsgruppen intensiv diskutiert und daraus resultierende Impulse und Aufgaben erarbeitet.

2. Ergebnisse der Arbeitsgruppen

Trend 1„Die Stellung von Kirche und Diakonie in einer zunehmend multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft verändert sich.“

� Säkularisierung als Chance, eine „dienende Diakonie“ zu werden (Salz / nicht Salzfass)

� Entwicklung einer prägenden Haltung als „dienende Dia-konie“, die attraktive Angebote für eine Gesellschaft bie-tet, in der die Bedeutung des Sozialen wächst

Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik Diakonie Deutschland, moderiert in Nürnberg … Foto: Dr. Christian Oelschlägel/Diakonie Deutschland

Zukunftsforum V Dokumentation Strategieprozess 73

� Gemeinsamkeiten der beiden christlichen Wohlfahrtsver-bände herausarbeiten und in die gesellschaftliche Debatte einbringen

� Kooperationen mit neuen Akteuren ausloten (christliche Identität offensiv einbringen) Sprachfähig werden in Bezug auf religiös diversifizierte Mitarbeiterschaft

� Formate entwickeln: für die Vermittlung christlicher Werte im diakonischen All-tag – begleitend für Veränderung der Loyalitätsrichtlinie

� Kirche/Kirchengemeinden als diakonische Bildungsorte entwickeln/in Anspruch nehmen „Lerngemeinschaft“ Diakonie – Kirche entwickeln Begegnungsräume schaffen für die Entwicklung gemein-samer Verantwortung

� Säkularisierte Kontexte als Chance verstehen für „neues

Verständnis des Evangeliums“ / neue Interpretation � Die Stärke der Diakonie ist es, es anders zu machen ➝ Herausstellen „demütige“ Anwaltschaft

� Beitrag der Diakonie zum Erstreiten des „Wir“ in einer Einwanderungsgesellschaft

Trend 2„Bei wachsendem Bedarf an Orientierung in einer medial geprägten Gesellschaft steigen die Anforderungen an die Wahrnehmbarkeit der Diakonie.“

� Glaubwürdigkeit ist entscheidend! � Diakonie ist Unternehmen mit Dienstleistungen und Ver-

antwortung für Gemeinwohl vor Ort � Spannungsverhältnisse nicht leugnen ➝ mit Werten „lösen“

� Nur „drauf“schreiben, was auch „drin“ ist � Medien/Technik/Digitalisierung � Prozess- und Rollenklärung über alle Ebenen hinweg

(Kirche und Diakonie) � Designkonzept zu Medien und Instrumenten (innen und

nach außen, mit Beteiligungsformen, schnell reagierend, mit Raum für Diskurs)

Trend 4„Soziale Risiken nehmen zu.“

� Diakonischer Einfluss auf prägende Orte (Arbeits-, Lebenswelt)

� Polarisierung der Gesellschaft! soziale Polarisierung

� Diakonische Positionierung zu: — Steuerpolitik und Steuergerechtigkeit — Kirche als diakonische Kirche, zum Beispiel im EU-Büro / Brüssel ➝ (Ausschreibungspraxis)

� Konsequentes Eintreten für eine gerechte Gesellschaft � Kontakte, Bündnisse, Vernetzung mit Wirtschaft/Arbeit-

gebern/IHK/Gewerkschaften � Innovationsimpulse ➝ Angebote an Unternehmen /

Diakonie in Betrieben � Beteiligung der Diakonie an Kirche (EKD) konsequent ein-

fordern / Kirche und Diakonie gemeinsam gestalten � Politisch schlagkräftig durch Verbandsprozesse (Mei-

nungsbildung) � Storytelling! � Bundesverbandsthemen lokal „spielen“ (lieber weniger

Themen, länger, zum Beispiel Flüchtlinge) � Semantik erweitern ➝ Rahmenbedingungen � SGB’s ➝ aktiv mitgestalten, zum Beispiel Infrastrukturen,

gute SozialrechtlerInnen

… ebenso wie Dr. Jörg Kruttschnitt, Vorstand Recht, Sozialökonomie und Personal der Diakonie Deutschland. Foto: Dr. Christian Oelschlä-gel/ Diakonie Deutschland

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/zukunftsforum-v-nuernberg.html

Hat alle Foren geprägt – auch hier in Nürnberg: die konzentrierte Arbeitsgruppe. Foto: Dr. Christian Oelschlägel/Diakonie Deutschland

74 Dokumentation Strategieprozess Interviews zur Umfeldanalyse

Interviews zur Umfeldanalyse

Personen

Die interviewten Personen

� Gabriele Lösekrug-Möller, MdB, BMAS, Parlamentarische Staatssekretärin

� Kerstin Griese, MdB, Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales

� Rainer Höll, Ashoka Deutschland, Geschäftsführer

� Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Der Paritätische, Vorsitzender des Gesamtverbandes

� Dr. Johannes von Schmettow, Berater der Personalberatung Egon Zehnder und Mitglied des globalen Executive Committee (2009 – 2015)

� Wolfgang Stadler, AWO, Vorsitzender des Vorstands des Bundesverbands

� Dr. Matthias Kamann, Die Welt, Journalist

� Armin von Buttlar, Aktion Mensch, Vorstand

� Dr. Michael Philippi, SANA Kliniken AG, Vorsitzender des Vorstands

� Dr. Harald Schmitz, Bank für Sozialwirtschaft, Vorsitzender des Vorstands

� Dr. Sigrid Arnade, Vorsitzende des Vereins für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter

� Barbara Bauer, Evangelische Landeskirche in Baden, Oberkirchenrätin

� Sylvia Bühler, Verdi, Leitung Bundesfachbereich Gesundheit & Soziales

� Peter Clever, BDA, Mitglied der Hauptgeschäftsführung

� Johannes Fuchs, Landrat Rems-Murr-Kreis

� Karl-Josef Laumann, BMG, Staatssekretär

� Andreas Kirner, BMFSFJ, Regierungsdirektor

� Verena Göppert, Beigeordnete des Deutschen Städtetags, Dezernat Arbeit, Jugend, Gleichstellung und Soziales

� Dr. Dr. h.c. Markus Dröge, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz

Interviews zur Umfeldanalyse Dokumentation Strategieprozess 75

Welche sind aus Ihrer Sicht die wich­tigsten Trends für die Diakonie und ihre Mitglieder in den nächsten Jahren?

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Diakonie Deutschland als Organisation in den nächsten Jahren?

Gesellschaft: � Es gibt immer weniger tragfähige familiäre

Netzwerke für die Unterstützung in schwie-rigen Lebenslagen (z. B. Alter), gleichzeitig steigt der Anspruch der Einzelnen auf Indi-vidualität.

� Die Lebensgewohnheiten der (jungen) Men-schen ändern sich dramatisch. Zunahme der Singlehaushalte und neuer familiärer Lebensmuster, weitere Individualisierung.

� Der Selbstbestimmungswunsch der Men-schen und aller unterdrückten Gruppen, sowie deren Möglichkeiten, dies zu äußern und sich zu emanzipieren, nehmen zu.

� Die Entwicklung des Sozialen und des Sozialraums.

� Perspektivisch neue stabile sozialräumliche Netzwerke konzipieren und mit anderen aufbauen, die eine unterstützende Funktion in Notlagen verlässlich übernehmen können.

� Den Schatz an Ehrenamtlichkeit und Vernetzung mit den Kirchenge-meinden nutzen.

� Als Diakonie einen wichtigen Stellenwert im Netzwerk der Zivilgesell-schaft vor Ort haben.

� Die Potentiale älterer Menschen im Ruhestand nutzen und aktiv Perso-nalgewinnung für Ehrenamtliche betreiben.

� Ein neues Dienstleistungsverständnis und neue Angebote entwickeln, die die Menschen mit ihren Ansprüchen noch erreichen.

� Das Leistungsangebot von der einrichtungsbezogenen Systematik zur personenbezogenen Förderung umbauen.

� Neue niedrigschwellige Angebote, auch mit Hilfe von Ehrenamtlichen, initiieren und soziale Netzwerke pflegen.

� Weniger Energie in Besitzstandswahrung setzen, sondern den Einsatz für Selbstbestimmung und Menschenrechte vorantreiben und auf allen Ebenen umsetzen.

� Die Notwendigkeit von sozialen Innovatio-nen und neuen Lösungen für zivilgesell-schaftliche Probleme wird immer dringlicher und ist genau so bedeutsam wie technische Innovationen.

� Die strukturierte Förderung von Innovationen im Verband und bei den Trägern.

� Aufbau von strukturierten Austauschforen zum zivilgesellschaft lichen Engagement.

� Innovative Projekte suchen, finden und fördern.

� Ehrenamtliches Engagement fördern und die Öffnung der Gesellschaft begleiten.

� Förderung von kleinen kreativen Initiativen „von unten“, die Bewegung in das System bringen.

� Die Förderung von Innovation und innovativen Mitarbeitenden in den Einrichtungen, Freiräume geben, Entrepreneurschip fördern.

Interviews zur Umfeldanalyse

Ergebnisse

Ergebnisse der Interviews zur Umfeldanalyse mit 19 externen Austauschpartnerinnen und Partnern der Diakonie Deutschland aus Politik, Verbänden, Organisationen, Behörden, Ministerien und der Kirche im März / April 2015

76 Dokumentation Strategieprozess Interviews zur Umfeldanalyse

Welche sind aus Ihrer Sicht die wich­tigsten Trends für die Diakonie und ihre Mitglieder in den nächsten Jahren?

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Diakonie Deutschland als Organisation in den nächsten Jahren?

Globalisierung � Die Eine-Welt Perspektive wird immer

wichtiger.

� Probleme von sehr weit weg werden auch unsere Probleme.

� Die Diakonie muss diese Klammer auch in schwierigen Zeiten halten.

� Reale Einflussmöglichkeiten zur werteorientierten Gestaltung des Sozialstaats suchen und diese auch wahrnehmen. (z. B. vernünftige Anwerbepolitik von Fachkräften nur aus Ländern mit hohem Geburten-überschuss.)

� Die Diakonie muss wehrhaft die eigenen Werte verteidigen – keine Toleranz gegenüber Intoleranz.

� Einsatz auch der Diakonie für Schutz und Schonung der natürlichen Ressourcen.

Demografische Entwicklung: � Zunehmender Fachkräftemangel

� Es wird immer weniger Fachkräfte und kirchlich geprägte Mitarbeitende geben.

� Die Attraktivität sozialer Berufe ist gefährdet.

� Deutschland wird mehr und mehr ein Einwanderungsland.

� Die Diakonie muss sich allen Menschen öffnen und dabei die eigenen Werte auch mit kirchlich nicht gebundenen Mitarbeitenden pflegen und verteidigen. Die Leitung muss evangelisch sein, die Mitarbeitenden müssen es nicht sein.

� Mehr Fachlichkeit, weniger Ideologie.

� Sich in die Gesellschaft öffnen, Diversity umsetzen.

� Die Integration von Muslimen und Menschen mit Migrationshintergrund als Mitarbeitende in den Einrichtungen.

� Mitarbeitende in der Diakonie sollten christlich erkennbar sein.

� Die Diakonie muss ein attraktiverer Arbeitgeber in Konkurrenz zu allen anderen sein: Zufriedenheit ermöglichen, Image fördern, moderne Medien und Technik einsetzen, Personalentwicklung ausbauen, gute Vergütung sichern.

� Probleme in der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum. Die Nachfrage geht zurück, die vorgehaltenen Angebote der unterschied-lichsten Träger sind nicht mehr ausgelastet.

� Junge Menschen ziehen den Arbeitsplätzen hinterher, alte Menschen den Betreuungs-angeboten.

� Eine integrative regionalbezogene Abstimmung der Angebote der unterschiedlichen Träger (Hauptsache ein Angebot existiert, egal, wer es anbietet).

� Kostenbegrenzung und enge Kooperation und Abstimmung der Ver-bände bei ihren Angeboten vor Ort.

� Im ländlichen Raum mit den eigenen diakonischen Angeboten noch präsent bleiben.

� Alterung der Gesellschaft

� Zunehmende Pflegebedürftigkeit, bei zunehmender Mittelknappheit

� Ermöglichung von selbstbestimmtem Leben im Alter ohne Entmündi-gungserfahrungen im Heim. Diakonie muss helfen, dass jeder mög-lichst lange zu Hause leben kann.

� Szenarien und Studien erstellen, wie alte Menschen in Würde alt wer-den können, mit geringerer Rente und geringer werdenden Sozialleis-tungen des Staates. Dabei von den zukünftigen Alten und deren Ansprüchen her denken. Studienergebnisse dazu mit eigener Glaubwürdigkeit in die Öffentlich-keit bringen, die Gesellschaft über diese Modelle informieren und in Bewegung setzen.

� Die eigenen Leistungen im Netzwerk mit den Gemeinden und in lokaler Verankerung unmittelbarer Nachbarschaft stärken und weiter entwickeln.

� Auch staatlich nicht finanzierte Angebote machen, neue Finanzierungs-modelle entwickeln, Ehrenamtliche einbinden, neue Lösungen suchen.

� Die sinkende Finanzkraft auch der Kirchen berücksichtigen.

� Neue vernetzte ambulante Angebote entwickeln, finanzieren und aus einer Hand umsetzen.

� Die zunehmende Pflegebedürftigkeit von alten Menschen mit Migrati-onshintergrund aufnehmen und dafür Angebote entwickeln.

� Diakonie und Kirche müssen sich an der ethischen Debatte zur Finan-zierung von medizinischen Leistungen im Alter beteiligen und Kriterien dafür entwickeln.

Interviews zur Umfeldanalyse Dokumentation Strategieprozess 77

Welche sind aus Ihrer Sicht die wich­tigsten Trends für die Diakonie und ihre Mitglieder in den nächsten Jahren?

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Diakonie Deutschland als Organisation in den nächsten Jahren?

Trägermarkt: � Die Finanzierung des Sozialstaates nimmt

ab, Verantwortung wird immer privater.

� Zunehmender Wettbewerb der Unternehmen.

� Zusammenschlüsse der Träger zu großen diakonischen Konzernen, um in Zukunft noch konkurrenzfähig zu sein.

� Die notwendige Professionalisierung der Managementstrukturen sowohl im Hauptamt als auch im Ehrenamt.

� Die Professionalisierung der ehrenamtlichen Funktionsträger in den Organen und die Etablierung des diakonischen Corporate Governance Codex.

� Aufbau einer wirkungsorientierten Steuerung und dann den Wett-bewerb über die Wirkung führen, nicht über den niedrigsten Preis.

� Das Konkurrenzdenken und die Eitelkeiten zwischen den diakonischen Trägern abbauen.

� Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer.

� Die Zahl der Asylsuchenden nimmt zu.

� Diakonie muss deutlich artikulieren, was in der Gesellschaft schief läuft und wie viel der Sozialstaat wirklich kostet.

� Der enge Zusammenschluss von politischer Positionierung und konsis-tenter Politik vor Ort.

� Neue Formen der Beteiligung und Einbindung finden: Positionierungen mit Trägern vor Ort erarbeiten und bei den Trägern verwurzeln.

� Ausbau des Betreuungsangebots, neue Hilfsformen entwickeln.

Säkularisierung und eigene Glaub­würdigkeit

� Die Entwicklung der Kirchlichkeit nimmt ab, (nicht aber die Religiosität).

� Der Privatisierungsdruck nimmt zu.

� Diakonie und Caritas gehören zu den größ-ten Playern im Sozialmarkt, aber wie lange bleibt in einer säkularen Gesellschaft die Akzeptanz für so hohe Marktanteile erhal-ten?

� Auf Grund der Notwendigkeit für die Diako-nie, sich im Sozialmarkt behaupten zu müs-sen, nimmt Auseinanderdriften von Kirche und Diakonie zu.

� Als Diakonie selbst einen direkten Zugang zum Menschen suchen und sich im Umfeld der diakonischen Einrichtungen stärker vernetzen.

� Mit eigenem Wertekanon auf hohem Niveau und gleichzeitig weit geöff-net in die Gesellschaft hinein arbeiten.

� Image eines Sozialkonzerns mit Eigeninteresse abbauen, die Christlich-keit der Diakonie herausstellen. Klare Identifikation als Kirche.

� Politische und ethische Fragestellungen aus der christlichen Perspek-tive heraus beantworten.

� Lobbyarbeit für die Betroffenen, nicht für das eigene Werk und die eigenen Träger.

� Die Glaubwürdigkeit im eigenen Handeln bis auf die Trägerebene vor Ort sicherstellen.

� Die Arbeit vor Ort christlich fundieren und leben.

� Im Vergleich mit privaten Wettbewerbern die eigenen Werte deutlich machen.

� Die einzelnen Träger stärker in den Gesamtverband einbinden und das alle verbindende Wertegerüst deutlich machen.

� Das diakonische Selbstverständnis der Kirche und das kirchliche Selbstverständnis der Diakonie deutlich werden lassen.

� Zunehmende Infragestellung des Wohlfahrt-systems (Europa, Neoliberalismus).

� Immer einen Plan B mitdenken, für den Fall, dass das Modell der freien Wohlfahrtspflege keinen Bestand haben sollte.

78 Dokumentation Strategieprozess Zusammen fassung

Zusammen-fassung

Zusammenfassung der Trends und Impulse für die Strategieplanung Stand Juni 2015

Trend 1 – Die Stellung von Kirche und Diakonie in einer zunehmend multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft verändert sich

Trend 2 – Bei wachsendem Bedarf an Orientierung in einer medial geprägten Gesellschaft steigen die Anforde-rungen an die Wahrnehmbarkeit der Diakonie

Trend 3 – Die Finanzierungsbedingungen sozialer Arbeit wer-den schwieriger

Trend 4 – Soziale Risiken nehmen zuTrend 5 – Die Akzeptanz des kirchlichen Arbeitsrechts nimmt

abTrend 6 – Der Fachkräftemangel verschärft sichTrend 7 – Die europäische Entwicklung bestimmt zunehmend

auch die Entwicklung des Sozialen in DeutschlandTrend 8 – Migration nimmt zu

Trend 1 – Die Stellung von Kirche und Diakonie in einer zunehmend multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft verändert sich

D U Bedeutungsverlust kirchlich geprägten Glaubens und der Kirche (Privatisierung des Glaubens, Säkularisierung)

D I Mitgliederrückgang und zunehmender Relevanzverlust in säkularer Gesellschaft (Selbstmarginalisierung der Kir-che)

D Wachsende soziale Herausforderungen und gesellschaft-liche Erwartung an Kompetenz und Leistungsfähigkeit der Diakonie

D U Entsolidarisierung zwischen Kirche und Diakonie unter dem Druck des Ökonomischen

D Gefahr des Auseinanderdriftens von Kirche und DiakonieD Zunahme der Diversität bei weniger kirchlich geprägten

Mitarbeitenden

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 1

D Säkularisierung mit ihren Auswirkungen auf die diakoni-sche Arbeit als Herausforderung ernst nehmen und als Chance begreifen

D U Diakonie als „sozialer Dienst der Kirche“ mit christli-chem Profil „Dienst am Menschen“ herausstellen

D Befähigung, dass Wesens- und Lebensäußerung leben-dig wird und eingehalten bleibt

D U Die diakonischen Träger bei der Lösung des Loyali-tätsdilemmas unterstützen

D Systematischer Aufbau des diakonischen Profils der Kir-che durch Dialog von Kirche und Diakonie und gemein-same Projekte

D Kooperationen von Kirche und Diakonie im Sozialraum fördern

D Entwicklung einer gemeinsamen Kultur in Diskursforen, gemeinsamen sozialethischen Positionierungen und Ent-wicklung einer stärkeren gemeinsamen wirtschaftlichen Steuerungskompetenz

D Bildung, Befähigung und Begleitung der Mitarbeitenden hinsichtlich christlichem Profil / christlichem Menschen-bild

D U Entwicklung von Diversitätskonzepten (Integration von Migrant_innen, Muslim_innen)

Zusammen fassung Dokumentation Strategieprozess 79

Trend 2 – Bei wachsendem Bedarf an Orientierung in einer medial geprägten Gesellschaft steigen die Anforderungen an die Wahrnehmbarkeit der Diakonie

D Werteverbindlichkeit in der Gesellschaft ist gesunken D Bedarf nach Orientierung steigtD Individualisierung, Selbstverantwortung für die Suche

nach SelbstbestimmungD Bedeutungsverlust der Verbände

D Weitere rasante Entwicklung von Kommunikationstechnik, Big Data bekommt neue Bedeutung

D Beschleunigung der Kommunikation: nur sofortige Reak-tion sichert Aufmerksamkeit

D Rentabilitätsdenken zieht ein

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 2

U Diakonische Werte wehrhaft verteidigen / politische und ethische Fragestellungen aus christlicher Perspektive heraus beantworten

D Erkennbarkeit durch öffentliche Diakonie: Themen nach-haltig öffentlich besetzen und selbst glaubwürdig han-deln

D Öffentliche Diakonie sein, Kampagnenfähigkeit aus-bauen, Klienten mit einbeziehen

D WeQ statt IQD Klare Positionierung und Haltung als Orientierung bei

Wissen um die Konflikte bei den einzelnen MenschenD Diskurs zu sozialem Verantwortungsbewusstsein, Mit-

menschlichkeit, Barmherzigkeit, Solidarität statt Stigma-tisierung und Ausgrenzung mit sozialpolitischen Maß-nahmen

D Weniger Besitzstandwahrung – stattdessen Einsatz für Selbstbestimmung und Menschenrechte auf allen Ebe-nen, Lobbyarbeit für Betroffene, nicht für Diakonische Werke oder Träger

D Die Marke „Diakonie“ im Sinne der Vertrauensbildung stärken, Storytelling, Corporate Identity und Corporate Design stärken

D Stärkere Verbindung zwischen gemeindlicher, unterneh-merischer und anwaltschaftlicher Diakonie

D Austauschforen und Formen direkter Ansprache stärken (spirituell, organisatorisch, personell, authentisch, christlich)

D I Mitarbeitende zu Unternehmenssprechenden machen, durch Partizipation und Selbstorganisation „auf der Welle surfen“

D Konsequent vom Nutzenden / Adressaten her kommuni-zieren, über verschiedene Kanäle kommunizieren und soziale Netzwerke nutzen

Trend 3 – Die Finanzierungsbedingungen sozialer Arbeit werden schwieriger

D Vermarktlichung sozialer Leistungen, hoher Preisdruck (Arbeitsbereiche mit Preisverfall)

D U Die Verschärfung des Wettbewerbs(-gedankens) gefährdet öffentliche Finanzierung

D Wettbewerbsdruck durch private und internationale Leis-tungserbringer

U Sinkende Akzeptanz für hohe Marktanteile von Diakonie und Caritas im Sozialmarkt

D U Soziale Arbeit ist aus Steuern und Abgaben in der Zukunft nicht mehr finanzierbar

D I Schuldenbremse und Kommunalisierungstendenzen führen zur Verschlechterung der öffentlichen Refinanzie-rung

D Ungleiche Kassenlage der Kommunen und Länder schafft ungleiche Situationen

D Zunehmende (qualitativ und quantitativ) Bedarfe bei bes-tenfalls unveränderten Finanzierungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand und „Überfluss“ am privaten Kapital-markt

D Verbundbildung und Konzentration der Träger bei gleich-zeitiger regionaler Dezentralisierung

D Trägervielfalt geht verloren

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 3

D Wert der sozialen Arbeit kommunizieren, die Wertigkeit der Arbeit in der Sozialwirtschaft muss auf ein anderes Niveau gebracht werden

80 Dokumentation Strategieprozess Zusammen fassung

D Entwicklung einer eigenen diakonischen Position in Bezug auf Steuerung und Regulierung von sozialen Märkten, Positionierung gegen Ausschreibungen als angemesse-nes Instrument im Sozialwesen

I Erhalt des Länderfinanzausgleichs, Finanzierung der Kommunen sichern, zusätzliche Finanzierungsquellen (alle Einkommensarten)

D Gemeinwohlökonomie fördernU Entwicklung eines neuen Dienstleistungsverständnisse,

neue anspruchsadäquate Angebote U Umbau des Angebots von einrichtungsbezogener Syste-

matik zu personenbezogener FörderungU Initiierung von neuen niederschwelligen Angeboten (auch

mithilfe von Ehrenamtlichen)U Wettbewerb über Wirkung – nicht über PreisD U Kompetenzsteigerung in Bezug auf Finanzierungsfra-

gen, alternative Finanzierung prüfen und entwickeln: Fundraising, Mäzenatentum, Europäische Mittel, Genos-senschaftsmodelle, Privatinvestoren

D Trennung und Unterscheidung zwischen verbandlicher und unternehmerischer Arbeit

D Ermöglichung diakonischer Arbeit durch strategische Abstimmung zwischen Verband und Träger

D Vielfalt diakonischer Initiativen durch zukunftsfähige Strukturen erhalten

U Konkurrenzdenken und Eitelkeiten zwischen Trägern abbauen

U Professionalisierung der Managementstrukturen (in Haupt- und Ehrenamt) und diakonischer Corporate Governance Codex

U Zusammenschlüsse der Träger zu Diakonie-Konzernen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit

U Enge Kooperation und Abstimmung der Angebote der Träger (auf die Region bezogen)

U I Förderung von kreativen Initiativen, Innovation, innova-tiven Mitarbeitenden (Freiräume für Entrepreneurship)

U Abbau struktureller Probleme innerhalb der Träger (Ver-hinderungshierarchien)

D Verstärkung partizipativer Verfahren, Mut zur Restruktu-rierung, kultur- und funktionsbezogenes Management, präventive Beratung

Trend 4 – Soziale Risiken nehmen zu

D U I Zunehmende sozial ungleiche Lebensverhältnisse, Stadt-Land-Gefälle

D I Steigende Armut, Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen, Altersarmut

D U Zunehmende Pflegebedürftigkeit bei zunehmender Mittelknappheit

D Digitalisierung führt zu Beschleunigung, Verdichtung und Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, aber auch Innovati-onspotential

D I Entsolidarisierung in der Gesellschaft, durch ver-steckte Diffamierung, Diskriminierung, Stigmatisierung

U I immer weniger tragfähige familiäre Netzwerke als Unterstützung in schwierigen Lebenslagen

U Zunehmender Selbstbestimmungswunsch und Emanzi-pationsmöglichkeit

I Ausstieg vieler Personen aus Beteiligung an gesellschaft-licher Diskussion und Gestaltung

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 4

D I Förderung des gesellschaftlichen Bewusstseins für inklusives Zusammenleben gegen Entsolidarisierung

D U I Innovationen fördern: soziale und technische, neue Versorgungsformen, selbstbestimmte Lebensformen, „mobile“ diakonische Dienstleistungen entwickeln, kirch-liche Orte nutzen und Kompetenzprofile für diese Dienste entwickeln

D Sozialraumorientierung als durchgehendes Handlungs-prinzip, besonders auch in Bezug zu den örtlichen Kir-chengemeinden

U Präsenz im ländlichen Raum halten

I Einsatz für einen inklusiven Sozialstaat, für Bedarfsge-rechtigkeit statt Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsge-rechtigkeit statt Teilhabegerechtigkeit

D Daseinsfürsorge aus dem Preiswettbewerb herausneh-men und Beratung als finanzielle Pflichtleistung sichern

Zusammen fassung Dokumentation Strategieprozess 81

Trend 5 – Die Akzeptanz des kirchliches Arbeitsrechts nimmt ab

D U I Politische und gesellschaftliche Akzeptanz des 3. Wegs sinkt dramatisch

D Selbstaushöhlung des 3. Wegs durch Nichtanwender D Angriffe der Gewerkschaften

D Zunehmende Differenzierung der Wettbewerbsbedingun-gen nach Branchen und Regionen erfordern flexibleres kirchliches Arbeitsrecht

D Tarifentwicklung in der Diakonie schränkt die Wettbe-werbsfähigkeit ein

D Verbesserung der Bezahlung bei anderen Anbietern

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 5

D U I 3. Weg auf Zukunftsfähigkeit prüfen (3. Weg aufge-ben?): Hängt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht am 3. Weg?

D Öffnung der Loyalitätsrichtlinie bei höherer evangelischer Profilierung

D Innerhalb der Diakonie: Tarifbindung stärken, Flexibilisie-rung nach Branchen, Regionen. Osten braucht andere Bedingungen und betriebliche Erfordernisse

D Diakonie als attraktive Arbeitgeberin positionieren (Zufrie-denheit die Mitarbeitenden, Image, Personalentwicklung, gute Vergütung)

D Verständliche Information über Status quo und Entwick-lung des kirchlich-diakonischen Arbeitsrechts

D Steuerung eines innerverbandlichen Meinungsbildungs-prozesses für einen gemeinsam getragenen Weg im Dialog mit den Unternehmen

D Allgemeinverbindliche Tarifverträge oder Flexibilisierung wettbewerbsfähiger AVR

D Dialog mit Gewerkschaften und anderen Verbänden, an Sozialtarif arbeiten

D Für einen Flächentarif, der die Wettbewerbsfähigkeit der Träger stärkt

Trend 6 – Der Fachkräftemangel verschärft sich

D U Wachsende Konkurrenz um Nachwuchs und Fach-kräfte

D Fachkräftemangel und Wettbewerb um Azubis und Mitar-beitende in allen sozialen Bereichen bei regionaler, fach-bezogener Differenzierung

D Attraktivität sozialer Berufe ist gefährdetD Zunehmende Diversität in der Gesellschaft verschärft

den Fachkräftemangel in der DiakonieD Zunehmende Diversität der Mitarbeiterschaft

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 6

D Wertschätzung für alle Gruppen von Mitarbeitenden praktizieren und kommunizieren

D gute Aus- und Weiterbildungsstrukturen: für eine attrak-tive Pflegeausbildung (integrierte Ausbildung und Akade-misierung)

D Strategie für vielfältige Berufsbiographien und Employa-bility

D FSJ und Freiwilligendienste als Chance für die Nach-wuchsgewinnung nutzen

D Mehr „soziale Berufe kann nicht jeder“, zusätzlich auf betrieblicher Ebene verankern und vernetzen, zum Bei-spiel in Schulen

D Berufsbilder und Marke Diakonie selbstbewusster und „lauter“ kommunizieren

D Kanon attraktiver Arbeitsbedingungen umsetzen (wert-bezogen, Gesundheitsförderung, Attraktivität: Entwick-lungsperspektiven, Entlohnung, Arbeitszeit, attraktive Tarifgestaltung)

D Diakonische Arbeit braucht zukünftig immer mehr aus-ländische Fachkräfte, Aufbau von Willkommens- und Anlaufstrukturen für ausländische Fachkräfte in den Regionen

D Europäische Netzwerke für Führungskräfte-Ausbildung und -austausch

D Potentiale älterer Menschen im Ruhestand nutzen, aktive Personalgewinnung für Ehrenamt

82 Dokumentation Strategieprozess Zusammen fassung

Trend 7 – Die europäische Entwicklung bestimmt zunehmend auch die Entwicklung des Sozialen in Deutschland

I Gefahr der Spaltung Europas in arme und reiche Länder, Scheitern des Euro kann in humanitäre Katastrophe füh-ren, politische Radikalisierung

D Es besteht die Gefahr, dass die europäische „Sozialpoli-tik“ (Social Business Initiative) solidarische Sozialsys-teme verdrängt (z. B. in D) beziehungsweise verhindert (z. B. in Osteuropa)

D U Politische – medial unterstützte – Diskreditierung des Wohlfahrtssystems und der Freien Wohlfahrtspflege

D Die Verschärfung des Wettbewerbs(-gedankens) führt zu einer Gefährdung der öffentlichen Finanzierung

D Zunehmende Vergabepraxis bei sozialen Dienstleistungen

U Eine-Welt-Perspektive wird wichtiger, Europa kann sich immer weniger den globalen Herausforderungen entziehen

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 7

D Einsatz für Sicherung der europäischen Integration durch Forderung von koordinierten Vermögensabgaben, für Finanztransaktionssteuer und Besteuerung von Umwelt-belastung eintreten

D Das deutsche Sozialsystem in Europa auf europäische Politikebene erläutern und bewerben, Eurodiaconia stärken.

D Chancen und Risiken der Social Business Initiatives prüfenU Plan B mitdenken für den Fall, dass freie Wohlfahrtspflege

keinen Bestand hat

Trend 8 – Migration nimmt zu

U Dauerhafte Zunahme von Migration, Flucht und Einwan-derung (damit Diversität an Sprachen, Qualifikationen, kulturellen Prägungen, religiösen Prägungen, Traumata)

D Deutschland wird EinwanderungslandD Wachsendes gesellschaftliches Potential an Spannun-

gen, Schuldzuweisungen, Ausgrenzung

Impulse für die Strategieplanung aus Trend 8

D Entwicklung einer Kultur des Umgangs und einer Haltung D politische Lobbyarbeit auf BundesebeneD Kirche und Diakonie Hand in HandD I Unterstützung der Flüchtlinge durch ehrenamtliches

Engagement und Begleitung der EhrenamtlichenD Zusammenarbeit mit kommunaler Ebene

D Arbeitsfeld Migration stärken und ausbauenD Entwicklung vom Integrationskonzepten (Sprache,

Bildung, Arbeit, Wohnen)D Ausbildung von interkultureller und interreligiöser Kom-

petenz und Weiterentwicklung der eigenen Strukturen (z. B. Loyalitätsrichtlinie)

D Sich als Arbeitgeber anbieten, ACK-Klausel überprüfen, interkulturelle Öffnung der vorhandenen Angebote inten-sivieren

D Angebotsentwicklung für zunehmende Pflegebedürftig-keit von Migrant_innen

Zusammen fassung Dokumentation Strategieprozess 83

Legende

Die in Klammern gesetzten Zahlen hinter den Trends und Impulsen geben die kumulierten Priorisierungen der Trendga-lerien aller Zukunftsforen wider und haben nach Einfügung der Ergebnisse der Umfeldanalyse und Aussagen der Impuls-vorträge nur noch bedingte Aussagekraft.

D Ergebnisse des Trendscouting der vier Zukunftsforen der Diakonie Deutschland 2015

I Impulsvorträge der Referenten der vier Zukunftsforen der Diakonie Deutschland 2015

U Ergebnisse der Interviews zur Umfeldanalyse mit 19 externen Austauschpartnerinnen und -partnern der Diakonie Deutschland aus Politik, Verbänden, Organi-sationen, Behörden, Ministerien und der Kirche im März/April 2015

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/zukunftsforum-v-nuernberg.html

84 Dokumentation Strategieprozess Unsere Ziele

Mittelfristige Ziele der Diakonie Deutschland Handlungsleitende Ziele 2016 – 2020

Marketingmanagement:

Trend 1: Die Stellung von Kirche und Diakonie in einer zunehmend multireligiösen und säkularisierten Gesellschaft verändert sich

Ziel 1Die Diakonie Deutschland ist als Werk der Evangelischen Kirchen mit ihrem besonderen Profil und ihren relevanten und lösungsorientierten Beiträgen in der Gesellschaft deutlich erkennbar und wirksam.Evangelische Kirche in Deutschland und Diakonie Deutschland agieren in der sozialpolitischen Auseinandersetzung und in der Positionierung bei sozialethischen Fragen abgestimmt und profiliert.Die Diakonie Deutschland stärkt und initiiert neue Bündnisse und strategische Partnerschaften mit gesellschaftlich rele-vanten Akteuren.

Trend 2: Bei wachsendem Bedarf an Orientierung in einer medial geprägten Gesellschaft steigen die Anforderungen an die Wahrnehmbarkeit der Diakonie

Ziel 2Diakonie ist eine starke Dachmarke, die für Nächstenliebe, Spiritualität und Solidarität steht. Sie prägt gesellschaftliche Diskurse – werteorientiert, fachlich innovativ und mit span-nenden Formaten.Die Diakonie Deutschland meldet sich mit kompakten Informa-tionen und Positionen in zeitgemäßen und wirksamen Formen der Kommunikation nach außen und innen zu Wort. Dazu nutzt sie die Bandbreite medialer Kommunikationsmittel ziel-gruppenorientiert und unter Einbeziehung ihrer Mitglieder.

Trend 3: Die Finanzierungsbedingungen sozialer Arbeit werden schwieriger

Ziel 3Die Diakonie Deutschland macht sich stark für auskömmliche Rahmenbedingungen ihrer Träger und Einrichtungen.Bei der Begleitung von Gesetzgebungsverfahren sowie im gesellschaftlichen Diskurs setzt sie sich wirksam und nach-haltig für Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen, für die Qualität und den Wert der sozialen Arbeit sowie für gerechte Lastenverteilung ein.

Ziel 4Die Diakonie Deutschland besitzt Kompetenzen, um Förde-rungsmöglichkeiten für Träger und Einrichtungen zu erschließen und neue Finanzquellen zu akquirieren.Sie ist für die Träger eine attraktive und nützliche, bereichs- und länderübergreifende Plattform für den Austausch zu Finanzierungsmodellen und zu Organisationsentwicklungs- und Compliancefragen.

Trend 4: Soziale Risiken nehmen zu

Ziel 5Die Diakonie Deutschland tritt vernehmbar für ein inklusives Gemeinwesen ein.Die Handlungsprinzipien Sozialraumorientierung und Selbst-bestimmungsrecht finden sich in ihren Positionierungen und in ihren Konzepten in allen Arbeitsfeldern wieder.Ihre Konzepte und Vorschläge zur sozialen Teilhabe und für gleichwertige Lebensbedingungen in Deutschland sind in politischen Debatten und im politischen Handeln erkennbar.

Unsere Ziele

Unsere Ziele Dokumentation Strategieprozess 85

Trend 5: Die Akzeptanz des kirchlichen Arbeitsrechts nimmt ab

Ziel 6Mitarbeitende und Träger, Öffentlichkeit und Gerichte akzep-tieren und schätzen die kirchliche Arbeitsrechtsetzung.Die kirchliche Tarifsetzung in paritätischen Kommissionen mit verbindlicher Schlichtung wird wegen ihres gerechten Inter-essenausgleichs zwischen diakonischen Unternehmen und der Mitarbeiterschaft anerkannt und ist ein Modell für Tarif-konflikte in der öffentlichen Daseinsvorsorge.

Ziel 7Die Diakonie Deutschland schafft die Voraussetzungen und gewinnt und überzeugt Träger, sich in einer multireligiösen/säkularisierten Welt für eine Vielfalt von Mitarbeitenden ein-zusetzen und zugleich Verantwortung für eine zeitgemäße Vermittlung des Evangeliums zu übernehmen.

Trend 6: Der Fachkräftemangel verschärft sich

Ziel 8Die Diakonie Deutschland trägt durch gezielte Öffentlichkeits-arbeit und Kampagnen zur Attraktivität sozialer Berufe bei. Sie hat eine Personalgewinnungs- und Personalentwicklungs-strategie für diakonische Träger konzipiert, abgestimmt und etabliert. Die Chancen von Freiwilligendiensten werden dabei berücksichtigt. Die Diakonie Deutschland setzt sich bundesweit für einheit-liche Rahmenbedingungen der Aus-, Fort- und Weiterbildung ein, die die Aspekte der Kompetenzorientierung und des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) berücksichtigen.Ein enger Austausch und eine Verknüpfung von Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten werden mit Hilfe eines Bildungs-netzwerkes etabliert.

Trend 7: Die europäische Entwicklung bestimmt zunehmend die Entwicklung des Sozialen in Deutschland

Ziel 9Die Diakonie Deutschland entwickelt ihr Handeln in nationa-ler, europäischer und internationaler Perspektive. Sie macht sich in Europa für verbindliche soziale Standards sowie für

faire globale Handelsbeziehungen und nachhaltige Entwick-lung stark.Wunsch- und Wahlrecht, Subsidiarität und Gemeinnützigkeit als bewährte Elemente des deutschen Sozialsystems finden in europäische Regeln Eingang.

Trend 8: Migration nimmt zu

Ziel 10Die Diakonie Deutschland entwickelt – unter Aktivierung von Ressourcen von Kirche und Diakonie – Konzepte, wie die mit Migration verbundenen Chancen realisiert und Herausforde-rungen bewältigt werden können.

Systemmanagement:

Ziel 11Beteiligung, Effizienz, sinnvolle Zuordnung prägen das Gesamtsystem Diakonie.Interne und verbandliche Prozesse sind über alle Ebenen so eingeübt, dass Diakonie einheitlich und abgestimmt nach außen auftritt. Die regelmäßige gegenseitige Information und die zeitnahe wechselseitige Abstimmung innerhalb der Diakonie ist gän-gige Praxis.

Ziel 12Auf Basis einer einheitlichen Organisationskultur ist im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung die abge-stimmte Entwicklung der Strategien und die Beantwortung der sich globalisierenden sozialen Fragen eingeübt.Das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung ist EFQM-zertifizierungsfähig.

Ressourcenmanagement:

Ziel 13Auf der Basis eines ausgeglichenen Haushalts erreicht die Diakonie Deutschland ihre nachhaltigen Ziele mit einem nach-vollziehbaren und angemessenen Einsatz von personellen und finanziellen Ressourcen.

Berlin, November 2015

Weitere Informationen erhalten Sie über nebenstehenden QR-Code oder unter www.diakonie.de/mittelfristige-ziele-der-diakonie-deutschland.html

06.2015 Einrichtungsstatistik – Regional zum 1. Januar 2014 05.2015 Zehn Jahre Hartz IV – zehn Thesen der Diakonie

Menschenwürde und soziale Teilhabe in der Grund-sicherung verwirklichen

04.2015 Einrichtungsstatistik zum 1. Januar 201403.2015 Strategie im Vergabeverfahren

Handreichung für Diakonische Träger02.2015 Gerechte Teilhabe durch Arbeit 01.2015 Diakonische Positionen zu einem Präventionsgesetz 11.2014 Arbeitsmigration und Pflege – Strategiepapier und

Hand reichung für Einrichtungsträger 10.2014 Wie sehen Sie sich selbst? Die Akteure für Presse-

und Öffentlichkeitsarbeit der Diakonie 09.2014 Fragen und Antworten zu den rechtlichen Hand-

lungsspielräumen der Schuldnerberatung 08.2014 Finanzierung palliativ kompetenter Versorgung in

stationären Pflegeeinrichtungen 07.2014 Positionen zur Aufnahme, Wohnraumversorgung

und Unterbringung von Flüchtlingen06.2014 Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in Deutsch-

land: Freizügigkeitsrecht und Anspruch auf Sozial-leistungen

05.2014 Positionen der Diakonie zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung

04.2014 Gewährleistung von Wohnraum als Teil eines menschen würdigen Existenzminimums

03.2014 Familienpolitische Positionierung: Was Familien brauchen – Verwirk lichung und Teilhabe von Familien

02.2014 Handreichung zu Schweigepflichtentbindungen für Mitarbeitende in der Diakonie

01.2014 Diakonische Positionen zu einem Bundesleistungs-gesetz zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

11.2013 Gesundheitspolitische Perspektiven der Diakonie 2014

10.2013 Einrichtungsstatistik – Regional zum 1. Januar 2013 09.2013 Pflegestatistik zum 15.12.2011 08.2013 Prävention und Bekämpfung von Altersarmut07.2013 Demografischer Wandel – zwischen Mythos und

Wirklichkeit 06.2013 Die insoweit erfahrene Fachkraft nach dem

Bundes kinderschutzgesetz – Rechtsfragen, Befug-nisse und erweiterte Aufgaben

05.2013 Einrichtungsstatistik zum 1. Januar 2012

04.2013 Finanzierung von Altenarbeit im Gemeinwesen

06.2013 Die insoweit erfahrene Fachkraft nach dem Bun-deskinderschutzgesetz – Rechtsfragen, Befugnisse und erweiterte Aufgaben

05.2013 Einrichtungsstatistik zum 1. Januar 2012

04.2013 Finanzierung von Altenarbeit im Gemeinwesen

03.2013 Soziale Sicherung für Kinder und Jugendliche ein-fach, transparent und zielgenau ausgestalten

02.2013 Freiheits- und Schutzrechte der UN-Behinderten-rechtskonvention und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie

01.2013 Dritter Weg im Dialog: Argumente, Glossar und Maßnahmen für die interne Kommunikation

09.2012 In der Diakonie vom Glauben reden – in Kursen zu Themen des Glaubens

08.2012 Das neue Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen – Positionen der Diakonie

07.2012 Klientinnen und Klienten in ihrer Elternrolle stär-ken – Kinder psychisch oder suchtkranker Eltern achtsam wahrnehmen

06.2012 Soziale Daseinsvorsorge in den Kommunen: Zivil-gesellschaft stärken, Solidarität und Teilhabe sichern

05.2012 Rechtssicherheit und Fairness bei Grundsicherung nötig – Diakonie-Umfrage ergibt: SGB-II-Rechts-ansprüche regelmäßig nicht umgesetzt

04.2012 Freiwilliges Engagement in Einrichtungen und Diensten der Diakonie – Eine repräsentative Studie

03.2012 Leitlinien Arbeitsmigration und Entwicklung

– Guidelines on Labour Migration and Develop-ment, Art.-Nr: 613 003 032ENGL

– Principes directeurs pour les migrations et le développement, Art.-Nr: 613 003 032FR

02.2012 Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche – eine Aufgabe der Prävention und Gesundheitsförderung aus Sicht der Diakonie

01.2012 Diskriminierungsschutz in diakonischen Arbeits-feldern

86 Dokumentation Strategieprozess Unsere Texte

Auszug Diakonie Texte 2012 bis 2015(Stand November 2015)

Unsere Texte

Diakonie Deutschland – Evangelischer BundesverbandEvangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V.Caroline-Michaelis-Straße 110115 Berlin

Telefon +49 30 652 11-0Telefax +49 30 652 11-33 [email protected]

ImpressumHerausgeber: Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V., Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 Berlin, Telefon +49 30 652 11-0Redaktion: Barbara-Maria Vahl, Andreas Wagner, Zentrum Kommunikation Verantwortlich: Präsident Ulrich Lilie, Telefon: +49 30 652 11-17 63Layout: Alfred Stiefel Mediendesign, Filderstadt Druck: Gutenberg Beuys, Hannover Titelfoto: Anieke Becker / Diakonie Deutschland Stand: November 2015, © Zentrum Kommunikation ISBN-Nr.: 978-3-941458-92-5