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Fynn - Anna schreibt an Mr. Gott

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Klappentext

Anna hat wirklich gelebt, und Fynn (unter anderemNamen ein irischer Mathematiker) hat Annas Geschichteso wirklich erzählt, wie Anna wußte, was Wirklichkeit ist.Als die Achtjährige von einem Baum stürzt, sagt sie alsLetztes zu Fynn: »Wetten, daß mich Mister Gott dafür insein Himmel reinläßt?«Mit ihrem ersten Buch Hallo, Mister Gott, hier sprichtAnnaist sie Millionen Lesern ans Herz gewachsen. Dies ist ›ihr‹zweites: Mit ihren Briefen an Mister Gott hat Anna nochmanch anderes über die Menschen und den Lauf der Welt zusagen. Wichtige Dinge, versteht sich, die sie eigenhändig undin entsprechend großer Schrift hinkritzelte. Allerdings zumTeil mit Buchstaben eines selbsterfundenen Alphabets. Ihrliterarischer Nachlaß bestand aus einer AnzahlSchuhkartons, bis zum Rand gefüllt mit Schulheftseiten,Zetteln und Papierfetzen voller Geschichten und ›Notizien‹für ihren bevorzugten Gesprächspartner: Mister Gott.Es dauerte Jahre, bis Fynn all diese Briefe, Geschichtenund Betrachtungen entziffert und behutsam in eine fürunsereins verständliche Sprache übertragen hatte. Sooriginalgetreu wie möglich und mit Erläuterungen,soweit man Anna erläutern muß. Annas kindlich-weiseAufzeichnungen zeigen, welch ›cleverer Engel‹ sie war. Ihreunverbogene Lebensphilosophie läßt die kompliziertestenVorgänge plötzlich ganz einfach erscheinen. In ihren hinter-gründigen Wahrheiten liegt eine wundervolle Poesie.

Umschlaggestaltung: Thomas Steinkämper

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Fynn

Anna schreibt anMister Gott

Neues von Annaüber Gott und den

Lauf der Welt

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Titel der englischen bei William Collins Sons & Co, Ltd.erschienenen Originalausgabe: »Anna's Book«

Deutsche Fassung von Jörg Andreas

Lizenzausgabe mit Genehmigung desScherz Verlags, Bern und München

für die Bertelsmann Club GmbH, Güterslohdie EBG Verlags GmbH, Kornwestheim

die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wienund die Buch- und Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz

Diese Lizenz gilt auch für die Deutsche Buch-GemeinschaftC. A. Koch's Verlag Nachf., Berlin - Darmstadt - Wien

Copyright © Fynn 1986Gesamtdeutsche Rechte beim

Scherz Verlag Bern • München • WienAlle Rechte der Verbreitung, auch durch

Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe,Tonträger aller Art und auszugsweisen Nachdruck,

sind vorbehalten.Umschlag- und Einbandgestaltung: Thomas Steinkämper

Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, GüterslohPrinted in Germany • Buch-Nr. 04790 2

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Inhalt

Was Anna uns noch sagen wollte....................................7

Ich hab die ganze Welt in der Tasche ..........................15

Mister Gott sieht nicht aus............................................20

Anna schreibt eine Geschichte für Mister Gott undFynn...............................................................................24

Wie wird man ein Engel? .............................................34

Annas biblische Geschichten .......................................37

Warum eine Mücke nicht mit einem Elefantensprechen kann................................................................47

Kein Geburtstagskuchen für Mister Gott ....................50

Herzfenster und Augenfenster......................................54

Der Friedhof ist ein Obstgarten ...................................61

Über das Liebhaben ......................................................64

Wozu die Zeit gut ist......................................................68

Sie ist schon mal vorausgegangen................................74

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Was Anna uns noch sagen wollte

Es gab eine Zeit, da war ich ziemlich sicher, ich hätte wirklichalles über Anna erzählt. Das war, als sie noch ganz nahe beimir war und jedes ihrer Worte in meinem Herzen solebendig, daß es mich ganz erfüllte. Dann aber, viel, vielspäter, merkte ich, daß Annas Geschichte noch längst nichtzu Ende erzählt war. Sie hatte mir ja ein Vermächtnishinterlassen: eine Anzahl Schuhkartons, bis zum Randgefüllt mit Seiten aus Schulheften, Zetteln und Pa-pierfetzen, vollgekritzelt mit dem, was sie ihre»Notizien« zu nennen pflegte - und diesen Schatz galt esnoch zu heben. Es war allerdings alles andere als eineeinfache Arbeit, denn Anna hatte nicht nur über die großenGeheimnisse des Lebens nachgedacht, sondern ihre Erkennt-nisse zum Teil auch in einem geheimnisvollen,selbsterfundenen Alphabet niedergeschrieben. Es dauerteJahre, bis ich Annas »literarischen Nachlaß« entziffernund behutsam in eine für unsereins verständliche Spracheübertragen konnte.

Hier ist nun das Ergebnis: Annas Mitteilungen an MisterGott, an uns und die Welt, so originalgetreu wie möglich.Ein paar Erläuterungen habe ich aus der Erinnerungdazugegeben -soweit man Anna erläutern muß odererklären kann. Denn so ganz genau weiß ja ich selbst bisheute nicht, wer sie wirklich war und wieso sie sichgerade mich ausgesucht hatte, um die Erinnerung an ihrkurzes Leben wachzuhalten.

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Anna und ich, wir waren uns in einer nebligenNovembernacht an den Docks des Londoner East Endbegegnet. Ich lief damals in solchen dunklen Nächtengern draußen herum, weil man absolut nichts sah außersich selbst, und das war eine ideale Voraussetzung, umüber schwerwiegende Probleme nachzudenken. Und werbehauptet, ein Neunzehnjähriger, wie ich es damals war,habe keine schwerwiegenden Probleme, der irrt sichgewaltig!

Damals war es nicht allzu ungewöhnlich, so spät in derNacht und bei solchem Wetter ein kleines Mädchenallein auf der Straße zu treffen, denn Londons East Endist ein überbevölkertes Armeleuteviertel, und da konntees schon mal passieren, daß Eltern es mit derVollzähligkeit ihrer großen Kinderschar nicht so genaunahmen. Ungewöhnlich war nur Anna selbst, und dasblieb sie, vom ersten Augenblick unserer erstenBegegnung bis zum letzten Moment unsererwunderlichen Freundschaft. Noch ungewöhnlicher aberwar, was sie sagte, was sie für sich behielt, was siedachte und was sie aufschrieb. Das heißt, bevor sierichtig schreiben konnte, mußte ich das für sie tun.

Ich nahm Anna mit nach Hause zu meiner Mutter, weilsie unbedingt in eine warme Ecke wollte, und nachdemsie sich den Schmutz von Gesicht und Händengewaschen hatte, bemerkte ich erst, was für ein hübschesKind sie war. Mit ihren roten Haaren und denvorwitzigen Sommersprossen auf der Stupsnase sah sietrotz aller Verfrorenheit und Verlassenheit eigentlich wieein sehr vergnügtes kleines Mädchen aus. Aber als ich ihr

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das sagte, antwortete sie: »Das ist nur von draußen.« Unddas war die erste der vielen typischen Anna-Antworten,an die ich mich gewöhnen mußte.

Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich Anna auch »vondrinnen« kennenlernte und verstand. Wie die Menschen -aber auch die Dinge - von drinnen sind, nur dasinteressierte sie und ließ sie gelten, und sie erkanntedabei auch sofort, worauf es ankam. Woher sie diesesInteresse hatte und ob sie von ganz allein drauf -gekommen war, das habe ich nie herausfinden können,obwohl ich nie aufgehört habe, darüber nachzudenken.Jedenfalls füllte die unermüdliche Erforschung der»Drinnenseite« von Menschen und Dingen ihr ganzeskurzes Leben.

Zuerst war es ja ziemlich irritierend für mich, von Annazu erfahren, daß ein Bild auch »innen schön« ist und derliebe Gott nicht einfach eine erhabene Vorstellung,sondern ein »Mister Gott«, mit dem man genauso redenkonnte wie mit einem Nachbarn, nur daß er eben nochmehr aus innen besteht als sonst irgend jemand. Ichmußte mich damit abfinden, daß Anna mehr sah, hörte,roch, fühlte als ich und alle anderen Leute, die ichkannte. Daß sie Mister Gott in allem und jedem sah - ineiner Blume, einem Stern, einem Baum -, dem konnteunsereins ja noch leicht folgen. Aber für Anna war ereben auch in einer U-Bahn-Fahrkarte, in einerRechenaufgabe und sogar im Schmutz unter ihrenFingernägeln »drin«. Da wurde es schon wesentlichschwieriger. Und vor allem, wie konnte man da noch vonihr verlangen, daß sie sich die Hände bürstete!

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Was immer Anna für wichtig hielt, mußte zu Papiergebracht werden. Erst dann war es »sicher«, erst dann»exerstierte« es und löste sich nicht gleich wieder auf.Also machte sie sich verbissen daran, möglichst raschschreiben zu lernen, damit sie ihre Gedankenflüge selbstauf Papier festhalten konnte. Natürlich auf ihre Art, diefür gewöhnliche Sterbliche nicht immer ganz einfach zuübersetzen war. Aber ich lernte es schnell, dafür sorgteder Fratz schon.

Wie alle Kinder mochte auch Anna es sehr, wenn man ihrGeschichten vorlas. Aber noch lieber erzählte sie selbstwelche, und wenn ich ihr eine vorlas, revanchierte siesich gleich mit zwei oder drei, die sie erzählte. Und weilmeine aus einem Buch stammten, mußten ihre natürlichauch in eins - oder zumindest in ein Heft. So entstandenAnnas erste »Notizien«. Jede Geschichte kam auf eineExtraseite, obwohl sie nicht gerade lang waren, oft nuraus ein paar Wörtern bestanden, die eher einemgeheimnisvollen Zauberspruch glichen als einerGeschichte.

Irgendwie spürte Anna wohl selbst, daß ihre literarischenWerke ein bißchen arg durcheinanderliefen, denn sieordnete den sich rapide vergrößernden Haufen vonBlättern immer wieder neu - allerdings nachGesichtspunkten oder Gedankengängen, die mir langerätselhaft blieben. Richtig lesen konnte sie dasGeschriebene oft nicht, aber sie behauptete, trotzdemgenau zu wissen, was da stand. Sie hatte wohl auch ihreigenes System entwickelt, ihre »No-tizien«wiederzuerkennen; jedenfalls sortierte sie die Blätter mal

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nach der Zahl der Zeilen, mal nach der Farbe der Schrift,mal nach der Größe. Meistens war sie danach ganzzufrieden mit sich.

Eines Tages wurde mir endlich klar, worin Annasspezielle Begabung bestand. Es war eine eherunspektakuläre, aber seltene und wunderbare Gabe: Siekonnte warten. Warten auf den richtigen Zeitpunkt, andem eine Sache »ganz fertig war, wie um zu essen« -egal, ob es sich nun um einen Kuchen oder eine ausvielen einzelnen »Notizien« zusammengesetzteGeschichte handelte. Sie sprudelte ihre Gedanken

heraus, wie sie ihr gerade in den Sinn kamen, hob siedann aber sorgfältig für später auf. Wie ein Hamster legtesie sich einen Vorrat für kommende, vielleicht nicht mehrso fruchtbare Zeiten an. Und so bewahrte sie dieseSchätze in alten Schuhkartons auf, an die sie niemandheranließ, auch mich nicht, aus Furcht, die mysteriöseOrdnung ihrer Zettel könne durcheinandergeraten. Bis inden Schlaf quälte sie diese Angst, denn manchmal sagtesie am Morgen: »Heut nacht sind alle meine Wörter indie Luft geflogen, und wie sie wieder runtergekommensind, da haben sie was ganz andres bedeutet als vorherund gar nix Schönes mehr.«

»Schön«, das war ein Schlüsselwort für Anna. Wobei ihrso ausgeprägtes Bedürfnis nach Schönem wohl ganz»von drinnen« kommen mußte. Denn in den erstenJahren ihres kleinen Lebens im verdreckten LondonerEast End war ihr bestimmt nicht viel Schönes begegnet.Aber Anna schuf sich eben das Schöne auch aus dem

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Nicht-Schönen und kriegte es fertig, aus Dreck Gold zumachen. Ganz für sich allein.

Die Suche nach dem Schönen, das war etwas, was Annaund mich zusammenbrachte. Das heißt, ich suchte - undsie fand! Für mich waren bis dahin immer Zahlen dasschönste gewesen. Mathematik war mein Hobby undmein Lebensinhalt. Ich brauchte Rechenaufgaben wieandere Leute Essen und Trinken. Mein alterMathematiklehrer hat mal zu mir gesagt: »Mathematik istdie Beschäftigung mit der reinen Schönheit.«

Anna sah das offenbar auch so, und durch sie erkannteich erst den tieferen Sinn von beidem, von Schönheit undvon Mathematik. Zwar nahm sie es mit den Zahlen nichtso genau und verwendete sie auch nicht unbedingt inarithmetischem Sinn. Für sie waren es vor allem schöngeformte und schön klingende Symbole. Aber mankonnte damit so viel ausdrücken. »Ich hab dichdreitausendf ünf hundertachtund-zwanzigmal mehr liebals alle anderen«, erklärte sie. Und das sagt ja dochtatsächlich viel mehr aus und klingt viel schöner alseinfach »Ich mag dich lieber als alle anderen«. Außerdemkonnte man auch neue Zahlen erfinden, wie etwa Annasganz besondere, heißgeliebte und unendlich großeLieblingszahl »Squillion«.

Annas Lebensmotor war Wissensdurst, die Begierde zubegreifen und das Begriffene festzuhalten. Sie wollteErkenntnisse schwarz auf weiß vor sich sehen. Als sieanfing, ihre Erkenntnisse nicht nur mir mitzuteilen,sondern per Brief auch Mister Gott, nahm ihr

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»literarisches Werk« bedrohliche Ausmaße an. Immerwenn es im Haus ganz besonders still wurde, war Annaim brieflichen Gespräch mit Mister Gott. Sie brachte mirjedes Blatt zum Lesen, und wir diskutierten den Inhalt.Dann aber nahm sie den Brief still wieder an sich, gingund legte ihn sorgfältig zu ihrer Sammlung. Manches vondem, was sie aufschrieb, machte auf jemand, der Annanicht näher kannte, altklug oder naseweis wirken.Irgendwann hatte sie wohl auch mal jemanden etwas inder Richtung sagen hören. Das ärgerte sie zwar, aber siefand dann auch gleich die passende Antwort: »Wenn'srichtig ist, dann isses doch egal, ob ich jung bin oder alt,und wenn's falsch ist, dann kannst du ja einfach drüberlachen.«

Als ich sie einmal auf das bestürzende Anwachsen ihres»Notizien«-Berges hinwies und sie fragte, was sieeigentlich mit den vielen Aufzeichnungen vorhabe,meinte sie:

»Das ist ja nich für jetzt, das ist für später mal.«»Wer soll denn das alles lesen?«»Du natürlich und Mister Gott.«»Da mutest du Mister Gott aber ein bißchen viel zu.Wetten, daß der Wichtigeres zu tun hat?«»Wirste schon sehn«, antwortete Anna darauf. »Aber dasis ganz einfach. Wenn ich gewinne, heben wir alles auf.Wenn du gewinnst, schmeißte eben alles weg.«

Ich habe alles aufgehoben . . .

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In den Jahren, die Anna bei uns verbrachte, habe ichgelernt, den Menschen und die Schöpfung aus ihrerPerspektive zu sehen. Anfangs lebten wir inverschiedenen Welten und sprachen verschiedeneSprachen. Dann aber gelang es Anna, mich zuüberzeugen, daß ihre Welt und ihre Sprache den Sinnergaben, nach dem ich so lange gesucht hatte. Und so fieles mir leicht, in ihre Welt hinüberzuwechseln, mit ihrenAugen zu sehen und ihre Sprache zu lernen.

Ich habe es nicht bereut.

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Ich hab die ganze Welt in der Tasche

Anna ging zwar tapfer in den Gottesdienst und in dieSonntagsschule, aber ziemlich ungern. Das hatte einenguten Grund. Was da gelehrt und gesagt wurde, fandAnna nämlich »viel zu weit weg von Mister Gott«. Daßsie ihn sich gleichzeitig als allmächtigen Schöpfer, alsQuell unendlicher Liebe und als gerechten Richterunserer Missetaten vorstellen sollte, behagte ihr nicht.Für sie war Gott nicht »so hoch oben wie ein König, woPolizisten vor seiner Tür stehn«, sondern jemand, derimmer da ist und mit sich reden läßt, wenn man ihnsprechen möchte.

Was Anna in der Kirche am meisten gefiel, war derschöne Mosaikboden. An seinem Muster konnte sie sichnicht satt sehen, während die Worte des Pfarrers durchdas Kirchenschiff hallten. »Da kitzelt es mich überall«,flüsterte sie mir zu. »Und wenn's einen überall kitzelt,dann ist Mister Gott ganz nah.« Kitzeln aber tat sie dergemusterte Kirchenboden und nicht etwa die donnerndePredigt des Pfarrers.

Im übrigen beschäftigte Anna bei ihren Kirchenbesuchenam meisten, daß da so viele Leute waren, die auf einWunder zu warten schienen. Anna konnte geduldigwarten, davon habe ich schon gesprochen. Aber aufWunder brauchte sie nicht zu warten. Nein, die erlebtesie ja überall und jeden Tag. Für Anna war die ganze

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Welt ein einziges Wunder, und das allergrößte Wunderwar, daß sie in dieser Welt lebte.

Es gab jedoch auch was, das ihr nicht ganz so wunderbarvorkam. Und darüber schrieb sie ihren ersten Brief anMister Gott.

Lieber Mister Gott!Heut schreib ich Dir, was ich zu Fynn gesagt hab überDich, aber der hat gesagt, schreib's ihm doch selbst.Ich glaub, der hat Angst, daß Du böse wirst, und erwill keinen Ärger mit Dir. Auch nicht mit dem Pfarrer.Also: Furchtbar gern geh ich nicht in die Kirche, habich zu Fynn gesagt. Woher weißt du denn, ob MisterGott da drin ist? Er kann drin sein, aber er muß nicht.Nur wenn wir ihn mit reinnehmen, dann ist erbestimmt drin. Ich würd ja an Mister Gott seine Stellevon allein auch nicht kommen. Ich würd immerwarten, daß mich die Leute mitnehmen. Er ist ja auchgar nicht schwer, weil im Herz drin, da ist er so leichtwie eine Feder. Hab ich zu Fynn gesagt. Findest Dudas schlimm? Ich geh auch nicht gern in die Kirche,weil die Leute da so traurige Lieder singen. Diemachen aus Dir einen, der immer schimpft, wie so einRechenlehrer, wenn man die Schulaufgaben nichtgemacht hat. Und dabei bist Du doch sehr lustig, findich, und ganz riesig nett. Ich finde, Fynn, der sieht einbißchen wie Du aus. Aber natürlich nur wie Du inwinzig klein, weil Du doch hundertmal so groß undnoch hundertmal netter und viel stärker bist. Dafür,wie riesengroß Du bist, da gibt es ja gar keine Zahl.Die Leute sagen, Du bist so was wie ein König. Nur,

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wenn ein König in unsere Straße kommt, dann weißder bestimmt nicht, wo ich wohne. Aber ich glaub, Duweißt das. Du hast keine Krone aufm Kopf, dafürkennst Du jeden ganz genau. Sogar den Leberfleck aufmeiner Backe kennst Du, wetten? Und wenn ich dieHände nicht gewaschen hab, weißt Du das bestimmtauch. So genau guckst Du Dir jeden an. Ein Königwürd nie so genau hingucken. Die Arbeit macht dersich nicht. Nur Du machst Dir mit mir so viel Arbeit...

Anna teilte Zahlen in Menschenzahlen und Gottzahlenein. Menschenzahlen konnte man leicht verstehen, und esließ sich auch relativ leicht damit rechnen. Gottzahlendagegen konnte man zwar rein akustisch ganz gutverstehen, aber es war meist unmöglich, mit ihnen zurechnen.

Anna spielte nur selten mit Dingen, die man als normalesSpielzeug betrachten würde. Die Ausnahme davonmachten ihre Lumpenpuppen, ihre Farbstifte und meinealte Eisenbahn. Die bestand aus einer Lokomotive, einemKohlentender und acht Wagen. Ungefähr eine Wochelang spielte Anna eifrig damit, dann tat sie sie wieder indie dazugehörige Kiste.

Und genau da begannen die Gottzahlen in Erscheinungzu treten. Anna fragte: »Wieviel mal anders kann ich dieLokomotive, den Kohlentender und die Wagenzusammentun?« Ich erklärte ihr, wie sie die Antwortdarauf finden konnte. Was sich als wesentlichkomplizierter herausstellte, als sie erwartet hatte. Alsosollte ich ihr das ausrechnen. Das Ergebnis lautete:

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Drei Millionen sechshundertachtundzwanzigtausendacht-hundertmal.

Anna war hell begeistert. Sie konnte die Zahl gar nichtoft genug hören und erklärte sie zu einer »Gottzahl«.Damit wollte sie ihren Respekt vor der enorm hohenGröße ausdrücken, aber wohl auch ein bißchen mehr:nämlich daß Mister Gott »so viel Verschiedenes gemachthat und nicht so sparsam ist mit den Zahlen wie mitButter oder Schinken«.

Ich hatte Anna ein Blasrohr gebastelt. Damit ließen sichherrliche Ketten von Seifenblasen erzeugen - schillerndeKugeln, denen die Kinder nachjagten und die sie mitHänden oder Stök-ken zum Platzen brachten. Die Kinderentdeckten in den Seifenblasen alle Farben des Regenbo-gens. Anna aber sah auch, wie sich die Umwelt darinspiegelte. Um ihr besser erklären zu können, wie dieseSpiegelung zustande kommt, besorgte ich eine dergläsernen Zierkugeln, wie man sie manchmal in Gärtenfindet. Die silbrig glänzende Kugel hatte einenDurchmesser von etwa fünfzehn Zentimetern. Annaentdeckte schnell, daß die Spiegelbilder in derKugelrundung »zermanscht« aussahen, daß sie um dieRundung herumzulaufen schienen und man trotzdem niedie Fortsetzung auf der anderen Seite sehen konnte. DieKugel schien durchsichtig, war es jedoch nicht. Für Annaein Zeichen dafür, daß auch unsere kugelige Welt eineSeifenblase ist und Mister Gott sie durch ein großesBlasrohr zusammen mit unzähligen anderen Weltkugelnentstehen ließ.

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All ihre aus Gartenkugeln, Seifenblasen, Christ-baumschmuck, Murmeln und Glasperlen gewonnenenErkenntnisse mixte Anna zu einem Spiegelkosmoszusammen. Für sie war es sonnenklar, daß sich alles, wasGott geschaffen hatte, in einer winzigen Glasperlespiegeln konnte. Seitdem trug sie ständig eine Perle oderMurmel bei sich. »Da hab ich doch die ganze Welt in derTasche«, erklärte sie mir, »und Mister Gott noch dazu.«

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Mister Gott sieht nicht aus

Lieber Mister Gott!Am Sonntag bin ich nicht in die Kirche gegangen,sondern lieber mit Fynn in den Wald gefahren. Aberdas weißt Du ja schon, weil Du mit warst. Und hastDu auch gehört, was Fynn mir in der U-Bahn von Direrzählt hat? Hat Dich das gefreut? Hört doch jedergern, wenn man von ihm redet, oder? An derEndstation bist Du sicher nur mit uns ausgestiegen,weil Du hören wolltest, wie's weiterging. Kannsteruhig zugeben. Und im Wald bist Du dann immerzwischen mir und Fynn gegangen. Ich glaub, Dirgeht's genau wie mir: Im Wald findest Du's auch vielschöner als inner Kirche.

Lieber Mister Gott, warum machen Dich die Leute inder Kirche immer so schrecklich groß, daß man vorDir Angst kriegt? Im Wald mit uns, da warst Du dochauch nur so groß, daß Du mit uns Spazierengehenkonntest. Und wie wir dann so viel von Dir geredethaben, da warst Du wieder so klein, daß Du in meinHerz Platz hast. Und wenn Du da richtig drin bist,dann kann ich Dich auch gar nie mehr verlieren, nichtwie neulich den ollen Schlüssel, wo Fynn dann sogeschimpft hat.

Hast Du im Wald auch die Kaninchen gesehen, unddie Dachse und das lebendige Reh und das tote? AberMenschen waren nicht da. Die waren alle in der

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Kneipe, sagt Fynn. Bei dem toten Reh hab ich einbißchen geheult. Aber Fynn hat gesagt, ich soll wegendem Reh nicht heulen, ich soll lieber wegen denMenschen heulen, die in der Kneipe sind statt mit Dirim Wald. Ich hab's mal versucht, aber so gut wie beidem Reh ging das nicht. Das Reh, hat Fynn gesagt,das ist ja gar keins mehr, das is nur noch ein HaufenStaub. Und der Staub wird Erde, und da wächst dannGras drauf, und das fressen die Schafe. Ich ess dannvon dem Schaf, das von dem toten Reh sein Staubgefressen hat. Und weil doch von Dir was in dem Rehdrin ist, wo Du es doch gemacht hast, dann ess ichauch was von Dir und brauch nich in die Kirche, wodie Leute immer nur so 'n Stückchen von Dir kriegen.Weil ich kann mich mal richtig satt an Dir essen . . .

Daß die meisten Dinge auf Erden die Eigenschaft haben,sich in irgend etwas anderes zu verwandeln, war fürAnna ein großes Problem. Aus Kaulquappen wurdenFrösche, aus Raupen Schmetterlinge, aus Babys alteLeute und aus einem Reh Staub. »Jedes Ding muß einAussehen haben, um drin zu wohnen«, konstatierte Anna.Ich hätte ihr natürlich das Wort »Metamorphose«erklären können, aber ich tat es nicht. Wenn ein Dingsein Aussehen veränderte, so geschah das, weil MisterGott für das Ding eben eine andere Aufgabe hatte, fandAnna heraus. Schmetterling werden, statt immer Raupezu bleiben, war eine schöne neue Aufgabe und deshalbganz leicht. Dagegen war am Leben sein und dann aufeinmal tot sein eine ganz schwere Aufgabe. Das wollteAnna denn doch nicht so ohne weiteres hinnehmen. Dawollte sie von Mister Gott noch Genaueres wissen, bevor

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sie bereit war, sich mit dieser »Änderung von meinAussehen« abzufinden.

Lieber Mister Gott!Ich hab Fynn gefragt, warum das Reh sein schönesAussehen verlieren muß, bevor es in den Himmelkommt. Ich möcht nicht so gern totgehen undauseinanderfallen und riechen und nachher Staub seinund mich vom Wind in den Himmel pusten lassen.Fynn hat gesagt, von irgendwas müssen die Würmerund Mistkäfer auch leben. Und dafür sind die totenViecher da. Mister Gott nimmt dich auch dann noch,wenn mal ein Käfer an dir geknabbert hat. Für denHimmel brauchst du nicht aussehen. Mister Gott siehtja auch nicht aus. Sonst würde er uns mit seinAussehen nämlich alle erdrücken. Hat Fynn gesagt.Ich glaub das auch. Die Erwachsenen wollen immer,daß Du aussiehst wie ein alter Mann mit Bart undRunzeln und so. Die wollen nicht, daß Du auch wieein kleines Mädchen oder ein Reh aussehen kannst.Aber, Mister Gott, Dir is doch egal, was die Leuteüber Dich sagen, oder? Du siehst eben mal so und malso aus. Toll, wenn man sich das so aussuchen kann.Aber deshalb bist du ja Mister Gott. Ich stell mir vor,das ist wie mit der Holzkiste, wo Fynn seineEisenbahn drin ist, die ist doch auch mal ein Bahnhofund mal ein Tunnel und mal ein Auto oder ein Schiff,wie's mir gerade paßt. Und so wie mit der Kiste is dasbei Dir auch, Mister Gott. Mal bist Du dies und malbist Du das. Du bist eben alles zusammen und allesauf einmal. Und wenn Dich jemand grün sieht, dannbist Du eben grün, aber für jemand anders biste

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vielleicht rot. Und beides bist Du. Oder Du bist großund auch klein, oder dick und wieder auch dünn. Dasist wie mit den Schneeflocken. Jede is gleich und dochein bißchen verschieden, und alle zusammen sind ebenSchnee. Und so ist es auch mit Dir, meine ich. Mankann einfach nicht sagen, Du siehst so aus oder so,weil Du eben gar nicht aussiehst. Ich finde, am bestengibt man Dir kein Aussehen und sagt nur einfachMister Gott. . .

Ich fand, es könnte nicht schaden, wenn Anna sich nichtimmer nur um Mister Gott, sondern auch mal um den»Mensch an sich« ein paar Gedanken machen würde.

Also stellte ich ihr bei Vanillepudding mitSchokoladensoße die altbekannte Frage: Was ist derMensch? und dachte: An der harten Nuß wird siebestimmt eine Weile zu beißen haben.

Irrtum! Anna hatte das Problem im Nu gelöst.

»Was der Mensch ißt, ist mir egal«, lautete ihre Antwort.»Ich ess am liebsten Süßes. Und Mister Gott ißtüberhaupt nichts. Er hat von allem mal gekostet, und nunweiß er Bescheid, was der Mensch ißt.«

Danke, Fratz! Das war eine klare Auskunft. Von da anhabe ich mir nie wieder den Kopf darüber zerbrochen,was der Mensch ist.

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Anna schreibt eine Geschichte für Mister Gott und Fynn

Sooft Anna über ein schwieriges Problem, sozusagenüber die »ganz letzten Dinge«, nachdachte oder eineandere ungeheuer wichtige Frage zu klären hatte, schriebsie darüber eine kleine Geschichte. Und dieseGeschichten hatten es meistens in sich. Das heißt, siewaren nicht einfach zu verstehen. Man mußte sichziemlich anstrengen, um Annas Gedankenflügen folgenzu können. Aber mit der Zeit war ich daraufeinigermaßen trainiert.

Im Grunde enthielt eine Anna-Geschichte Stoff für vieroder fünf oder noch mehr Geschichten über allemöglichen Dinge und Personen, und obendreinbetrachtete sie ihr Hauptthema aus so vielenBlickwinkeln, daß einem beim Lesen ganz schwindligwerden konnte, denn vor lauter Einzelheiten, aus denensich in Annas Dichtungen eine Sache oder ein Wesenzusammensetzte, erkannte man das Ganze kaum. Und dasie ihre »Notizien« für ihre Geschichten, wie gesagt,nicht auf ordentliche und numerierte Blätter schrieb,sondern auf unzählige Zettel, abgerissene Zeitungsränder,Kassenbons und Serviettenfetzen, wußte sie oft selbstnicht mehr, wo nun der Anfang war und wo das Ende,wie das alles zusammengehörte und ob überhaupt...

Deshalb war eine Geschichte eine richtige Arbeit für sie,eine mühsame Arbeit, bei der sie stöhnte und jammertewie ein echter Dichter, der die mit fliegender Feder und

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halb in Trance notierten Eingebungen seiner Muse nichtmehr zu entziffern vermag. Diese Bastelei mitSatzschnipseln und rätselhaften Wörtern war so etwaswie ein besonders vertracktes Puzzlespiel. Es kostete vielZeit, viel Platz, Papier und Tinte, vor allem aber vielGeduld. Nur an Regen- oder Wintertagen raffte sichAnna zu der Schwerarbeit auf, aus dem Schatz ihrer»Notizien« so etwas Ähnliches wie eine Geschichte zukomponieren. Dabei durfte niemand sie stören, und esdurfte auch kein Luftzug durchs Zimmer wehen, dennsonst verstreute sich ihre Zettelwirtschaft in alle Winde,und sie mußte noch mal von vorn anfangen.

Nach vielen Stunden, oft auch erst nach Tagen, ergabendie Papierhäufchen für den Nichteingeweihten zwar allesandere als ein erkennbares Puzzlebild, aber Annabehauptete, nun sei die Geschichte fertig. Das sei wie mitKartoffelchips. Die äße man ja auch einen nach demanderen, und das seien eben Wortechips, und da müsseman es genauso machen.

Ich schüttelte den Kopf. »Da braucht nur einer von unszu niesen, und schon wirbeln deine Notizendurcheinander, und die Geschichte ist kaputt. Was einechter Dichter ist, der dichtet für die Ewigkeit, und dadarf kein einziges Wort verlorengehen oder auch nur ineine andere Zeile geraten. Bei Kartoffelchips ist dasWurscht.«»Und was machen wir, damit es eine ewige Geschichtewird?« fragte Anna.»Wir kleben die Wortechips zusammen, Stück für Stück.Das ergibt dann ein richtiges Manuskript.«

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Der Gedanke, daß ihre wackligen Zettelpyramiden sowas Tolles wie ein Manuskript werden konnten,begeisterte Anna. Allerdings bestand sie darauf, ihrekostbaren Wortechips ganz allein zusammenzukleben.

Ich spendierte ihr einen Stoß weißer Blätter, sie rührteden Leim an und machte sich ans Werk. Als sie esgeschafft hatte, überreichte sie mir mit klebrigen Fingernund leuchtenden Augen ihr Manuskript mit den Worten:»Hier hast du meine Ewigkeit. Paß auf, sie klebt noch einbißchen.«Ich warf einen Blick auf den Titel der Geschichte undstellte fest: »Es ist also ein Märchen geworden.«»Is doch egal, was es ist. Hauptsache, es gefällt dir - undan Mister Gott schick ich's auch«, meinte Anna.Und so hatte sie ihre Geschichte mit großenverschiedenfarbigen Buntstiftfarben überschrieben:

Es war einmal. . .Eine Geschichte für Mister Gott und FynnAls ich am Morgen aufgewacht bin, da war es nochziemlich dunkel und nur ein winziges bißchen hell. Ichdachte, das wird heute kein schöner Tag. Ich hab mirdas Zudeck übern Kopf gezogen, und plötzlich hab ichwas gehört. Weil man besser hört, wenn man wenigersieht. Tropf, tropf, tropf hab ich gehört, und ich binganz traurig geworden, weil, es hörte sich an, wiewenn alle Engel auf einmal weinen. Dann ist dasTropfen immer schneller geworden, und ich habgedacht, das muß Regen sein. So schnell können dieEngel nämlich gar nicht weinen und auch nicht solaut.

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Wie ich aus dem Fenster geguckt hab, da war derHimmel wie Grießbrei, aber nicht heißer, sondernganz kalter. Meine Zehen haben gleich angefangen,am Boden festzufrieren. Drum bin ich wieder ins Bettzurück, wo es immer so warm ist wie in Afrika, auchwenn draußen der Nordpol ist. Ich hab die Deckewieder hochgezogen bis zu meiner Nase und gehört,wie die Vögel im Apfelbaum sangen. Wenn ich einVogel war, dacht ich, also ich würd ja bei solchemWetter nicht singen. Ich war so lange eingeschnappt,bis wieder ein Sonnenstrahl angeglitzert kam. Ich habmich ganz rund zusammengekugelt, damit mir nochwärmer wurde, und hab drauf gewartet, daß Fynn oderMama kommen, um mir einen Guten-Morgen-Kuß zugeben. Da hört ich was, das klang, wie wenn einer ver-sucht zu pfeifen und nicht kann. Es war aber nicht derWind. Es war ein Sonnenstrahl. Wie bist du bei demRegen heil bis in mein Zimmer gekommen? hab ichihn gefragt. Aber er hat nicht geantwortet und michnur in der Nase gekitzelt. Da bin ich aus dem Bettgesprungen, wie wenn es höchste Zeit ist für in dieSchule und Fynn schimpft draußen schon. Die Stimmewar aber nicht von Fynn, die war von einem altenMann, wie ein Riese, nur viel kleiner. Der stand aufdem Sonnenstrahl und hielt sich an einer Wolke fest.Wo ist die faule Anna? hat er gerufen und genau inmein Fenster reingeguckt. Und alle die Vögel imGarten und die Kaninchen und Hunde und Katzen undTeddybären haben gesagt: Da ist die faule Anna?Siehst du sie nicht?Ich hab mich gewundert, weil Anna, das stimmt ja,aber faul bin ich überhaupt nich. Der Mann ist auf

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dem Sonnenstrahl runtergerutscht wie auf einTreppengeländer, direkt in mein Zimmer rein. Dabeihat er gerufen: Da haben wir sie ja, die faule Anna!Als er ganz nah ran war, da hab ich gesehn, daß esMister Walker war, unser Lehrer.Warum sagst du, daß ich faul bin? hab ich ihn gefragt.Weil's wahr ist, hat er gesagt. Und nun komm mit.Nein, hab ich gesagt. Ich warte auf Mama oder Fynn.Du kommst jetzt schön mit, hat er gesagt und mich beider Hand genommen. Ich mußte mit ihm den ganzenSonnenstrahl rauflaufen. Der war viel länger als derSchulweg. Und wie wir oben angekommen sind, dahat Mister Walker gesagt: Das ist der richtige Ort fürfaule Kinder. Hier vergeht die Zeit nicht, hier passiertnichts, hier ist es furchtbar langweilig. Hier bleibst du,bis du versprichst, nicht mehr so faul zu sein. Dannbring ich dich wieder nach Haus zurück. Das werd ichFynn erzählen, und dann kannst du was erleben,Mister Walker! hab ich ihm hinterhergerufen. Es warsehr kalt da oben, und ich hab gefroren, weil ich dochnur im Nachthemd war und so allein. Grad wollt ichanfangen zu heulen, da hab ich so was gehört wie einGezi-schel, so wie von Kindern in der Schulstunde.Aber gesehn hab ich niemand. Das muß aus der Luftgekommen sein oder aus dem Boden von demSonnenstrahl. Ich hab mich runtergebückt und ganzdeutlich was gehört: Heut ist es so kalt, heut mag ichnicht wachsen.Wer spricht denn da? hab ich gefragt. Sag erst, wer dubist.Hier spricht Anna. Und wer spricht da von unten?Ich bin ein Saatkorn.

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Und du hast heute keine Lust zu wachsen? Nö; es istso kalt draußen, und hier in meinem Bett ist es soschön warm. Morgen, wenn es wieder schön ist,wachse ich dafür doppelt so schnell.Aber wenn es morgen auch noch kalt ist? Dann fangich eben übermorgen mit dem Wachsen an.Das find ich nicht gut, hab ich gesagt. Wenn alleSaatkörner so faul sind, dann gibt's ja überhaupt keinFrühling in diesem Jahr. Aber den Faulpelz da untenhat das gar nicht interessiert.Der war schon wieder eingeschlafen. Ich könnt esschnarchen hören, das faule Ding. Und dann hab ichStimmen gehört, aus der Luft. Eine war ganz tief wievon einem Bär, es war aber ein Baum, und der hatgebrummt: Wenn die Sonne nicht scheint, roll ichauch meine Blätter nicht aus. Und eine hohe Stimmehat gesagt: Ich lass heut meine Blüten zu.Und die Vögel piepten: Heut singen wir nicht, heutwird höchstens gepiept. Das war vielleicht einetraurige Welt da herum!Es war auch ein Fluß da. Aber der floß nicht. Warumfließt du nicht? hab ich ihn gefragt. Weil ich zu faulbin, hat er gesagt. Und dann der Wasserfall! Der fielnicht runter, der stand nur so in der Gegend rum, ohnewas zu tun. Das Wasser ist mir heute viel zu kalt,sagte er.Aber ein Wasserfall muß doch fallen und plätschernund gurgeln, sonst ist er doch keiner, hab ich gesagt.Hmm, darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht, hatder Wasserfall gegähnt, aber du hast recht, ich binfurchtbar faul. Und das hat ihm plötzlich so leid getan,daß er angefangen hat zu weinen. Die Tränen sind ihm

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runtergelaufen und haben an seinen Füßen eine kleinePfütze gemacht. Hör auf zu heulen, hab ich gesagt.Ein Wasserfall ist doch was Lustiges und wasSchönes. Ich war froh, wenn ich so schön war wie einWasserfall.Bring mich halt zum Lachen! Wenn du mich zumTränenlachen bringst, fühl ich mich gleich wiederbesser.Da hab ich eine Weile in mein Kopf rumüberlegt,wegen einer lustigen Geschichte, und dann hab ich zudem Wasserfall gesagt: Ich werd dir was Komischeserzählen, paß auf!Der Wasserfall hat gleich aufgehört zu weinen. Undder Baum hat aufgehört zu brummen und die Blumenmit Jammern und die Vögel mit Piepen. Alles warganz still, nur ich nicht. Ich hab angefangen mitmeiner Geschichte: Es war einmal...Und da hat der Wasserfall gleich so laut gelacht wieder Bierkutscher von der Brauerei. Er hat gelacht undgekichert und geprustet und ist runtergefallen in seineSchlucht und hat mich dabei bespritzt von oben bisunten.Hahaha! Das ist eine wunderbare Geschichte, hat ergelacht. So was Komisches hab ich noch nie gehört.Aber ich habe doch noch gar nicht richtig angefangen.Ich hab doch nur gesagt: Es war einmal...Der Wasserfall hat sich verschluckt vor Lachen. Dasist es ja gerade! Es war einmal - wie das klingt!Wahnsinnig komisch! Da hab ich einen Bär kommensehn. Der brummte: Na, endlich fällst du wieder,Wasserfall. Und was hat dich so in Schwunggebracht?

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Anna hat gesagt: Es war einmal... grölte derWasserfall.Es war einmal...? hat der Bär gebrummt und ist vorVergnügen den ganzen Abhang runtergekugelt.Auch ein paar Vögel und ein Kaninchen und ein paarhundert Blumen und Samenkörner haben das gehört,und alle haben mitgelacht, die knorrigen alten Bäumeauch und überhaupt der ganze Wald. Nur ich hab nichtgelacht. Weil ich nämlich nicht gewußt hab, warumdie ändern so lachen. Ich hab mich ins Gras gesetzt,das auf einmal schön grün war, und nachgedacht,warum »Es war einmal...« so komisch ist. Fynn hättebestimmt gewußt, warum, aber ich nicht. Und da binich ganz traurig geworden, weil ich nicht mitlachenkonnte und weil sie über mich gelacht haben. Da habich erst mal ein bißchen leis geheult und dann ganzlaut, damit Mister Gott mich bei all denen ihr Lachenauch hören konnte.Und das hat geklappt. Plötzlich war ein ganzer HaufenEngel da. Die sind um mich rumgetanzt und habeneinen richtigen Zirkus gemacht.Verzeihung, nun sagt mir mal, warum alle lachen, habich zu ihnen gesagt, und sie haben geantwortet:Weil du eine so furchtbar komische Geschichte erzählthast.Quatsch, hab ich gesagt. Ich hab doch grad erstangefangen: Es war einmal... Na eben. Das ist es ja. Eswar einmal - was für eine komische Idee! Nichts istdoch nur einmal, alles ist doch vielmal, unendlichvielmal. Einmal, das würde sich doch gar nichtlohnen. Nur einmal auf Erden sein, das war doch sogut wie gar nichts, das war doch zum Lachen! Und

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deshalb haben alle so gelacht. Die Engel haben auchgelacht und sind wieder weggeflogen. Und ich habgedacht, einfach nur komisch ist das gar nicht, es istauch ein bißchen ernst oder noch mehr als einbißchen. Vielleicht war es doch schön, wenn manchesnur einmal war, nur ein einziges Mal. Zum Beispielfrieren müssen. Nur einmal, damit man merkt, wie dasist. Und wenn man's weiß, dann ist's genug. Weil,dann freut man sich noch viel mehr an allem, waswarm macht: die Sonne und mein Bett und wenn Fynnmich von sein Grogpunschglühwein trinken läßt.Als die alle so gelacht haben, da hab ich erst noch einbißchen geheult, und dann hab ich auch gelacht, weiles doch blöd ist zu heulen, wenn keiner sich drumkümmert. Und da hab ich gemerkt, wie toll es ist,wenn man richtig lachen kann. Und dann bin ich denSonnenstrahl runtergerannt und hab immerzu gerufen:Mister Walker, Mister Walker, ich bin nicht mehrfaul! Ich hab einen Wasserfall und eine SquillionTiere und Pflanzen und Engel zum Lachen gebracht.Und er hat gesagt: Nein, du warst nicht faul, Anna,und du hast eine Menge gelernt. Dafür hast du eineBelohnung verdient. Was wünschst du dir denn? Daßich den ganzen Sonnenstrahl runterrutschen kann, mitKaracho direkt in mein Bett.Da hat Mister Walker mich auf die oberste Spitze vondem Strahl gesetzt und mir einen Kuß gegeben undeinen Schubs, und dann bin ich wie ein Blitz durch dieLuft gesaust und kriegte kaum noch welche, so toll binich geflitzt. Bis es einen Ruck gegeben hat, und ichhab wieder in mein Bett gelegen. Wie ich die Augenaufgemacht hab, nur so zum Probieren, da war es nur

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ein klein bißchen heller, als wie ich zum ersten Malaufgewacht bin und rausgeguckt hab. Der Regen istnoch immer tropf, tropf, tropf an den Scheibenruntergelaufen, aber die Vögel haben gesungen, undder Baum sah gar nicht mehr schlecht gelaunt aus. Ichhab meinen großen Zeh unter der Decke vorgestreckt,und er ist ein bißchen kälter geworden, abergekümmert hat er sich nicht drum. Und es war keinSonnenstrahl am Himmel zu sehen, aber ich hab trotz-dem einen gesehen. Der kam von innen, nicht vondraußen. Mister Walker stand drauf und winkte mirzu. Ich bin aus dem Bett gesprungen und rüber zuFynn gelaufen und hab ihm einen dicken Kuß gegebenund er mir auch einen. Das wird heut wieder einschöner Tag, hat er gesagt, und dabei hatt er dochnoch gar nicht die Gardine aufgezogen. So früh wares noch.Und ich, ich hab nix vom Regen verraten. Weil dochdas Wetter, was man in sich selber macht, viel, vielwichtiger is wie das von draußen. Und Fynn sein Herzhat an dem Morgen kein Regenschirm gebraucht. . .

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Wie wird man ein Engel?

Lieber Mister Gott?Heut muß ich Dir schreiben, weil, wir haben in derSchule aufgekriegt, einen Brief schreiben an denbesten Freund, den man hat, und ihm sagen, was ichmal werden möcht, wenn ich groß bin und keineSchularbeiten mehr machen muß. Deshalb schreib ichan Dich, denn Fynn ist ja hier, dem kann ich nichtschreiben, oder er würd drüber lachen. Du lachst abernie, wenn Du mir beim Schreiben über die Schulterguckst. Das find ich prima, weil, sonst würd ichvielleicht rot werden. Was ich mal werden möcht, istEngel. Das hab ich noch niemand gesagt, auch Fynnnicht. Deshalb weiß ich auch noch nicht, wo man dieFlügel herkriegt. Stimmt es, daß man da erst tot seinmuß? Das hat der Robbie aus der Mortonstreet gesagt,der Torwart werden will. Der glaubt an überhauptnichts außer Fußball. Und er sagt, ein Engel ist bloßdazu da, daß kein Ball ins Netz geht. Ich möcht abermehr tun, wenn ich mal Engel bin. Und auch nicht ersttot sein müssen. Ich schreib Dir, weil ich glaub, daßnur Du richtig weißt, wie man Engel wird. In derBibel steht, daß Du die Engel selber machst. Da dachtich, weil Du doch auch mich gemacht hast vor paarJahren, kannst Du mich auch zum Engel machen.Später mal. Aber nicht zu spät. Jedenfalls bevor ich soalt bin wie Mrs. Cook. Dann ist man schon zu alt, umnoch fliegen zu lernen oder um noch andauernd Guteszu tun. Mrs. Cook tut oft nichts Gutes, wenn sie Noten

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gibt. Das möcht ich später mal nicht machen. Lieberfür andere die Hausaufgaben machen, wenn sie's nichtkönnen. Dann war ich fast so nützlich wie Du. Ob Dumir dabei helfen kannst, würd ich gern von Dirwissen. Wenn Du mir zeigst, was man als Engel alleskönnen muß, dann würd ich bestimmt für üben. Ganzsicher.

Diesen Brief wollte Anna tatsächlich in die Schulemitnehmen und Mrs. Cook abgeben! Wie gut, daßdiesmal nicht nur Mister Gott, sondern auch ich ihr beimSchreiben über die Schulter geschaut hatte. Ganz still undheimlich natürlich. Aber am Schluß platzte ich dochheraus: »Um Gottes willen, Anna! Das darfst du aufkeinen Fall Mrs. Cook lesen lassen. Die kriegt einenAnfall, wenn sie liest, daß sie deiner Meinung nach zu altist, um noch was Gutes zu tun. Die läßt dich dafür glattzu Ostern sitzen. Tu den Brief in den Schuhkarton undschreib lieber einen neuen Aufsatz über einenvernünftigen Berufswunsch, zum Beispiel Kranken-schwester oder Mutter von fünf Kindern.«»Ist denn Engel nicht vernünftig?« fragte Anna beleidigt.»Ach, Fratz, wie soll ich dir das erklären? Ein Engel istzwar nichts ausgesprochen Unvernünftiges, aber keinBeruf für dich oder allgemein für unsereins. Du mußt mitdeinen Vorstellungen auf dem Teppich bleiben, hörst du!Mal fühlst du dich ein bißchen wie Mister Gott, malwillst du Engel werden. Für solche verrückten Ideen gibtes in der Bibel ein ganz bestimmtes Wort, das heißt›Hoffart‹, was noch schlimmer ist als Hochmut. Und dieHoffärtigen mag Mister Gott überhaupt nicht. Steht auchin der Bibel. Über diesen Brief freut er sich

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wahrscheinlich gar nicht. Es war besser, du hättest nichtgleich losgeschrieben, sondern erst mit mir über deineBerufspläne gesprochen. Statt gleich Engel zu werden,könntest du beispielsweise erst einmal damit anfangen,ein guter Mensch zu sein.

Eine so lange Gardinenpredigt hatte ich Anna noch niegehalten. Ganz kleinlaut stand sie da und zerknüllte inder rechten Faust den von mir beanstandeten Brief. Aberkaum war ich fertig -ich meine, kaum fielen mir keineweiteren Argumente mehr gegen den Beruf eines Engelsein -, da hatte sich der Fratz schon wieder einigermaßengefaßt. »Ein guter Mensch werden . . .«, sagte sie leiseund nachdenklich, » . . . ob ich das schaffe? Meinst dunicht, daß Engel vielleicht doch leichter war?«

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Annas biblische Geschichten

Lesen hat Anna aus der Familienbibel gelernt, und dieblieb auch ihr bevorzugtes Lesebuch, schon deshalb, weilsie so dick und auch schwer war. Was da drin steht, dasmuß halt für ein ganzes Leben reichen, meinte sie, unddamit hatte sie ja auch recht.

Für den Religionsunterricht mußte sie gewisseBibelabschnitte auswendig lernen, was siepflichtschuldigst tat, aber die Kapitel, die sie für sich lasoder sich von mir vorlesen ließ, die lernte sie»inwendig«. Und das schien ihr mehr Spaß zu machenund wichtiger zu sein als »auswendig«.

Man kann sich vorstellen, daß sie mich mit ihren Fragennach der Bedeutung von Stellen, die ihr unverständlichoder zweifelhaft - Anna sagte »verzweifelt« - schienen,manchmal in arge Verlegenheit brachte. Als sie gelesenhatte, daß Adam seine Eva »erkannt« hatte, wollte siezum Beispiel wissen, ob ich sie, Anna, denn auch schonerkannt hätte.

»Das verstehst du noch nicht« durfte man zu Anna nichtsagen. Das hätte nur ihren Ehrgeiz angestachelt, so langezu fragen oder phantastische Vermutungen zu äußern, bisman klein beigab und ihr die Sache erklärte, so gut eseben ging.»Ich hab dich noch nicht wirklich erkannt, Anna«, sagteich schließlich, »weil wir uns dazu noch nicht lange

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genug kennen. Auch der einfachste Mensch ist ein sehrkompliziertes Wesen, und der liebste Mensch erscheinteinem manchmal als der allerkomplizierteste. Auch wennman den anderen sehr liebt, kann man ihn nicht immererkennen.«Das begriff Anna. »Warten wir also noch ein bißchen, biswir uns inwendig ganz auswendig gelernt haben«, schlugsie vor, und ich war vollkommen einverstanden.

Annas Fragen hatten es, genau wie ihre Geschichten,stets in sich, und die Bibel hat es ebenfalls in sich. Dasbedeutete: Je öfter ich Anna eine präzise Antwortschuldig blieb, desto mehr wuchs in ihr die Überzeugung,daß das dicke Bibelbuch noch viel schwierigere Fragenstellte als ein Rechenbuch, nur eben mit Buchstaben stattmit Zahlen. Und für manche von diesen »Wörter-Aufgaben« wußte halt nicht mal ich eine Lösung, soschwer waren sie. Obwohl sie also meinte, daß da mehrFragen drinstehen als Antworten, las sie gern in derHeiligen Schrift, »weil so viele schöne Blumen-Wörterdrinstehen, und über die Stellen, wo grad keine sind, mußman eben wegsteigen, wie auf der Wiese, wo einKuhfladen liegt.«Abgesehen von diesen Einschränkungen gefiel ihr dieBibel schon deswegen, weil man beim Lesen soviel»zusammendenken« konnte.

Was mich und alle, die Anna näher kannten, oftfrappierte, war ihre Fähigkeit, die unterschiedlichstenIdeen und Vorstellungen miteinander in Verbindung zubringen. Das mußte ihr wohl angeboren sein, denn keine

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Erziehung, kein Schulunterricht hätten ihr das beibringenoder austreiben können.Ich erinnere mich, daß sie einmal die Begriffe Schatten,Mathematik, Gott und noch eine Handvoll andererPhänomene zu ihrem und zu meinem Vergnügengewissermaßen auf einen Nenner brachte. Das geschahso:

Eines Tages hatte ich ihr erklären wollen, wie man dieZeit von einer Sonnenuhr ablesen kann. Auf unseremGemeindefriedhof haben wir eine. Ich deutete auf denTeil des Zifferblattes, der im Schatten lag, und sagte:»Diesen Bereich nennt man ›Gnomon‹.« Zugegeben, dasist kein alltägliches Wort, aber Anna liebte ausgefalleneWörter. Wieder daheim, wurde das neue Wort»Gnomon« natürlich sofort aufgeschrieben, aber damitnicht genug, ich mußte Anna auch noch vorlesen, was imLexikon darüber stand, nämlich: »Der Teil einesParallelogramms, der übrigbleibt, wenn ein ähnlichesParallelogramm aus seiner Ecke geschnitten wird

Das war eine harte Nuß und kam Anna wie eine ganzverzwackte Rechenaufgabe vor. Deshalb lenkte sie ihreWißbegier lieber in anderer Richtung weiter. Ich mußteihr alle Worte nennen, die mit Gn anfangen, und sieschrieb sie sich auf: Gnade, Gneis, Gnom, Gnomon,Gnosis, Gnu. Als sie erfahren hatte, was jedes einzelneWort bedeutete, brauchte sie nicht lange zu überlegen,um zu entdecken, daß alle etwas Spezielles gemeinsamhatten, außer dem komischen Gn am Anfang, verstehtsich.

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»Die klingen wie 'n kleines Geheimnis, und du spürstgleich, daß dahinter noch ein viel größeres kommt. Manmuß nur ein bißchen weiterblättern.«Ich folgte Annas Vorschlag, blätterte von »Gnosis -Erkenntnis« weiter, und auf wen stießen wir da nach einpaar Seiten? Natürlich auf Gott, denn nach den Wörternmit Gn kommen bekanntlich alle Wörter mit Go. Annaklatschte vor Begeisterung in die Hände. »Ich hab'sgewußt, ich hab's gewußt!« rief sie, ihrer Sache zwarsicher, aber doch ein bißchen überrascht, so schnellhinter das »große« Geheimnis der Gnosis gekommen zusein.

Was mir manchmal Sorgen machte, war, daß Anna sichgar so sehr für Mister Gott, für seine Person, seinenLebenslauf und seine Herkunft interessierte. Nicht nur,daß sie unbedingt seinen Geburtstag herausfinden wollte.Auch seine Eltern wollte sie ausfindig machen, und das,obwohl Anna von ihren eigenen Eltern niemals sprach!Da ihr niemand sagen konnte, wer Vater und Mutter vonMister Gott waren, erschuf sie die beiden einfach. Darauswurde wieder eine richtige Anna-Geschichte, und sie wardarauf so stolz, daß sie sie am liebsten sofort an MisterGott geschickt hätte. Aber ich sagte: Glaubst du nicht,daß der das alles schon weiß? Tu das lieber nicht, sonstdenkt er am Ende noch, du wolltest ihn verbessern. Dashat keiner gern, vor allem nicht Mister Gott. Dasleuchtete Anna ein, und sie legte die Geschichte zu ihrenübrigen »Notizien«: Sie war ja sicher, daß Mister Gott siespäter ohnehin lesen würde. Aber dann würde es einAndenken an Anna sein, und er wäre nicht böse auf sie.

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Mister Gott ist jetzt sehr alt, aber früher mal, da war erjung und davor ein Baby und davor war er noch nichtmal geboren, und da gab's noch gar keine Welt undauch keine Sterne und überhaupt nix. Außer dem Papaund der Mama von Mister Gott. Die waren so groß,daß für nix andres mehr Platz war. Wenn du was ganzwinzig Kleines sehen willst, dann mußt du ganz nahrangehen. Aber wenn du einen großen Berg hast, dannkannst du ihn nicht sehen, wenn du so nah rangehstwie an einen Marienkäfer. So war es auch mit demPapa und der Mama von Mister Gott. Die waren vielzu groß für unseren Grips. Das fanden sie schade.Drum haben sie sich ein Baby gemacht. Das war einbißchen kleiner, grad so viel, daß man es auch von nahsehen konnte. Aber nicht im Finstern. Drum haben siesich Licht gemacht. Und zum Spielen machten sie ihmdie Engel. Die haben ihm zur Geburtstagsparty Sterneangezündet. Immer noch einen und noch einen, jedesJahr. Bis der Himmel ganz voll war mit Sternkerzen.Und der kleine Babygott, den haben seine Elternrichtig erzogen. Er mußte »bitte sehr«« und »dankeschön«« sagen, wenn er was haben wollte. Dafürhaben sie ihm dann die Welt gemacht. Aber nicht ausGold oder Zuk-ker, sondern aus Dreck von der Straße,damit er nich so verwöhnt wird. Seine Mama hat dieDreckpansche wie Teig in den Händen zu einem Kloßgerollt und draufgespuckt, damit er schön hielt, undder Papa hat ihn dann in die Luft geworfen, und daswar dann die Welt, und der kleine Mister Gott hat sichüber den Ball zum Spielen gefreut. Aber allein spielenist ja nicht schön, und drum wollte er einen Bruderoder eine Schwester. Aber seine Mama hat gesagt, für

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so was hab ich keine Zeit. Da hat er geheult. Undseine Mama hat nach was geguckt, für ihn zuberuhigen. Ich hab eine gute Idee, hat sie gesagt undihm einen Spiegel gegeben. Was siehst du da? hat sieihn gefragt. Er hat reingeguckt und gesagt: Mich. Aberdie Mama hat gesagt: Nein, nicht dich, nur deinSpiegelbild.Kann ich das haben? hat der kleine Mister Gottgefragt, weil ihm das Bild gefallen hat. Klar, machdamit, was du willst, hat die Mama gesagt, weil siedoch froh war, daß er nicht mehr geheult hat. Und dawaren sie alle zufrieden: die Mama, der Papa und derkleine Mister Gott und auch sein Spiegelbild.Aber ein bißchen später, nach einer Squillion Jahreoder so, da hat Mister Gott gesagt: Nur einSpiegelbild, das ist viel zuwenig. Und die Mama hatgesagt: Mir hat eins immer gereicht. Was bist du nurfür ein verwöhnter Bengel.Aber der hat gejammert: Wo ich doch immer so alleinbin! Warum kann ich denn nicht Sachen zum Spielenhaben, Leute und Tiere und Blumen und so, dannkönnten wir doch alles zusammen machen, undniemand wäre mehr allein.Und Mister Gott seine Mama hat gesagt: Hör auf zuheulen und mach dir dein Spielzeug selber. AndereKinder machen das auch. Und da hat der kleine MisterGott ganz tief Luft geholt, damit er genug Puste hatte,besonders im Herz drin. Und dann sind sie alle ausseinem Innern rausgekommen, die Menschen, abernoch ganz klein, und die Blumen, aber ohne Blüten,nur Stengel, und ein Haufen Tiere, Flöhe und Hasenund Elefanten, alle ganz klein, sonst hätten sie ja in

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sein Herz drin nicht genug Platz gehabt. Sie fanden'salle furchtbar komisch, auf der Welt zu sein, undalberten immer nur rum. Aber Mister Gott hat mit demFuß aufgestampft und gerufen: Macht doch nichtsolchen Lärm! Wenn ihr mich nicht hört, dann kannich euch nichts beibringen, und dann lernt ihr nie, wieman Fußball spielt und wie Musik klingt und wie manBonbons macht. Und dann wißt ihr auch nicht, wieschön die Welt sein kann. Da waren sie alle ganz stillund haben ihm zugehört, und er hat erst malSonntagsschule gehalten. Die Sonne hat gestrahlt, undsie hatten alle Spaß, was zu lernen. Aber dann ist derRegen gekommen, und alle sind weggelaufen, um sichwo drunter zu stellen. Weil aber viel zuwenig Bäumeda waren für alle zum Unterstellen, haben sie zuMister Gott gesagt: Du mußt was erfinden, wo es nichtreinregnet, sonst kommen wir nicht wieder. Dann warer wieder allein gewesen. Drum hat er die Kircheerschafft. Die haben die Menschen ganz praktischgefunden und sind wieder unter den Bäumenhervorgekommen. Nur die Tiere und die Blumen, diesind im Wald geblieben, weil, denen war die Kirchezu dunkel, zuviel Steine und zu wenig Grün drin. Aberschon bald haben die Menschen sich beschwert, daßnich jeder eine Kirche für sich allein hat, und drumhaben sie ganz viele davon gebaut. Jeder wollte eineeigene haben. Sie wollten auch drin schlafen undessen und Unsinn machen. So sind die Häuser auf dieWelt gekommen, auch unsers. Inzwischen ist derMister Gott aber groß geworden und älter, und er istgewachsen und gewachsen. Größer noch wie Fynnund ich auf seinen Schultern drauf. Und er war dann

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so riesig, daß die Menschen ihn gar nicht mehrgesehen haben, weil er doch alles ausgefüllt hat undüberall war mit sein Großsein.So wie man auch die Luft nicht sieht, die man atmenmuß, um nicht tot zu sein. Weil sie überall ist undtrotzdem keinen Platz wegnimmt.Viele Leute haben dann einfach gedacht, den MisterGott gibt's gar nicht mehr, weil sie ihn nicht mehrgesehen haben. Die anderen haben aber gesagt,Blödsinn, wenn er sich nich mehr blicken läßt, dannmachen wir uns eben selber einen, und sie habenGottbilder gebaut aus Stein oder Holz oder Eisen undhaben die rumgezeigt, damit alle sehen, es gibt ihndoch noch, und man kann ihn auch in klein haben,sogar fürs Grab und für die Kommode. Wie sie eineganz große Menge von so Figuren gemacht hatten, dahat jeder geschrien: Meine sind die schönsten und amähnlichsten mit Mister Gott. Das hat die anderengeärgert, die wo ihre genauso schön gefunden haben.Da haben sie aufeinander losgedroschen und sichabgeknallt. Nur weil jeder gefunden hat: Ich hab denbesten Mister Gott, und eurer is nicht gut. Wie diemeisten tot waren und viele ohne Arme und Beineoder blind, da hat Mister Gott den Kopf geschütteltund hat gedacht:Hätt ich sie bloß alle in mein Herz drin behalten, stattsie in der Welt rumtoben zu lassen, dann wären sienoch so, wie ich es gewollt hab.Trotzdem hat er aber die Menschen liebgehabt. Siewaren ihm nämlich ganz schön ähnlich. Aber er wareinfach zu groß für sie. Mister Gott hat das selbergemerkt, wenn er so auf die Menschen runtergeschaut

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hat. Es muß eben wieder ein kleines Baby her, hat ergedacht, so mitten in sie rein, so was mögen sie, weilsie's dann nicht erst in den Wolken suchen müssen.Da ist er gleich zu Maria gerannt, um mit ihr darüberzu reden, aber die hat nicht viel gesagt, weil sie sofromm war und immer gehorsam. Mister Gott fand,das war genau richtig für sein kleinen Sohn.Und wie der dann auf der Welt war, haben die Sterneauf einmal heller geblinkt, und die Engel habenTrompete geblasen, und die Menschen sind gelaufengekommen, weil sie neugierig waren, wie der Sohnvon Mister Gott aussieht. Aber so besonders haben sieihn nicht gefunden, weil sie doch gedacht haben, derkommt mit einer Krone auf'm Kopf und bringt allenwas Tolles mit und sie werden alle reich und fröhlichund müssen nicht mehr arbeiten. Nur so 'n paar vonihnen, die haben gemerkt, daß jetzt doch alles andersist, aber daß man auch was für tun muß. Und sie sinddem Sohn von Mister Gott auch nachgelaufen. Undden haben sie Jesus genannt und sind immer um ihnrum gewesen und haben ihm zugehört, weil er soschöne Sachen gesagt hat.Aber viele andere, die wollten überhaupt nicht auf ihnhören. Die wollten auch nicht, daß die anderen ihmzuhören, und da haben sie ihn einfach umgebracht.Warum Mister Gott das erlaubt hat, wo Jesus dochsein Sohn war, das hat Fynn mir leider nicht erklärenkönnen. Das ist eine schwierige Geschichte, hat ergesagt. Und es hätte schon viele Tote gegeben, umherauszukriegen, warum das so sein mußte.Ich möchte gerne mal wissen, wenn Mister Gott dochalles tun kann, was er will, warum tut er dann

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manchmal nix? Ich glaub, es ist so: Mister Gott tutdoch was, aber nicht außen, sondern innen. Er istnämlich kein Außenstürmer wie der Jackie vonunserm Fußballklub. Er schießt immer von der Mitteins Tor. Da trifft er direkt ins Herz rein. Und das willer auch, und nicht gegens Schienbein oder gegen denTorpfosten. Mister Gott ist ja in der Seele drin, undder Körper, den man hat, der interessiert ihn gar nichtso sehr. Der ist nämlich gar nicht das Wichtigste amMensch, auch wenn er manchmal groß und schön ist.Der is nur der Klotz am Bein der Seele, sagt Fynn.Mister Gott is nur für unsere Seelen da, aber für jedeauf der Welt, auch wenn sie nur ganz klein ist wie beiein Floh. Ich würd meine Seele ja gern mal sehen,aber das geht nicht, sagt Fynn. So tief kann keiner insich reingucken, außer Mister Gott. Da kannst du nochso lange die Augen zumachen oder hinter den Spiegelgucken. Da findest du nix, was du anfassen kannst wieein Bein oder die Nase. Wenn aber die Seele so wasÄhnliches wie die Nase war, und im Gesicht oder amFuß, oder wo, dann müßte man auch nicht so vieldrüber nachdenken und Bücher schreiben, weil man javiel mehr von ihr sehen kann. Und was man sehenkann, das kann man viel leichter kapieren...

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Warum eine Mücke nicht mit einem Elefanten sprechenkann

Daß der Sohn Gottes getötet wurde, weil ihn zuvor einMann namens Judas verraten hatte, empörte Annagenauso wie viele andere Bibelleser. Aber an dem Wort»Verrat« fiel ihr eine Winzigkeit auf, die die ganze übleGeschichte sofort in einem anderen Licht erscheinen ließ.Sie war ganz allein darauf gekommen und mußte ihreFeststellung mit Mister Gott besprechen, weil ich ihr indieser Frage offenbar keine große Hilfe war. Jedenfallsfand ich den folgenden Brief, den Anna wohl imAnschluß an unser Gespräch über den ebenso bösen wieinteressanten Judas geschrieben hatte.

Lieber Mister Gott!In der Bibel steht, daß der Judas Deinen Sohn verratenhat, und dann haben sie ihn totgemacht. Aber kannstDu mir vielleicht helfen, denn das mit dem Verratenversteh ich nicht so gut, und der Fynn weiß es auchnicht. Also, wenn Fynn mir verrät, daß es heuteVanillepudding gibt, dann freue ich mich. Und wenner mich verrät und der Mama sagt, daß ich mir nichtdie Zähne geputzt habe, dann bin ich ihm böse. Bloßwegen so 'n kleinen Unterschied von mir und mich!Vielleicht hat der Judas das auch nicht kapiert.Vielleicht wollte er gar nix Böses und hat nur die zweiWörter verwechselt? Er war ja nicht so klug wie Jesus,weil sein Vater nicht Mister Gott war.

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Lieber Mister Gott, weißt Du, das mit der Sprache istwirklich schwer. Vielleicht wäre Dein Sohn nichtumgebracht worden, wenn der Judas ihn besserverstanden hätte. Warum gibt es überhauptverschiedene Sprachen? Die Leute würden sich dochviel besser verstehen, wenn es nur eine gibt. Du hast'sja gut, Du verstehst sowieso alles. Aber wir . . . Drumhab ich mich hingesetzt und gedacht und gedacht, unddann hab ich plötzlich gehört, wie schön die Vögelsingen. Jeder singt was andres. Und nur deshalb ist esschön! Die Amsel singt so, und der Fink so, und einerschilp, schilp, und der andere kuckuck. Das war dochsehr langweilig, wenn alle dasselbe singen!Siehste, hat Fynn gesagt. Und so ist das auch mit denvielen Sprachen von den Menschen. Jedes Volk willeine eigene Sprache haben, damit jeder Mensch weiß,zu dem Volk gehör ich. Und wenn alle die gleicheSprache sprechen täten, war das furchtbar laut. Jederwürd sich mit jedem auf der Welt unterhalten können,und das gab ein Mordsgequassel und keiner würdmehr den ändern zuhören. Man würde dann dieanderen vielleicht auch noch weniger verstehen wiejetzt, weil's so durcheinandergeht mit all denStimmen. Oder man würd nur die ändern hören, abernicht mehr sich selbst. Oder alle Menschen würdensich den ganzen Tag die Ohren zuhalten und Dichauch nicht mehr hören, Mister Gott. Und nochsquillionenmal lauter war's, wenn auch noch alle Tieresich miteinander unterhalten könnten, die Maus mitder Katze und die mit dem Löwen und dem Elefantenoder mit einer Mücke. Wenn sie alle dieselbe Sprachehätten, dann würden sie alle muh machen oder miau

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oder ia, der Haifisch und der Schmetterling und dasPferd und der Kuckuck. Das war wieder ganz lang-weilig. Deshalb, hat Fynn gesagt, hast Du es ganzrichtig gemacht, daß jeder eine andre Sprache spricht.Sonst war's nicht auszuhalten und überall auf der Weltso laut wie in unsrer Schule. Aber wenn ein Neger undein Indianer und ein Chinese auf dem Schulhofzusammenstehen, dann is es erst mal still, weil es jablöd war, sofort aufeinander loszubrüllen. Von denenmuß jeder den ändern erst mal ein bißchen studierenund ein bißchen zuhören und verstehen. Und deshalbist es gut, find ich, wenn es verschiedene Sprachengibt. Man muß sich einfach besser zuhören. Meinst Dunicht auch?

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Kein Geburtstagskuchen für Mister Gott

Lieber Mister Gott!Heut hab ich zu Fynn gesagt, daß ich ein bißchen wieMister Gott bin, und da hat er gemeint, so was sagtman nicht, weil es eingebildet klingt, und Du magstkeine eingebildeten Leute. Und überhaupt, wiekommst du bloß auf so ein Käse, hat er gefragt. Undich hab gesagt, da bist du selbst schuld dran. Weil duso oft sagst: Warum kommst du nicht gleich, wennman dich ruft? Das hab ich so von Mister Gott gelernt.Der kommt auch nicht auf Kommando. Stimmt doch -oder? Manchmal denkst Du halt grad über wasanderes nach, dann muß ich eben warten. Und ich binauch manchmal in Gedanken woanders und hör Fynnnicht rufen, weil ich, wenn ich ganz woanders bin, nurnach innen hör und nicht nach außen. Oder ich redgrad mit Dir. Dann muß Fynn halt ein bißchen warten,denn Du kommst natürlich zuerst. Wenn Du aber malnach mir rufen würdest, da würd ich mich nicht erstdreimal bitten lassen, kannste Gift drauf nehmen. Ichkam angeschossen wie der Blitz. Hier bin ich, MisterGott, würd ich sagen. Was kann ich für Dich tun?Aber Fynn hat schon wieder gesagt, so ein Käse, mankann nichts für Dich tun. Du kannst nur was für unstun. Weil, Du hast alles, was Du brauchst. Nur unsfehlt es hinten und vorn.Hab ich aber dem Fynn nicht geglaubt, daß ich Dirnicht irgendwie mal helfen kann. Ich mein ja nicht,Kohlen rauf holen und so. Ich hab zu Fynn gesagt:

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Wetten, daß Mister Gott uns braucht, dich und michund alle Menschen? Weil - ohne Menschen war esdoch furchtbar langweilig für ihn. Das war so wie einVater ohne Kinder. Wofür geht der überhaupt zurArbeit? Oder wie du ohne ich, da hätten wir dochbeide nichts von, hab ich zu Fynn gesagt. Und er hatgebrummt: Da hast du mal wieder recht.Ich hab aber nicht ganz so oft recht wie Du, MisterGott. Denk bloß nicht, daß ich ein Angeber bin. Ichgeh ja noch zur Schule, aber Du bist schon SquillionenJahre erwachsen. Lieber Mister Gott, jetzt muß ichDich aber mal was Wichtiges fragen: Warum muß ichjeden Tag in Mrs. Cook ihre Schule und nur amSonntag in Deine? Kann man denn von Mrs. Cookmehr lernen als von Dir? Ich denke, Du bist der, woalles weiß! Oder weiß Mrs. Cook was, was Du nichtweißt? Bist Du auch bei so einer Lehrerin in dieSchule gegangen, als Du klein warst, oder hast Du vonAnfang an alles gewußt?Ich hab Fynn gefragt, ob er das weiß, und er hatgesagt, nein, im Grunde wissen wir verdammt wenigüber Mister Gott sein Leben. Das hat er ganz trauriggeflüstert, wie wenn Du es nicht hören sollst. Undwarum fragen wir ihn dann nicht danach, hab ich ihngefragt. Man quetscht die Leute nicht über ihrPrivatleben aus, das weißt du doch, und erst rechtnicht Mister Gott, hat Fynn gemeint. Macht's Dichwirklich böse, Mister Gott, wenn man was Genauesüber Dich wissen will? Ich meine, ein bißchen mehrals in der Bibel steht? Für mich steht nämlich längstnicht genug drin über Dich. Zum Beispiel, wann DuGeburtstag hast und wie alt Du jetzt bist. Millie verrät

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auch niemand, wie alt sie ist. Aber Fynn hat mirerklärt, warum. Weil sie Angst hat, daß sie keinermehr mag, wenn man weiß, wieviel Jahre sie schonauf dem Buckel hat.Hast Du auch Angst, daß Dich dann keiner mehr mag,Mister Gott? Fynn sagt, Du hast vor nichts Angst, beiDir sind es ganz andere Gründe. Du wirst gar nichtälter, weil Du ewig bist. Deshalb hast Du auch nieGeburtstag. Eigentlich schade, nicht? Ich hätte Dirgern mal 'nen Kuchen gebacken. Dafür kann Dir nichtso was passieren wie Sterben, weil Du ewig bist.Daran kannst du ruhig denken, wenn Du traurig drüberbist, daß Dir niemand »Happy Birthday« singen kann.Ich finde ja, es gibt nur einen einzigen Mister Gott.Das bist Du. Aber Mrs. Cook hat neulich gesagt, dagibt's noch andere, die heißen nur anders und lebenanderswo. Sie sprechen auch anders als wir undkommen selten nach London. Mrs. Cook hat unsBilder von den anderen Gotts gezeigt. Sind das DeineVerwandten? Also ehrlich, schöner find ich Dich,Mister Gott, auch wenn an den anderen manchmalmehr Gold dran ist. Das finde ich sowieso ganzschrecklich. Wenn Du auch so dick und ganz aus Goldwärst wie der Mister Gott von den Indern, dann warder Unterschied zwischen uns beiden nämlich riesiggroß, und das stört. Mich jedenfalls. Wie findest Dudenn Deine Verwandten? Ich sag's bestimmt nichtweiter. Hauptsache, ich hör mal was von Dir. DieGwendolyn aus der Blakerstreet hat gesagt, da kannstelange warten, Anna. Weil, den gibt es gar nicht, der istnur so eine Erfindung. Das weiß sie von ihrem Vater.

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Blödsinn, hab ich gesagt. Eine Erfindung ist was ganzanderes. Fynn seine Dampfmaschine ist eineErfindung, aber Mister Gott ist doch keineDampfmaschine oder so was. Stimmt's? Und dieNancy aus meiner Klasse hat noch was vielSchlimmeres über Dich gesagt, nämlich daß Du schonlange gestorben bist. Sonst würde nicht alles sodrunter und drüber gehen in der Welt. Das hat sie ineinem Buch gelesen. Da hab ich geweint, wie bei derBeerdigung von Fynn seinen Kanarienvogel. AberFynn hat gesagt: Hör auf zu weinen. Denk doch malnach! Wenn Mister Gott wirklich gestorben ist, ichmeine, nehmen wir das nur mal zum Spaß an, dann ister doch auf alle Fälle in den Himmel gekommen, sofromm, wie er immer war, und wenn Mister Gott imHimmel ist, dann ist doch alles okay - oder? Und dashat mich wieder froh gemacht. Lieber Mister Gott,jetzt muß ich noch was fragen: Kannst Du mir morgenvielleicht beim Rechnen helfen? Wir kriegen nämlichNoten. Oder Du könntest mir in der Nacht einenHusten anwehen. Aber einen richtigen, echten. Dannkann ich morgen im Bett bleiben.Fynn sagt, aus Angst vor Mrs. Cook ihre Notenbrauchst du dir nicht in die Hose zu machen, Fratz.Die Noten, die dir Mister Gott mal gibt, sind vielwichtiger als die von der alten Schachtel.Lieber Mister Gott, ich wüßte so gern, ob ich mal guteNoten von Dir kriege, wenn Du die Zeugnisseverteilst. Du läßt mich doch bestimmt nicht sitzen,oder?

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Herzfenster und Augenfenster

Lieber Mister Gott!Heut schreib ich Dir über mein Freund Fynn. Es gibtja welche, die nicht genau wissen, wie Fynn ist, unddas find ich traurig, weil Fynn, das ist der besteMensch von der Welt. Er ist sehr groß und stark, aberer ist trotzdem sehr nett und sehr lieb. Er kann michmit Schwung in die Luft werfen und dann auch wiederauffangen.Wie ein schöner Baum aus Mensch ist er. Aber dasweißt Du ja auch. Fynn sagt, wenn man in ein Hauswohnt, wo die Scheiben ganz schmutzig sind, undguckt raus, dann meint man, die Welt draußen ist soschmutzig, dabei ist sie es gar nicht. Und wenn manvon draußen reinguckt ins Haus, dann denkste, es istinnen ganz schmutzig, aber das stimmt auch nicht. Essind immer nur die Fenster, die schmutzig sind. UndFynn sagt deshalb, nämlich, daß alle Menschen zweiverschiedene Arten von Fenstern haben: dieAugenfenster, davon haben sie zwei, und dasHerzfenster, davon hat jeder nur eins. DieAugenfenster sind da, um rauszugucken, und dasHerzfenster ist da, um nach innen reinzugucken. Wennman weint, sagt Fynn, dann ist das nicht nur wegenwas Traurigem. Es ist auch dafür, daß man mal dieAugenfenster putzen muß. Wenn sie dann saubergeworden sind von den Tränen, kann man besserdurchgucken, und dann ist die Welt wieder viel hellerals vorher. Manchmal guck ich lieber durchs

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Herzfenster wie durch die Augenfenster. Weil,draußen kenn ich bald alles, was es zu sehen gibt.Aber wenn ich durchs Herzfenster nach innenreinguck, da seh ich immer Neues. Bei mir auch. Dennvon innen, sagt Fynn, kennt sich niemand so gut, wieer seinen Garten kennt oder die Leute von gegenüber.Und das ist, weil das Herzfenster aus anderem Glasist. Nach draußen, durch die Augenfenster, sieh-stemeistens klarer, findet Fynn. Aber ich glaub, ich sehmit dem Herz besser.Einmal hab ich Fynn gefragt, ob er was Süßes fürmich hat, und er hat gesagt, nee. Da war ich enttäuschtund hab meine Augenfenster ein bißchen geputzt. Dawar der ganze Schmutz von meiner Enttäuschung überkeine Süßigkeiten drauf. Fynn hat mich an der Handgenommen, und wir sind vor den großen Spiegelgegangen. Da hab ich mich wie durch ein vollge-spritztes Fenster gesehn, wo der Regen runterläuft.Das waren meine Tränen.Jetzt ist es genug, hat Fynn gesagt. Das war schon eineVollwäsche. Und wie ich aufgehört hab und dieTränen eingetrocknet waren, hab ich mich im Spiegelwie auf Hochglanz gesehn und Fynns Gesicht auch.Es lachte von einem Ende bis zum ändern. Das wargenauso schön zu sehen, wie was Süßes zu essen.Fynn sagt: Ich würd dir ja was kaufen, Fratz, aber ichhab kein Geld mehr. Ich hab meine letzten Monetengebraucht, um für Mrs. Barker Erdnüsse zu kaufen.Die braucht sie, um sie wieder zu verkaufen, weil sieGeld braucht, um für ihre Kinder was zu essen zukaufen. Verstehst du?

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Nee, sag ich. Wieso gibst du Mrs. Barker Geld fürErdnüsse und mir nicht? Manchmal bist du sehrumständlich, wenn du was Gutes tun willst. Genauwie Du, Mister Gott, deshalb sag ich ja auch immer,der Fynn ist Dir ähnlich . . .

Ich merke schon, die Sache mit Mrs. Barker muß ichgenauer erklären. Es war so: Mrs. Barker war eine nettekleine Frau, die vor dem Kino Erdnüsse verkaufte.Genauer gesagt, sie ging mit ihrem Korb vollerErdnußtüten von einem Kino zum ändern. Eines Abendssah ich sie sehr bekümmert dastehen. Ihr Korb war leer,aber nicht, weil sie total ausverkauft war, sondern weilsie so knapp bei Kasse war, daß sie beim Großhändlernur für zwei Schillinge hatte einkaufen können. Dafürbekam sie nur ein paar Schaufeln Erdnüsse, die ergabenso zehn oder zwölf Tütchen voll. Im Nu waren die weg,aber verdient hatte sie daran weniger, als man für einPfund Brot und ein paar Wurstzipfel zahlen muß.Mrs. Barker sah sehr verzweifelt aus. Sie traue sich garnicht mehr zu ihren Kindern heim, sagte sie. Und da tatsie mir so leid, daß ich ihr meine zwei letzten Pfundnotengab und dachte, dafür kriegt sie einen Zentner Erdnüsseauf Vorrat - oder zumindest einen halben Zentner, na,sagen wir einen viertel Zentner. Dafür müßte es reichen.Sie wollte das Geld aber nicht annehmen, weil sie wußte,daß ich auch nicht gerade reich war.»Na gut. Ich hab eine andere Idee«, sagte ich. »Dannbesorge ich Ihnen die Erdnüsse. Ich meine, ich liefere sieIhnen frei Haus. Sie brauchen sie nur noch einzutütenund zu verkaufen - zu Höchstpreisen, versteht sich.«

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Da strahlte sie mich an, als hätte ich ihr einenHeiratsantrag gemacht. Man muß nämlich wissen, daß siezwar Kinder hatte, aber keinen Mann, der für die Familiedie nötigen Erdnüsse angeschafft hätte.Und so kam es, daß ich kein Geld übrig hatte, um fürAnna Süßes zu kaufen, und ihr klarmachen mußte, daß esgewissermaßen Süßeres gab als was Süßes zum Naschen.Gut, ich hätte ihr den Fall auch mit weniger Wortenerklären können, und sie hätte sicherlich sofortverstanden, warum die muffigen ollen Erdnüsse für Mrs.Barker viel wichtiger waren als was Süßes für Anna, jawichtiger vielleicht als alles andere, was Anna sonst fürwichtig hielt. Selbst wichtiger als Mister Gott - jedenfallsim Augenblick und für Mrs. Barker. Doch zurück zuAnnas Brief:

...Wer Fynn mag, der muß genau in sein Herzfensterreinschauen, damit er ihn auch ganz richtig sehenkann. Dem Fynn sein Herzfenster kann nie schmutzigwerden, weil Fynn, der hat so eine Art oder Kunst, ichweiß nich, aus allem, das schmutzig oder staubig ist,so was Schönes wie Edelsteine oder Diamanten zumachen. Oder aus einem U-Bahn-Fahrschein einengezackten Stern und aus ollen Lumpen eine buntePuppe. Man kann das aber nur durch dem Fynn seinFenster sehen. Sonst bleibt es ein Stück Dreck oderein Lappen oder ein abgefahrener Fahrschein. Undwenn man nicht in Fynn reinsehen kann, dann kannman ihn auch nicht richtig von außen erkennen. Weil,auch bei Fynn ist das meiste von ihm innen. Wie beiein Engel oder fast wie...

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Hier muß ich Annas Brief wieder unterbrechen und etwaserklären: Anna und ich hatten uns als Naturforscherbetätigt und eine Messerspitze voll Straßendreck untersMikroskop gelegt. Und da bei hundertfacherVergrößerung aus jedem Sandkörnchen ein glitzernderKristall wird, konnte ich Anna leicht eine ganzeDiamantenkollektion vorführen. Und daß man einenFetzen Papier nur ein paarmal zu falten braucht, um dannmit Hilfe einer Schere Ecken rauszuschneiden, damitbeim Wieder auseinanderfalten ein wunderschönesBrüsseler Spitzen-deckchen entsteht, das ist wirklich keinsehr schwieriges Zauberstück. Ganz zu schweigen davon,wie man mit Phantasie aus Stoffresten eine mehr oderweniger hübsche Puppe zusammennäht...

Für Anna aber waren das alles kleine Wunder - und nichtetwa, weil ich ihr das eingeredet hätte, sondern weil sievon mir, von ihrer ganzen Umwelt und an erster Stellenatürlich von Mister Gott eben nur Wunder erwartete.Dabei war sie keineswegs der Ansicht, ihr zuliebemüßten am laufenden Band Wunder geschehen. Soverwöhnt war sie nicht und auch viel zu vernünftig. Nein,sie hatte einfach eine andere Optik als wir anderenMenschenkinder. Sie sah überall dort Wunder, wo wirkeine sahen - oder zumindest schon lange keine mehr.Deshalb hätte sie in ihrem Brief an Mister Gott eigentlichvon ihrem eigenen Herzfenster sprechen müssen statt vonmeinem. Denn das ganz außergewöhnliche Anna-Fenster,ihre ganz persönliche, einmalige, wundersameBetrachtungsweise der Innen- und Außenwelt, die gab eswirklich. Die Briefe, Notizien und Geschichten, die sieuns hinterlassen hat, beweisen es. Und darin war sie mir,

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der ich so oft nur Gelerntes und Erfahrenes weitergab,haushoch überlegen. Dies also als Zwischenerklärung.

...Einmal war Fynn ganz, ganz traurig, und da bin ichabends zu ihm ins Bett gekrochen. Ich wollt ihmweinen helfen. Weil er mir so oft lachen geholfen hat.Und man kann ja viel mehr zusammen machen wienur lachen und Schulaufgaben. Auch weinen gehtzusammen besser.Na gut, hat er gesagt, putzen wir unsre Augenfensteralso gemeinsam. Kann ja nicht schaden. Und dabei hater geweint und gelacht, halb und halb.Da ist noch was, Mister Gott, was ich Dir erzählenmöchte. Der Fynn, der ist nämlich viel bei fremdenLeuten statt bei sich selbst und bei mir. Und die Leutehaben so viele Namen, die man sich gar nicht merkenkann. Da hab ich gesagt: Fynn, du kennst so vieleNamen, und ich hab nur einen. Kannst du mir nichtmehr Namen geben, dann bin ich nicht so allein, wenndu bei den ändern Namen bist. Dann bin ich zwei oderdrei Namen und unterhalt mich mit ihnen. Wenn duwillst, hat er gesagt, kannst du so viele Namen haben,wie du willst. Ich nenn dir welche und du kannst diebehalten, die dir gefallen. Aber such dir nicht zu vieleaus, sonst bringst du sie, wenn du allein bist,durcheinander oder vergißt sie wieder, und dann weißtdu zum Schluß nicht mehr genau, wer du bist. Und daswillst du doch nicht.Kann man denn vergessen und nicht wissen, wer manist? hab ich ihn gefragt. Und er hat gesagt: Ich glaubmanchmal, die meisten Leute wissen es nicht.

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Aber Mister Gott, der weiß doch immer, wer er ist -oder?Da ist es dann andersrum. Da wissen die Menschennicht genau, wer ei eigentlich ist, hat Fynn von Dirgesagt.Ich weiß es, hab ich ihm gesagt, und wenn er es dochmal vergißt, dann erinner ich ihn dran.Daß er Mister Gott heißt? Nee, daß er Mister Gott ist.Und das tu ich bestimmt, ich versprech's Dir. Unddann hat Fynn angefangen, viele Namen für mich zusagen, aber ich wollt nur zwei. Der eine war »Maus«,weil Fynn mal gesagt hat, ich bin eine Maus und meinMausenest ist in seinem Herz. Und der andre Name istFratz, weil er mich schon immer so genannt hat.Weißt Du, Mister Gott, manchmal denk ich wirklich,Fynn ist ein Engel. Weil von ihm soviel innen ist. Undsonst ist das meiste von ein Mensch außen. In einEngel kannst Du reinschauen und überall ist er Engel.In ein Mensch kannst Du auch reinschauen durchsHerzfenster, aber er ist nich überall ein Mensch, weiler an manchen Stellen ein Engel ist und an manchenein Hund oder ein Esel und ein Schmetterling und einFrosch. Fynn ist fast überall ein Engel. Nur auch einganz bißchen ein Igel und ein Brummbär, undirgendwo ist er auch Mensch. Aber da ist er amnettesten, wo er halb Engel ist und halb Mensch...

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Der Friedhof ist ein Obstgarten

Lieber Mister Gott!Am liebsten geh ich mit Fynn auf den Friedhof. Fynnsagt, das ist Dein Obstgarten. Weil Du herkommst unddie Seelen vom Boden aufliest wie Äpfel, wenn siereif sind und runterfallen. Der Obstgarten gefällt mir,weil da sonst wenig Menschen sind, nur Eidechsenund Blumen. Fynn sagt, niemand geht gern auf einFriedhof, wenn er nicht muß, weil die Toten angstmachen. Aber ich find das nicht; denn es sind ja sovielBlumen bei den Toten und Grabsteine, und ichbuchstabier die Namen so gern. Aber am schönstensind die Gedichte auf den Steinen. Wenn Fynn sie mirvorliest, muß ich immer weinen und lachenzusammen, weil sie für beides gemacht sind. Viele,die tot sind, sind gar nicht wirklich tot, sagt Fynn, siewarten hier nur, bis sie zu Dir in den Himmelreinkommen. Sie machen so was wie Mittagsschlafzwischen dem Leben und der Ewigkeit. Stimmt das,Mister Gott? Wir gehen immer bei dem dickenschwarzen Edelstein vorbei, der Susanne Millergehört. Ich sag jedesmal, Hallo Susie! Wie geht's dirheute? aber ganz leise.Ich kenn sie schon von früher. Ich meine, wirbesuchen sie jedesmal, und ich stell mir immer vor,sie macht nur gerade ein Nickerchen.Und sie antwortet noch viel leiser: Soweit ganz gut.Schöne Grüße an alle, und betet für mich, wenn ihrZeit habt. Am öftesten treffen wir Deinen Sohn Jesus.

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So oft kann man gar nicht stehenbleiben, wie dereinem hier begegnet. Meistens aus Stein, aber auchaus Eisen. Vielleicht kommst Du auch nur wegenDein Sohn her und nicht wegen den Seelen von denMenschen? Dann warten die ja ganz umsonst aufDich. Fynn meint, das würd Dir nich ähnlich sehn,und ich find das auch.Fynn hat mit mir auf einer Bank gesessen und denUnterschied erzählt von den guten Toten und denschlechten. Der schlechteste ist Judas. Der liegtnirgends im Ganzen in einem Grab, aber in jedem istein bißchen von ihm, und auch ein bißchen von demungläubi-schen Thomas und von dem Richter, der sichdie Hände gewaschen hat, und auch von DeinemSohn. Immer ein kleines Stück von denen ist in jedemGrab mit drin und in jedem Mensch auch. Auch inmir, hat Fynn gesagt. Da hab ich weinen müssen, weil,was soll ich nun machen mit den vielen Stücken vonanderen in mir drin?Du mußt sehen, daß du mit allen zurechtkommst, hatFynn gesagt. Und wenn ich die Hälfte rausschmeiß?Eine gute Idee, aber sehr schwer hinzukriegen.Und wenn ich Mister Gott heut abend beimGutenachtsagen bitte, daß er mir dabei hilft?Das nützt sicherlich was. Aber das meiste muß manimmer selber tun, hat Fynn gesagt.Weißt Du, Mister Gott, ich glaub, da hat er recht.Aber vielleicht können wir heute abend beimGutenachtsagen doch noch einmal drüber reden? Dannsind wir von der Bank wieder aufgestanden, und Fynnhat mir von den Steinen wieder schöne Versevorgelesen. Wenn ich mal tot bin, hab ich zu Fynn

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gesagt, mußt du mir auch ein Gedicht machen und aufeinen großen Stein schreiben, der darf aber nichtschwarz sein, nur bunt. Und er hat es mir versprochen.Aber er hat mir nich gesagt, wann er mit dem Gedichtanfangen wird. Morgen oder erst in den Ferien.Vielleicht erinnerst Du ihn noch mal dran? Fynn sagtoft was, das man sich leicht merken kann. Und wennman es sich nicht merkt, dann ist es zu schwieriggewesen, dann muß man noch mal von vorn anfangenmit Nachdenken, bis es so einfach geworden ist, daßauch eine Maus es verstehen kann und eine Blume.Was Fynn neulich gesagt hat, ist das einfachste vonder Welt. Wenn was gut ist, dann tu's, wenn nicht, tu'snicht. Und wie krieg ich raus, ob was richtig gut ist?hab ich ihn gefragt..Wieder ganz einfach. Überleg, ob es nicht nur fürdich, sondern auch für andere gut ist. Für Leute, auchsolche, die du gar nicht kennst oder nicht so besondersmagst, und für die Blumen, auch wenn es nurBrennesseln sind, hat Fynn gesagt.Aber weißt Du, Mister Gott, das finde ich gar nichteinfach. Weil, dann ist vielleicht alles nicht gut, wasman macht, nur weil es für ein einzigen schlecht ist.Da kommt man ja zu nix. Kannst Du mir da nichthelfen?

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Über das Liebhaben

Ach, Mister Gott!Es gibt so viele Sachen, die ich gern schreiben würd,aber die Wörter wollen nicht, weil ich sie nicht allekenne. Und der Bleistift will manchmal nicht und dasPapier auch nicht. Über das Liebhaben ist es amschwersten zu schreiben. Fynn findet es auchschwierig. Aber versuch's doch mal, hat er gesagt.Liebhaben ist eine komische Sache, weil man es nichtsehen kann und nicht hören und auch nicht anfassen.Woher weiß man dann, ob es so was überhaupt gibt?Ich mein, wie soll man wissen, ob einen der andreliebhat? Schön war, wenn man nur für die zum Sehenwar, die man liebhat. Dann wüßt der andre gleichBescheid.Nein, nein, hat Fynn gesagt. Das ist das beste amLiebhaben, daß man nicht genau weiß, was es ist undwie es weitergeht, wenn es angefangen hat, und ob essich wirklich lohnt. Weil es oft mehr traurig ist alszum Freuen. Lieber Mister Gott, warum hast Du dasLiebhaben gemacht, wenn es so schwierig ist? Fynnhat gesagt, er glaubt, daß Du das selber nicht so genauweißt. Das sei Dir halt so mit rausgerutscht bei derSchöpfung. Und seitdem gibt es das nun mal, basta.Basta sagt Fynn immer, wenn er nicht will, daß ichnoch mal von vorn anfange mit dem Fragen. Er hörtdann auf mit dem Denken, und ich tu's auch, um ihmeinen Gefallen zu tun. Das ist dann auch Liebhaben,nicht? Ich hab Fynn echt lieb und, lieber Mister Gott,

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Du weißt ja, wie ich Dich jeden Abend und noch öfterfrag, wann ich Fynn heiraten kann. Und daß Dumachen sollst, daß ich schneller so alt werd wie Fynn.Ich hab schon Sally und Cory und Millie gefragt, obsie mir Fynn lassen, damit ich ihn heiraten kann undnicht sie, und sie haben gesagt, ja, klar . . .

Millie, Sally und Cory wohnten am Ende unserer Straßein dem Haus mit der roten Laterne, das ein ganzes Stückgrößer und feudaler war als unseres. Dort arbeiteten sieauch. Die drei und

noch ein paar andere Mädchen, ziemlich hübscheübrigens.Daß sie mir immer zuwinkten, wenn ich am Hausvorbeiging, mochte Anna gar nicht. Dabei war Cory zumBeispiel nicht nur zu mir, sondern auch zu Anna nett. Diezwei waren sogar ein bißchen befreundet. Das heißt,solange Cory mir nicht zuwinkte . . .Cory sagte, Anna sei für sie wie eine kleine Schwesterund Anna werde es hoffentlich mal besser haben als sieund nicht so hart arbeiten müssen.Diese Mädchen wußten, wie bitter es ist, wenn man keinGeld für das Notwendigste hat, wie etwa für den Doktor.Als sie hörten, daß die kleine Mary aus dem Nebenhausoperiert werden müßte, damit ihre rachitischen, krummenBeine wieder in Ordnung kämen, legten sie spontanzweihundert Pfund zusammen, um ihr zu helfen.Oft haben Anna und ich mit einem der Mädchen oderallen dreien zusammen auf der Bank an derBushaltestelle gesessen, und beinahe jedesmal kam dieSprache auf die Religion und den lieben Gott. Ich glaube,

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diese Mädchen waren die einzigen Menschen in meinemBekanntenkreis, die sich wirklich bewußt waren, was esheißt, »daß wir allzumal Sünder sind«. Sie machten ausihrer »Sünde« keinen Hehl, aber auch nicht aus ihrerSehnsucht nach echter Freundschaft und einem anderenLeben, und sie sprachen viel über Themen wie »'neFamilie haben«, »jemanden liebhaben« und »mit MisterGott klarkommen«. Den »Mister« hatten sie von Annaübernommen.Von diesen Mädchen hat Anna eine Menge gelernt.Vielleicht gelegentlich auch mal ein Wort zuviel - na,wennschon. Was wiegt denn ein zweideutiger Ausdruckgegen eine eindeutige Freundschaft, vor allem, wenn sievon Menschen kommt, die sich von aller Welt nurausgenutzt und verachtet fühlen?Als Anna einmal hörte, wie jemand sagte, die Mädchentäten etwas Schmutziges, sagte sie: »Und du hastschmutzige Schuhe an und ein Fleck aufm Hemd. Aberdas macht nix. Ich guck dir nich aufs Hemd, sonderndurchs Hemd, wie du drinnen bist. Die Mädchen sinddrinnen gut, das weiß ich - und du? Da muß man langhingucken, bis man was Gutes sieht.«Ja, mit schnellen Urteilen, vor allem mit Vorurteilen, fürdie sie einen Riecher hatte, durfte man Anna nichtkommen. Da gab sie sofort Kontra. Und zugleich wurdenihre Gedanken in Bewegung gesetzt. Das Resultat warendann die typischen Anna-Fragen oder eine nachdenklicheAnfrage bei Mister Gott.

Lieber Mister Gott!Es gibt was, das mich ganz traurig macht, und was Dumal ändern solltest. Daß nämlich Sally, Millie und

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Cory kein richtigen Mann zum Liebhaben haben, wosie doch alt genug dafür sind. Sie müssen immerfortsuchen. Und wenn mal ein richtiger dabei ist, sagensie, dann geht er trotzdem wieder weg. Fynn war auchso einer, aber den heben sie für mich auf. Deshalb willich ihnen ein ändern besorgen, weil sie so nett sindund mir Fynn nich wegnehmen, wenn ich mal nichthingucke. Kannst Du ihnen nicht zur Belohnung einenähnlichen Fynn schenken? Fast genauso wie Fynn,aber nicht ganz, damit wir sie nicht verwechselnkönnen.Fynn sagt, ich soll nicht so schwierige Sachen von Dirwünschen, daß Du Dir die Haare raufen mußt, um eshinzukriegen. Dabei würde dann nix Gescheites raus-kommen. Wie bei einer zu schweren Rechenaufgabe,sagt er.Drum bet ich was ganz Einfaches: Daß Du Sally undCory und Millie glücklich machen sollst, irgendwie,Hauptsache glücklich. Fynn hat gelacht, wie ich ihmdas gesagt hab. Das ist ja noch viel schwieriger, alsvernünftige Männer für sie zu finden, hat er gemeint.Weil Glück so was ist wie eine Schneeflocke fangen.Wenn man sie hat, dann hält sie sich nicht lange. Undwums, ist das Glück weg wie der Schnee in derwarmen Hand. Das Glück ist dann weg, und die Handist ganz kalt. Kennst Du das auch, Mister Gott, oderbist Du einfach immer glücklich?

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Wozu die Zeit gut ist

Daß Anna eine Meisterin im Wartenkönnen war, habe ichja schon erwähnt. Sie besaß aber noch eine andere selteneFähigkeit: Sie war nicht nachtragend. Ohne vielAufhebens davon zu machen, ja, ohne sich dessenüberhaupt bewußt zu sein, war sie - auch nach einemergiebigen Tränenschwall und nach einem vehementenWutausbruch - sofort bereit, sich wieder zu versöhnen, zuvergeben und zu vergessen.Das beste Beispiel dafür war Annas Verhältnis zu»Mammi«. Mochte sie, bevor sie zu uns kam, auch vonihrer Mutter schlecht behandelt und vernachlässigtworden sein, sie trug es den Müttern nicht nach, und umnicht fortan so ganz ohne Mutter durchs Leben zu gehen,hatte sie sich eine ausgedacht, eine ideale »Mammi fürinnen«, mit der nichts schiefgehen konnte.Davon abgesehen gab es natürlich noch meine Mutter,die sozusagen der Haushaltsvorstand war und von Annasehr geliebt wurde. Aber die »Mama« spielte eine andereRolle in Annas Leben und Denken und hatte nichts mitder »Mammi« zu tun.Sie war also keine wirkliche Mutter und doch immer zurStelle, wenn Anna sie brauchte. Sie hörte ihr zu und gabmanchmal auch Antworten - die freilich nur Annavernahm. Klar, Vorschriften machte diese Mammi nie,und daß sie mal schimpfte oder mit Anna nichtvollkommen zufrieden war, das gab es nicht. Höchstenssorgen durfte sie sich ein bißchen, vielleicht auch malmüde sein und in ganz großen Ausnahmefällen mal nicht

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dasein. Etwa so wie Mister Gott. Sie war gewissermaßeneine Verwandte im Geiste von ihm. Im Vergleich zu ihmnatürlich eine arme Verwandte, aber eine sehr, sehr liebe.

Lieber Mister Gott!Kennst Du meine Mammi? Bevor ich einschlafe, denkich immer an sie. Wir sehen zusammen die Sterneblinken und freuen uns, daß wir nicht so weit weg sindwie die. Ob sie im Winter mit den Zähnen klappern,weil's da oben so kalt ist, und ob sie im Sommerschwitzen, weil sie so nah an der Sonne sind, das weißMammi auch nicht, denn sie ist ja nicht Du, nur neVerwandte. Es ist einfacher, Mammi zu verstehen alsDich, weil Mammi ist so durchsichtig wie 'nSpinnengewebe, und Du, hinter Dir sieht man nichtweiter, weil dahinter Schluß ist. Wenn da noch einanderer käme, dann wärst Du ja nur der zweite Mannin der Welt, aber Du bist der erste.Mammi kann ich einfach einen Kuß geben, Dir abernicht, da muß ich warten, bis Du damit anfängst, hatFynn gesagt. Mammis Küsse sind, wie wenn ichSchneeflocken mit den Lippen auffange oder an einemBonbon lutsche. Und meine Küsse sind auch so, sagtMammi. Der ihre Küsse sind nicht so wie FynnsKüsse, die immer so ein komisches Geräusch auf derBacke machen. Und Deine Küsse, Mister Gott, diesind wie Donner. Da find ich die von Mammi undFynn fast schöner, aber das radier ich lieber wiederaus, sonst denkst Du, die Anna, die küss ich niewieder.Wenn Mammi lächelt, sieht es aus wie ein Geheimnis,das sie dahinter versteckt hat. Fynn und Cory und all

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die ändern, die lachen ganz anders. Manchmal versuchich, wie Mammi zu lächeln, weil, wenn ichGeheimnisse hab, ist es interessant für Fynn zuwissen, welche. Dann ist er neugierig und geht nichtgleich wieder weg. Wenn es keine Geheimnisse gäbe,würden vielleicht alle Menschen aneinandervorbeigehen, denn wenn jeder weiß, was der anderedenkt, ist es langweilig. Wenn wir alle wüßten, wasDu denkst, Mister Gott, wärst Du nicht was ganzBesonderes, denk ich. Weil ich es aber nicht weiß,möcht ich's gern rauskriegen. Das kann manstundenlang probieren, ohne daß es einen langweiltwie in der Rechenstunde das kleine Einmaleins. Aberirgendwann muß ich doch zu denken aufhören, sonstkann ich nicht einschlafen, und am Morgen krieg ichdie Augen nicht auf, dann schimpft Fynn, weil er michauf'm Rad mit hundert Sachen zur Schule bringenmuß. Mammi ist die schönste Frau. Noch schöner alsSally, Mühe und Cory. Und sie braucht sich dafürnicht extra anzumalen. Sie ist außen schön und innen.Wie ein Engel. Aber nicht nur überall weiß, sondernbunt wie eine Wiese. Sie ist aus vielen Blumenzusammengesetzt. Ich würd sie zählen wie manchmaldie Falten auf Fynn seiner Stirn, aber es sind viel, vielmehr. Ich kann nicht so weit zählen, wie ich will, weiles nicht genug Zahlen gibt.Fynn hat gesagt, das stimmt nicht. Es gibt mehrZahlen wie Blumen, man braucht nur sehr viel Zeit,sie alle aufzuzählen. Und wenn man bei der letztenZahl endlich angekommen ist, wie geht's dann weiter?hab ich ihn gefragt. Er hat gesagt, es gibt keine letzteZahl, man kriegt es nur satt, immer weiter zu rechnen,

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und das ist dann die Unendlichkeit. Von da an brauchtman nicht mehr zu rechnen. Lieber Mister Gott, wennDu die Unendlichkeit schon ein bißchen eher anfangenlassen könntest, dann würd ich nicht immer so langrechnen müssen und der Lehrer auch nicht. Beitausend könntest Du ruhig schon die Unendlichkeitanfangen lassen, dann hätten wir mehr Zeit für wasanderes als nur für Zählen.Mammi hat immer für mich Zeit, weil sie keine Uhrhat. Bei Fynn ist es umgekehrt. Er guckt dauernd aufdie Uhr und hat dann plötzlich keine Zeit. Das Blödean der Uhr ist die Zeit. Weil, sie ist noch vielunordentlicher als ich. Wenn ich auf Fynn warte, istsie ganz langsam. Und wenn er da ist, dann läuft sieganz schnell. Wenn ich schlaf, ist sie gar nicht da, erstwieder wenn ich aufwach. Und dann ist sie schon sospät, daß Fynn schimpft. Warum bringen wir die Zeitnicht zum Uhrmacher, wenn sie immerzu falsch geht?Ganz einfach, hat Fynn gesagt, weil unser Uhrmachernur ein ganz kleiner ist und immer nur das Gehäusesaubermacht, nicht die ganze Zeit in Ordnung bringt.Er behauptet dann: Jetzt geht sie wieder prima. Aberdas stimmt nicht. Denn sie hat sich nicht geändert. Umdie Zeit so hinzukriegen, wie es mir paßt, müßte mansie zum größten Uhrmacher von der Welt bringen,sagt Fynn. Nur der könnt sie so reparieren, daß siemich nicht mehr ärgert.Und wer ist der größte Uhrmacher? hab ich Fynngefragt, und er hat gesagt: Dreimal darfst Du raten.Kenn ich ihn denn? Besser als ich. Da wußt ich schon:Das bist Du, Mister Gott.

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Hätt ich mir gleich denken können, weil Du doch inallen Berufen der größte bist. Bei den Uhrmachern,bei den Pfarrern, den Kirchenbauern und bei denGedichteschreibern. Aber dann hab ich gedacht, daßes eigentlich furchtbar schade ist, daß ich mit Dir nichtdrüber reden kann, weil ich wirklich mal gerne gewußthätte, was eigentlich Zeit ist. Kannst du's mir nichtendlich erklären? hab ich zu Fynn gesagt. Und imselben Moment hat er zu mir gesagt: Erklär du mirmal die Zeit, Fratz.Da haben wir gelacht, auch beide auf einmal. Unddann hat sich keiner mehr getraut, was zu sagen, weiles blöd ist, wenn alle auf einmal reden und Fynn mirdeshalb nicht zuhört. Drum waren wir beide ganz still.Aber wenn zwei lange nix sagen, ist das wie wenn'snachts im Keller still ist. Nach einer Stunde oder so,als es nicht mehr auszuhalten war, hab ich Fynnangestubst, und er hat gefragt: Was ist? Da hab ichgesagt: Jetzt weiß ich, wozu die Zeit gut ist.Na, wozu? hat Fynn wissen wollen. Die Zeit ist dazuda, daß nicht alles auf einmal geschieht, sondernschön der Reihe nach, hab ich gesagt.Genau, hat Fynn geantwortet. Das ist die Erklärung.Daß ich darauf nicht von allein gekommen bin!Also manchmal ist Fynn doch nicht so gescheit, wieich denke, oder findest Du nicht, Mister Gott? Aberich wollt Dir ja noch mehr von Mammi erzählen.Mammi ist anders wie alle ändern, denn wenn siemich nicht stören soll, dann tut sie es auch nicht.Manchmal ist es schön, wenn sie nichts sagt und nurzuhört, und manchmal ist es schön, wenn sie was sagt.Wenn sie nichts sagt, dann lächelt sie aber wenigstens,

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auch wenn sie gar nicht müßte. Immer macht sie einnettes Gesicht zu mir. Weil sie drinnen ist von mir undnicht draußen. Mammi ihr Lächeln ist so groß, daßman nicht genau sehen kann, wo es anfängt. Manch-mal fängt es an ihren Zehenspitzen an oder an ihrenFingern und mal an ihrem Bauch. Oder es kommt ausihren Augen raus, vielleicht auch mal von ihremMund. Man sieht schon vorher, wenn es gleich daseinwird, und dann ist es schön, drauf zu warten, bis esganz da ist. Das ist so wie ein Geschenk, von demman schon ein bißchen was kennt, weil man vorhernachgeguckt hat, wie an Weihnachten.Wenn ich nicht über Mammi nachdenken würd, dannwürd es sie nicht geben, und das war traurig. Weil essie aber nur für mich allein gibt, brauch ich keineAngst um sie zu haben, und niemand kann ihr wasBöses tun und niemand schlecht über sie reden wieüber Sally und Millie und Cory vom letzten Haus inder Straße.Ich bin froh, daß Du erlaubst, daß es Mammi gibt, undauch, daß es mich gibt, denn wenn es mich nichtgeben würd, dann würd ich mich gar nicht kennen.Und ich ohne mich, das war traurig. Aber ohne Dichwar's noch trauriger, und drum dank ich Dir schön füruns alle . . .

Bis baldAnna

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Sie ist schon mal vorausgegangen...

Dieses so leicht hingeschriebene »Bis bald« sollte einetiefere und traurigere Bedeutung erhalten, als alleFreunde von Anna zu ahnen und zu begreifenvermochten. Nur Anna selbst mag es letzten Endesvielleicht gar nicht so traurig vorgekommen sein, was ihrda plötzlich widerfuhr. Hatte sie nicht oft gemault, daßsie keine Lust habe, erwachsen zu werden, »weil dieGroßen so weit weg von der Erde sind«?»Mit dem Kopf, meinst du?«»Auch mit den Füßen.«Daran muß ich immer wieder denken, seit sie damals sounerwartet für immer weggegangen ist. Man fragt sichdann unaufhörlich: Warum? - und findet keine Antwort.Anna hätte gesagt: »Mister Gott wird bestimmt einenganz wichtigen Grund dafür gehabt haben.«»Aber welchen, Fratz?«»Das rechnet er einem nicht so genau vor. Sonst war er jaein Rechenlehrer und kein Mister Gott.«»Du hast recht, Anna. Gott ist nun mal kein Schul-meister.«»Und auch kein Briefeschreiber!«Ja, manchmal hat Anna es Mister Gott echt übel-genommen, daß er ihr nie einen Antwortbrief schickteund im Briefkasten immer nur Rechnungen, Mahnungenund Reklamezettel lagen. Aber im Grunde wußte sienatürlich, daß Mister Gott auf andere Weise antwortete,nämlich »direkt in mein Herz rein«. Und sie sah ein, daß

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es einfacher für ihn war, an alle Menschen zu denken, alsan alle zu schreiben.»Hauptsache«, tröstete sie sich selbst, »er weiß, was ichihm sagen will. Er hat ja sowieso schon mitlesen können,wie ich die Briefe geschrieben hab. Stimmt doch, was dugesagt hast, daß er immer ein Auge auf mich hat?«»Das ist richtig, Fratz.«»Schön war's, wenn er mal zwei Augen auf mich hätte»Anna«, protestierte ich. »Was soll er denn noch alles fürdich tun?«»Mich mitnehmen!«»Wieso? Willst du denn nicht bei mir bleiben?«»Doch. Aber manchmal möcht ich schon ein Stück in denHimmel vorauslaufen - und mich irgendwo versteckenund dort auf dich warten. Dann ist es wieder wie damalsam Hafen, und wir lernen uns noch mal neu kennen. Wardoch schön - oder?«Wie sie selbst ja schon berichtet hat, mußte ich Annaimmer die Grabsprüche vorlesen, wenn wir über denGemeindefriedhof spazierten. Einmal, nachdem sie einenbesonders schönen, zu Herzen gehenden Spruch gehörthatte, sagte sie: »So einen mußt du mir auch schreiben -vielleicht sogar einen noch schöneren, damit alle heulen,die ihn lesen, wenn ich da drunter liege. Versprichst dumir das?«»Ja, klar«, sagte ich, »aber das hat doch noch Zeit. Daranmußt du mich in -zig Jahren wieder erinnern. Wenn ichnicht überhaupt vor dir sterbe. Ich bin doch viel älter.«»Aber man stirbt doch nicht der Reihe nach -oder?«»Nein, das nicht.«»Also, dann fang doch schon mal mit Dichten an. Sonstmußt du dich nachher so beeilen.«

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Ich setzte mich natürlich trotzdem nicht gleich hin, umeinen Grabspruch für sie zu schreiben. Und ich hoffte, siewürde nicht mehr darauf zurückkommen. Aber da kannteich Anna schlecht. Sie kam auf alles zurück.Nach ein paar Tagen wollte sie wissen, wie weit ich sei.»Womit?«»Na, mit mein Grabspruch.«»Muß denn das sein?« brummte ich nur.»Wenn du's nicht machst, muß ich's am Ende noch selbermachen«, seufzte sie.Als es dann zu spät war, viel zu spät, um Anna damitnoch bei Lebzeiten zu erfreuen, schrieb ich endlich daslang versprochene Grabgedicht für sie. Aber nicht für denFriedhof draußen, sondern nur für das Grab in meinemHerzen. Von dorther, wo sie jetzt ist, kann Anna esbestimmt ohne Mühe ablesen.

In mir wohnt Anna, sie ist nicht tot.Genausowenig wie Mister Gott.

Ich bin noch in der Welt gefangen,Sie ist schon mal vorausgegangen.