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Geschichte kompakt
Herausgegeben von
Kai Brodersen, Martin Kintzinger,
Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Uwe Puschner
Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert:
Walter Demei, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Anita Prettenthaler-Ziegerhofer
Verfassungsgeschichte Europas Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg
unter Mitwirkung von Otto Fraydenegg-Monzello
In Erinnerung an Univ-Prof. DDr. Mag. Gemot Hasiba
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,
Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in
und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
© 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch
die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Redaktion: Christi na Kruschwitz, Berlin
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Printed in Germany
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-20484-7
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73720-8
eBook (epub): 978-3-534-73721-5
Inhaltsverzeichnis
Geschichte kompakt
Einleitung . . . . . .
I. Was versteht man unter "Verfassung"? . 1. Der Staat, die Staatstheoretiker und deren Rezeption 2. Die Entstehung des Verfassungsstaates . . . . . . . .
11. Die frühkonstitutionelle Phase -Von den ersten Verfassungen bis 1814 .
111. Von der Restauration bis zur Zwischenrevolution (1814 bis 1830) ............... .
IV. Von den Zwischenrevolutionen 1830 zu den Revolutionen 1848/49 ...... .
V. Die Verfassungsfrage von 1866 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 .
VI. Die Verfassungsentwicklung während der
VII
6
10
15
24
50
65
81
Zwischenkriegszeit bis zum Zweiten Weltkrieg (1918-1939) 97
1. Die Demokratisierung Europas . . . . . . . . . . . . . 98
2. Staatsgründungen und Konstitutionalisierungsprozess 101
3. Der Weg vom Rechtsstaat zum Unrechtsstaat: Total itäre und autoritäre Staaten 121
VII. Zusammenfassung . 137
Auswahlbibliographie 143
Personenregister . . . 149
v
Geschichte kompakt
In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Mare Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtl ich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe "Geschichte kompakt" bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. "Geschichte kompakt" ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe "Geschichte kompakt" soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt
VII
Einleitung
Die österreich ische Staatsrechtsprofessorin Anna Gamper bezeichnet die Verfassungsvergleichung im engeren Sinne als Zwillingsschwester der Verfassungsgeschichte. Wenn Verfassungsvergleich den Vergleich im Raum meint, so beschreibt die Verfassungsgeschichte Verfassungen in unterschiedlichen historischen Perioden, es handelt sich um einen Vergleich in der Zeit. In diesem Buch werden Verfassungsvergleichung und Verfassungsgeschichte im Mittelpunkt stehen, also aus der Perspektive des Raumes und der Zeit betrachtet. Es wird hier nicht darum gehen, um mit Bernd Wieser zu sprechen, den "nackten Normenbestand des untersuchten Staates" zu untersuchen, sondern auch die "politischen, ideologischen, historischen und kulturellen Hintergründe" zu beleuchten. Der Konstitutionalisierungsprozess, das ist die schriftliche Ausgestaltung von Verfassungen, wird dargestellt, indem die Verfassungen in Tradition und System verglichen werden. Der Vergleich bietet mit seiner empirischen Ausrichtung eine wertvolle Methode, um verschiedene Phänomene von Staaten, Verfassungen und deren Ausformungen zu umreißen, um Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herausarbeiten und um dergestalt Modelle und Typologien erstellen zu können.
Verfassungen werden demnach als evolutionäre Errungenschaft betrachtet, aber auch als Gegenstand planmäßiger Gestaltung. Die Legitimation dafür liefert Niklas Luhmann, der Verfassung als Produkt einer Verschmelzung von Politik und Recht betrachtet. Verfassungen gelten im europäischen Bewusstsein als staatsordnende Einrichtungen des Rechtssystems oder auch des politischen Systems von Recht und Unrecht bzw. der Macht und Ohnmacht. Daher erfolgt die vergleichende Darstellung des Konstitutionalisierungsprozesses unter Berücksichtigung der politischen Staatengeschichte und liefert somit eine Verknüpfung von Recht und Politik!
Verfassung Quelle: Niklas Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal 9, Frankfurt/Main 1990, 176, 193
Kaum eine der vielen Errungenschaften moderner Zivilisation ist so sehr das Ergebnis absichtlicher Planung wie die Verfassungen, mit denen sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die modernen Staaten ausstatten. (. .. ) Juristen werden Verfassungen eher als Gegenstand planmäßiger Gestaltung ansehen, auch wenn sie heute gerne zugeben, dass dies nicht ein einmaliger Vorgang sein kann, sondern durch Interpretation und gegebenenfalls durch Verfassungsänderung nachgeplant werden muss. Im europäischen Bewusstsein gelten Verfassungen nicht nur als Einrichtungen des Rechtssystems, sondern auch, ja vor allem, als Einrichtungen des politischen Systems. Auch das hat seine Berechtigung. Rechtssystem und politisches System sind und bleiben jedoch verschiedene Systeme. Sie folgen verschiedenen Codes, nämlich dem von Recht/Unrecht auf der einen Seite und dem von Macht/Ohnmacht auf der anderen.
Verfassungsvergleich
Verfassungen als evolutionäre Errungenschaften
Q
1
Einleitung
2
Europäistik
Allgemeine Darstellung der gesamteuropäischen
Verfassungsentwicklung, des
Verfassungsvergleichs
Der vorliegende Band ist nicht im Verständnis einer nationalen Geschichtsschreibung zu lesen, sondern im Verständnis der "Europäistik" (Wolfgang Schmale). Dieser terminus technicus aus der Linguistik wird seit der Mitte der 1970er verwendet. Damit versucht man jenen Vorgang zu benennen, der seit dem europäischen Integrationsprozess eingesetzt hat, nämlich den "European turn" in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Europäistik schafft somit einen neuen Wissenschaftszweig: Es geht darum, das gemeinsame Europäische multidisziplinär darzustellen - ohne den Schwerpunkt auf die Entwicklung von und in Nationalstaaten zu legen. Wenngleich die jeweiligen Staatstheoretiker nicht das genuin Europäische vor Augen hatten, sondern ihre Staatstheorien immer aufgrund der Kenntnisse der Rechtsverhältnisse und des Rechtsverständnisses ihres Landes formulierten, entwickelte sich daraus ein europäisches Gemeingut- wurden doch ihre Staatstheorien in allen Verfassungsstaaten Europas rezipiert. Die Aufklärung etwa stellt eine typisch europäische Signatur dar. Die Feststellung von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) aus den Considerations sur le gouvernement de Pologne (1770/ 71) bestätigt dies anschaulich und eindrucksvoll: "Es gibt heute keine Franzosen, Deutschen, Spanier und selbst keine Engländer mehr, was man auch sagen möge, sondern nur noch Europäer." Damit bringt Rousseau nicht nur die europäische Dimension der Aufklärung zum Ausdruck, sondern verweist auch auf die europäischen, transnationalen Netzwerke der Aufklärer.
Aufklärerisches Gedankengut wird als europäisches Gemeingut verstanden. Ausgehend von den Niederlanden, über England und Frankreich überzog es Gesamteuropa und wurde im Zuge bzw. als Folge der Französischen Revolution in die entstehenden (National-)Staaten implementiert. So muss vom Europäischen auf das Nationale geschlossen werden, um dann das gemeinsame Europäische darzustellen. Diese Vorgangsweise funktioniert nur unter Berücksichtigung der politischen Nationalgeschichten, durch Verknüpfung der politischen Staatengeschichte mit dem Konstitutional isierungsprozess.
Eine europäische Staaten- und Verfassungsgeschichte zu schreiben, stellt ein komplexes Unterfangen und eine Herausforderung an die Wissenschaft dar. Dies umso mehr, um mit Peter Cornelius Mayer-Tasch zu sprechen, als eine vergleichende Darstellung durch den weitgehend divergierenden Formalcharakter der europäischen Verfassungen erschwert wird.
Nationale Rechtsgeschichten beinhalten meist nur die Entwicklungsgeschichte des Konstitutionalismus des jeweiligen Landes - großteils äußerst detailliert aufbereitet oder auf einen bestimmten Schwerpunkt konzentriert, wie etwa Staatsform, Grundrechtsentwicklung, Wahlrecht und/oder basisdemokratische Mitbestimmung etc. Eine allgemeine Darstellung der gesamteuropäischen Verfassungsentwicklung in einer konzisen Form ist bisher noch nicht erfolgt.
Der oftmals konstatierte Mangel eines Vergleiches europäischer Verfassungen wird durch die jüngst erschienenen Publikationen allmählich behoben. Hier sei etwa auf das Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte verwiesen, das im Auftrag des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Dimitris-T satsos-Instituts für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen unter der Federführung von Werner Daum herausgegeben wird. Mittlerweile liegen zwei
Bände vor, in denen eingehend die Verfassungsentwicklung im Europa des 18. Jahrhunderts bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aufbereitet wird. Darüber hinaus seien auch die wesentlichen Quellensammlungen genannt: Etwa das Standardwerk von Dieter Gosewinkel / Johannes Masing mit einer prägnanten Einleitung über die europäische Verfassungsentwicklung. Die dort abgedruckten Verfassungen dienten als Vorlage sämtlicher in diesem Band zitierten Verfassungen. Die Europäische Verfassungsgeschichte von Dietmar Willoweit / Ulrike Seift enthält nach einer konzisen Einleitung eine Sammlung von Verfassungsdokumenten in chronologischer Epochisierung. Weitere Vorarbeiten leisteten etwa Fritz Hartung oder Otto Hintze mit einigen Beiträgen; Peter Mayer-Tasch oder Adolf Kimmei! Christiane Kimmel liefern einen Überblick über die europäischen Verfassungen, gehen aber auf die jeweilige Landesgeschichte nicht explizit und tiefgehend ein. Bei AIbrecht Weber findet man einen rechtshistorischen Überblick sowie den Fokus der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Entwicklung im Vergleich mit der Europäischen Union.
Eine kurze und prägnante Darstellung des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses liegt bislang noch nicht vor. Ein Grund dafür könnte in der Auffassung liegen, dass die Verfassungsentwicklung nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Staatengeschichte sinnvoll erscheint. Dies verlangt aber, die Verfassungsentwicklung um die jeweilige Staatengeschichte zu erweitern. Bereits Georg Jellinek hat darauf hingewiesen, dass eine komparatistische Verfassungsgeschichte nur dann Sinn macht, wenn man Staaten mit geschichtlich gemeinsamem Boden miteinander vergleicht:
Komparatistische Verfassungsgeschichte Aus: jellinek, Staatslehre, 38-39
Alle menschlichen Institutionen, und daher auch der Staat, sind dynamischer Natur, d. h. sein Wesen ist nicht ein für alle Zeiten festes, sondern ändert sich, bildet sich um, indem es sich dem ganzen Umwandlungsprozesse anschmiegt, den die Menschheit in ihrer Geschichte durchmacht. Um daher ein reich entfaltetes typisches Bild vom Staate zu erhalten, muß man gleichzeitige oder doch zeitlich nicht weit auseinander liegende staatliche Gebilde miteinander vergleichen.
In diesem Band wird daher das Hauptaugenmerk primär auf politische Gesichtspunkte der Staatenentwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Verfassungsentwicklung gelegt werden. Im Mittelpunkt steht das Werden der heutigen europäischen Staatenwelt ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, nicht jedoch der einzelnen Staaten. Diese Darstellung setzt mit dem Zeitalter der Aufklärung ein.
Der Verfassungsvergleich in diesem Band dient zunächst als Leitfaden, durch den Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet werden sollen, um dadurch die eigenen, aber auch fremden Rechtsordnungen zu verstehen. Darüber hinaus gilt es, das Verständnis für die Entwicklung von Verfassungen zu wecken, gekoppelt an die jeweilige politische Staatenentwicklung. Der Vergleich dient außerdem dazu, so etwas Ähnliches wie eine "Europäische Signatur" auszuarbeiten, Entwicklungsstränge freizulegen, die eindeutig "europäisch" und nicht nationalstaatlich tendiert sind - im Sinne der Europäistik.
Einleitung
Politische Staatengeschichte und Verfassungsentwicklung
Q
Der Sinn des Verfassungsvergleichs
3
Einleitung
4
Der Anbeginn des Konstitutional isie
rungsprozesses
Die Darstellung endet mit dem
Jahr 1939
Frankreich als "Laboratorium"
Aufbau Die Darstellung folgt einem chronologischen Aufbau, differenziert nach Zeitepochen. Den Ausgangspunkt der Betrachtungen liefert die Entwicklung in England und in den bis ins zweite Drittel des 18. Jahrhunderts zu Großbritannien gehörenden 13 Kolonien in Amerika. In Europa setzte der Konstitutionalisierungsprozess und somit die Kodifizierungswelle mit der Französischen Revolution ein. Seit diesem Zeitpunkt steht fest, dass der moderne Verfassungsstaat, wenngleich nicht sofort, doch kontinuierlich, dauerhaft etabliert worden ist. Fest steht auch, dass alle darauffolgenden Verfassungen bis heute mittels Hoheitsakt und nicht selten aufgrund eines revolutionären Aktes zustande gekommen sind. In diese frühkonstitutionelle Phase fallen die Menschenrechtserklärungen, vorrevolutionäre Verfassungsdokumente, Verfassungen der Revolutionsepoche, Verfassungen der Napoleonischen Zeit und Dokumente monarchischer Verfassungsstaaten sowie Bundesverfassungen. Alle Verfassungen beinhalten die wesentlichsten Parameter, die einen "modernen" Nationalstaat ausmachen: Bestimmungen über die Grenzen der Staatsgewalt, Gewaltenteilung über Staatsform, Struktur des Staatsverbandes, Staatsorgane, fundamentale Rechte sowie programmatische Ziele.
Nach der allgemeinen Einleitung folgt eine kurze Darstellung der Verfassungsentwicklung in England, um dann auf die Entwicklungen in Nordamerika und Frankreich einzugehen. Diese Ereignisse sind Ausgangspunkt für die Darlegung der frühkonstitutionellen Epoche in Gesamteuropa, der die restaurative Epoche folgt. Mit der Darstellung der konstitutionellen Epoche ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 schließt dieses Buch.
Das Jahr 1939 erscheint als sinnvolle Zäsur einer Verfassungsgeschichte Europas: Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brachte den Verfassungsprozess beinahe in Gesamteuropa zu Fall. Viele europäische Staaten waren schon zuvor zu Diktaturen geworden, teilweise ohne Verfassungen. Jene Diktaturen, die über eine Verfassung verfügten, bedienten sich dieser nur zum Schein! Sie hatten lediglich formelle Bedeutung und keine materiellrechtliche. Erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges folgte die Installation von Demokratien, die die Überleitung in oder Neuerarbeitung von Verfassungen vornahmen. Dies gilt allerdings für Europa nach 1945 nur für seinen westlichen Teil, mit Ausnahmen etwa von Portugal, Spanien und Griechenland.
Jede Epoche umfasst die Darstellung der wesentlichen Verfassungen Europas unter Hinweis auf Gemeinsamkeiten und Besonderheiten, eingebettet in die wichtigsten staatspolitischen Ereignisse. Der Verfassungsentwicklung in Frankreich wird eine zentrale Rolle eingeräumt, nahm doch von hier aus der nachhaltige Konstitutionalisierungsprozess seinen Ausgang. Frankreich diente lange Zeit als Vorbild für die gesamteuropäische Entwicklung: Es bot geradezu ein "Laboratorium" an Verfassungen, dieser Befund gilt in erster Linie für die frühkonstitutionelle Phase. Auch England nimmt innerhalb des Konstitutionalisierungsprozesses einen wichtigen Platz als role model ein: Es gilt nicht nur als Wiege des Parlamentarismus, sondern hat auch Vorbildcharakter etwa für die Weiterentwicklung der Grundrechte, wie persönliche Freiheit, Eigentumsgarantie, Meinungsäußerungsfreiheit. England wird Vor-
bild für demokratisch legitimierte Justiz, monokratische Regierungsstruktur oder Ministerverantwortlichkeit.
Eine kurze Beschreibung der wichtigsten Verfassungstheorien wird der Darstellung der Staaten- und Verfassungsgeschichte vorangestellt; die wichtigsten Theoretiker und die Rezeption der Staats- und Verfassungstheorien werden erörtert.
Einleitung
5
6
I. Was versteht man unter "Verfassung"?
Verfassung als Ordnung des
Gemeinwesens
E
Nach herrschender Staatsrechtslehre versteht man unter der Verfassung eines Staates die Summe der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtsnormen, die die staatliche Grundordnung, das sind Staats- und Gesellschaftsform, samt den wesentlichen Organisationsprinzipien festlegen. Verfassung bedeutet ganz allgemein die Grundordnung eines Staates, in der geregelt wird, wer wie Recht erzeugt, regiert, kontrolliert. Sie enthält die "Spielregeln" des staatspol itischen Prozesses und ist som it Rechtsnormerzeugungsregel.
Allgemein wird seit Aristoteles (384-322 v. Chr.) Verfassung als Ordnung des Gemeinwesens verstanden. Diese Ordnung stellten Herrscher und Beherrschte auf. Hinsichtlich der Frage, welches Verfassungsmodell das beste sei, entschied sich Aristoteles für die politie, eine Mischform aus Demokratie (Volksherrschaft) und Oligarchie (die Herrschaft weniger Personen). Damit werden bereits zwei wesentliche Elemente des modernen Konstitutionalismus genannt: Aktivbürgerschaft (durch Wahlen) und Limitierung der Herrschaft.
In der Bewertung der Verfassung Spartas, die Lykurg zugeschrieben wird, wollte Aristoteles, wie übrigens auch Platon (428/427-348/347 v. Chr.), das System von checks and balances als Gewaltenverschränkung erkannt haben, das später ebenfalls ein Merkmal des modernen Konstitutionalismus darstellen sollte.
Die Antike kannte noch keine geschriebene "Verfassung", nicht zuletzt, weil man kaum eine Unterscheidung zwischen höherrangigen und niedrigrangigen "Gesetzen" im Sinne einer Normenhierarchie zog, bzw. kaum "erschwerte" Rechtserzeugungsregeln (etwa Zweidrittelmehrheit) kannte. Der lateinische Begriff constitutiones galt in der spätantiken Kaiserzeit als Sammelbegriff für alle Vorschriften des Imperators mit Gesetzescharakter. Im (späten) Mittelalter fand er nicht im rechtlich-politischen Bereich Verwendung, sondern vornehmlich in der Medizin im Sinne der Beschreibung des Zustandes eines Körpers. Wenngleich bereits im 14. Jahrhundert das Wort "Verfassung" erstmals im deutschen Sprachraum auftaucht, wurde dieses nicht im modern-rechtlichen Sinne verstanden, sondern erklärte damit nun jenen Zustand, der nach einer Vereinbarung oder Streitbeilegung erreicht worden war. Vereinzelt fand der Begriff Verfassung im deutschsprachigen Raum Anwendung etwa für Erbfolgeregelungen. Seit dem 16. Jahrhundert findet man den Begriff leges fundamentales häufig, in England werden constitution und fundamental la ws gleichbedeutend angewandt, was belegt, dass die konstitutionelle Verfassungsbewegung in England an die alteuropäischen leges fundamentales anknüpfte. Diese leges fundamentales, fundamental la ws, loi fondamental oder Staatsgrundgesetze, die zwischen Herrscher und landständen gesch lossen werden, si nd "für die Ewigkeit" begründet.
I Landstände
Landstände sind seit dem Hochmittelalter die Vertreter gewisser Bevölkerungsgruppen (Klerus, Adel, Bürger, Bauern), die gemeinsam mit dem Landesherrn die Herrschaft über ein Land ausüben. Dieser Dualismus zwischen Landesherrn und
Was versteht man unter " Verfassung"
? I --------------------------------------------------- .
I Landständen findet im Landtag seine Umsetzung. In der Frühen Neuzeit verlieren sie fast überall weitgehend ihre Mitwirkungsrechte.
Von der Bedeutung der leges fundamentales lässt sich die spätere Höherrangigkeit der Verfassung ableiten. Die "Staatsgrundgesetze" vom späten Mittelalter bis zum Konstitutional ismus umfassen Herrschaftsverträge, Freiheitsbriefe, Nachfolgeregelungen und dynastische Hausgesetze, Friedensschlüsse, aber auch Wahlkapitulationen.
Wahlkapitulationen E Wahlkapitulationen gab es seit dem Mittelalter. Sie stellten ganz allgemein (teils
ausverhandelte) Wahlversprechen des Bewerbers dar. Häufig betrafen sie Vereinbarungen über Herrschaftsbefugnisse eines über- oder untergeordneten Herrschaftsträgers oder mehrerer solcher untereinander. Sie betrafen außerdem Vereinbarungen vor allem zu den "Freiheiten" (= Privilegien) nachgeordneter Herrschaftsträger (Stände).
Die Verfassung im Sinne einer Gesamtregelung von Organisation und Ausübung politischer Entscheidungs- und Herrschaftsgewalt war vor dem 18. jahrhundert noch unbekannt. Die leges fundamentales aber limitierten die Machtausübung des Herrschers zugunsten der Stände. Dies bezeugen etwa die englische Magna Charta Libertatum von 1215, die Goldene Bulle von Andreas 11. von Ungarn (um 1177-1235) aus dem jahr 1222 oder der T übinger Vertrag von 1514 für das Herzogtum Württemberg. Auf ei n Zuwiderhandeln eines Herrschers gegen die Fundamentalgesetze reagierten die Stände mit Widerstand.
Die Magna Charta steht am Anfang des Prozesses der Fundamentalisie- Die Magna Charta
rung grundlegender Rechte, Freiheiten und Privilegien der Stände, in dessen Folge die zunächst als unbeschränkt verstandene Souveränität des Monar-chen eingeengt wurde. Bereits am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit entwickelten Naturrechtstheoretiker den Gedanken, dass es ein irdisches "höherrangiges Recht" geben könnte, das den Herrscher an dieses band. Der Gedanke einer Gebundenheit des Herrschers an göttliches Recht reicht bis in die Antike zurück.
Der Terminus Konstitutionalismus kann mehrfach definiert werden: Im weiteren Sinne beschreibt er den Prozess der Überwindung überkommener Herrschaftsformen durch die Verabschiedung von "Konstitutionen". Im engeren Sinne wird damit die spezifische deutsche Ausprägung des Staates im 19. jahrhundert beschrieben. In Italien etwa wird costituzionalismo als Synonym für die Entstehung des Verfassungsstaates ab dem 18. jahrhundert verwendet. Das spanische Wort constitucionalismo (Konstitutionalismus) wiederum steht für den espiritu constitucional, den Geist der Verfassung.
Erstmals erfolgte die Kodifikation einer Verfassung in den Vereinigten Staaten von Amerika mit der Verfassung von 1787.
Kodifikation Darunter versteht man die Schaffung eines Gesetzeswerkes, mit dem Ziel der grundsätzlich erschöpfend gedachten Zusammenfassung des gesamten Stoffes eines oder mehrerer Rechtsgebiete in einem einheitlichen Gesetzbuch. Im Sinne des Vernunftrechts versuchte man Rechtssätze und Institutionen des geltenden Rechts aus Postulaten abzuleiten, diese in eine logische Beziehung zueinander zu setzen und in einer (möglichst) lückenlosen Systematik zu erfassen.
E
7
I Was versteht man unter" Verfassung "?
"---------------------------------------------------
Verfassungsbegriff im formellen Sinne
Verfassungsbegriff im materiellen Sinne
8
Beim Verfassungsbegriff unterscheidet man Verfassungen im formellen Sinne und solche im materiellen Sinne. Im formellen Sinne bedeutet Verfassung das geschriebene Gesetz, das die Staatsgewalt legitimiert, organisiert und bindet. Der Verfassungsbegriff im formellen Sinne beschreibt in erster Linie die der Verfassung zugedachten Eigenschaften der Form nach an hand von drei Merkmalen: deklarierte (großteils einheitliche) Verfassungsurkunde, Vorrang vor einfachem Recht und erschwerte Abänderbarkeit.
Das wesentliche äußere, formelle Kriterium einer Verfassung ist die schriftliche Beurkundung. Diese sollte in möglichst als solche deklarierten Verfassungsurkunden, idealerweise in einer einzigen Urkunde, erfolgen, da dies zu Stabilisierung, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit beiträgt. Die meisten Verfassungen werden in einer Verfassungsurkunde festgeschrieben oder können auch als Staatsgrundgesetze (z. B. Österreich, Frankreich) bzw. Grundgesetze (etwa Schweden und Norwegen, BRD) oder Verfassungen mit dem Charakter einer Kompilation von Verfassungsgesetzen proklamiert werden, die bis ins Mittelalter zurückreichen (etwa Großbritannien). Letztere Form wird auch als "ungeschriebene" Verfassung bezeichnet.
Ein weiteres formelles Kennzeichen der Verfassung ist ihr Vorrang gegenüber anderen Rechtsnormen: Die politischen Revolutionen, die den Konstitutionalisierungsprozess in den 13 amerikanischen Kolonien bzw. in Frankreich einleiteten, forderten eine rechtliche Beschränkung der Handlungsfreiheit der Staatsorgane. Daraus lässt sich der Vorrang der Verfassung vor anderen Normen schlussfolgern, was erstmals nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 umgesetzt wurde. Allerdings argumentierte bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts der englische Richter Sir Edward Coke (1552-1634) mit der Vorrangigkeit des common law - des richterlich aufgrund der Gleichheit entwickelten Rechts - vor dem Parlamentsgesetz Folgendes: "Und es ergibt sich aus unseren Büchern, dass das Common Law in vielen Fällen Gesetze beeinflusst und sie manchmal als gänzlich unwirksam beu rtei It."
Schließlich hat der Supreme Court in den USA in der bahnbrechenden Entscheidung Marbury versus Madison 1803 den Geltungsvorrang der Verfassung vor dem Gesetz festgelegt. Dieses Urteil erwies sich als richtungsweisend für zahlreiche europäische Staaten. Jedenfalls kann man den Vorrang der Verfassung vor anderen Normen als gemeineuropäisches formelles Element der Verfassung bezeichnen, mit Ausnahme etwa von Großbritannien und Malta.
Mit diesem Prinzip eng verwoben, sichert die erschwerte Abänderbarkeit von Verfassungen bzw. Verfassungsbestimmungen - etwa durch erhöhte, strengere Anwesenheits- und Abstimmungsregelungen bei Parlamentsbeschlüssen - eine Umgestaltung der Grundordnung des Staates ohne entsprechend breiter, demokratisch legitimierter Basis ab.
Verfassung im materiellen Sinne beschreibt die jeweilige inhaltliche Ausgestaltung der Verfassung als einer Staatsgrundordnung, vornehmlich in organisatorischer Hinsicht (z. B. Bundes- oder Einheitsstaat, konstitutionelle Monarchie, Republik, präsidiale oder parlamentarische Demokratie). Typisch sind liberale Grundrechte, Gewaltenteilung, d. h. Begrenzung der Macht des Monarchen und Teilhabe des Volkes am Staatshandeln, also an den drei Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative: "Die Verfassung
Was versteht man unter " Verfassung"
? I --------------------------------------------------- .
des Staates umfasst demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, ferner die grundsätzliche Stellung des Einzelnen zur Staatsgewalt" (GeorgJellinek).
Die Legislative übte der Herrscher gemeinsam mit dem Parlament aus, wobei Letzteres meist nicht dem Monarchen gleichrangig war; im Gegenteil - (nur) der Monarch besaß das Recht der Einberufung und Absetzung des Parlaments, das absolute Vetorecht und das Gesetzesinitiativrecht, was vor allem für die frühkonstitutionelle Phase galt. In der Gesetzgebung bleibt das Parlament auch späterhin an die Mitwirkung und Zustimmung des Monarchen gebunden, etwa in Form des aufschiebenden (suspensiven) Vetos. Das Parlament wurde und wird in Europa nach britischem Vorbild größtenteils in das Zweikammersystem geteilt: Oberhaus und Unterhaus, Senat und Abgeordnetenkammer, abgeleitet aus der Trennung von Adel und Volk. Die Wahl der Volksvertreter erfolgte durch Zensus- und Bildungssystem - also Wahlberechtigung nach Steuerleistung bzw. Bildung der (männlichen!) Wählerund auf der Basis eines Dreiklassensystems. Durch dieses Wahlrecht, z. B. in Preußen praktiziert, werden die Wähler entsprechend ihrer Steuerleistung in Klassen eingeteilt. Dies steht im Widerspruch zum Grundsatz der Stimmengleichheit, da jener Wähler mit höherem Steueraufkommen mehr politischen Einfluss besaß.
Der Einfluss des Monarchen auf die Exekutive, die er bis zur Einführung von Verfassungen alleine ausübte, blieb zunächst im Frühkonstitutionalismus weiterhin groß. In dieser Staatsfunktion wurde der Monarch durch die Gegenzeichnungspflicht durch verantwortliche Minister begrenzt, aber auch durch die Selbstverwaltung, etwa im Bereich der Gemeindeautonomie.
Den größten Einfluss büßte der Monarch im Bereich der Judikative ein: Wenngleich er kraft Verfassung verpflichtet wurde, die Richter zu ernennen, übten diese ihr Amt in vollständiger Unabhängigkeit aus. In der Justiz - besonders im Bereich der Strafgerichtsbarkeit von allgemein kontrollierender Bedeutung - hatten die Verhandlungen nunmehr öffentlich und mündlich stattzufinden. Durch die Geschworenengerichtsbarkeit nahmen Volksvertreter an der dritten Gewalt teil und sicherten so auch deren Unabhängigkeit ab.
Die Frage, warum ein Staat eine Verfassung braucht, lässt sich in erster Linie mit dem Argument der Begrenzung der staatlichen Macht des Souveräns beantworten. Bis zur Einführung der modernen Verfassungen hatten sich zunächst die Ansichten über die Gesetzgebung in Europa verändert, etwa hinsichtlich der Frage der Souveränität: Verstand man diese während des Mittelalters als Gottesgnadentum (dies kommt in Urkunden mit Verwendung der Formel "Nos (. .. ) Dei Gratia" zum Ausdruck), so führte in England beispielsweise die Glorreiche Revolution (1688) zur Anerkennung der Souveränität des Parlaments durch den Monarchen, in Kontinentaleuropa zur Vereinheitlichung der durch das Gesetz gebundenen Rechtsprechung des Monarchen. Zur Frage der Souveränität genügte nicht mehr die Rückbesinnung und die Berufung auf das alte, unantastbare Recht, es reichte auch nicht das göttliche, natürliche und positive Recht aus, es musste eine andere "Norm" geschaffen werden, durch die der Monarch gebunden werden konnte. Die Ver-
Verfassung als Begrenzung der staatlichen Macht des absolutistischen Souveräns
9