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Auf den Spuren eines KZ-Tagebuches 1 Klaus-Henning Hansen Am Anfang stand die Idee, die Tagebücher eines Verwandten aus der Zeit von 1933 bis 1944 zeitgeschichtlich-literarisch zu bearbeiten, der als Jugendlicher den Versprechungen des Nationalsozialismus geglaubt hatte.Ich wollte mit einemerfah- renen Schriftsteller diskutieren, wie die Verführung des jungen Mitläufers deutlich gemacht werden kann. Als ich Peter Kuhle- mann in dessen Hausbesuchte, entstand die Idee, den Tagebü- chern Texte eines aktiven Gegners der Nazis gegenüber zu stellen. Zum weiteren Durchdenken dieser Frage gab Peter Kuhlemann mir einen Ordner mit nach Kiel. Er enthielt das Tagebuch Paul Dörings, das dieser Peter Kuhlemann als Freund und Verwalter seines literarischen Nachlasses überge- ben hatte. Der Inhalt des Ordners: gut 150 maschinengeschrie- bene Seiten mit der Aufschrift „SACHSENHAUSEN". Persönlich beeindruckt von der Unmittelbarkeit, mit der Döring das Konzentrationslager und seine persönlichen Ein- drücke niedergelegt hatte, entstand das Bedürfnis, mehr über diesen Mann zu erfahren. Wo hatte er das Schreiben gelernt? Und vor allem, woher nahmer als Opfer des Systems die Kraft, den Sadismus seiner Schergen mit Ironie zu Papier zu bringen? Was war - über den Anlaß seiner Verhaftung hinaus - der eigentliche Grund dafür, daß man ihn verfolgt hatte? Paul Dörings Familie sollte in Kiel gewohnt haben. Ließen sich Spuren von Sachsenhausen nach Kiel zurückverfolgen? Ich hoffe, mit diesem Beitrag das Interesse an einem Tage- buch zu wecken, das durch seine biografische Darstellung gleichzeitig ein zeitgeschichtliches Dokument und ein Stück Arbeiterliteratur ist. Daneben wäre ein weiteres Ziel dieser Arbeit erreicht, wenn sie dazu anregte, unter den Menschen nach Spuren demokratischer Geschichte zusuchen, die wir aus dem Alltag kennen und deren Handeln uns wichtig erscheint. Zeitgeschichtliche Fragen PaulDöring starb am31 . Juli 1973 in Kiel. Das Herz hatte nicht mehr mitgemacht. Sein Tod kam nicht überraschend: Er kam schon seit langem nicht mehr ohne Medikamente aus, hatte oft im Krankenhaus gelegen. Von seinem Tod nahm kaum jemand Notiz. Kein Politiker hielt eine Gedenkrede. Seinen Nachkommen hinterließ er zahlreiche stenografische Aufzeichnungen, Fotoalben und Manuskripte. Paul Döring war zu seinen Lebzeiten nicht durch Veröffentlichungen bekannt geworden. Warum sollte man sich mit seinem schriftlichen Nachlaß näher beschäftigen? Einmal gab es das Sachsenhausen-Tagebuch. 2 Paul Döring hat es, soweit ich erfahren konnte, um 1950 nachträglich aus Erinnerungen und wenigen Aufzeichnungen verfaßt. Zeug- nisse dieser Art bleiben solange bedeutsam, wie das Geschehen in den Konzentrationslagern verdrängt wird. Das politische Klima inder Bundesrepublik scheint dazubeizutragen, daß die Älteren weiterhin verleugnen und verdrängen, was sie vor 1946 gesehen oder mitverantwortet haben. Es verharmlost weiter- hin die Neigungen vieler Jugendlicher, sich entweder als Nach- geborene aus der Verantwortung zustehlen oder Hitler als eine Art „Super-Zombi" zu benutzen, um die Eltern zu erschrek- 2 Döring, R: Sachsenhausen. Unver- öffentlichtes Manuskript, Kiel, ohne Datum. Zitate aus dem Tagebuch sind, entsprechend der Paginierung Dörings, von Kz 1 bisKz81 und a 1 bis a94, durch die Angabe der jeweiligen Buchstaben vor den Seitenzahlen ge- kennzeichnet. 1 Peter Kuhlemann lieferte mit dem Tagebuch Paul Dörings den Anstoß für die vorliegende Arbeit und wies mich aufdie Erwähnung vonJulius Le- ber in den Aufzeichnungen Dörings hin. Martha Sakmirda stellteKontakte zu Menschen her, die Paul Döring ge- kannt haben; Erika Döring machte Dokumente zugänglich, die dem Text eine nachprüfbare Grundlage gaben; Kurt Stenzel und Toni Schlemminger halfen, ein Bild des Menschen Paul Döringzu zeichnen; Karl Rickers war ein kritischer und solidarischer Leser früher Fassungen des Manuskriptes. Ihnenallen bin ich zu Dank verpflich- tet. Verbleibende Mängel in der Dar- stellung liegen in der Verantwortung des Autors. 291

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Auf den Spuren einesKZ-Tagebuches1

Klaus-HenningHansen

Am Anfang stand die Idee,die Tagebücher einesVerwandtenaus der Zeit von 1933 bis 1944 zeitgeschichtlich-literarisch zubearbeiten, der als Jugendlicher den Versprechungen desNationalsozialismus geglaubt hatte.Ich wolltemit einemerfah-renen Schriftstellerdiskutieren, wie dieVerführung des jungenMitläufers deutlichgemacht werdenkann.AlsichPeterKuhle-mann indessen Hausbesuchte, entstanddie Idee,denTagebü-chern Texte eines aktiven Gegners der Nazis gegenüber zustellen. Zum weiteren Durchdenken dieser Frage gab PeterKuhlemann mir einen Ordner mit nach Kiel. Er enthielt dasTagebuch Paul Dörings, das dieser Peter Kuhlemann alsFreund und Verwalter seines literarischen Nachlasses überge-benhatte.Der Inhaltdes Ordners:gut 150maschinengeschrie-bene Seitenmit der Aufschrift „SACHSENHAUSEN".

Persönlich beeindruckt von der Unmittelbarkeit, mit derDöringdas Konzentrationslager und seine persönlichen Ein-drücke niedergelegt hatte, entstand das Bedürfnis, mehr überdiesenMann zuerfahren. Wo hatte er das Schreiben gelernt?Undvor allem, woher nahmer als Opferdes Systemsdie Kraft,denSadismus seiner Schergenmit Ironiezu Papier zubringen?Was war - über den Anlaß seiner Verhaftung hinaus - dereigentliche Grund dafür, daß man ihn verfolgt hatte? PaulDörings Familie sollte in Kiel gewohnt haben. Ließen sichSpuren von SachsenhausennachKiel zurückverfolgen?

Ich hoffe, mit diesem Beitrag dasInteresse an einem Tage-buch zu wecken, das durch seine biografische Darstellunggleichzeitig ein zeitgeschichtliches Dokument und ein StückArbeiterliteratur ist. Daneben wäre ein weiteres Ziel dieserArbeit erreicht, wenn sie dazu anregte, unter denMenschennachSpuren demokratischer Geschichte zusuchen, die wirausdem Alltagkennen undderen Handeln uns wichtigerscheint.

ZeitgeschichtlicheFragen

PaulDöringstarb am31.Juli 1973 inKiel.DasHerz hattenichtmehr mitgemacht. Sein Tod kam nicht überraschend: Er kamschonseit langemnicht mehr ohneMedikamente aus,hatteoftim Krankenhausgelegen.

Von seinem Tod nahm kaum jemand Notiz. Kein Politikerhielt eine Gedenkrede. Seinen Nachkommen hinterließ erzahlreiche stenografische Aufzeichnungen, Fotoalben undManuskripte. PaulDöringwar zuseinenLebzeitennicht durchVeröffentlichungen bekanntgeworden. Warumsollteman sichmit seinem schriftlichenNachlaß näher beschäftigen?

Einmal gab es das Sachsenhausen-Tagebuch.2 Paul Döringhat es, soweit icherfahren konnte,um 1950 nachträglich ausErinnerungen und wenigen Aufzeichnungen verfaßt. Zeug-nisse dieserArtbleibensolangebedeutsam,wie dasGeschehenin den Konzentrationslagern verdrängt wird. Das politischeKlimainderBundesrepublik scheint dazubeizutragen, daß dieÄlteren weiterhin verleugnenund verdrängen, wassie vor1946gesehen oder mitverantwortet haben. Es verharmlost weiter-hindieNeigungen vieler Jugendlicher, sich entweder alsNach-geborene aus der VerantwortungzustehlenoderHitler als eineArt „Super-Zombi" zu benutzen, um die Eltern zu erschrek-

2 Döring,R: Sachsenhausen. Unver-öffentlichtes Manuskript,Kiel, ohneDatum. Zitate aus dem Tagebuchsind, entsprechend der PaginierungDörings,vonKz1bisKz81unda1bisa94, durchdie Angabeder jeweiligenBuchstaben vor den Seitenzahlen ge-kennzeichnet.

1Peter Kuhlemann lieferte mit demTagebuch Paul Dörings den Anstoßfür die vorliegende Arbeit und wiesmichaufdieErwähnungvonJuliusLe-ber in den Aufzeichnungen Döringshin.MarthaSakmirdastellteKontaktezuMenschenher, die PaulDöring ge-kannt haben; Erika Döring machteDokumentezugänglich, die demTexteine nachprüfbare Grundlage gaben;KurtStenzel undToni Schlemmingerhalfen, ein Bild des Menschen PaulDöringzu zeichnen;KarlRickers warein kritischer und solidarischer Leserfrüher Fassungendes Manuskriptes.Ihnenallenbin ich zu Dank verpflich-tet.Verbleibende Mängel in der Dar-stellung liegen in der VerantwortungdesAutors.

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ken. WennPaul DöringsTagebuch belegt, daß derFaschismuskeine zufällige Entgleisung, sondernFolge politischer Dumm-heit vieler war, so darfesnicht inderVergessenheit verschwin-den. Und dann ist da Paul Döringals Mensch. Wer hat ihngekannt? Welche Folgen hatte die Verfolgung für ihn?Sowohldie politische als auch die menschliche Bedeutung, die dasTagebuch ausmeiner Sichtbesitzt,möchteichvorabmit ausge-wähltenTextpassagen verdeutlichen. Siegabenden Anstoß fürlokalhistorischeNachforschungen über PaulDöring,die seineVerbindung zur Kieler Arbeiterbewegung nach dem ZweitenWeltkrieg aufgezeigt habenunddiedarüber hinauseinBeispielfür Widerstand undVerfolgungimNationalsozialismusliefern.

Solidarität imKonzentrationslager

Das Sachsenhausen-Tagebuch verschafft nicht nur Einblick inein Stück Zeitgeschichte, über das viele Heranwachsende garnichts oder nur Oberflächliches erfahren. Es zeigt eine Mög-lichkeit, wie sichMenschen verhalten, die alltäglichem Terrorausgesetzt sind.DieHäftlinge imKonzentrationslager wurdenunterteilt: inPolitische,Kriminelle, Homosexuelle,Judenundandere. Döringwar „Politischer". „Politische" hatten gelernt,was gegenseitige Unterstützung bedeutete, und sie zeigten oftselbst dann nochLebenswillen, wennandere bereits resignier-ten.3 Draußen hatten sich Kommunisten, Sozialdemokraten,Gewerkschaftler und bürgerliche Gegner des Nationalsozialis-mus untereinander bekämpft. Auch wenn dasLager zunächsteinmal alle Unterschiede einebnete- jedem wurde die gleicheHäftlingskleidung verpaßt, jedem sollte das Rückgrat gebro-chen werden-,so brachen jedochauchhier diealtenKonfliktewieder auf.

Undnochein anderer Gegensatz wurde im Konzentrations-lager deutlich: das Mißtrauen der Dagebliebenen gegenüberdenjenigen, denendieEmigration gelungen war.Hattensie imAusland ihre Identitätunddamit ihre Widerstandskraft geret-tet, oder waren sie nur vor der Gefahr alltäglichen Widerstan-des weggelaufen?

Paul Döringbegegnete im Konzentrationslager Genossen,die früher wichtige Funktionen eingenommen hatten. Einervon ihnen war z.B. E. Heilmann,der letztesozialdemokrati-sche Fraktionsvorsitzende im preußischen Landtag:

BeidenSchachspielern istHeilmann einganzgroßes Tier. Ichmag ihnnicht. „Ichauch nicht",sagtmirmeinPartnerleise überden Tisch. Er erzähltmir, daß Heilmann infrüherer Zeitoft inSonderbehandlunggenommen wurde. Bis zum Halse soller inder Jauchegrube gestanden haben, die Beine haben sie ihmzerdeppert; er geht jetzt wacklig in den Knien, der lange,schlacksige Kerl, dessen Borsten aussehen, als könnten roteHaaredraus werden. „MitdemhabeichkeinMitgefühl", flüsterter, „der Heilmann war im SPD-Parteivorstand, gar im Frak-tionsvorstand des Reichstags. Der ganze Parteivorstand solltedas hier selbst ausbaden." „Diemeisten Bonzensitzen im Aus-land", antworte ich. „Mitder Parteikasse, diehaben immer fürsichzusorgengewußt", fügt er verbitterthinzu. „Nichtallesindim Ausland", fügt ein Kibitz hinzu. „Ich habe bei meiner

3 Vgl. Pingel, F.: Widerstand hinterStacheldraht. In: Löwenthal/Mühlen(Hrsg.): Widerstand und Verweige-rung in Deutschland 1933 bis 1945,Berlin-West 1982.

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Gewerkschaft erlebt, wie sie den Apparat so lange vorbildlichführten, bis sie ihn den Nazis geordnet übergeben konnten.

"(Kz34)

Ich dachte an denLandtagsabgeordneten aus Eckernförde,JohannJohannsen4 odersohieß er, war eingemütlicher, feiner,ruhiger Kerl. Grinsenderzählte er, was sie alles mit ihm ange-stellt hatten. So war es! Jeder hielt sich darüber auf undbestaunte, was dieNazis „Unbürgerliches" angestellt hatten, alsob dieUnterwelt ausgebrochen wäre. Darüber verlor man jedenGedankendaran, daß diesnurmöglichgewesenwar, weilunsere„Oberwelt" versagt hatte. Der Weg begann nun mal mitEbertund Noske, lang, lang ist es her. (Kz34-Kz35)

Da war er also,der Vorwurf gegendie „Bonzen" undgegendie Sozialdemokraten, die so lange an Recht und Gesetzgeglaubt hatten, bis sie selbst Opfer des Terrors wurden. Warihr Vertrauen in den bürgerlichen Staat Grund genug, sichabfällig über Heilmann zu äußern, den die Nazis, wie PaulDöringwußte, als Juden und „Politischen"besonders gequälthatten? Mit seinem Mißtrauen muß Paul Döring sich imGegensatz zu den Genossen gefunden haben, die politischeVerfolgung der Funktionäre als Indiz für Überzeugung undStandfestigkeit werteten. Vertrauenwar gleichzeitig AusdruckvonSolidarität undhöchsterGefährdung.Geriet man an einenSpitzel, so gab es kaumnochRettung. War das Mißtrauen vonPaulDöringmöglicherweiseeineReaktionauf die Zurückhal-tung, mit der die anderen „Politischen" dem Neuen begeg-neten?

Vielleichtließ es Döringauch nuranMitgefühl für Heilmannfehlen, weiler keinen „menschlichenDraht" zudiesem Mannfand.Letztlich teiltenbeide dochdas gleicheSchicksal.Für dieVermutung, daß es weniger prinzipielle als subjektive Gründewaren,die PaulDöring„schadenfroh" über Heilmann schrei-ben ließen, spricht der andere Ton, in dem er einen weiterenprominenten Sozialdemokraten,JuliusLeber, erwähnt:

Dannmußten wir eines Tages beim Zählappelllange warten.Die Strafkompanie war noch nicht zurück aus dem Wald. Ichwußte, was passiert war, meinte ich. UnserPosten hatte beiderArbeitnichtdichthalten können:„Wißt ihr, wen sie heuteumle-gen? Den Leber!" Denganzen Taghatte ich dannaufSchießengewartet.Esschoß nirgends. Jetzt wartetenwiraufdieStrafkom-panie, ...DasBenehmenunserer Lagerführung wareigenartig.So lange hatten wir sonst nicht in Habtachtstellung gestanden,mit dem Blockführer vor jedem Block. Wollten sie uns denLeber etwa feierlich zuFüßen legen? Inmirkribbelte es. Esistdochganzgut, wennmannureinkleinerSpitzbubeist!Man lebtlänger.

War es das Gurren weitentfernter Waldtauben, das ich zuhören glaubte? Es schwoll an und verklang und war nichtsBekanntes. Doch es kam näher. Die SS-Bullen machten langeHälse über uns hinweg. Jetzt wieder dieses Heulen. Langsamsackte ich in mich zusammen. Vorsichtig schaute ich mich um.Dort aus dem Waldkam eineRotteMänner,die Strafkompanie.Ein kräftiger Kerl trugeine Last aufdem Rücken. Beiden SS-

4 Paul Döring meint wahrscheinlichden sozialdemokratischen Abgeord-neten Jürgen Jürgensen. Er war Ge-schäftsführer der preußischen Land-tagsfraktion und vertrat den Wahl-kreis Eckernförde. Jürgensen warnach der Machtergreifung in das KZEsterwegeneingewiesen worden(vgl.Schunck, K.-W.: Wie imJahr1932 dieDemokratie in Deutschland verlorenging. Eckernfördcr Abgeordneter imLandtag verletzt. In: Harner, K./Schunck, K.-W./Schwarz, R.: Verges-sen und verdrängt. Eckernförde1984).

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Leutengab es Unruhe. Ichguckte immer wiederschnellmalhin.Die rannten einen erschöpften Schritt, und der mit derLast aufdem Rücken stolperte ebenso dahin. Auf und nieder wurdekommandiert, undjetzterkannte ich:DieLast war einMensch.Unddie GeräuschewarenseinStöhnen,Gurgeln,Brüllen, Keu-chen,nennt's wie ihr wollt, menschlich war esnicht.

HattensieLeberdoch...?Nein,Lebertrugeinenanderenaufden Schultern. Das Bündel zuckte, drehte und wand sich.Schnellzählte ichdurch.Esfehlte keiner in der Strafkompanie.Erstvielspätermerkten wir, daß es unserkleiner Hans war, denLeberaufderSchulterhatte, oderdas, was von ihmnochübrigwar. (Kz80)

Paul Döring zeigt vor Leber im Gegensatz zu HeilmannRespekt, jasogar Sympathie. Ob ihm seine Hafterfahrung inEsterwegen und Sachsenhausen hätte deutlich machen müs-sen,daß politischer Widerstand inDeutschlandkaumzu leistenunddie Emigration fast immer die einzige Möglichkeitfür denErhalt einer politischen Identität bildete, steht hier nicht zurDiskussion.DöringsDarstellung vonHeilmannundLeber solljedoch zeigen, daß er dasKonzentrationslager keineswegs ausder Sicht eines treu gebliebenen Sozialdemokraten oderKom-munisten beschrieb. Ein Zeugnis dieser Art hat z.B. WalterPoller,Sohn eines sozialdemokratischen Polizeichefs ausKiel,mit dem „Arztschreiber in Buchenwald"5 abgelegt. DöringsBlickwinkel schieneher der einesteilweise verbittertenEinzel-gängers zusein.Wenndasso war, welchepolitischenErfahrun-gen mußte er machen,um auchimKonzentrationslager jedemFunktionär zumißtrauen? Wie verbreitet war seine Verbitte-rung? Spiegelt sichdarinnur eine gleichermaßen empfindlicheund impulsive Persönlichkeitwider oder eine verbreitete Strö-mung in derKieler Arbeiterbewegung vor dem Zweiten Welt-krieg?

5 Poller, W.: Arztschreiber in Buchenwald. Offenbach 1960.

Ausder Höllezurück Esgibt zweiFassungen des Sachsenhausen-Manuskriptes. EinehatPaulDöringmit einer Reihezusätzlicher,handschriftlicherKorrekturenversehen. Auch wenn er das Tagebuch möglicher-weise mit dem Ziel einer breitenLeserschaft geschrieben hat,so dientees sicher auch dazu,seine persönlichenErfahrungenzu verarbeiten. Zu seinen KZ-Erfahrungen gehörte unteranderemdieRückkehr ausdemKonzentrationslager zur Fami-lie. Welche Enttäuschung PaulDöringerlebt hat, läßt sich ausdem letzten Abschnitt ahnen,indemer schreibt, wie ihnseineMutter nach der Entlassungempfing:

DustehstaufderStraße inderNacht,suchstkleine Steinchen,die inder drittenEtage endlich das elterlicheFenster erreichen.Du sagst deinen Vornamen zu deiner Mutter, sie schließt auf,aber vor der Wohnungstür wirst du begutachtet. „Dubist dochnicht...? Bist Du ausgerückt? Vater will keine Schwierigkei-ten.

" Du zeigst deinen Entlassungsschein, der Name stimmt,aber ehe du in die Wohnung gelassen wirst, mußt du einigeGeschichten aus dem Familienleben erzählen, die außer dirkeiner kennen kann. „Na, denn bist Dudat ja doch woll.

"Und da hattest du unten gestanden und den törichtenWahn

Gerade der Hölle entkommen:PaulDöring1939,kurznach derEntlassungaus dem KZ.

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gesponnen: EineMuttermuß es doch ohneFensterkratzenspü-ren, daß einverlorenerSohn ausderHöllezurückgekommen ist.Jetzt sagt sie: „Was sollen die Nachbarn denken bei deinemgeschorenenKopf?" (a94)

Was war das für eine Mutter,die ihren Sohn zuerst nicht indie Wohnung lassen wollte? Aus welcher Familie kam PaulDöring? Die Herkunft des Verfassers, seine Verbindungennach Kiel, lassen sich aus dem Tagebuch nicht belegen. Nichteinmal den Namen des Autors erfährt der Leser: „EinenNamen muß ich mirnoch zulegen; meinen eigenen möchteichmitdieser Beichtenicht in Verrufbringen. " Habennicht eigent-lichdie etwas zubeichten,dieaufden VersammlungenBeifallbrüllten oderpolitische Gegner denunzierten? Verrätder Aus-druck „beichten" eine ironische Anspielung? Wer war PaulDöring?

KielerSpurenEsgibt verschiedene Spuren, die zur Herkunft des Tagebuch-schreibers führen. Die erste, der ich nachging, war die Aus-kunft vonPeterKuhlemann.Er wußte, daß PaulDöringinKielgewohnt hatteunddaß er vonBeruf Stenographgewesen war.Der Versuch, über das Kieler Telefonbuch einen lebendenVerwandten gleichen Namens zu finden, stieß jedoch aufSchwierigkeiten: dreiundvierzigPersonen sollte man nicht aufVerdacht anrufen. So begann ich, in Kielnach älteren Genos-sen zusuchen, die ihn gekannt haben. Der SPD-Arbeitskreis„DemokratischeGeschichte" stellt Kontakte her, die es mög-lich machen,denWeg von SachsenhausennachNorddeutsch-land zurückzuverfolgen.

Mein erster Besuch führte zu einem ehemaligen Kollegenvon PaulDöring,mit dem er in der Zeit nach 1946 als Steno-graph am ersten Kieler Landtag gearbeitet hatte. Kurt Stenzelerinnert sichdaran,daß KarlRatzinseiner Funktionals ersterLandtagspräsident Paul Döringdie Arbeit als Stenograph ver-mittelt hatte. Ratz habe Paul Döring vermutlich aus dergemeinsamen Zeit bei der Schleswig-Holsteinischen Volkszei-tunggekannt,beiderer ab1924alsStenograph arbeitete.ÜberRatz, der maßgeblich am Wiederaufbau der Kieler Sozialde-mokratienachdem Zweiten Weltkrieg beteiligt war, kannmannachlesen, daß er bis 1941 ebenfalls im KonzentrationslagerSachsenhausengewesen war.6Daer jedoch auchschongestor-ben ist,wird kaum zu erfahrensein, ob sichbeide in der Haftbegegnet sind und welche Bedeutung die gemeinsame Erfah-rung für beide besaß.

Der Faden zwischen Kiel und Sachsenhausen schien mirnochsehr dünn zusein.Einen Anknüpfungspunkt für die wei-tere Suche gab zunächst PaulDöringsTagebuch selbst.

6 Handbuch des Schleswig-Holsteini-schen Landtages, 3. Wahlperiode1954. HerausgegebenvomSekretariatdes Schleswig-HolsteinischenLandta-ges,Kiel 1957. S.272.

InsKonzentrationslager

Auf dem Nachhauseweg überholt mich unser Firmenbote,schiebt sein Fahrrad neben meines und fragt: „Haben Sie esschon gehört,Herr.. .? (EinenNamen muß ichmir noch zule-gen; meinen eigenen möchte ich mit dieser Beichte nicht inVerrufbringen.)

„Zweivonder Gestapo sindimBetriebgewesen. Der Vertrau-ensrat hatSie verpfiffen."

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Das war ein Schreck in der Abendstunde. Ob die GestaposchonzuHauseaufmich wartete?Sollte ichetwa türmen? (Kz1)

Paul Dörings Vorsicht macht seinen Weg ins Konzentra-tionslager zu einem anonymen Ereignis. Der Leser erfährtnicht, in welchem Betrieb er damals arbeitete und wann ergenau verhaftet wurde. Weiterhin verliert Paul Döringzunächst kein Wort über Freunde oder Familienangehörige,die ihn vermißt haben könnten.

ImNachlaß von PaulDöringfindensicheinBericht „Wie ichins KZ kam" und eine „Schilderung des Verfolgungsfalles".Beide Dokumente ergänzen den Anlaß für seine Verhaftung:

Anfang 1936 hatte ich nach mehrjähriger Arbeitslosigkeit inBielefeld bei der Herrenwäschefabrik Schaffer & Vogel Arbeitals Stenotypist erhalten.

Beim ersten Arbeitslohn wurdemir der DAF7-Beitrag einbe-halten. Ichprotestierteunderhieltdas Geldzurück. Daraufodervielleichtauch, weil ichschon vorher aufgefallen war, wurde ichvielimBetrieb mit „HeilHitler" gegrüßt undantwortete sturmitdem jeweiligen zivilen Gruß „GutenMorgen, guten Tag oderguten Abend".

ImMärz 1936ginggerade wieder eine Wahlkampagne durchdasLand.Ich weiß nichtmehr, wasgewählt wurde. EinKollegeaus dem Betrieb, ich kannte ihn nicht näher, sprach mit mir inmeinem Büro über eine Wahlversammlung. Er war noch vollder Begeisterung aus der turbulenten Versammlung, in derbesondersüber einenRichterhergezogen wurde, derjemandfreigesprochen hatte, weil seine Äußerungen damals noch nichtbelangt werdenkonnten...8

Der Kollege wareinReisenderderFirma,der PaulDöringinein politisches Gespräch ziehen wollte:

Ich wich zunächst aus und erklärte, ich wolle von Politiknichts wissen, mehr könneman von mir auch nicht verlangen,denn ich seifrüher Sozialdemokrat gewesen. Als der Wissendedarauf sagte: „Wer jetzt noch nichts von Politik wissen will,gehörtandennächstenLaternenpfahl", wollteichmichpolitischunterhalten...9

Da Rechtssicherheit gerade das war, was unsereins, der mitdemHitlerkursnicht einverstanden war, amnötigstenbrauchte,verlor ich meine bisher eingehaltene Zurückhaltung. 10 Dannhabe ich irgend etwas sicherlich Wahres über die Justiz gesagt,und dasschlimmste war,daß ich inbezugaufdie Wahlversamm-lung, in der Freister vom Justizministerium gesprochen hatte,sagte, ob man solche Rechtsfragen vor dem Pöbel in der Ver-sammlungbehandeln sollte, das wüßte ichnicht.11

Der Kollege, so erzählte man mir später, hatte nicht dieAbsicht, mir Schwierigkeiten daraus zu machen. Er war aller-dings über meine Äußerung genauso aufgebracht, wie er vorhervonderBrüll-Versammlung begeistertgewesen war. Ererzähltedavon bei anderen Kollegen. Dabei soll der ,yertrauensrat"dannNotizengemacht haben.12

Wenn die Nazis Paul Döring für gefährlich hielten, dannsicher nichtdeshalb,weilsie ihnähnlich wie einenJuliusLeber

7 Deutsche Arbeitsfront

8 Döring,R: Schilderung des Verfol-gungsvorganges.Kiel,den30.9. 1954.

"Döring, R: Wie ich ins KZ kam

Kiel, den 10.12. 1949.

10 Döring 1954, a.a.O. Mit juristi-schenFragenwarPaulDöring,wie sei-ne Schwester erzählt, während seinerBerufsausbildung als Anwaltsgehilfein Berührung gekommen.

11 Döring 1949, a.a.O

12 Döring 1954, a.a.O

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für fähig gehalten hätten, Koalitionen gegen sie zustande zubringen, sondern wahrscheinlich vielmehr deshalb, weil ihmnichts ferner als die geduldige Konspiration lag. PaulDöring,so erfuhr ich von seinem späteren Kollegen am ersten KielerLandtag, war im Grunde seines Herzens jede Taktik fremd,selbst dann, wenn er damit dem politischen Gegner schadenkonnte. Seine Stärke lag vielmehr darin, auch unter der Dro-hung von Gefängnis und Konzentrationslager auszusprechen,was er vom Nationalsozialismus hielt. Unter der Diktaturmußte er den Mächtigen bedrohlich erscheinen, die Angsthatten, daß solche Beispiele Schule machen würden.

Die Erwähnung des „Vertrauensrates"ist der Schnittpunkt,an dem seine Darstellungen des Verfolgungsanlasses und dieSchilderungen im Tagebuch zusammentreffen. Wir erfahren,daß PaulDöringzunächst insPolizeigefängnis inBielefeldundnach sechs Wochen von dort nachEsterwegen kam. Schon imPolizeigefängnis erfuhr er,wie die neuenHerrenmitden „klei-nenLeuten" umgingen:

Der dritte Dauergast unserer Pension wurde von uns geson-dert gehalten. Kurt kannte seine Geschichte. Er war Lumpen-sammler, einer von der damals noch häufigen Sorte, die miteinemHandwagen und einer Glockedurchdie Straßen zogen;von denen die Lumpengroßhändler reich wurden und abendsdie Gastwirte. Er war nie in einer Parteigewesen. Eines spätenAbends hatteer ineiner Kneipe einenpolitischen Witz erzählt,der platt genug gewesen sein wird, um in seinem Gedächtnishaften zu bleiben. Er hatte sich aber nicht vorher im Lokalumgeschaut. Einfremder Herr zogPapier undBleistift aus derTasche,notiertesich was undfragte dannden Wirt nachKarls-ich glaube, er hieß Karl- Namen. Sechs Monate hatte unserLumpensammler dann im KZ gesessen. Wer ihn jetzt einge-schüchtert nennen wollte, untertreibt maßlos. Angst saß tief inihm, tiefundalles ausfüllend.

Es dauerte dann knapp drei Monate, Karlsaß wieder in derselben Wirtschaft wiedamals, am gleichen Tisch. MitsteigenderPromille-den Ausdruck kanntemannochkaum-muß ihm dieErinnerung gekommen sein. Unddie Furcht. Und das Wissenum den Witz von damals. Und die Gefahr, die darin gelegenhatte. Und das Wissen um die eigene Unzulänglichkeit. Bis erdann laut und deutlich, ausgerechnet in einem stillenMomentder Gaststube, dasselbe noch einmal herausgebracht hat...(Kz9-10)

„Erkonnte das Maulnicht halten"

Die Schilderungen des Verfolgungsfalles geben einBeispiel fürGründe, dieeinJahr nach der „Machtergreifung" zur Verhaf-tung führen konnten.Gleichzeitig werfen sie jedoch neue Fra-genauf, zumBeispiel, warum PaulDöringbereits früher „auf-gefallen" war.

Zwei Vermutungen lagen nahe: Entweder hatte er sich denNationalsozialisten bereits durch Arbeit in Partei oderGewerkschaft verdächtig gemacht, oder er gehörte zu denMenschen wie Karl, der Lumpensammler, die ohne Rücken-deckung undoft im „falschen" Zeitpunkt denMund aufmach-

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ten.Umzuklären,obPaulDöringin erster Linieein „Motzer"oder ein politisch motivierter Gegner der Nationalsozialistengewesen war, wollte ich etwas über sein Elternhaus und diefrüheste Jugenderfahren. Icherfuhr,daß seine SchwesternochlebtundineinemAltersheim amRandeKielswohnt.Dortsitzeich Toni Schlemminger gegenüber, die ihre Sehkraft verlorenhat. Auf meine Frage, wann Paul Döring geboren wurde,beginnt sie:

,J\merstenApril1905 inDänischenhagen. Mein Vater wardaLandarbeiter am Gut, im Kreis Dänischenhagen. Er wurde inder Kirche vonDänischenhagen getauft."

Wie viele Geschwister hatteer?„Wir waren nurzwei, mein Bruder und ich. Ich warein Jahr

jünger. Mein Vater war inder Welt herumgekommen. Dasgefielihmnichtmehr so, aber erhattenichts anderesalsLandarbeitergelernt. Als wir dann schulreif wurden, da hat er gesagt: „Wirwollen indie Stadt fahren, die Kinder sollen indie Schule.

"So

sind wirnachKielgekommen. Mein Vaterhat dann alsStraßen-bahnerangefangen, späterging er auf die Werft. Wir sind danngleich indie Volksschulegekommen."

War Ihr Vater auch inder Gewerkschaft?Ja,mein Vater war in der Gewerkschaft. Und vor allem war

erFreidenker.Er warnichtinderPartei, aberer warFreidenker.Zumeiner Zeit, als ich noch so13,14 oder 15 war, da gab dasgroße Versammlungen. Im Gewerkschaftshaus war so eingro-ßer Saal. Damals gab das noch ein Gewerkschaftshaus, dawaren große Versammlungen. Da wurde hin und hergeredet:„Und es gibt einen Gott!Und es gibt doch keinen Gott!" Dashabe ich noch alsSchulkindmit angehört.Mein Vater waralsoFreidenker und hat uns als Kinderimmer belehrt: „Ihr brauchtnicht zubeten, wenn zu Weihnachten mein Portemonnaienichtvoll ist, dannkriegt ihr doch nicht, was ihreuch wünscht. Wennichabergut verdient habe, dannkannes etwas werden." Wennwir an einer Kirche vorbeikamen, dann sagte er: „Das ist derSchafstall. Die Glocken läuten, damit die Schaflein kommen. "So hat er immer gesagt.

Wir haben zu Hause nie gebetet, aber wir mußten es in derSchule. Jeden Tag Religion! Ich mußte jeden Morgen von achtbis neun eine Stunde Religion... Das war im Stundenplan.Religion, Deutsch,Rechnen.Religion, Deutsch,Handarbeit.Sowar das immer".

Konnte man sich davonnicht befreien lassen?„Nein. Es gab auch noch keine Jugendweihe. "Freidenker waren jawahrscheinlich eher dieMinderzahlder

Eltern. Ich könntemir vorstellen, daß sein Vater ihn damitangeregt hat,sich seine eigenen Gedanken zu machen?

Ja, ja. Wie wir zum Konfirmandenunterricht sollten, dagingdas los. In der Schule hat er nicht so viel geredet. Aber imKonfirmandenunterricht denPastor vorsich zuhaben, dashielter nicht aus. Er hat ein Jahr länger gebraucht zur Schule.Damalsmußten dieJungenneunJahre undichalsMädchen achtJahregehen. Also wurden wir zusammen konfirmiert. MeineMutter wollte doch so gerne, daß wir zusammen konfirmiert298

werden und sie verlangte, daß Paulzu dieser Pastorenstundeging. Wegen derLeuteund wiedas damals war. Er wolltejedochgerneschwänzenund tates auch. Aber dann kam derPastor zuuns ins HausundsagtezumeinerMutter, er weigeresich, ihnzukonfirmieren, weiler sich eben nicht anständig benahm, da inder Pastorenstunde. Und dannhat der Pastor sich doch nochbereiterklärt. Gut,Paulbesuchtenichtmehrdie Stunde,abererwürde ihn mit konfirmieren. Das war dann eine Feierlichkeit,am Bahnhof, die große St. Jürgenskirche, eine schöne großeKirche. Dann am Altar oben, da war es hoch, da saßen dieGeschwisterpaare. Wir waren ungefähr sechs oder achtGeschwisterpaare, die so nebeneinander erhöht saßen. Dieanderen Kinder saßen unten in denReihen. Das sah natürlichschönaus, sowohl von oben, von der Galerie, und auch vonunten. Und das vergess' ich nie, ach Mensch:MeinBruder saßneben mir, und auf unserem Stuhl lag so ein hübsches buntesBlatt.Meineszeigte, wieJesus durchsKornfeldging, wasdasbeiihm war, weiß ich nicht. Einen Spruch dabei hatte wohl jeder.Wie unser Pastorso feierlich predigte, dasah ichmitEntsetzen,daß mein Bruder, der Flegel, seinen schönen Bogen in ganzkleine Stücke zerriß, und die Stücke so ganz um sich herumstreute, um seinen Stuhlherum, so daß alledas sehenkonnten,weilwir erhöht saßen. Oh, ich hab mich so geschämt. MeineMutterkonnte dasunten wohlnichtsehen. Aber so warerdenn.Als wiruns dannhinknietenundderPastorsollteunssegnen, dazoger seinen Kopfnachunten.Er konntenicht anders."

Wie ging es nach der Schulzeit weiter?„Paulkam zueinemRechtsanwalt indieLehre.Erhattejaein

prima Zeugnis. Damals hatten wir nochHauptplätze. Er hatteden erstenHauptplatz. Wir warenungefähr 50 ineiner Klasse."

Was war das, ein Hauptplatz?„Die Kinder wurden nach Leistung hingesetzt. Die große

Klassehatte so große Bänke, daß in zwei Reihen je vier sitzenkonnten. Je vier, und dann eine ganze Reihe, bis 50. Und dertüchtigste, derbeste, dersaß vomLehrerausgesehen obenlinks.Das warderersteHauptplatz. Dannkam derzweite, der dritte,undnach undnach kamen siealledran. UnddieDümmsten undFaulsten saßen vorne beimHerrn Lehrer. Wenn einer ungezo-gen war, dann kam er nach vorne.

Paullerntegutundes war ihm alles vielzuleicht.Erhätteeinebessere Schule haben müssen. Dann hätte er nicht so vieleDummheiten gemacht."

Die hätte ihn vielleicht mehr gefordert„Natürlich, das hatte ihm gefehlt.Ichglaube, inden letzten Schuljahren, da merkte mein Vater,

daß er gut lernte. Dahat er ihn dann noch mal zu SchwarzersBuchhaltungsschule geschickt, hier am Sophienblatt. Das wareineAusgabe für meinen Vater. Erhat40Markbezahltfür einenKursus: Schönund schnellschreiben. Paul hatte eine schöneSchrift!Icherinneremichnoch, ichhabimmer mitgeübt. Dahater ruhigeHandgeübt, erst mal, mitlauter Zirkelnund so.Dannhater eine ganz schöneSchrift gehabt. EineSchrift, die könnenSie sich nicht vorstellen. Später noch, wenn Beerdigung war,

PaulDöringals Schuljunge, ca.1910.

299

unsere Genossen, dann war er da und hat in dem Kondolenz-buchgeschrieben. Dannhabensiegesagt: „Da,PaulDöringmitseiner Schrift hat da geschrieben."

Während er noch in die Schule ging, fing er schon einenStenographiekursus anzu besuchen. Auch Wettschreibenhaterdamals schon mitgemacht. "

Arbeiterjugend in Kiel Nachder Schilderung seiner Schwester gehörtPaulDöringzuden Arbeiterkindern, denen die Volksschule aufkeine Weiseangemessene Möglichkeiten zur geistigen Entwicklung bot.Die finanziellen Bedingungen des Elternhausesließen aber zujener Zeit denBesucheiner weiterführenden Schule nicht zu.Was lag indieser Situation näher,als daß PaulDöringAnre-gungen außerhalb der Schulwelt suchte? Die Möglichkeitenwaren für ein Arbeiterkind in der Weimarer Zeit sehr gering.Eine bestand im Kontakt zur Sozialistischen Arbeiterjugend.Sie wurde damalsinKiel wievermutlich auch in anderen Städ-ten von Intellektuellen gefördert, die der Arbeiterbewegungangehörten oder ihr doch nahestanden. In Kiel gehörtePaulHermbergdazu, der in jener Zeit wissenschaftlicherMitarbei-ter am Institutfür Seeverkehrund Weltwirtschaft inKiel war.13

Hermberg und später auch seine Frau entwickelten sich zuFreundenundpersönlichenFördererndes intelligenten jungenMannes. Paul Dörings letzte Frau erzählte, daß der Kontaktmit Hermbergs auch nochnach dem Kriege andauerte.

Toni Schlemminger,die Schwester von PaulDöring,hat dieArbeiterjugend inKielzusammen mit ihremBruder erlebt. Eswar eine Zeit, die sie bis heute in ihremDenkenundHandelngeprägt hat. So fragte ich sie, wie der erste Kontakt zustandegekommen war:

jährendseinerLehre,da waren wirinderArbeiterjugend.14

Wie wir konfirmiert wurden, kurz nachdem war ein schönerZettel im Briefkasten, den hatte Bruno Verdieck wohl einge-steckt. Der wurde später ein großes Tier inder Gewerkschaft.

Die hatten uns zu einem Elternabendeingeladen, da solltenwir beide hinkommen. So sind wir beide hingegangen, dazukamenmeine Eltern oder meineMutter mit. Die Jugendlichen,die wir dort kennenlernten, waren auch ohne Erwachsene sehrselbständig. Das gefiel uns. Das imponierte uns.

"Was wurde indieser Zeit in der Arbeiterjugendgemacht?Wie wir da hineinkamen, waren wir so hungrig. Wir hatten

keine richtigen Schuhe und auch sonst fehlte alles. Wir warenauch nicht satt.

Und dann gab es unsere neue Polizei. Wenn wir aus demJugendheim kamen, im Jägersberg war unser Jugendheim, undzur Eckegingen, wo jetzt die Maschinenbauschule ist, verab-schiedeten wiruns unterdemLaternenpfahl. Der einegingnachunten und der andere ging nach oben, dann kam ein Schutz-mann oderPolizistunddersagte Auseinandergehen, auseinan-dergehen". Da war dann wohl der Kapp-Putsch gewesen.Genau weiß ichdasnichtmehr. Sobaldda ein Polizistnahte,dasangen wir, „Esdarfnichtmehr als eineraufdemHaufenstehen,unddermuß auchnochauseinandergehen". Wirhabenunseren

13 Rathmann, A.: Ein ArbeiterlebenWuppertal 1983,S. 44.

14 Gemeint istdie SozialistischeArbei-terjugend.

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Spaß gemacht. Esdurfte nicht zusammengerottet werden.Dann machten wir Wanderungen damals. Ichhatte ein Paar

Soldatenstiefel, die warenmirzugroß. Sie waren aber derb, undsonsthatten wir jakein Wanderzeug, keineordentlichenSchuhe,mit denen wir laufenkonnten. Wirhattenjeder eine Feldflaschemit einemgrauen Überzug unddanneinen Brotbeutel, alles vonden Soldaten. DieJungen hatteneinen Affen, einen Tornister.Das war unsere Ausrüstung. "

Und das hat der Paulauch gerne mitgemacht?„Sicher."Tat er sich dabei in irgend einer Form besonders hervor?„Das weiß ich nicht. Ich habe schon darüber nachgedacht.

Einmal war er Wanderleiter, daran erinnereich michnoch. Ichkannnichtsagen, daß ereinen Postengehabt odereine Gruppegeleitethätte."

Wissen Sie noch, welche Freunde er damals gehabt hat?„Otto Grund war sein Freund. Der hat mit ihm gelernt. Der

hatauchbeieinemRechtsanwaltgelernt. Vielleichthabensie dieBerufsschule zusammenbesuchtund wurdendadurchFreunde.Otto Grund war ein musikalisches Talent. Der hat eine großeRolle inderArbeiterjugendgespielt. Erkonntegut Geigespielenundsingen.Er wurdenachher vielbenötigtzukleinen Veranstal-tungen undFesten.

"IstIhnenderName Walter PollereinBegriff? Ichfrage, weil

er auchein KZ-Tagebuch geschrieben hat, den„Arztschreiberin Buchenwald".

,Ja,aberichglaube, mitPaulhater nicht viel zu tun gehabt.Sein Vater war unser Polizeipräsident."

Ausder SPD?Ja, da in der Blume, ganz bei uns in der Nähe am Jugend-

heim. Walter Poller warsein Sohn. Der war hübsch und hatteschwarzeAugen. Dannhater unshypnotisiert. Dasdurfteergarnicht, aber er hat seine Versuche gemacht mit uns, im Jugend-heim. Das war interessant. Esgab welche, die ließen sichhypno-tisieren. Dieglaubten alles, und dann ließ ersieBlumenpflük-ken, und wir lachtenuns schief. Walter Poller hat dasgemacht.Ich weiß nicht, ob das noch welche gibt, die das miterlebten.Alle, dieichjetztkenne, die warennichtdabei. KarlRickers warnie dabei, der hat woandersgewohnt.

"Ja, er hat auch gesagt, daß er erst zur Volkszeitung gekom-

men ist,nachdem PaulDöringnicht mehr da war.MirhatKarlRickers auch erzählt, daß ihn Dr. Hermberg gefördert hatte.Kannten Sie ihn?

„O ja,Professor Hermberg. Das war die Zeitder Arbeiterju-gend. Der war hier am Weltwirtschaftsinstitut. Paul lernte ihnkennen, und dieser Mann war etwas für ihn. Er kannte nieGrößen, von denener etwas lernen konnte. Der Durchschnitt,das war nichtsfür ihn. Aber von Hermberg war er begeistert.Hermberg warsein ein undalles. Die waren soviel zusammen,daß meineMutter schon Angst hatte, daß der ältereHermbergmit ihm etwas vorhatte. Daskamihrsokomisch vor. Derdachtegar nichtdaran, aber wasdie Mütter dannso denken. Sie warenso vielbeieinander.Professor Hermbergs Vater lebte, soweit ich

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weiß, in Itzehoe.Dort war erPfarrer gewesen. Das war einalterMann, und zu dem ging mein Bruder sehr oft, um mit ihmSchach zuspielen."

KönnenSie etwas über die Zeit erzählen,inder Paul an derVolkszeitung war? Wissen Sie, was er dort eigentlich gemachthat?

„MeinBruderkam alsStenograph zur Volkszeitung, nein,alsBerichterstatter, weil er so gut stenografieren konnte. Er warBerichterstatter für Andreas Gayk. Andreas Gayk war damalsRedakteur bei der Volkszeitung."

Was heißt eigentlich „Berichterstatter"? Hat er selberBerichte geschrieben?

Ja, er wurdeimmer losgeschickt. Das war die Zeit der inter-essantesten Versammlungen. Jeden Abend Versammlungen,und Paul war jedenAbend unterwegs. Dagab es Versammlun-gen von den Kommunisten, von den Unabhängigen, von derSPD und von den Bürgerlichen. Alles was die Volkszeitungbenötigte, mußte Paulmitbringen.

MeinBruder warder einzige inganzKiel, derstehendalles inDebattenschrift mitschreiben konnte, und alles hörteer nochmit. Deshalb wurde er ja auchspäter Stenograph im Landtag.Zuerst einmalschickteihndie Volkszeitung wegenseinerFähig-keiten überall hin, um Berichte zu schreiben. Paul hat mirerzählt, wie Andreas Gayk ihm das beibrachte: „Kürzer, kür-zer, kürzen, janicht so vielnebenbei" hieß das. Für AndreasGaykhatte er viel übergehabt. Den hat er richtig verehrt. „Derwar tüchtig, und von dem hab ich so viel gelernt", hatPaulimmer gesagt.

"Schreiben war also zunächst einmal für Paul Döringkeine

schriftstellerische Tätigkeit, sondern eine Technik, die er bes-ser als viele anderebeherrschte. Bei der Volkszeitung erhieltdas Schreiben aber aucheine politische Dimension. Seine ste-nographischenFähigkeiten erlaubten ihm,diehitzigenDiskus-sionen in den Veranstaltungen wortgetreu wiederzugeben.Sicher kam ihm diese Fähigkeit später für das SACHSEN-HAUSEN-Tagebuchzugute.

302

DerProletarier ausdemEulengebirge

Kiel,das wardie Stadt, inderPaulDöringgroß geworden war,die Stadt seiner Eltern,der Sozialistischen Arbeiterjugend. InKielhatte er eine Lehre gemacht, undhier begann er 1924 beider Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung. In Kiel hatte erseineersteFrauCharlottekennengelernt, dieer 1925heiratete.Mit ihr ging er 1927 nachDessau.15 Warum er Kielverließ, istnicht genau bekannt.Die Vermutungen reichen vonpersönli-chen Gründen bishin zur Suchenach einer neuenberuflichenund politischen Wirkungsmöglichkeit.

Durch seine Tätigkeit für die Volkszeitung erfuhr PaulDöringmehr über den politischen Alltag in der Republik alsviele seiner Zeitgenossen. Dieses Wissen brachte ihn wahr-scheinlich zueinem kritischen Urteil über die Art und Weise,mit der die SPD der nationalsozialistischenGefahrbegegnete.Er mußte beobachten,daß die eigenen Genossen zwar gegendie „Braunen" redeten, sich aber bei Schlägereien auf Ver-sammlungen oder Demonstrationen schnell zurückzogen. AlsMittel im Kampf ließen sie nur zu, was mit den bürgerlichenGesetzen vereinbar war.

DieRisikobereitschaft inder Sozialistischen Arbeiterjugendwar imallgemeinen größer als beiden älteren Genossen. PaulDöringhat den VerfallderWeimarer Demokratie wahrschein-lichähnlich wie seine Schwester erlebt:

„Wir Jugendlichen alle haben uns damals über die Bonzensehr geärgert. Wissen Sie, da gab es das Gewerkschaftshaus.UntenwardasRestaurant,dortsaßen sie. Fritz Hansen,RichardHansen16, Otto Eggerstedt17 und alle unsere Bonzen. JedenAbendsaßen sieda. Wenn esimGewerkschaftshausein schönesKonzert gab und wir vorder Tür herumlungerten, weil wirdenEintrittnicht bezahlenkonntenundaufdiePause warteten,umin den Saalhereinzukommen, dannhieß es immer, guck dochmal da rein, wo sie sitzen. Wenn uns einer, der schon Geldverdiente, mal 'neBrause spendierte,dannsaßen unsereBonzenimmerdaundrührten sichnicht.Mirgingesdamalsgenauso wiePaul:Ichhab dasnicht ertragen.

Ichhabe es nichtertragenkönnen,daß dieNazis ungehindertmachenkonnten, wassie wollten.DieNazis, diemandamalsaufder Straße sah, die waren niemals in einer Gewerkschaft, nie-mals ineiner Gemeinschaft gewesen. Das waren allesRowdies,richtige Banditen. Weil sie alle nichtshatten, kriegten sie dochschicke Stiefel undeine Uniform. Das waren die Ärmsten derArmen. Die hatten überhaupt kein Gefühl für Partei undGewerkschaft. Das war derAbschaum,unddie wurdenaufunslosgelassen. NachsolchenPrügeleien schrieb die VZnur: „DieKommunisten haben mal wieder verprügelt" oder, das vergess'ich nie, „Nazis und Kozisprügelten sich". Ich fand das uner-hört!

Unsere Leute durften sich nicht wehren. Unsere wurden nieaufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen. Es war ja mitGefahr verbunden. AberdieKommunisten tatendas. UndunterdenJungen inder Arbeiterjugend waren welche, diedas einfachmachten. Dahab ichmich dannauch mal rangemacht, undeinbißchen gelauscht undgehört."

15 Schriftliche Mitteilung von KarlRickers.

16 Geboren 1887 in Kiel. Vor 1933SPD-Parteisekretär und VorsitzenderdesReichsbannersSchwarz-Rot-Goldin Schleswig-Holstein. Emigriertekurz nach 1933 nach Dänemark undgalt als einflußreicher sozialdemokra-tischerExilpolitiker.17 Konditor, nach 1918 SPD-Parteise-kretär in Kiel. Reichstagsabgeordne-ter. Polizeipräsident in Altona, vonden Nazis verhaftetund imKZumge-bracht.

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Kozis wurden damals die K... .?,Ja, das wardamalsso üblich. DieKommunistennanntendie

SPDler ja auch Sozialfaschisten. Das war damals schon ganzbös.Das wareineschlimme Feindschaft, SozialistenundKom-munisten.

Gleichzeitig war dieseZeitauchsehr interessant.InderArbei-terjugendlernteichBrunoKossak kennen. Das warein Gaarde-ner. Unsere GaardenerJungen waren tüchtig. Das waren mehrdieArmen, die Gaardener, in den Arbeitervierteln. Diehieltenauch zu den Kommunisten. Sie gingen abends los, um zupin-seln. So ging ich auch mit Bruno Kossak los. Er war keinKommunist, aber er wollteauch was tun gegen die Nazis. Ichhatte einen Umhang um, einCape, unddarunterdenFarbtopf,einen kleinen Eimer mit dem Pinsel. Wir hakten uns ein alsLiebespaar, schöneng aneinandergeschmiegt bis zur nächstenLitfaßsäule. Und dann paßten wir auf: wenn niemand in derNähe war, wurde gemalt. Was es war, weiß ich nicht mehr,jedenfalls gegen dieNazis.

Solche Unternehmungen, die mit Gefahr verbunden waren,konnte man beiden Sozialdemokraten nicht erleben. Lamm-fromm, genauso wie es 1918 war, wie Ebert undScheidemannNoske auf uns schießen ließen, auf unsere Gewerkschaftler.Genauso war es damals auch.

Später wurdensiegejagt, auch BrunoKossak.Ich weiß nicht,woer hinkam. Ich weiß nur, daß erFlugblätter verteilte, verviel-fältigte,unddaß sieimmer aufJagd waren. Einmalhater zumirgesagt: „Du bist ja ein guter Kamerad, du mußt mal eineGeheimschrift lernen. Wenn man erst im Gefängnis ist, dannmuß man sich doch verständigen können." Darauf haben wirGeheimschrift gelernt, ich auch. Und nachher kam es soweit:unsereLeutesaßen alleinderHarmsstraße. Untersuchungshaft,von den Lammfrommen war niemand dabei, nur die Gaarde-ner, die ich kannte. Auch gute SPDler, die jahrelang in derArbeiterjugend gewesen waren. Dann besuchten wir sie inderHarmsstraße, durften jabesucht werden.Dannmußte mansichverständigen. „Sag bloß dem und dem Bescheid. Der und dermuß 'neHaussuchung erwarten. Dannmußten ja die Devisenschnell übertragen werden.Das war Untergrundarbeit, obgleichich in der Arbeiterjugend war. Aber unsere Bonzen wußtennichts davon. Wenn die gewußt hätten, dann hätten sie gesagt„Nein...".

Paul Döring gehörte mit Sicherheit nicht zu den „Lamm-frommen", sondern eher zu denen, die Aktionen gegen dieNationalsozialisten unternehmen wollten. Als er 1927 nachSchlesienging, dahatte sich die Auseinandersetzung zwischenRechtenundLinkenbereits sehr verschärft.Wer politisch Stel-lungbezog, mußte mitpersönlichemTerror der SA rechnen.18

Seine erste Station war das „Volksblatt für Anhalt" in Des-sau.19 Dort fand er eine Stelle als Landtags-Pressestenographund Berichterstatter. In Dessau blieb er jedoch nicht sehrlange. Mit dem verantwortlichenRedakteur überwarf er sich.

Im September 1929 zog PaulDöringvonDessau nach Lan-genbielau, umdort eine StellealsRedakteurbeim „Proletarier

18 Buchwitz, O.: Naziterror in Schle-sien. InW. Emmerich (Hrsg.): Prole-tarische Lebensläufe. Band 2, Ham-burg1978.19 Die Darstellung über Paul DöringsZeit in Schlesiengründet sich auf fol-gende Dokumente aus seinemunge-ordneten Nachlaß:AntragaufAusstellungeines Auswei-ses für politisch, rassisch und religiösdurch den Nazismus Verfolgte vom25.11. 1946.8 Zeugnisabschriftenüber Tätigkeit anschlesischen Parteizeitungenvon 1928bis1931 (unterzeichnet vonVictor No-ack, Kurt Wimmer, Jeuthe, PaulPrien, Herbert Schauder, Fritz Söh-nel, P. Wolf, G. Henseleit, AlfonsBoer).

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aus dem Eulengebirge" anzunehmen. Der „Proletarier" gabihmdieGelegenheit,sich alsLokralredakteurzubewähren.Ererwarb einenFührerschein und fuhr bei jedem Wetter zu denVersammlungen auf dieDörfer.

Die Arbeitslosigkeit drückte auch inseiner Region schwer.PaulDöringwolltenicht nur inseiner Zeitung darüber schrei-ben, sondern auch praktisch etwas tun. Er schloß sich einemAgitproptrupp der KPD an, mit dem er über die Dörferfuhr.Im „Proletarier" rief er die Armen dazu auf, mit der Stempel-karte einzukaufen, wenn es zum Notwendigen nicht mehrreichte. Bei den Kommunisten hatte er zwar eine schärfereBeurteilung der politischen Lage und möglicherweise auchaktivere Kämpfer gegen die Faschisten gefunden, dennochschien er sich in seiner neuen politischen Heimat nicht völligwohl zufühlen.

Auchbeim „Proletarier"gab es Streit.Ende 1930 schied erunter „verzwickten Umständen" aus. Man entzog ihm dieWohlfahrtsunterstützung wegen illegaler Parteizeitungs-Arbeit. Jetzt gehörteer selbst zu denen, für die er sich vorherpolitisch eingesetzt hat: Arbeitslos geworden, mußte er sichund seineFamilie mit einem Minimum an Geldernähren.

Die Aktionen der Agitproptruppe und seine Artikel im„Proletarier" brachten ihn in Konflikt mit der Justiz. ImNovember 1931 wurde er wegen Aufforderung zu strafbarenHandlungen zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, saß Paul Döringgerade eine Strafe ab. Das war gut für ihn, denn sobefand ersich nicht im Blick der neuen Herren, die er nach ganzenKräftenprovozierthatte.Nachseiner Entlassung warer wiederarbeitslos. Der Versuch, sich als Fotograf selbständig zumachen,blieb erfolglos. ErzognachBielefeld,wo er 1936 eineArbeitals Stenotypist fand. InderFirma ließ er sichvoneinemMitläufer provozieren, über eineRede vonFreisler seineMei-nung zusagen. EinMitarbeiter desBetriebes denunzierte ihn,wie im Abschnitt „Ins Konzentrationslager" dargestellt.

Paul Döring1929.

Da wares nunalso,das KZ

VerwandteundFreunde vonPaulDöringwußten nicht,daß erverhaftet worden war. SeineElternerhieltennach einiger ZeiteinenBrief, indemer mitteilte, daß ersich denArmgebrochenhätte. Seine Schwester erzählte, daß man damals ahnte, wasihrem Bruder wirklich widerfahren war, nämlich Folter imKonzentrationslager.

Wie derWeg von der „Freiheit" indasKonzentrationslageraussah, schilderte PaulDöringmit der Aufmerksamkeit einesMenschen,der ahnte, was noch alles auf ihn zukommen sollte.Jede Bewegung war bedeutsam: Auffallenhieß, sich zugefähr-den. Helfen konnte nur Vorsicht und dieList des Schwachen:

Das wares nunalso, dasKZ.Eine breite Lagerstraße. LinksundrechtsBaracken.Hier lagniemandinderSonne. WaswiranMenschen sahen, zog sich bei unsenn Anblick hastig zurück.Was hatten die für ulkige Lumpen an? Polizeiuniformen vonachtzehnhundertundkruck. Manchmalpaßten sie sogar. Manführte uns wieder voreineBaracke.MitzehnMeterAbstandvon

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Mann zu Mannstanden wir zubeiden Seiten des Barackenein-gangs. Hatte Karl mir nicht gesagt, wir müßten erst vor denLagerkommandanten? Ein Name wurde gerufen. Ja", sagtemeinNebenmann,und damachte ereinenSatznach vorn. „Hierheißt es, und zwar laut, und dann rennst Du auch schon!"fauchte der SS-Mann, der ihn vonhintengetretenhatte.

Rennemal, wenndunicht weißt, wohin.Karlhattemirgesagt:Aufpassen, wo die richtige Tür ist!" Linksundrechts standenSS-Leute Spalier. Die wußten, welche Tür. Wie vieleMale derErstaufgerufene zuBoden ging, weiß ichnichtmehr. Der zweitewurde aufgerufen. Wie ein Blitz schoß eraufdenBarackenein-gangzu.Dabei übersah erdieHandeinesBewachersund verlordie Mütze. Flinksprang er danach, erwischte sie auch, und alsihnderFußtritt erwischte, überschlug ersiehnachvorn, aberdieMütze hatte erfest in der Hand...

Als ich loslief -ach, schon durch mein „Hier"-Geschrei -waren sie aufeinenbesonderen Spaß gefaßt. Den Posten rechtsließ ich soweit aus, daß der links mich ganz sicher inseinemStiefelbereichglaubte, aber beiihm wurde ichplötzlichschreck-haft wild. OhneGrundstolperte ichüber dieersteSchwelle, kamdabei unter dem Stiefel des nächsten durch, was sie geradezuverrückt machte, und sie schrien beglückt auf, als ichmit Voll-dampfin dendunklenBarackeneingang tieferhineinschoß. Dasschienaber nurso. Ich wartete die beiden Auffänger dortnichtab, machte plötzlich eine kurze Wendung nach rechts, unddrinnen war ich, in der richtigen Tür und hatte sie sogar nochleise zumachenkönnen.(Kz16-17)

DieFolgen derVerfolgung

Vom März 1936 bis zum Oktober 1936 blieb Paul DöringinHaft.Man entließ ihn „aufProbe" undgab ihmeineBescheini-gung, daß für ihn nur „leichte Arbeit" inFrage käme.20 Trotzder Bescheinigung wurdeer bei der Gartenbauverwaltung fürErdarbeiten eingestellt. Die Bielefelder Gestapo schikanierteihn. Vorder Arbeit bei einer Versicherung sollteer einepoliti-sche „Unbedenklichkeitserklärung" erbringen. Paul Döringfuhr statt dessen mit dem Fahrrad über die Grenze nach Hol-land.Die Holländerbehandeltenihn zunächst gut:

„Mansagtmir, daichmeinenEntlassungsschein ausdemKZbei mir hatte, daß ich inHolland Asylrecht hätte. ...Die KPwandtesichanmich, weilichfrüher Agitpropleiter desBezirkesEulengebirge gewesenwar. VonderKPwollte ichnichts wissen.DerProkureur General-so was wie Staatsanwalt - wandtesichmeinetwegen ohne mein Vorwissen an dieSP; diese wollte vonmir nichts wissen, da ichzur Konkurrenzgegangen war."2I

ImpersönlichenGespräch mit seinem Arbeitskollegen KurtStenzel äußerte Paul Döring, daß die SPD von ihm nichtswissen wollte, weil sich der Prokureur mit einem schlesischenParteizeitungsredakteur inVerbindung gesetzthatte, mit demer 1928oder1929 inStreit geratenwar. Ausseiner Schilderung„Wie ichinsKZkam"22 geht dannweiterhervor,daß ihn, da erkeine Fürsprecher vorweisen konnte, die Holländer wiedernach Deutschland abschoben. Dort wurde er zunächst wegenverbotenen Grenzübertritts zu zwei Tagen Haft verurteilt und

20 Döring1949, a.a.O

21 Döring1949, a.a.O.

22 Döring1949, a.a.O

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danach zurück ins Konzentrationslager gebracht. Am 20.4.1939 zu „Führers Geburtstag" entließ man ihn endgültig ausSachsenhausen. Nachseiner Entlassungsuchte er alte Freundeauf. Unter anderem versuchte er, mit der Familie HermbergKontakt aufzunehmen,die ihnvor1927 inKielunterstützt undgeförderthatte.Erbekam jedocheinenBriefeinesehemaligenMitarbeitersvonHermberg,ausdemhervorging,daß nichtnurDr. Hermberg, sondern auch dessen Frau Annemarie bereitsemigriert waren. InKielmußte er sich als ehemaliger HäftlingeinesKonzentrationslagers regelmäßig bei der Gestapo inderDüppelstraße melden. Dieeinzige Arbeit,dieman ihmzuwies,bestand in harter körperlicher Tätigkeit auf dem Holzplatz„Esselsgroth Söhne".Nach den Qualen des Lagers belasteteihndiese Arbeit sehr. DieNazis drohten ihmundlockten ihn.Wenn er bereit wäre, deutsche Emigranten in Dänemark zubeobachten, würde er es besser haben.23 Abgesehen davon,daß ihnkaum jemandzuSpitzeldienstenhättebringen können,kam es durch die BesetzungDänemarks nicht mehr dazu.

PaulDöringwurde Anfang 1940 zur Luftwaffe eingezogen.Er bewiesMut in gefährlichen Situationen,bewährte sich undwurde sogar zum Feldwebel befördert.24 Doch auch in dieserPosition war er nicht bereit, sich schlicht den Gegebenheitenanzupassen. Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten brachtenihm Degradierung und die Versetzung in ein Bewährungsba-taillon ein. PaulDöringkämpfte während der letztenKriegs-jahre in Istrien gegen Partisanen. Briefe, die er zwischenAnfang 1944 und Anfang 1945 an seine Frauschrieb, fügte ernach dem Krieg zueinem Erfahrungsbericht zusammen. Sein„Winnetou in Istrien" ist, wie auch das Sachsenhausen-Tage-buch,nicht veröffentlicht.

Am 17.Mai 1946 wurde PaulDöringaus englischer Gefan-genschaft entlassenundschlug sichnachKieldurch.Kurze Zeitarbeitete er als Journalist beim „NorddeutschenEcho"25,derZeitung der Kommunisten, die von den Engländern eineLizenz erhalten hatte. Im Juli 1946 stellte Paul DöringeinenAntragzur „politischen Wiedergutmachung" andieStadtKiel.Erbat umdieGenehmigung einerErlaubnis alsFuhrunterneh-mer26,der wahrscheinlich nicht stattgegeben wurde.

Paul Döring war nach seinen eigenen Angaben vor 1933zuerst Mitglied der SPD und dannkurzzeitig derKPD gewe-sen.Eine Parteimitgliedschaft bedeutete ihm jedochnicht viel.Sein politisches Bewußtsein zoger aus festenÜberzeugungen,die dasKonzentrationslager nicht hattenbeugen können.Aus-drücken konnte er seineEinstellungin Gesprächenmit Freun-den oder durch spöttelnde Verse, wie seine Schwester zuberichten weiß. Nicht zuletzt gehörte auch Hilfsbereitschaftund praktisches Eintreten für die „kleinen Leute" zu seinerpolitischen Identität, die er auch im Nationalsozialismusbehauptet hatte. Im November 1946 stellte er einen „Antragauf Ausstellung eines Ausweises für politisch, rassisch undreligiös durchden Nazismus Verfolgte" bei der „Vereinigungder Verfolgten des Naziregimes" (VVN). Sein Mitgliedsbuchvom „VerbandDemokratischer Widerstandskämpfer und Ver-

23 Bericht seiner Schwester ToniSchlcmmingcr und des Kollegen amKieler Landtag, Kurt Stenzel.

24 Bestallungsurkunde der Stabskornpanie L. G.K.XIvom 25.7. 1942.

25 Belegt u.a. durch einen Ausweisderbritischen Militärregierungmit derBefreiung vom Ausgangsverbot beider Betätigung für das NorddeutscheEcho vom 2.1. 1947.

26 Döring, R: Antrag an die Ge-schäftsstelle für politische Wiedergut-machung. Kiel, 29. 7. 1946.

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folgter" spricht jedochfür dieAnnahme,daß er inderkommu-nistisch orientierten VVNkeine Heimat fand.

Inden ersten Nachkriegs jähren traf Paul DöringKarlRatzwieder,den ernoch aus seiner Zeit alsBerichterstatterbeiderSchleswig-Holsteinischen Volkszeitung kannte. Ratz, geradePräsident des zweiten ernannten Schleswig-HolsteinischenLandtages geworden, stellte ihnimJuli1947alsParlamentsste-nograph ein. Paul Döringwohnte in einer altenLaube seinesVatersamMühlenweg. Zunächst schien derLandtag ein festerArbeitsplatz für ihn zu sein. Dann gab es aber Konflikte mitVorgesetzten, Paul Döringpaßte anscheinend nicht in einenbürokratischen Apparat.1952schied er ausdem Dienstaus.Erverdientesichmit GelegenheitsarbeitenseinGeld.Zuletztver-waltete er ein Obstgut beiGroßkönigsförde.

Das Herz machte ihm immer mehr zuschaffen. In den 60erJahren stellte PaulDöringerneut einen Antrag aufpolitischeWiedergutmachung, dem nach einer Reihe entwürdigenderProzeduren und ärztlicher Untersuchungen stattgegebenwurde.27 Vorher mußte der Nachweis erbracht werden, daßsein HerzleideneineFolge derVerfolgung war.InAnbetrachtseines Alters und seiner schlechten Gesundheit wurde ihmzuletzteinekleineUnterstützung gewährt.DieMaßstäbe, nachdenen sein Entschädigungsantrag beurteilt wurde, setzte dieSchulmedizin. Sie richtete sich allein nach der Frage, ob seinHerzfehler verfolgungsbedingt war oder ob er schon vor 1933seinen Anfang genommen hatteundsich „biologisch eigenge-setzlich" fortgesetzt hatte. Über einen Zusammenhang zwi-schenpsychischem Lagerterror und körperlichenLeiden,zwi-schenDunkelhaft undHerzfehler, wird sie kaumnachgedachthaben.28

Nachgeblieben war jedoch auch seelisches Leid. ErikaDöring,seine letzteFrau,erzählt,daß sienicht mit ihremMannins Kino gehen konnte. Wenn die Türen geschlossen und dasLicht gelöscht wurde, dann kamen die Erinnerungen an dieDunkelhaft wieder hoch.Erhieltes ingeschlossenen Räumennicht aus, mußte heraus.

1973 starbPaulDöringals68jähriger an seinem HerzfehlerinKiel.

27 Die Aussagen zu seinem zweitenWiedergutmachungsantrag gründensich auf Dokumente aus demnicht ge-ordnetenNachlaß vonPaulDöring.

28 Vgl.dazu jedochauchdieAussagenvon G. Niederland: Die Folgen derVerfolgung: Das Überlebenden-Syn-drom Seelenmord. Frankfurt 1980.Niederland weist am BeispielrassischVerfolgter nach, daß die Überleben-den des Konzentrationslagers häufigsowohl an psychischen Störungen alsauch an körperlichen Krankheiten,darunter Herzschäden, litten.

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