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Leseproben romane

Leseprobenheft Herbst 2015

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Mit Leseproben folgender Romane: Sarah Ladd: Die Erbin von Winterwood Dani Pettrey: Dünnes Eis Irma Joubert: Über uns die Sterne Denise Hunter: Barfuß am See Tamera Alexander: Wie die Weiten des Himmels0 Lisa Wingate: Firefly Island Karen Witemeyer: Volldampf voraus Elizabeth Musser: Operation Hugo

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L e s e p r ob e nr o m a n e

In den Leseproben enthalten:

ISBN 978-3-86827-519-3 ISBN 978-3-86827-520-9 ISBN 978-3-86827-515-5 ISBN 978-3-86827-516-2

ISBN 978-3-86827-517-9ISBN 978-3-86827-513-1 ISBN 978-3-86827-518-6 ISBN 978-3-86827-514-8

Leseproben

Romane

Sarah Ladd, Die Erbin von Winterwood ................................ 2

Dani Pettrey, Dünnes Eis ........................................................ 9

Irma Joubert, Über uns die Sterne ......................................... 15

Denise Hunter, Barfuß am See ............................................. 31

Tamera Alexander, Wie die Weiten des Himmels ................... 40

Lisa Wingate, Firefly Island ................................................... 48

Karen Witemeyer, Volldampf voraus ..................................... 53

Elizabeth Musser, Operation Hugo ....................................... 59

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Sarah Ladd

Die Erbin von Winterwood

ISBN 978-3-86827-519-3

313 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im September 2015

England im 19. Jahrhundert

Amelia Barrett soll heiraten, um ihr Erbe, Winterwood Manor, überneh-men zu können. Doch ihr Herz gehört nicht ihrem Verlobten Edward, sondern Lucy, der kleinen Tochter ihrer verstorbenen besten Freundin. Amelia hat versprochen, für die Kleine zu sorgen. Aber passt das auch zu Edwards Plänen?

Da kommt Lucys Vater ins Spiel. Amelia schmiedet einen verwegenen Plan, der die Rettung bedeuten könnte: für sie, für Lucy und für ihr Erbe. Als sich die Ereignisse überschlagen, erkennt Amelia, dass sie nur dann eine Zukunft hat, wenn sie ihre Pläne voll Vertrauen in Gottes Hände legt. Oder ist es dafür schon zu spät?

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Darbury, England, November 1814

Amelia wusste, was sie zu tun hatte. Sie wusste es, seit Kapitän Graham Sterling nach Eastmore Hall zurückgekehrt war.

Ihr Plan würde aufgehen. Er musste einfach aufgehen. Sie hatte ihn von allen Seiten beleuchtet und jeden Einwand berücksichtigt und hatte im Geiste ihre Argumente aufgeführt. Jetzt musste sie nur noch den Kapitän von ihrem Plan überzeugen.

Sie bedauerte nur, dass sie ihre jüngere Cousine Helena in ihre Absich-ten eingeweiht hatte.

„Das sind Hirngespinste. Du musst verrückt sein!“ Helenas rostbraune Locken hüpften bei jeder Silbe aufgeregt auf und nieder. „Was ist in dich gefahren, dass du überhaupt auf eine solche Idee kommst, geschweige denn, dass du sie auch noch in die Tat umsetzen willst?“ Sie warf ihre Stickarbeit auf den kleinen Beistelltisch und sprang vom Sofa auf. „Ka-pitän Sterling wird denken, du hättest den Verstand verloren. Wie stehst du dann da?“ Helena fuchtelte mit der Hand durch die Luft, um Ame-lias Widerspruch zu ersticken. „Ich sage dir, wie du dann dastehst: ohne Mann, ohne Geld und ohne eine Zukunft. So sieht die Sache aus.“

„Ach, was! Du übertreibst.“ Amelia wiegte das schlafende Kind in ihren Armen. „Wenn du dich weiter so aufregst, wirst du noch Lucy aufwecken. Wir wollen doch auf keinen Fall, dass sie unausgeschlafen ist und quen-gelt, wenn sie endlich ihren Vater kennenlernt.“

Helena schnaubte. „Wage es nicht, das Thema zu wechseln, Amelia Bar-rett! Mit dem Kind ist alles in Ordnung. Aber mit dir stimmt offenbar etwas nicht. Wie kannst du auch nur auf die Idee kommen, einem Mann einen Heiratsantrag zu machen? Einem Fremden, den du noch nie gese-hen hast! So etwas gehört sich einfach nicht!“

Amelia legte Lucy in die Wiege. „Kapitän Sterling ist kein Fremder. Nicht wirklich. Und ich habe es dir schon gesagt: Mein Entschluss steht fest. Spre-chen wir also nicht mehr darüber. Würdest du mir bitte die Decke geben?“

Erregt nahm Helena die gelbe, gestrickte Decke und warf sie ihrer Cousine hin. „Und was wird Mr Littleton davon halten? Fünf Wochen, Amelia! Muss ich dich daran erinnern, dass ihr in fünf Wochen heiratet? Dass du dich überhaupt mit einem anderen Mann treffen willst, ist schon schlimm genug, aber …“

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„Es besteht kein Grund, dich so aufzuregen.“ Amelia wandte den Blick ab und lenkte das Gespräch wieder auf den Kapitän. „Es ist nichts Unanständi-ges daran, dass ich mich mit Kapitän Sterling treffe. Es ist sein gutes Recht, seine Tochter zu besuchen. Immerhin ist sie neun Monate alt und er hat sie noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Und der Antrag, den ich Kapitän Sterling mache, ist ein Geschäftsvorschlag. Weiter nichts. Wenn er ablehnt, ist nichts Schlimmes passiert. Edward muss es nie erfahren.“

„Nichts Schlimmes passiert? Nichts Schlimmes?“ Helenas braune Au-gen waren schreckgeweitet. „Denkst du denn überhaupt nicht an deinen Ruf? Ich erschauere, wenn ich nur daran denke, was passiert, wenn sich dein – dein Vorhaben im Ort herumspricht. Edward könnte denken …“

„Er könnte vieles denken, Helena, und das wird er zweifellos auch. Aber ich kann nicht tatenlos danebenstehen und nichts sagen. Nichts tun. Denn in diesem Fall könnte Kapitän Sterling mir Lucy für immer wegnehmen und das würde ich nicht ertragen. Außerdem kann ich das Versprechen, das ich Katherine gegeben habe, nicht brechen.“ (…)

„Aber Mr Littleton, Amelia! Denk doch an Mr Littleton!“ Helenas Stimme wurde weicher. „Er liebt dich, davon bin ich überzeugt. Warum willst du ihn so unfreundlich behandeln und eine glückliche Ehe wegen eines Kindes gefährden, mit dem du nicht einmal blutsverwandt bist?“ Helena trat auf Lucy zu, schaute zu ihr hinab und strich die Decke über dem Kind glatt. „Es schmerzt mich, dir das so unverblümt sagen zu müs-sen, Amelia, aber ich liebe dich zu sehr, um zuzusehen, wie du deine Zu-kunft ruinierst, ohne dir wenigstens zu sagen, was ich denke. Vor dir liegt ein viel zu wunderbares Leben, um jetzt alles aufs Spiel zu setzen.“

Amelia öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, aber dann schloss sie ihn wieder. Sie konnte nicht leugnen, dass ihre Cousine mit ihren Argu-menten recht hatte. Wie sollte sie Helena ihr Dilemma begreiflich machen? Sie hätte nie eingewilligt, Edward Littleton zu heiraten, wenn sie diesen Mann nicht wirklich mögen würde. Sein attraktives Gesicht und seine lei-denschaftliche Art lösten immer noch Gefühle in ihr aus. Aber je näher ihre Hochzeit rückte, umso stärker wurde ihr Zögern. Sein Verhalten – unter anderem seine Weigerung, Lucy nach der Hochzeit noch länger auf Winter-wood bleiben zu lassen – warf bei ihr starke Fragen über seinen Charakter und seine Eignung als Ehemann auf. Und der Gedanke, dass ihre liebe Lucy genauso wie sie selbst ohne Mutter aufwachsen sollte, ließ ihr keine Ruhe.

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Nein – Amelia war sich sicher, dass sie den richtigen Weg einschlug, auch wenn er schwer sein mochte. Sie musste sich einfach darauf ein-stellen, dass ihr bevorstehendes Gespräch mit dem Kapitän unangenehm verlaufen könnte.

Ein Ruf ertönte vor dem Fenster, gleich darauf hörte man das Knirschen von Wagenrädern auf dem Kieselweg vor dem Haus. Die beiden jungen Frauen schauten sich an. Jetzt wurde es ernst.

Amelia packte ihre Cousine an der Hand. „Versprich mir, dass du kein Wort sagst.“

Helena lächelte sie schwach an. „Ich wünschte wirklich, du würdest auf mich hören, Cousine, aber da du dich von deinem Entschluss nicht abbringen lässt, gebe ich dir mein Wort. Denk aber bitte trotzdem we-nigstens über das nach, was ich gesagt habe.“ Ihr hellgelber Musselinrock raschelte, als sie sich umdrehte und das Zimmer verließ.

Amelias Schuhe erzeugten auf dem italienischen Teppich kaum ein Ge-räusch, als sie ans Fenster trat. Sie hob die Ecke des grünen Samtvorhangs und sah gerade noch, wie der Landauer, der im Morgenregen nass glänzte, vor dem Haupteingang von Winterwood Manor langsam zum Stehen kam.

Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und zwang sich, langsam durchzuatmen. Ob es ihr gefiel oder nicht, der entscheidende Augenblick war gekommen. Sie eilte zum Schreibtisch und vergewisserte sich noch einmal, dass Katherines Brief dort lag.

Ein Klopfen hallte in dem holzgetäfelten Raum wider. Die Tür ging auf und James, Winterwood Manors betagter Butler, trat ein. „Kapitän Sterling ist hier und möchte Sie sprechen, Miss.“

„Führen Sie ihn herein. Und bitte sagen Sie Sally, dass sie uns Tee brin-gen soll.“

Amelia wartete, bis die Mahagonitür zuging, bevor sie die schlafende Lucy in die Arme nahm. Schritte erklangen auf dem Holzboden im Flur. Sie richtete sich auf. James erschien wieder, aber Amelia bemerkte ihn kaum. Ihr Blick war auf die eindrucksvolle Gestalt fixiert, die hinter dem Butler den Türrahmen ausfüllte.

Kapitän Sterling trat ins Licht. Sie hatte erwartet, dass er blond wäre wie sein Bruder oder untersetzt, wie es sein Vater gewesen war. Doch er war keines von beidem. Dunkelbraune Haare lockten sich über dem ho-hen Kragen seines pechschwarzen Fracks und dunkle Koteletten rahmten

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seine hohen Wangenknochen ein. Lebhafte graue Augen schauten unter schwarzen Wimpern hervor und schossen von Lucy zu ihr und dann wie-der zurück zu dem Kind. Seine frisch rasierte Haut, die von der Sonne braungebrannt war, gab Zeugnis dafür, dass er viele Monate auf einem Schiff zugebracht hatte. Sie hatte fast erwartet, dass er in Uniform käme, aber er trug die Kleidung eines Gentlemans.

Bei seinem Anblick befiel Amelia eine nervöse Unruhe. Sie hatte sich wochenlang auf die Begegnung mit diesem Mann vorbereitet. Sie hat-te eingeübt, was sie sagen würde, und sich ihre Worte ganz genau zu-rechtgelegt. Aber sie hätte nie damit gerechnet, dass ein Paar rauchgraue Augen sie so aus der Fassung bringen könnte. Sie atmete tief durch und verdrängte ihre Unruhe. Dann trat sie vor und zwang sich zu ihrem schönsten Lächeln. „Endlich lernen wir uns kennen! Ich bin Amelia Barrett.“

Er verbeugte sich und ihre Blicke begegneten sich erneut, aber sein In-teresse galt nicht seiner Gastgeberin. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das Kind, das in Amelias Armen lag. Amelia hielt das Kind so, dass der Kapitän es besser sehen konnte. Bei dieser Bewegung rührte sich Lucy und schlug die Augen auf.

Amelia trat noch näher zu ihm und legte Lucy in die wartenden Arme ihres Vaters. „Kapitän Sterling, darf ich Ihnen Ihre Tochter vorstellen: Miss Lucille Katherine Sterling.“

Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Der Kapitän nahm das Kind in die Arme und drückte es an seine Brust. (…)

„Ich kann Ihnen nicht genug dafür danken, dass Sie sich um meine Frau gekümmert haben. Und für alles, was Sie für meine Tochter getan haben. Das ist unbezahlbar.“

Amelia fühlte sich unter seinem aufmerksamen Blick unwohl, deshalb sprang sie aus ihrem Sessel auf und trat ans Fenster. Sie zog die Vorhänge zurück und ließ die feuchte Morgenluft ins Zimmer. „Wie lange beab-sichtigen Sie, in Darbury zu bleiben, Kapitän Sterling?“

„Nur so lange, bis ich eine geeignete Lösung für Lucy gefunden habe. Ich muss noch in diesem Monat auf mein Schiff zurück. Ich hoffe, dass ich bis dahin alles geregelt habe.“

Ein Monat. Amelia grub die Zähne in ihre Unterlippe und trat an den Schreibtisch. Der Brief lag noch genau dort, wo sie ihn hingelegt hatte.

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Wenn sie noch länger wartete, würde sie vielleicht den Mut verlieren. „Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen, eine Lösung für Lucy zu finden.“

Interesse flackerte in seinen Augen auf. „Ich wäre Ihnen für jede Hilfe dankbar. Ich habe seit meiner Rückkehr nach England mit zwei Kinder-mädchen gesprochen. Sie waren, vorsichtig ausgedrückt, nicht sehr beein-druckend.“

Wenigstens ist er offen für ein Gespräch. Sie atmete tief ein. „Bevor Katherine starb, habe ich ihr zwei Dinge versprochen. Das erste Ver-sprechen war, Ihnen diesen Brief zu geben.“ (…)

„Was war das zweite Versprechen?“Amelia kehrte zu ihrem Sessel zurück und nahm ihrem Gast gegenüber

wieder Platz. Sie schwieg einen Moment, um ihre Gefühle unter Kontrol-le zu bringen, bevor sie sprach. „Ich habe ihr versprochen, immer für Lucy da zu sein. Sie nie allein zu lassen.“

Seine dunklen Augenbrauen zogen sich nach oben, aber er schwieg.„Wenn Sie Ihren Segen dazu geben, habe ich die feste Absicht, dieses

Versprechen zu erfüllen. Ich hatte neun Monate Zeit, mir zu überlegen, wie das möglich sein könnte. Ich habe einen Plan entworfen, der meiner Meinung nach für alle Beteiligten das Beste wäre.“

Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf seine Knie. „Was schla-gen Sie vor?“

Ihre gefalteten Hände verkrampften sich auf ihrem Schoß. „Da Sie ur-sprünglich aus Darbury stammen, ist Ihnen vielleicht bekannt, dass ich Winterwood Manor erben soll.“

Er nickte und richtete seinen Blick auf Amelia. Jetzt blickte er nicht mehr durch sie hindurch, sondern schaute sie direkt an.

„Als mein Vater viele Jahre, bevor er starb, dieses Haus und die Län-dereien kaufte, war es verwahrlost. Er träumte davon, es wieder in sei-nem früheren Glanz erstrahlen zu lassen, und jetzt lebt sein Traum in mir weiter. Ich bin sein einziges Kind und es gab kein Testament, also geht Winterwood auf mich über, wenn ich heirate. Bis dahin bleibt es in den Händen meines Onkels.“

Ihre nächsten Worte sprudelten ungebremst aus ihr heraus – ganz anders, als sie sie eingeübt hatte. „Ich möchte, dass Lucy hier bei mir wohnt. Ihr wird es an nichts fehlen. Sie bekommt die besten Gouvernanten, die schönsten Kleider. Und wenn sie älter ist, wird ihre Mitgift beträchtlich sein.“

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Die Augen des Kapitäns wurden groß. Er starrte Amelia an, als hätte sie plötzlich drei Augen. Befangen senkte sie den Blick. Sie hielt den Atem an und wartete auf seine Antwort.

Schließlich sprach er. „Ich gestehe, dass ich gehofft hatte, dass Sie mir in dieser Angelegenheit einen Rat geben könnten.“

Amelia atmete aus. Sie rückte ihren Ärmel zurecht und strich vorsichtig ihre Spitzenmanschette glatt. Ihre nächsten Worte musste sie sehr vorsich-tig wählen. Sie waren für den Erfolg ihres Plans entscheidend.

„Lucy ist keine Last für mich und wird es auch nie sein. Aber es gibt ein Problem, das verhindern könnte, dass sie weiterhin auf Winterwood wohnen kann. Um mein Erbe antreten zu können, muss ich, wenn ich vierundzwanzig werde, verheiratet sein, oder das gesamte Vermögen fällt an einen entfernten Verwandten. Falls das eintritt, habe ich nichts. Kein Zuhause, kein Geld, keine Mittel, um für ein Kind zu sorgen …“

Ihre Worte wurden immer leiser und verstummten schließlich. Sie beugte sich näher zu ihm vor und sprach mit zittriger Stimme leise weiter. „Ich bin im Moment mit Mr Edward Littleton aus Dunton verlobt. Aber Mr Littleton hat deutlich gemacht, dass Lucy nicht auf Winterwood blei-ben kann, wenn wir verheiratet sind.“

Amelia hielt es nicht mehr in ihrem Sessel. Sie sprang auf und trat auf ihn zu. „Kapitän Sterling, ich habe Lucy die letzten neun Monate aufge-zogen. Ich liebe sie so, als wäre sie mein eigenes Kind. Sie ist mir wichtiger als hundert Mr Littletons und tausend Winterwoods. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich bereit bin, alles zu tun, damit es ihr gut geht.“

Der Kapitän stand jetzt auch auf. „Sie sagten, Sie hätten einen Plan, Miss Barrett.“

Amelias Hände zitterten. Es war zwecklos, ihre Lippen zu zwingen, ru-hig und gelassen zu bleiben, als sie weitersprach. „Damit ich mich weiter um Lucy kümmern kann, wenn Sie auf Ihr Schiff zurückkehren, und damit ich Winterwood erbe und die finanziellen Mittel zur Verfügung habe, um Lucy mit allem zu versorgen, was sie braucht, müsste ich in den nächsten Wochen einen anderen Mann als Mr Littleton heiraten.“

Er kniff die Augen zusammen. „Was genau wollen Sie damit sagen?“„Sie, Kapitän Sterling. Sie und ich sollten heiraten. Sofort.“

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Dani Pettrey

Dünnes Eis

ISBN 978-3-86827-520-9

ca. 352 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im September 2015

Piper McKenna ist überglücklich. Endlich ist ihr Bruder Reef, der Profi-Snowboarder, wieder in Yancey. Doch dann steht er blutüberströmt vor ihr – und das Blut ist nicht sein eigenes. Trotzdem zweifelt Piper nicht eine Sekunde an seiner Unschuld. Als er verhaftet wird, ist sie fest ent-schlossen, herauszufinden, wer wirklich hinter dem Mord an der Wett-kampfkollegin ihres Bruders steckt.

Deputy Landon Grainger steht ihr dabei zur Seite. Er ist nicht ganz so überzeugt von Reefs Unschuld wie Piper. Trotzdem macht er sich gemein-sam mit ihr auf die Suche nach der Wahrheit – und setzt damit seine Karriere aufs Spiel. Doch was würde er nicht alles für Piper tun …

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Piper fuhr auf und trotz der Dezemberkälte war ihr Schlafanzug vom Schweiß ganz feucht.

Was war das?Ihr verschlafener Blick fiel auf die Uhr – 1:30 Uhr – und dann auf Au-

rora, die wie eine Wache an der Schlafzimmertür stand. Das weiße Fell des Huskys zuckte auf seinem Rücken, die Ohren waren aufgestellt.

Piper zog die verknoteten, mit Schneeflocken bedruckten Flannell-Betttücher fort, in denen ihre Beine sich verfangen hatten, und lauschte.

Da war es wieder. Ein Knarren der Bodendielen unter ihr. Schwere Schritte. Nicht die von Kayden.

Aurora sprang zur Tür und legte die Pfoten an den ramponierten Tür-rahmen. Ein tiefes Knurren stieg in der Kehle des Hundes auf.

Piper stieg aus dem Bett, wobei sie den Kälteschock an den Füßen igno-rierte, und durchquerte das Zimmer.

Sie zog die Tür einen Spalt breit auf und spähte in die Dunkelheit hi-naus.

Wieder drang ein Knarren vom Flur im Erdgeschoss herauf. Die Schrit-te blieben am Fuß der Treppe stehen.

Aurora winselte und schob ihre Schnauze in die Türöffnung.Piper wollte Auroras Halsband packen, war aber nicht schnell genug.

Aurora lief auf den Gang hinaus.Piper folgte ihr, aber ihre Schwester hielt sie zurück – mit einem Ge-

wehr in der Hand. Kayden ließ Piper los und hob den Zeigefinger an ihre Lippen.

Sie schlichen den Gang hinunter, während Aurora knurrend die Treppe hinunterjagte.

Eine männliche Stimme ertönte unter ihnen, eine Art Grunzen. Dann fiel etwas Schweres zu Boden.

Kayden zielte mit dem Gewehr auf das Durcheinander im Unterge-schoss. „Mach das Licht an“, flüsterte sie.

Piper betätigte den Schalter.Aurora stand in Habachtstellung etwa dreißig Zentimeter von dem

Mann auf dem Boden entfernt. Er zog den Arm von seinem Gesicht und blickte auf.

„Reef?“ Piper starrte ihren Bruder entsetzt an. „Ist das Blut?“

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* * *

Landon hielt neben einem Streifenwagen, dessen Blaulicht sich noch im-mer drehte. Er holte tief Luft und stieg aus seinem Pick-up, während er sich für das wappnete, was ihn erwartete.

Der gefrorene Boden knirschte unter seinen Stiefeln, als er an dem provisorischen Lager des Wettkampfveranstalters Midnight Sun Extreme vorbeiging zur Trailside Lodge, dem Hotel, in dem die Sportler unter-gebracht waren. Der sonst so urige und friedliche Ort wimmelte nur so vor Geschäftigkeit und das Flutlicht schien die Verwirrung nur zu vergrö-ßern und die Hektik noch mehr anzufeuern. Eine Menschentraube stand draußen und starrte den Sheriff und seine Beamten an, während diese den Bereich vor dem Hotel absperrten, sodass die etwas mehr als fünf-zig Gäste, wahrscheinlich überwiegend Snowboarder und Skiläufer, also Konkurrenten in der Sportveranstaltung, mehr oder weniger in einem Streifen neben dem Haupteingang gefangen waren.

Deputy Tom Murphy entdeckte ihn in der Menge und kam auf ihn zu.„Wer hatte denn die schlaue Idee mit dem Flutlicht?“Tom räusperte sich und deutete mit dem Kopf auf Sheriff Slidell.Landon seufzte. Natürlich. Landons Boss war ein gewählter Beam-

ter ohne vorherige Polizeierfahrung und schwankte zwischen beinahe völliger Tatenlosigkeit bei einem Fall und blindem Aktionismus beim nächsten.

Trotz seines Amtes hatte Bill Slidell nicht die geringste Ahnung davon, wie man einen Tatort managte, und das wurde hier wieder einmal unan-genehm deutlich.

„Wenn der Bereich gesichert ist, können wir vielleicht die Scheinwerfer ausmachen. Wir brauchen den Leuten schließlich nicht noch mehr Angst einzujagen, als sie ohnehin schon haben.“

Tom tippte an seine Mütze. „Alles klar.“Landon betrat die Hotellobby und stellte erstaunt fest, dass das Feuer

in dem großen gemauerten Kamin brannte und auch die Beleuchtung am Weihnachtsbaum noch eingeschaltet war. Die riesige Fichte, die mehr als drei Meter hoch war, berührte fast die hohe Holzdecke. Die Flammen, die sich in den silbernen Christbaumkugeln spiegelten, ließen das Feuer in dem ansonsten leeren Eingangsbereich noch heller erscheinen.

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Andy Miner, der Eigentümer und Manager des Hauses aus dem neun-zehnten Jahrhundert, kam aus dem Hinterzimmer. „Bin ich froh, dass du hier bist, Landon. Slidell hat alle meine Gäste aus dem Bett geworfen und in die Kälte rausgescheucht. Und es ist beinahe zwei Uhr morgens.“

Landon warf Tom einen Blick zu.Tom zuckte mit den Schultern. „Befehl vom Boss.“Er zog eine Grimasse. „Du kannst Slidell sagen, wenn der Tatort abge-

sperrt ist, gibt es keinen Grund, die Leute nicht wieder ins Haus zu lassen. Sag ihm, sie werden kooperativer und einfacher zu befragen sein, wenn sie sich nicht zu Tode frieren.“ Ganz zu schweigen davon, dass man sie besser im Auge behalten kann.

„Alles klar. Willst du auf mich warten oder allein raufgehen?“„Wo ist sie?“„Damenumkleide, oberster Stock.“„Wer ist oben?“Tom räusperte sich. „Slidell wollte, dass wir hier unten suchen.“„Und ihr habt den Tatort eines Mordes unbewacht gelassen?“„Wir haben den Eingang mit Band abgesperrt und da alle Gäste hier

draußen sind …“Landon ging zum Treppenhaus und nahm zwei Stufen auf einmal, wäh-

rend er in den siebten Stock hinauflief. Sein Herz hämmerte im Rhyth-mus mit dem Geräusch seiner Stiefel auf den Betonstufen. Es half ihm, wenn das Blut in seinen Adern pulsierte und das Adrenalin strömte, bevor er einen Tatort betrat, so als wollte er das Herz hochfahren, bevor es den Schock verkraften musste, der es erwartete. Seiner Erfahrung nach traf es ihn dann nicht so hart – jedenfalls nicht körperlich.

Er verließ das Treppenhaus, als Tom gerade aus dem Aufzug trat. „Ich dachte, du redest mit Slidell darüber, das Flutlicht auszuschalten.“ Slidell würde den Vorschlag, die Gäste ins Haus zu lassen, von Tom wesentlich eher annehmen als von ihm. Nach dem letzten Mordfall, in dem sie er-mittelt hatten, hatte Landon gedacht, er und sein Chef hätten endlich einen gemeinsamen Nenner gefunden, aber jetzt, wo Slidells Wahlkampf für die Wiederwahl in vollem Gange war, wurde sein Boss mit jedem Tag mehr Politiker und weniger Polizist.

„Das werde ich auch, aber ich muss dir erst noch was sagen.“„Was denn?“

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„Ich wollte es nicht vor Andy tun, obwohl ich sicher bin, dass er es weiß. Wahrscheinlich wissen es inzwischen alle.“

„Was wissen alle?“Tom rieb sich den Nacken. „Die Zeugen … sie sagen …“„Zeugen?“ Konnten sie so viel Glück haben? „Sie haben den Mord mit

angesehen?“„So gut wie. Sie haben den Killer dabei ertappt, als er gerade fertig war.

Er hatte das Blut des Opfers überall an sich.“Es kam nicht oft vor, dass es bei einem Fall gleich einen solchen Durch-

bruch gab. „Erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.“„Eine der Sportlerinnen sagte, sie hätte vorhin etwas hier oben verges-

sen.“„Hast du ihren Namen?“ Bitte sag, dass du sie nach ihrem Namen gefragt

hast.„Moment.“ Tom zog einen kleinen Notizblock aus seiner Hemdtasche.

Er schlug ihn auf und überflog die Seite. „Ashley Clark.“Landon notierte sich den Namen. „Gut. Und weiter?“„Also ist sie mit ihrem Freund hier herauf gekommen, um es zu holen.“„Der Name des Freundes?“„Tug Williams, auch ein Teilnehmer bei dem Wettkampf.“„Okay.“ Landon schrieb den Namen auf.„Sie steigen aus dem Aufzug und gehen den Flur entlang. Sie hören

Geräusche aus der Damenumkleide, also streckt Ashley den Kopf rein und sieht das Opfer tot in den Armen des Killers, die Mordwaffe hat er noch in der Hand.“

„Wir haben den Täter in Gewahrsam?“ Warum hatte Tom das nicht gesagt?

„Ich fürchte nicht. Er hat mit Tug gestritten, bevor er an ihm und Ash-ley vorbeigestürmt und abgehauen ist.“

Gestritten? „Die Zeugen kannten den Verdächtigen?“„Das ist richtig.“„Und, wer ist es?“ Warum druckste Tom so herum?„Es wird dir nicht gefallen …“Ein mulmiges Gefühl machte sich in Landons Magen breit. „Eine Frau

ist ermordet worden. Daran gefällt mir gar nichts.“„Der Mörder ist Reef McKenna.“

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Landon wurde es schwarz vor Augen. „Reef?“ Das konnte nicht sein.„Beide Zeugen haben ihn identifiert.“Das wird Piper umbringen. „Hat Slidell ihn schon zur Fahndung ausge-

schrieben?“„Nein. Er hat uns nur beauftragt, die Gäste zusammenzutrommeln und

den Umkreis abzusperren.“Er bezweifelte, dass Reef auf dem Gelände geblieben war. „Irgendeine

Ahnung, wo er ist?“„Keinen Schimmer. Sollen wir jemand zu seiner Familie schicken?“„Das mache ich selbst.“ Wenn jemand es ihnen beibrachte, dann würde

er es sein. Schließlich waren die McKennas schon seit langer Zeit so etwas wie seine Ersatzfamilie und Piper … Piper war die Frau, die er insgeheim liebte.

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Irma Joubert

Über uns die Sterne

ISBN 978-3-86827-515-5

288 Seiten, gebunden

Format 13,5 x 21,5 cm

erscheint im September 2015

Südafrika 1932

Kate hat es satt, von ihrer Familie in Watte gepackt zu werden. Die ambi-tionierte Soziologiestudentin aus gutem Hause will sich im Rahmen ihres Studiums mit der Armut unter den Weißen in Südafrika beschäftigen. Dazu muss sie in die Armenvierteln gehen. Doch ihr Vater fürchtet um das Wohl seiner Tochter. Und auch ihr Verlobter hat Bedenken. Kate aber ist hartnäckig. Und so wird ihr schließlich ein Angestellter ihres Vaters als Leibwächter zur Seite gestellt. Der ist zunächst wenig begeistert von sei-nem neuen Job als „Babysitter“ einer reichen Dame. Aber wie lange kann er dem Charme der jungen Studentin widerstehen? Und was wird Kates Verlobter dazu sagen?

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Kapitel 1

Eines Sonntags erklärt Kate am Mittagstisch: „Daddy, Mama, mit dem theoretischen Teil meiner Arbeit bin ich nun fertig – jedenfalls habe ich alles aufgeschrieben, was ich in diesem Stadium zu Papier bringen kann. Nun ist es an der Zeit, dass ich mit den Feldforschungen beginne.“

Auf diesen Augenblick hat sie sich gut vorbereitet und sagt ihr Verslein mit so viel Nachdruck wie möglich auf. Jetzt wartet sie auf die Reaktionen ihrer Familie.

Susan Woodroffe ist eine hübsche Frau um die fünfzig – ja sie ist von einer geradezu blendenden Schönheit. Sie ist schlank und zwischen ihren goldblonden Locken sind nur vereinzelte silbrig schimmernde Strähnen zu entdecken. Während sie ihre Tochter anschaut, werden ihre blauen Augen noch größer. Dann richtet sie ihren Blick auf ihren Mann, der am Kopfende der langen, edlen Holztafel sitzt.

Kate gegenüber haben ihr Bruder Peter und seine Frau Diana mit ihrem ältesten Töchterchen Platz genommen – in einem anderen Raum küm-mert sich das Kindermädchen um das Baby der Familie. Peter ist seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. In seinen blauen Augen kann Kate Verzweiflung erkennen. Nur zu gut weiß sie, was er von ihren Plänen hält, und sie ahnt auch, dass er sie gleich nach dem Essen zur Rede stellen wird. Sie ist jedoch ebenso sicher, dass er diesen Streit auf keinen Fall ge-winnen wird – schließlich weiß sie ganz genau, wie sie mit ihrem älteren Bruder umgehen muss.

Diana tut so, als hätte sie nichts gehört, sie ist zu sehr damit beschäf-tigt, das Gemüse für Britney in kleine Häppchen zu schneiden und sie zu füttern.

Direkt neben Kate sitzt Duncan. Zu ihm schaut sie lieber nicht. Denn wenn sie ihm in die Augen sähe, würde das Ganze noch schwieriger wer-den, als es ohnehin schon ist.

John Woodroffe blickt als letzter auf. Erst als er seinen Bissen zu Ende gekaut und sich sorgfältig die Mundwinkel mit seiner Serviette abge-wischt hat, sieht er schließlich Kate geradewegs an. Seine dicken, grauen Haare glänzen im Sonnenlicht, das durchs Fenster fällt. An seinen dunk-len Augen, die sie durch Brillengläser hindurch ansehen, lässt sich nichts ablesen. Er fragt einfach nur: „So?“

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So viel hat Kate schon gelernt: Schweigen ist jetzt die schärfste Waffe. Schließlich hat sie auch schon alles gesagt, was sie sagen wollte.

Peter ist der Erste, der das Wort ergreift. „Jetzt ist nicht der beste Zeit-punkt für so etwas“, erwidert er geduldig. „Wir haben auch so schon ge-nug Schwierigkeiten.“

„Mit dem Bergwerk?“, fragt Susan bekümmert. Nun schaut sogar Diana auf.

„Es ist nichts wirklich Ernstes“, winkt John ab. „Nur die üblichen Lohnforderungen der Arbeiter.“

„Aber verstehen die denn nicht, dass wir im Jahr 1932 leben, mitten in der Weltwirtschaftskrise?“, entgegnet Susan.

„Wenn es nach ihnen geht, ist das nur unser Problem“, antwortet Peter. „Es sind vor allem die weißen Minenarbeiter, die uns Schwierigkeiten bereiten.“

„Sie verdienen beinahe doppelt so viel wie die anderen Arbeiter“, mischt sich Duncan ins Gespräch. „Wenn die Regierung nicht endlich den Gold-standard fallen lässt …“

Durch das Fenster betrachtet Kate den grünen, schattigen Garten ih-rer Mutter. Das Wasser im Schwimmbecken glitzert, der Tennisplatz im kühlen Schatten der Bäume ist sauber gefegt. Auch in diesem Gespräch geht es wieder nur um Politik, denkt sie, während ihr Anliegen wie ein Lufthauch aus dem Fenster verweht.

„Die Arbeiter fordern doch nur deswegen höhere Löhne, weil sie Hun-ger haben“, wirft sie ein.

Erstaunt sehen die drei Männer sie an.„Hunger haben sie doch nur deswegen, weil sie das Geld, das sie verdie-

nen, gleich wieder auf den Kopf hauen“, erwidert Duncan ruhig. „Schau dir mal an, wie sie leben: Jeden Freitagabend lassen sie sich volllaufen, den ganzen Samstag über haben sie nichts Besseres zu tun als um Geld zu würfeln, und dann ist eben am Montag kein Essen mehr im Haus.“

„Genau das ist es, was ich gern herausfinden möchte!“, versucht Kate wieder den Faden vom Anfang des Gesprächs aufzunehmen.

„Du brauchst doch nur den Bericht der Carnegie-Kommission zu lesen, Kate“, entgegnet ihr Peter. Immer noch redet er so mit ihr, als wäre sie seine kleine Schwester, auf die er aufpassen müsse. „Die haben schließlich die Lage genau untersucht.“

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„Aber nach den Ursachen, warum die Leute verarmt sind, haben sie nicht geforscht. Und sie haben sich auch nicht für Lösungsmöglichkeiten interessiert“, spielt sie ihren Trumpf aus. „Die Kommission hat sicher gute Arbeit geleistet. Aber sie hat sich nicht mit den Problemen beschäftigt, die mich interessieren.“

„Was interessiert dich denn, Kate?“, will Duncan wissen. Er hat so eine ruhige Stimme, schön und tief. Jetzt muss sie sich schließlich doch zu ihm hindrehen und ihn ansehen.

Alles an Duncan ist tadellos. Seine dunklen Haare sind tadellos nach hinten gekämmt, sein Schnauzer ist tadellos gestutzt. Und darüber hinaus spricht er ein tadelloses Oxfordenglisch. Durch seine runde Brille mit Schildpattrahmen betrachten seine dunklen Augen sie ruhig. Doch sie sieht auch, dass er bekümmert ist. Sie hat geahnt, dass ihre Ankündigung ihm Kummer bereiten würde.

„In meiner Arbeit geht es um die Frage, warum es armen Menschen nicht gelingt, aus der Kultur der Armut auszubrechen“, erläutert sie zum so-und-so-vielten Mal. „Und das kann ich nur herausfinden, wenn ich mit den Betroffenen selbst rede, auf der untersten Ebene.“

„Du weißt ja gar nicht, worauf du dich da einlässt“, wirft Peter ein. „Das sind ganz andere Menschen als wir, Kate.“

„Nein Peter, das sind Menschen wie du und ich auch“, widerspricht ihm Kate kurzangebunden. „Ob du das nun wahrhaben willst oder nicht: Du bist genauso viel Afrikaner wie Engländer.“ Beim letzten Satz ist sie ins Afrikaans gerutscht.

„Ich verstehe nicht, was du damit andeuten willst“, erwidert Peter.„Ich glaube, wir sollten unser Gespräch ein andermal fortsetzen“, sagt

Kates Mutter in ihrer sanften, festen Weise. „Das schlägt einem sonst auf die Verdauung.“ Sie schaut Kate direkt an und spricht ebenfalls Afrikaans – was bedeutet, dass ihre Bemerkung vertraulich bleiben soll. Duncan hat mit Sicherheit kein Wort davon verstanden, Kate vermutet allerdings, dass ihr Vater nach all den Jahren sehr viel mehr Afrikaans versteht als er sich anmerken lässt.

Freundlich lächelt Susan die Gesichter, die um den Tisch herum sitzen, an und läutet mit dem Kristallglöckchen. „Du kannst jetzt den Nachtisch auftragen, danke, Elias“, fordert sie auf Englisch den schwarzen Mann in dem blütenweißen Livree auf. (...)

19

* * *

Am Ende des Tages steht Kate noch einen Augenblick in dem geräumigen Eingangsbereich und holt tief Luft. Sie liebt Duncan, sie weiß, dass sie ihn liebt. Es ist nur … sie will die Arbeit, die sie angefangen hat, auch zu Ende bringen. Erst danach will sie sich in das Leben eingliedern, das auf sie war-tet: ein sicheres, erfülltes Leben, ein Leben an der Seite von Duncan, als seine Frau, die Gäste empfängt, ihren Mann bei seiner Arbeit unterstützt und sich um wohltätige Zwecke kümmert.

Rechts neben dem Eingangsbereich ist Johns Arbeitszimmer. Kate sieht, dass unter der Tür ein Lichtschimmer hindurch fällt. Ihr Vater sitzt im-mer noch über der Arbeit oder er ist in seinem Lehnstuhl eingeschlafen, so wie das schon oft geschehen ist. Leise klopft sie an und macht die Tür auf.

Als sie den Raum betritt, sitzt ihr Vater an dem großen Schreibtisch, steht aber sofort auf. „Daddy muss arbeiten“, sagt sie, „ich will nicht stö-ren.“

Er lächelt. „Eigentlich habe ich auf dich gewartet“, bekennt er sich schuldig.

Sie lacht. „Daddy sollte lieber schlafen gehen. Soweit ich weiß, steht eine schwierige Woche ins Haus.“

„Ach nein, das wird so schlimm nicht werden.“ Selbst wenn die Arbeiter ganz Johannesburg in Brand stecken sollten, würde er das immer noch vor seiner Frau und seiner Tochter verbergen wollen, denkt Kate. „Hast du einen schönen Abend gehabt?“

„Duncan und ich haben über meine Zukunftspläne gesprochen, Dad-dy“, sagt sie gerade heraus.

„Und?“„Und jetzt möchte ich so schnell wie möglich mit meinen Untersu-

chungen anfangen. Ich weiß, dass der Zeitpunkt denkbar ungünstig ist, angesichts der drohenden Streiks und der Unruhen. Aber je schneller ich anfange, desto schneller bin ich fertig und kann mein neues Leben begin-nen.“

Amüsiert zieht ihr Vater die Augenbrauen hoch. „Ein neues Leben?“„Na ja, wir müssen doch sehen, was die Zukunft bereithält“, lächelt

Kate ihn an.

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„Duncan ist ein erstklassiger Mann, Kate“, sagt er ernst.Sie nickt. „Ich weiß.“ Ihr Vater gehört zu den Menschen, denen sie

noch nie etwas vormachen konnte.Er steht wieder auf. „Komm doch diese Woche einmal in mein Büro.

Dann können wir die Sache in aller Ruhe besprechen.“ (...)

* * *

Endlich geht die Tür zum Büro ihres Vaters auf und Duncan kommt heraus. Ihm folgen drei Männer in Arbeitskleidung. „Kate?“, ruft er über-rascht. Sie bedeutet ihm, dass alles in Ordnung ist, und er die Männer ruhig zum Aufzug begleiten kann.

Plötzlich erscheint ein vierter Mann in der Tür. Er ist noch sehr jung, sicher erst Anfang zwanzig. Einen Augenblick lang bleibt er stehen und sieht sie direkt an, dann nickt er kaum merklich mit dem Kopf. Kate grüßt automatisch zurück, wobei sie sich unsicher ist, ob er sie wirklich begrüßt hat. Er zieht seinen Kopf etwas ein, während er durch die Tür geht, und folgt den anderen drei, ohne einen weiteren Blick in ihre Rich-tung zu werfen.

Neugierig schaut sie ihm nach. Er ist groß, einer der größten Männer, die sie je gesehen hat, und athletisch gebaut. Er hat breite Schultern und einen geraden Rücken. Sein Gang ist federnd, seine Schritte lang.

Einen kurzen Augenblick hat sie das Gefühl, als ginge eine große Kraft von ihm aus.

„Waren alle diese vier Männer Gewerkschaftsvertreter?“„Ja“, antwortet Duncan, der sich ihnen mittlerweile wieder angeschlos-

sen hat, „und offensichtlich haben sie ihre Hausaufgaben gemacht.“„Ich kann gern an einem anderen Tag wiederkommen“, schlägt Kate

vor.„Nein, wir reden erst über deine Möglichkeiten“, entscheidet ihr Vater.

„Ah, hier ist Miss Gray mit Tee und belegten Broten. Kate, kannst du uns einschenken?“

„Was meinst du?“, wendet sich Duncan an Peter. Kate bemerkt den sorgenvollen Klang seiner Stimme.

„Ich glaube, dass dieser Neethling unser größtes Problem ist“, entgegnet ihr Bruder.

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„Ja“, stimmt Duncan ihm zu, „der ist wirklich nicht dumm und sehr … anspruchsvoll. Könnten wir den nicht auf irgendeine Weise ausschalten und nur mit den anderen drei verhandeln?“

„Nein, das können wir nicht“, mischt sich John in das Gespräch. „Er vertritt die Afrikaans sprechenden Arbeiter und die machen mehr als Dreiviertel unserer Belegschaft aus.“

„Und die sind auch die militantesten von allen“, fügt Peter hinzu.„Ich habe Neethling nie als aggressiv erlebt und seine Arbeitsergebnisse

sind herausragend“, erläutert ihr Vater. „Als ich gehört habe, dass er zur Delegation dazu stoßen wird, habe ich sie mir einmal angesehen.“

„Ja“, entgegnet Peter, „ich habe auch nur Gutes über ihn gehört – bis jetzt jedenfalls. Es ist jammerschade, dass er sich nun in die Politik hin-einziehen lässt.“

Dann wendet sich John wieder Kate zu. „Du bist nicht hierhergekom-men, um dir unsere Probleme anzuhören. Wir haben uns jetzt um unsere trockenen Kehlen gekümmert, nun kannst du uns in Ruhe erzählen, wel-che Pläne du hast.“

Ohne zu zögern holt Kate ihren Forschungsaufriss aus der Tasche. Sie weiß genau, was auf diesem Blatt steht, kennt jedes Wort, aber sie denkt, dass es professioneller aussieht, wenn alles schwarz auf weiß aufgeschrie-ben ist. Nun ja, nicht alles – einiges hebt sie sich für einen geeigneteren Augenblick auf.

„Ihr wisst bereits, dass es mir darum geht, die Armen persönlich ken-nenzulernen, um herauszufinden, warum es ihnen nicht gelingt, aus ihrer Kultur der Armut auszubrechen. Um das zu tun, muss ich in ihre Häuser gehen und versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Letztendlich möchte ich in ihre Köpfe schauen, möchte wissen, wie sie die Welt sehen und wie sie denken und was sie von der Zukunft erwarten. Erst dann kann ich vielleicht lernen, sie zu verstehen.“

Sie schaut auf. Niemand nickt, alle sehen sie nur schweigend an. Schein-bar ist die Sache schwieriger, als sie gehofft hatte.

„Wir hören dir zu“, ermutigt John sie. Aber Kate weiß auch, dass das nicht mehr bedeutet als: Er hört zu. Doch er hat noch keine Entscheidung getroffen.

„Ganz praktisch heißt das, dass ich bei ein paar Familien einige Zeit verbringen muss, um, soweit das möglich ist, eine Vertrauensbeziehung

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zu ihnen aufzubauen. Sagen wir einmal, drei Familien, vielleicht auch mehr, in unterschiedlichen Lebensumständen und mit unterschiedlichen Problemen.“

„Wenn du sagst, dass du bei den Familien eine Zeit verbringen willst, meinst du doch wohl nicht, dass du bei ihnen einziehen möchtest?“, will John wissen.

„Nein, Daddy. Ich bleibe zu Hause wohnen, ich besuche sie nur tags-über.“

„Wie viel Zeit willst du dir denn für deine Forschungsaufgabe neh-men?“, fragt Peter.

„Das weiß ich noch nicht, vermutlich so drei, vier Wochen, länger nicht.“

„Aber in diese Viertel kannst du nicht ganz allein gehen“, sagt Duncan.„Ich habe gedacht … Kann ich vielleicht unseren Fahrer, Jackson, mit-

nehmen?“„Jackson ist schon zu alt“, erwidert John. „Und deine Mutter braucht

ihn jeden Tag, um von hier nach da zu kommen.“Jetzt fühlt sie sich von ihnen in eine Ecke gedrängt. „Ich kann mal

schauen, ob einer der Studenten aus den unteren Semestern mitkommen würde“, schlägt sie unsicher vor, obwohl sie schon im Voraus weiß, dass das keine Lösung ist.

„Du brauchst jemanden, der sich in diesen Vierteln auskennt, der vor allem mit den Gefahren dort vertraut ist“, sagt Duncan.

„Und einen, der auch auf dich aufpasst“, ergänzt Peter.John nickt. „Hmm. Jemanden wie … Neethling?“„An den habe ich auch gedacht“, erwidert Duncan.„Das sollten wir uns gut überlegen“, entgegnet John. „Ich würde Neeth-

ling nicht gern aus den Verhandlungen heraushalten, er vertritt einen wichtigen Teil der Arbeiterschaft.“

„Und er ist schlauer als die anderen“, erklärt Peter. „Ein Mensch, mit dem man im Laufe der Zeit besser zusammenarbeiten kann als mit den anderen Dummköpfen.“

„Ihm fehlt allerdings der Blick fürs Wesentliche“, sagt John. „Er ist noch sehr jung.“

„Aber die Leute vertrauen ihm, deshalb ist er dabei“, erwidert Peter.„Er würde gut auf Kate aufpassen“, meint Duncan.

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Hallo, ich bin auch noch hier!, möchte Kate am liebsten sagen. Doch sie schweigt weiter. Es scheint so, als würden sie sich in Richtung einer Lösung bewegen.

„Er kann ja Teil der Verhandlungsführer bleiben, selbst wenn er zwei Wochen lang mit Kate unterwegs ist“, wirft Peter ein.

Vier Wochen oder länger, denkt Kate. Aber sie verhält sich mucksmäus-chenstill.

„Und damit isolieren wir ihn wenigstens tagsüber von den unruhigen Elementen in der Arbeiterschaft“, fügt John hinzu. „Vor allem die Kom-munisten betreiben heutzutage unter den Afrikaans sprechenden Arbei-tern viel Propaganda.“

„Kate kann ja zwischendurch ein paar informelle Gespräche mit ihm führen – dann versteht er unsere Situation besser“, schlägt Duncan vor.

„Dann müssen wir sie aber erst ein bisschen darüber informieren, oder etwa nicht, Schwesterherz?“, erwidert ihr Bruder.

„Peter, soll ich mal schauen, ob man das so regeln kann?“, fragt John.„Ja, Daddy.“ Als alle drei gleichzeitig aufstehen, ist das Gespräch beendet.„Gegen euch drei haben die Gewerkschafter keine Chance“, sagt Kate,

kurz bevor sie den Raum verlässt.

* * *

Am Montagmorgen fragt Kates Vater am Frühstückstisch: „Könntest du um neun Uhr zu mir ins Büro kommen, damit wir die Sache mit Neeth-ling besprechen können?“

„Ich werde da sein, Daddy. Aber könnte ich die Sache vielleicht allein mit ihm besprechen?“

Ihr Vater wirft ihr einen skeptischen Blick zu. „Der Kerl ist nicht ganz einfach. Und er war alles andere als begeistert, als Peter und ich ihm un-sere Idee vorgetragen haben.“

„Ich bin es doch, die in den kommenden Wochen mit ihm zusammen-arbeiten muss, Daddy. Also kann ich genauso gut gleich von Anfang an lernen, wie ich mit ihm umgehen muss.“

Ihr Vater lächelt zögernd und nickt. „Ich frage mich, ob Neethling überhaupt eine Ahnung hat, was da auf ihn zukommt. Den Mann will ich sehen, den du nicht um den Finger wickeln kannst.“

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Kate lacht. „Ach nein, das ist doch gar nicht wahr. Hat dieser Neethling auch einen Vornamen?“

„Vermutlich schon. Aber wir sind nie so familiär miteinander umgegan-gen. Und ich will auch nicht, dass er mein Haus betritt – er kann dich ja immer vor dem Büro abholen.“

„Gut, Daddy.“ (...)Um zehn vor neun steigt Kate im zehnten Stockwerk aus dem Fahr-

stuhl. „Mister Neethling wartet bereits im Büro von Mister Peter. Der ist heu-

te Morgen im Bergwerk. Soll ich Tee bringen?“, fragt Miss Gray, die Se-kretärin.

„Das wäre schön, vielen Dank“, nickt Kate und macht die Tür zum Büro ihres Bruders auf.

Mit dem Rücken zur Tür steht der junge Mann vor dem Fenster und blickt hinaus. Er muss gehört haben, dass sie eingetreten ist, aber er rührt sich nicht.

„Guten Morgen, Herr Neethling. Ich bin Kate Woodroffe.“Langsam dreht er sich um. Seine Augen sind eisblau und sehen kein

bisschen freundlich aus. „Guten Morgen“, erwidert er den Gruß.„Setzen Sie sich doch“, lädt sie ihn ein. „Kann ich Ihnen ein Tässchen

Tee anbieten?“„Ich stehe lieber, danke“, entgegnet er.Wenn sie sich jetzt hinsetzt, muss sie noch höher zu ihm hinaufschauen.

Er ist auch so schon fast einen Kopf größer als sie – das ist etwas, woran sie sich erst noch gewöhnen muss. Deshalb setzt sie sich auf die Vorderkante des Schreibtisches, so wie sie es bei ihrem Vater schon mehrmals gesehen hat, wenn er eine informelle Situation schaffen will, aber nicht zu seinem Gesprächspartner aufschauen möchte. Das hilft jedoch nicht – er steht weiterhin turmhoch vor ihr.

„Ich bin wirklich froh, dass Sie damit einverstanden sind, mich zu be-gleiten“, sagt sie, während sie ganz langsam ihre Handschuhe von den Händen streift.

Er erwidert nichts, sondern steht einfach nur da und wartet darauf, dass sie weiterspricht.

„Mein Vater hat sehr viel Positives über Sie gesagt. Er glaubt, dass Sie der Mann sind, der mir helfen kann.“ Bedrückt muss sie sich eingestehen,

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dass das Gespräch nicht so verläuft, wie sie es geplant hat. Vielleicht ist es besser, wenn sie still ist und abwartet.

Schweigen.Endlich fasst er den Entschluss, etwas zu sagen. „Hören Sie, Miss

Woodroffe, nur damit wir uns von Anfang an richtig verstehen. Ich bin schließlich nicht auf den Kopf gefallen. Die haben mich aus der Arbeiter-schaft herausgeholt, die isolieren mich von den anderen Arbeitern, weil ich ihnen ganz schön einheize. Und wahrscheinlich sind Sie geholt wor-den, um mir auf die Finger zu schauen, mir ein bisschen die Augen dafür zu öffnen, wie die Sache wirklich aussieht. Mir das Gehirn zu waschen. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe, stimmt’s?“

Sie nickt langsam. „Damit treffen Sie den Nagel ziemlich auf den Kopf, wissen Sie das?“, sagt sie lächelnd. Sie weiß, dass sie dabei Grübchen in den Wangen bekommt. Sie merkt auch, dass ihn ihre Ehrlichkeit für ei-nen Moment lang überrascht, sogar aus der Bahn wirft. „Möchten Sie nun wissen, was wir in den kommenden Wochen vorhaben? Einmal ab-gesehen von der Gehirnwäsche?“

Er scheint nicht im Mindesten amüsiert zu sein. „Deshalb haben Sie mich hierher geholt, nehme ich an.“

„Dann setzen Sie sich doch bitte und trinken Sie ein Tässchen Tee.“„Ich mag lieber Kaffee.“Sie zuckt mit den Schultern. „Leider haben wir hier nur Tee. Ich schrei-

be gerade an meiner Masterarbeit in Soziologie.“ Sie fragt sich für einen Augenblick, ob sie ihm erklären sollte, was das ist, entscheidet sich dann aber, es lieber nicht zu tun. „In meiner Arbeit geht es um die Frage, warum arme Menschen nicht aus der Kultur der Armut herauskommen und was sie so sehr demoralisiert, dass sie über Generationen hinweg arm bleiben.“

„Ja, ich verstehe. Sie interessieren sich für die Seele der armen Weißen – warum sie so schlechte Menschen bleiben.“

„Das habe ich überhaupt nicht gesagt, Herr Neethling.“„Aber das werden Sie tun, Miss Woodroffe. Und dazu ein paar sensatio-

nelle Fotos schießen, um den trockenen Lesestoff etwas aufzulockern.“Sie spürt, wie ihr die Galle hochsteigt. „Herr Neethling, Sie drehen mir

das Wort im Mund herum und versuchen, aus meiner Arbeit billigen Sen-sationsjournalismus zu machen. Für mich ist das eine ernste Sache. Ich bin genauso sehr Afrikanerin wie ich auch Britin bin. In diesem Land sind

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mehr als achtzig Prozent der Weißen, die in Armut leben, Afrikaner. Ich will wissen, warum. Warum können oder wollen sie sich nicht selbst hel-fen? Wie Sie wissen, hat der Rektor der Universität von Kapstadt in einer öffentlichen Anhörung behauptet, die Afrikaner hätten einen genetischen Defekt. Er sagt, die Afrikaner hätten einfach eine intellektuelle Schwäche – dieses geistige Problem führe dazu, dass ihre Leistungen immer minder-wertig blieben. Ich kann das nicht akzeptieren. Und Sie können das auch nicht.“

Damit hat sie ins Schwarze getroffen. Das kann sie sehen.„Und wie willst du beweisen, dass die armen Weißen keine so schlech-

ten Menschen sind?“Ihr fällt auf, dass aus dem „Sie“ ein „Du“ geworden ist.„Das will ich gar nicht beweisen. Ich habe noch nie einen armen Wei-

ßen getroffen, der ein schlechter Mensch gewesen wäre. Ich …“„Du redest aber von den armen Weißen wie von einer besonderen Gat-

tung Mensch, die untersucht und erforscht werden muss.“Vergiss die „armen Gewerkschafter“, denkt sie. Mein Vater tut mir leid.

Schließlich muss er mit diesem Kerl verhandeln, der scheinbar mit allen Wassern gewaschen ist!

Laut sagt sie: „Der Ausdruck arme Weiße ist ein international gebräuch-licher Fachausdruck, er wurde schon 1870 für Bewohner des amerika-nischen Südens gebraucht. Mit diesem Begriff bezeichnet man einfach Weiße, die arm sind.“

„Gibt es auch den Fachausdruck ‚reiche Weiße‘?“„Nein. Aber es gibt die Fachausdrücke hämisch, querköpfig, halsstarrig

und eigensinnig.“„Was meinst du damit?“„Dass wir zusammenarbeiten werden, ob dir das nun gefällt oder nicht.

Dass du mich an die Orte begleiten wirst, die ich nach dem Willen meines Vaters allein nicht betreten darf. Dass du mich dorthin bringen wirst, wo ich die Menschen treffe, die mir bei meinen Forschungen helfen können.“

„Ich verstehe. Und wo sollen wir anfangen, Miss Woodroffe?“„Wir fangen damit an, indem wir uns erst einmal wie anständige Men-

schen benehmen, die hier an diesem Tisch sitzen, jeder auf einem Stuhl, und die Sache in aller Ruhe durchsprechen.“

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* * *

Ich vermute, du weißt jetzt, wie man mit Neethling umgehen muss?“, fragt ihr Vater sie abends bei Tisch.

„Ja“, sagt Kate. „Das war eine meiner leichtesten Übungen.“John lacht. „Mir scheint, wir müssen dich das nächste Mal dazu holen,

wenn wir es wieder mit der Gewerkschaft zu tun bekommen.“„Nein, Daddy, ich habe nur einen Scherz gemacht. Es war schwierig,

aber wir können gut zusammenarbeiten. Wir treffen uns morgen um neun Uhr wieder vor dem Büro, dann laufen wir zuerst ein bisschen durch Fordsburg und besuchen dort gegen zwölf Uhr eine Suppenküche.“

„Ich verstehe.“„Soll Jackson euch fahren?“, fragt ihre Mutter.„Nein, wir nehmen die Straßenbahn.“„Dann solltest du deine Juwelen besser zu Hause lassen, Kate“, ermahnt

sie ihr Vater.„Ich werde mich einfach und unauffällig kleiden, Mama. Und bequeme

Schuhe tragen, schließlich will ich ein bisschen durch die Straßen mar-schieren.“

„Ach, Kate, ich weiß nicht“, seufzt Susan. „Du kannst morgen zusam-men mit mir bei Miss Cornwell zu Mittag essen.“

„Nein danke, ich werde mir in der Suppenküche eine leckere Suppe holen“, erwidert Kate.

* * *

„Zieh dir, nun ja… etwas ganz anderes an“, hat Neethling gestern gesagt. „Und bequeme Schuhe, keine hohen Absätze.“

Bereitwillig hat Kate versucht, seinem Rat zu folgen, und fühlt sich ko-misch dabei. Von Nellie hat sie sich sogar ein Tuch geliehen, das sie sich um den Kopf binden wird. Aber erst später, wenn sie schon in der Stra-ßenbahn sitzen. Nellies große Handtasche drückt sie sich an die Brust. Ohne Handschuhe fühlen sich ihre Hände so nackt an.

Um halb neun steht er schon an der Straßenbahnhaltestelle in der Nähe des Büros. „Daddy kann mich gern hier absetzen, da vorn ist Neethling und wartet auf mich“, fordert sie ihren Vater auf.

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Neethling trägt unauffällige Khakikleidung und dazu Stiefel, wie sie auch tausend andere Bergarbeiter anhaben. Trotzdem hat sie ihn zwischen den anderen Fußgängern auf dem Bürgersteig sofort erkannt: Er überragt sie alle um Haupteslänge.

„Morgen, Herr Neethling“, begrüßt sie ihn.„Morgen, Miss Woodroffe.“ Er hört sich steif an.Als eine Straßenbahn einfährt, sagt er: „Nein, die nicht. Wir nehmen

die nächste.“Sie steigen in die richtige Straßenbahn ein und Kate löst zwei Fahr-

karten. „Können wir oben sitzen?“, fragt sie. Sie fährt so selten mit der Straßenbahn und am schönsten ist es oben.

Sie rattern durch die Innenstadt. In der Commissionerstraße müssen sie in die Hauptstraße in Richtung Fordsburg abbiegen, hat sie gestern Abend auf dem Stadtplan gesehen. Sie fahren durch Gegenden, in denen sie noch nie gewesen ist. Allmählich werden die Straßen schmaler, die Gebäude sehen verfallener aus. „Hier steigen wir aus“, sagt er plötzlich kurzangebunden.

Sie gehen zwischen schmutzigen Reihenhäusern entlang und weichen dem Abwasser, das sich über die Straße ergießt, aus. Es geht vorbei an Behausungen aus Holz und Blech, wo fast nackte Kinder im Dreckwasser spielen. Sie laufen durch Reihen von Hütten aus Blech und Säcken. Über-all schreien kleine Kinder, man hört Husten und Frauen mit hängenden Brüsten stehen rauchend in den Eingängen und starren ihnen mit leeren Gesichtern hinterher. Es ist ein einziges Durcheinander aus Menschen, Sprachen und abgemagerten Straßenhunden, die herumkläffen. Kleine Jungen und heranwachsende Männer, die Hände in den Hosentaschen, gehen vorbei und schreien sich über die Straße hinweg schmutzige Worte zu. Vor einem chinesischen Laden hocken sie beieinander, rauchen süß-lich duftendes Dagga – ein Kraut mit berauschender Wirkung – und spie-len eine Art Würfelspiel.

Er sagt kein Wort. Stunde um Stunde laufen sie schweigend durch die Stadt.

Und über allem hängt ein Geruch, den sie nicht kennt.„Langsam sollten wir uns bei der Kirche anstellen, denn da ist die Sup-

penküche“, sagt er plötzlich neben ihr. Seine Stimme hört sich vollkom-men neutral an.

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Kate spürt, wie die Übelkeit in ihr hochsteigt. Nicht auch das noch, denkt sie. Sie bleibt stehen und schließt die Augen.

„Miss Woodroffe?“ Als sie die Augen wieder aufschlägt, hat er seinen Kopf zu ihr hinunter gebeugt. Seine blauen Augen haben kleine, graue Flecken. Und einen Hauch von Gefühl, kleine Fleckchen Gefühl.

Sie merkt, wie die Tränen in ihr aufsteigen. Mit aller Macht kämpft sie, um ihre Selbstbeherrschung zurückzuerlangen. „Ich kann jetzt nicht zur Suppenküche mitgehen. Es tut mir leid“, sagt sie.

„Gut, dann bringe ich dich nach Hause.“„Und nenn mich doch bitte Kate.“„Gut, Kate. Wir können auch morgen zur Suppenküche gehen.“ Er

nimmt sie fest am Ellenbogen und geleitet sie so zur nächsten Straßen-bahnhaltestelle.

In der Straßenbahn kommen ohne Vorankündigung die Tränen. Ver-wirrt wühlt sie in Nellies hässlicher Tasche nach einem Taschentuch. „Es tut mir leid“, sagt sie, „eigentlich bin ich keine Heulsuse.“

„Dass es da so aussieht, das hast du nicht erwartet, stimmt’s?“, fragt er.„Es ist nicht nur, wie es da aussieht. Es ist … alles. Die Geräusche, die

Menschen, der … Gestank. Dort hängt ein ganz übler Geruch in der Luft.“„Ja, so riecht die Armut, Kate. Und so schmeckt sie auch“, sagt er leise.Sie wirft ihm einen flüchtigen Blick zu. „Und wo wohnst du?“Doch als er seinen Kopf in ihre Richtung dreht, sind seine Augen wieder

eiskalt. „Es kommt nicht darauf an, wo ich wohne oder was ich tue. Mein Privatleben ist genau das: privat. Es gehört nicht zu meinem Auftrag, eine von deinen Fallstudien abzugeben“, macht er ihr unmissverständlich klar.

„Das habe ich doch gar nicht gemeint“, entgegnet sie ihm. „Natürlich respektiere ich deine Privatsphäre. Es war ein Fehler, dich danach zu fra-gen, und es tut mir leid.“

Darauf nickt er nur. Die Vertrautheit, die sich zwischen ihnen zu entwi-ckeln begann, ist urplötzlich verschwunden. (...)

Zum Glück ist ihre Mutter nicht da, als sie nach Hause kommt. „Nellie, könntest du die Kleider hier bitte sofort waschen?“, fragt sie. Sie nimmt ein Pülverchen gegen ihre stechenden Kopfschmerzen und versucht sich mit einem warmen Bad zu entspannen.

„Wie war dein Tag?“, fragt ihr Vater sie, während er kurz vor dem Abendessen im schönen Garten ihrer Mutter noch ein Glas Sherry trinkt.

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„Schrecklich. Ich möchte nicht darüber sprechen“, antwortet Kate.„Du kannst doch jederzeit deine Forschungsfrage verändern, nicht

wahr?“, fragt ihre Mutter hoffnungsvoll.„Das werde ich wahrscheinlich müssen“, erwidert sie.Als sie spätabends im Bett liegt, denkt sie noch einmal über den vergan-

genen Tag nach. Sie hat sich mehr eingeschenkt, als sie auslöffeln kann, so viel weiß sie jetzt. Sie weiß auch, dass sie niemals eines von diesen Häusern betreten könnte. Mittlerweile fragt sie sich ernsthaft, ob sie sich jemals unter die Menschen mischen könnte, die vor der Suppenküche anstehen. Ihr Vater und Peter haben recht gehabt: Sie hat eine Rundreise durch Amerika gemacht, sie hat ein Internat in der Schweiz besucht, ist in den Alpen Ski gelaufen und hat Weihnachten in London gefeiert – aber sie hat keine Ahnung, wie die Welt aussieht, die keine fünfzehn Kilometer von ihrem Zuhause entfernt ist.

Kann es sein, dass Neethling jeden Abend in so eine Behausung zurück-kehrt?

Er hat immer noch keinen Vornamen. Morgen wird sie ihn fragen, wie er mit Vornamen heißt. Wenn er heute nicht dabei gewesen wäre …

Sie erinnert sich an seinen festen Griff, an seine rauen Arbeiterhände an ihrem nackten Ellenbogen. Sie erinnert sich vor allem an die Flecken in seinen Augen – und nicht nur an die grauen Einsprengsel.

Und immer noch fragt sie sich, wo er wohnt.

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Denise Hunter

Barfuß am See

ISBN 978-3-86827-516-2

304 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im Juni 2015

Madison McKinley kennt in diesem Sommer nur ein Ziel: Die junge Tierärztin will die örtliche Segelregatta gewinnen. Dabei hat sie panische Angst vor dem Wasser. Doch der Regattasieg war der große Traum ihres verstorbenen Zwillingsbruders und Madison ist fest entschlossen, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Für Michael – und für sich. Da-mit sie endlich Frieden findet. Aber wird diese Rechnung aufgehen? Es verspricht ein spannender Sommer zu werden: nicht nur in sportlicher, sondern auch in beruflicher Hinsicht … und völlig unerwartet sogar in Sachen Liebe.

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Madison McKinley ließ ihren Blick über die Menschenmenge in der Stadt-halle schweifen und fragte sich, gegen wie viele ihrer Freunde und Nachbarn sie würde kämpfen müssen, um zu bekommen, weswegen sie hier war. Die halbe Bevölkerung von Chapel Springs war erschienen, um die Feuerwehr zu unterstützen. In der Luft hing noch der schwache Geruch von Popcorn und Kaffee von der Versammlung des Rotary Clubs am vergangenen Abend und die gespannte Atmosphäre war beinahe mit Händen zu greifen.

Als sie an der Reihe war, ließ sie sich ihre Auktionsnummer geben und sah sich dann nach ihrer Mutter um. Sie entdeckte sie auf der linken Seite, in der Nähe der alten Backsteinwand.

Bevor Madison sich in Bewegung setzen konnte, kämpfte sich Dottie Meyers durch den vollen Gang zu ihr durch. „Hallo Madison, Liebes. Ich dachte, vielleicht kann ich dich wegen Ginger fragen. Ich habe einen kleinen Knoten hinter ihrem Bein gefunden. Ich mache mir Sorgen, dass es etwas Ernstes sein könnte.“

Beim letzten Mal war es nur eine Klette gewesen. Trotzdem legte Ma-dison eine Hand auf den Arm der Frau. „Es ist bestimmt nichts, aber ich sage Cassidy, dass sie dich morgen anrufen und Ginger dazwischenneh-men soll, in Ordnung?“

„Also, meine Herrschaften“, sagte die Moderatorin ins Mikrofon. „Es wird Zeit.“

„Danke, meine Liebe“, sagte Dottie. „Ich bin ja so gespannt auf das diesjährige Theaterstück. Es heißt Liebe in Gefahr. Du spielst doch wieder mit, oder? Du wirst eine fantastische Eleanor sein.“

Das Vorsprechen war erst in zwei Monaten. „Ich freue mich schon da-rauf. Dann bis morgen in der Praxis.“ Madison nahm jedes Jahr an der Vorführung der städtischen Laiengruppe teil. Sie spielte gerne Theater und der Erlös war für das Tierheim bestimmt, diente also einem guten Zweck, der ihr am Herzen lag.

Sie drehte sich zu ihrer Mutter um und lief schnurstracks gegen eine Wand. „Hmpf.“

Oder einen Brustkorb. Einen harten Brustkorb.Sie sah auf und blickte in das Gesicht des Mannes, den sie am allerwe-

nigsten sehen und mit dem sie schon gar nicht zusammenprallen wollte. Hastig wich sie zurück, ohne dabei jedoch den Blick von seinen uner-gründlichen, kohlefarbenen Augen abzuwenden.

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Sie nickte einmal. „Beckett.“Er erwiderte den Gruß mit einem Nicken seinerseits. „Madison.“Sein schwarzes Haar war zerzaust. Er trug ein Arbeitshemd vom De-

witt-Jachthafen und seine Bartstoppeln waren mindestens zwei Tage alt. Sein Unterkiefer zuckte. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, seit sie ihn vor zwei Wochen zur Rede gestellt hatte – nicht, dass es etwas genützt hätte.

„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte die Moderatorin. Gerne.Sie machte im selben Augenblick einen Schritt nach links, in dem Beckett

einen Schritt beiseite machte. Er war so breit wie der Boulder Creek, der örtliche Fluss, und doppelt so gefährlich. Dieser Meinung war sie immer gewesen. Der Zwischenfall mit ihrer kleinen Schwester hatte das nur be-stätigt.

„Entschuldige“, sagte sie.Er glitt nach rechts und streckte den Arm aus, als wollte er sagen: Nach

dir, Prinzessin.Sie warf ihm einen genervten Blick zu und eilte dann den Gang hinun-

ter, um sich auf den Metallstuhl neben ihrer Mutter fallen zu lassen.„Hallo, Liebling. Hattest du einen guten Tag?“ Joann McKinleys kurzes

blondes Haar und ihre blauen Augen funkelten in dem fluoreszierenden Licht, aber es war ihr Lächeln, das den Raum erstrahlen ließ.

„Zwölf Hunde, sieben Katzen, zwei Häschen und ein Rebhuhn im Birnbaum.“

Beckett ging an ihrer Reihe vorbei und setzte sich weiter vorne auf den freien Stuhl neben seiner Schwester. Layla hatte lange braune Haare und das hübsche Gesicht eines Models. Ihre Mutter musste eine Schönheit gewesen sein, doch Madison konnte sich nicht an sie erinnern. Beckett beugte sich zur Seite und flüsterte seiner Schwester etwas zu.

Madison riss sich von dem Anblick los und lockerte den Todesgriff, mit dem sie ihr Auktionsschild umklammert hielt. Sie würde heute nicht an Beckett O’Reilly denken.

Die Moderatorin auf dem Podium eröffnete die Veranstaltung offiziell. Wenige Augenblicke später war die Versteigerung in vollem Gange.

Madisons Blick wanderte zu Becketts dunklem Hinterkopf. Sie hätte schwören können, dass er sie in letzter Zeit verfolgte. Er schien überall

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aufzutauchen, wo sie hinging. Eigentlich hätte der Mann allen Grund gehabt, ihr aus dem Weg zu gehen. Er sollte sich schämen für … nun, für das, was er Jade angetan hatte.

Madison ging die Liste mit den Auktionsposten durch und hakte jeden ab, sobald er an den Höchstbietenden verkauft war. Eine handgearbeitete Patchworkdecke, Klavierstunden, der Kuchen des Monats, eine gemietete Hütte am Patoka Lake und Dutzende anderer Dinge, die Menschen aus dem Ort großzügig gespendet hatten.

Evangeline Simmons, die mindestens fünfundachtzig Jahre alt war, be-lustigte alle, indem sie die Gebote in die Höhe trieb. Es war kein Geheim-nis, dass die Feuerwehr ihre geliebte Perserkatze im vergangenen Monat von einem Baum gerettet hatte. Bis jetzt hatte sie mit ihrer Großzügigkeit zwei Gegenstände erworben, für die sie höchstwahrscheinlich keine Ver-wendung hatte. Aber Geld war für Evangeline kein Thema.

Nach und nach gingen die Zuschauer, während die Auktion weiterlief. Beckett verschwand, nachdem er bei einer Werkzeugausstattung überboten worden war. Mehr als eine Stunde später merkte Madison auf, weil end-lich zur Versteigerung angeboten wurde, worauf sie es abgesehen hatte. Der Auktionator las von seinem Zettel ab.

„Und jetzt, meine Damen und Herren, ein echtes Highlight. Der Dewitt-Jachthafen war so freundlich, ein Segelpaket zu spenden. Ein Segelkurs mit Evan Higgins. Lernen Sie, wie man auf dem schönen Ohio River segelt, ge-rade rechtzeitig zu unserer 45. Flussregatta, und begleiten Sie Evan Higgins, der diesen Wettbewerb bereits zweimal hintereinander gewonnen hat! Also, wer bietet fünfhundert?“

Madison umfasste ihr Auktionsschild und wartete darauf, dass der Auktionator das erste Gebot senkte. Ihr stockte der Atem. Immer mit der Ruhe, Mädchen …

„Also gut, einhundert, wer gibt mir einhundert? Einhundert als An-fangsgebot …“

Madison hob wie beiläufig ihr Schild.„Einhundert hier vorne, wer bietet hundertfünfzig? Einhundertfünfzig

sind gefragt ...“Aus dem Augenwinkel konnte Madison sehen, wie ihre Mutter den

Kopf zu ihr umwandte, während Evangeline ihr Schild anhob – und da-mit das aktuelle Gebot.

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„Einhundertfünfzig, wer bietet zweihundert? Zweihundert …“Madison hob ihr Schild und blickte starr geradeaus.„Zweihundert, vielen Dank, die Dame. Ich höre zwei fünfzig, zwei

fünfzig …? Danke! Und jetzt dreihundert, höre ich dreihundert?“Madison seufzte und wartete einen Augenblick, bevor sie nickte.„Wir haben drei. Höre ich dreieinhalb? Dreihundertfünfzig …?“Evangeline drehte sich zu Madison um. Ihre Augen funkelten. Sie hob

ihr Schild.Evangeline. Madison hatte nicht vorgehabt, so viel auszugeben. Es wür-

de der alten Dame recht geschehen, wenn sie jetzt ausstieg. Die Vorstel-lung, dass diese rüstige Frau fortgeschrittenen Alters im Bug eines Se-gelbootes stehen und versuchen würde, mit den Tauen, Seilen oder was auch immer fertigzuwerden, mit ihren knapp ein Meter fünfzig … Sie war verlockend.

Madison könnte schließlich einfach zum Jachthafen hinuntergehen und die Stunden bezahlen – aber dann wäre nicht gewährleistet, dass sie tatsäch-lich gewinnen würde. Dazu brauchte sie Evan Higgins.

„Drei fünfzig, höre ich dreihundertfünfzig? Ja, wunderbar! Und jetzt vier, wer bietet vierhundert?“

Die Leute, die noch im Saal waren, fingen an zu murmeln, einige lach-ten über Evangelines Unverfrorenheit.

Die Frau hob ihr Auktionsschild.„Und jetzt sind wir bei viereinhalb, vierhundertfünfzig, wer bietet fünf-

hundert …?“Madison knirschte mit den Zähnen. Sie warf Evangelines silberfarbe-

nem Hinterkopf düstere Blicke zu. Es ist für einen guten Zweck, es ist für einen guten Zweck.

„Und da haben wir fünf. Fünfhundert. Wer gibt mir fünfeinhalb? Fünf-hundertfünfzig irgendjemand …?“

Das Murmeln war angeschwollen, obwohl der Saal jetzt, wo die Ver-steigerung beinahe vorüber war, halb leer war. Diejenigen, die geblieben waren, wurden für ihr Ausharren mit einer guten Show belohnt.

„Fünfhundertfünfzig jemand …?“Evangeline drehte sich um und suchte Madisons Blick. Ihre dünnen

Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, dann faltete sie die Hände über ihrem Schild.

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„Ich habe fünfhundert, also fünfhundert zum Ersten … fünfeinhalb jemand? Fünfhundert zum Zweiten … und fünfhundert zum Dritten. Die Segelregatta geht an Madison McKinley.“

Madison atmete erleichtert aus. Sie war fünfhundert Dollar ärmer, aber sie hatte ihren Segelkurs. Sie würde segeln lernen und sie würde die Re-gatta gewinnen. Für Michael.

* * *

„Du willst was?“ Ihr Vater hielt mitten im Dribbeln inne, hielt den Bas-ketball fest und richtete sich auf. Sein kurzes graues Haar war zerzaust und vom Schweiß ganz feucht.

Ryan ließ die Hände sinken und sah Madison mit gerunzelter Stirn an. Dann stemmte er die Hände in die schmalen Hüften, weil sie das Spiel gestört hatte. Er war der Erstgeborene der McKinleys und so zuverlässig wie eine Eiche. Deshalb war er auch derjenige, an den die Geschwister sich in einer Krisensituation zuerst wandten.

Madison hatte es ihrer Familie noch gar nicht sagen wollen, aber sie würden es ja ohnehin erfahren.

„Sie hat gesagt, sie will Michaels Boot.“ PJ, das Nesthäkchen der Fa-milie, warf ihren langen braunen Pferdeschwanz über die Schulter nach hinten. Sie hatte die braunen Augen ihres Vaters geerbt und das ge-winnende Lächeln ihrer Mutter – obwohl davon im Moment nichts zu sehen war.

„Darum ging es also bei dem Segelkurs“, sagte Ryan.„Sie lassen die Boote übrigens zu Wasser, musst du wissen“, sagte PJ.Madison knuffte ihre Schwester am Arm.„Jo“, rief ihr Vater, ohne den Blick von Madison abzuwenden. „Weißt

du, was deine Tochter vorhat?“Joanne stellte eine Schüssel mit Kartoffelsalat auf den Picknicktisch.

„Du meinst die Regatta? Ich war bei der Auktion dabei, das weißt du doch. Übrigens werden die Hamburger kalt.“

Als er das Wort „Hamburger“ hörte, ließ Dad den Basketball fallen und verließ fluchtartig das Spielfeld.

Sie setzten sich alle zusammen an den Picknicktisch. Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, aber die weißen Lampen, die über der Ter-

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rasse hinter dem Haus ihrer Eltern und in den Büschen hingen, tauchten den Garten in ein warmes Licht. Es waren die milden Frühlingstempera-turen, die sie auf die Idee gebracht hatten, das wöchentliche Familienes-sen nach draußen zu verlagern. Irgendwo in der Nähe zirpte eine Grille und die Blumen waren voller Knospen.

Das weiße Bauernhaus, in dem Madison und ihre Geschwister aufge-wachsen waren, erstreckte sich über den flachen, von Eichen beschatteten Hügel wie eine geliebte Tante, die ihre Arme zu einer tröstlichen Umar-mung ausstreckt. Hinter dem Haus wuchs das halbe Jahr lang Mais auf zweihundertvierzig Morgen sanft hügeligen Farmlandes. Ihr Vater, der stolz darauf war, einer von Indianas einundsechzigtausend Landwirten zu sein, hatte die McKinley-Sprösslinge nie gedrängt, in seine Fußstapfen zu treten, sondern ihnen die Freiheit gegeben, ihren eigenen Weg zu finden. Daran arbeiteten sie noch.

Als alle saßen, sprach Dad das Tischgebet, und dann machten sie sich über das Essen her. Es gab gegrillte Hamburger, Kartoffelsalat, grüne Bohnen aus der Vorjahresernte und natürlich Mais. Im Haus der McKin-leys gab es immer Mais.

„Wie läuft die Aussaat, Dad?“ Ryan schlug nach einer Fliege. „Ich kann dir nächste Woche helfen, wenn du willst.“

„Klingt gut. Ich könnte Hilfe brauchen.“ Dad verteilte den Kartoffelsa-lat. „Sie will diese kaputte alte Nussschale segeln, Jo.“

Madison breitete ihre Serviette auf ihrem Schoß aus, während sie ihrer Mutter einen Blick zuwarf. „Wirklich?“ Moms Blick sagte mehr als ihre Worte. Sie kannte Madison besser als jeder andere. Sie wusste, wie sehr es sie aufgewühlt hatte, Michael zu verlieren, obwohl Madison keine Träne vergossen hatte und nur selten darüber sprach. Ein Mädchen verlor nicht seinen Zwillingsbruder, ohne dass dies Auswirkungen hatte.

„Für Michael.“ Die anderen erstarrten, sogar PJ, und das kam nicht oft vor. „Es ist mir wichtig.“

Michael war ein guter Segler gewesen, aber er hatte nicht lange genug gelebt, um an der Regatta teilzunehmen. Dabei war es sein Traum gewe-sen, der jüngste Sieger aller Zeiten zu werden! Der aktuelle Rekord lag bei siebenundzwanzig Jahren. Madison blieb also nicht mehr viel Zeit, seinen Traum zu verwirklichen. Ihr siebenundzwanzigster Geburtstag stand qua-si vor der Tür.

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„Und du glaubst, du kannst diese Sache tatsächlich gewinnen?“, fragte Dad.

Sie hatte ihn nicht überrumpeln wollen. „Es tut mir leid, Dad. Ich woll-te dich nicht aufregen.“

„Das Ding ist ein Haufen vergammelter Bretter.“Bei ihm klang es viel schlimmer, als es war. „Ich werde das Boot her-

richten.“Ihr Vater lachte ungläubig.Also gut, es war in einem schlechten Zustand, aber Michael hatte zwei

Sommer lang darauf gespart. Als er siebzehn geworden war, hatte er an-stelle eines Autos ein Boot gekauft. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie stolz er gewesen war, als er es ihr gezeigt hatte.

„Das Boot ist noch in der Scheune, Liebling“, sagte Mom jetzt und legte eine Hand über Dads geballte Faust.

„Danke, Mom. Es wird nicht das schnellste Boot da draußen sein, aber da es ein Handicap-Rennen ist, wird das berücksichtigt, also habe ich eine Chance.“

„Sie kann nicht schwimmen, Jo.“„Dafür gibt es Schwimmwesten, Dad“, sagte PJ besänftigend.Dad presste die Lippen zusammen. Er war hin- und hergerissen, das

wusste Madison. Einerseits wollte er sie unterstützen, andererseits hatte er Angst um sie.

„Ich komme schon zurecht. Ich werde vorsichtig sein. Außerdem neh-me ich doch Unterricht!“

„Sag Bescheid, wenn ich helfen kann“, sagte Ryan. „Ich kann die Taue halten oder so was.“

PJ knuffte ihm in die Schulter. „Du kannst doch ein Segelboot nicht von einem Badehandtuch unterscheiden.“

„Aber du, ja?“„Kinder. Esst.“

* * *

Nach dem Abendessen half Madison ihrer Mutter mit dem Geschirr, während die anderen noch eine Runde Basketball spielten. Nachdem die Spülmaschine geräuschvoll angesprungen war, lehnte Mom sich an die

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Spüle. Die Lichter darüber beleuchteten ihr Gesicht und betonten die Lachfältchen um ihre Augen.

„Schläfst du genug, Liebling? Du siehst in letzter Zeit müde aus.“„Mir geht es gut.“ Madison hatte ihrer Mutter nie von den Albträumen

erzählt und sie würde sie auch jetzt nicht damit belasten.Ihre Mutter sah sie lange und mit wissendem Blick an. Es war die Art

Blick, an der Madison erkannte, dass sie ihr Herz vielleicht vor dem Rest der Welt verschließen konnte, aber ihre Mutter sie trotzdem durchschau-te.

„Weißt du, Madison … wenn du inneren Frieden suchst, wirst du ihn nicht bei einer Regatta finden.“

Madison räumte die Platte fort und der alte Schrank knarrte, wie er es immer tat. War es das, was sie wollte? Frieden? Konnte ein Mensch den jemals finden, wenn er jemanden verloren hatte, den er so sehr liebte? Jemanden, der so unschuldig gewesen war und den Tod so wenig verdient hatte?

Mom ergriff ihre Hände, die begonnen hatten, ein Handtuch zu zer-knüllen. „Ich wünschte, ich könnte dir helfen, doch das kann ich nicht. Aber ich kenne jemanden, der es kann.“

„Ich weiß, Mom.“ Sie hatte es oft genug gehört. Von ihren Eltern, von Pastor Adams, sogar von Ryan. Wenn der Gang zur Kirche heilen könnte, woran sie litt, wäre sie längst geheilt. Sie war genauso regelmäßig dort wie der Organist. Alle McKinleys waren regelmäßig dort.

Moms Augen waren voller Traurigkeit.„Mach dir keine Sorgen um mich. Es geht mir gut. Wirklich. Segeln zu

lernen, wird …“, sie presste das Wort förmlich heraus, „Spaß machen.“

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Tamera Alexander

Wie dieWeiten des Himmels

ISBN 978-3-86827-513-1

473 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im Juni 2015

Hals über Kopf gibt Dr. Molly Whitcomb ihre Stelle als Dozentin für moderne Sprachen auf und reist in den Westen, um an einer Dorfschule in den Rocky Mountains als Lehrerin zu arbeiten. Aber warum kauft sie sich in einem Juwelierladen einen Ehering? Welches Geheimnis umgibt diese talentierte junge Frau?

James McPherson, der sympathische Sheriff von Timber Ridge, ist von den ungewöhnlichen Unterrichtsmethoden der neuen Lehrerin beein-druckt. Bald redet das ganze Dorf von ihr und Timber Ridge verän-dert sich. Aber wie lange wird es dauern, bis ihr Geheimnis ans Licht kommt? Und wie wird der Sheriff dann reagieren, der in der attraktiven Lehrerin inzwischen mehr sieht als nur eine begabte Pädagogin?

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Sulfur Falls, Colorado-Territorium 26. Juli 1876

Molly Ellen Whitcomb stieg aus dem Zug und betrat den Bahnsteig von Sulfur Falls. Einen Moment lang blieb sie stehen, da sie sich nicht sicher war, wohin sie gehen und was sie tun sollte. Und das nicht nur in ei-ner Hinsicht. Der Pfiff des Zuges hallte schrill von den Bahnhofswänden wider und wehte über den offenen Bahnsteig, auf dem sich viele Men-schen drängten. Die Lokomotive stieß unablässig Rauch und Ruß aus. Ein unmissverständliches Räuspern hinter ihr drängte sie, endlich weiter-zugehen. Jeder Schritt kostete sie viel Kraft und machte ihr schmerzlich bewusst, warum sie überhaupt hier war. Und wie tief sie gefallen war.

Sie klemmte sich die abgegriffene Zeitschrift unter den Arm und folgte dem Strom der aussteigenden Fahrgäste. Vier Tage früher als geplant kam sie in Sulfur Falls an. Dem Bürgermeister von Timber Ridge hatte sie ein Telegramm geschickt, um ihn über ihr früheres Eintreffen zu informieren, aber auf dem Telegrafenamt hatte man ihr mitgeteilt, dass die Telegrafen-leitungen aufgrund schwerer Regenfälle außer Betrieb waren.

Sie warf einen Blick zum grauen Himmel hinauf, rieb sich den schmer-zenden Rücken und bezweifelte, dass sich daran etwas geändert haben könnte. Hoch über der kleinen Viehhandelsstadt thronten im Westen die majestätischen Gipfel der Rocky Mountains, die stellenweise immer noch schneebedeckt waren. Bilder von den Bergen hatte sie bereits gesehen. Schon die grauen Schwarzweißfotos waren sehr eindrucksvoll gewesen, aber diese Pracht mit eigenen Augen zu sehen, war etwas völlig anderes. Fast hatte sie das Gefühl, sie müsse aus Respekt einen Knicks machen. Doch dann kam plötzlich ein stärkerer Wind auf und sie verzog das Ge-sicht.

Der Gestank von Dung lag schwer in der Luft, Müll säumte den Bahn-steig und den Straßenrand. Plötzlich reagierte ihr Magen auf den unange-nehmen Geruch und sie hielt sich eine Hand vor die Nase. Als der Schaff-ner ihr gestern in Denver erklärt hatte, dass Sulfur Falls die Endstation sei, hatte er nicht übertrieben. Hundert Meter hinter dem Bahnhof endeten die Zuggleise und führten in einem Bogen zum Bahnhof zurück.

„Das Gepäck kann dort hinten abgeholt werden, Ma’am! Ganz hinten, links.“

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Obwohl sie kaum Luft bekam, hob Molly den Blick und sah, wohin der Schaffner deutete.

Er warf einen Blick auf die Zeitschrift unter ihrem Arm. „Soll ich das für Sie entsorgen, Ma’am?“

Sie verstärkte ihren Griff um die Zeitschrift. „Nein, ich will sie noch behalten. Trotzdem vielen…“ Der Dank erstarb ihr auf den Lippen, weil sich der Mann bereits abgewandt hatte.

Sie bewegte sich in die Richtung, in die er gedeutet hatte, als ihr Blick auf ein Geschäft auf der anderen Straßenseite fiel. Das Holzschild über der Ladentür schaukelte im Wind, als wolle es Molly zu sich locken. So leise wie das Flattern eines Schmetterlingsflügels regte sich ein Gedanke in ihr.

Sie zögerte und trat zur Seite, um die anderen Fahrgäste vorbeizulassen.Sie hatte Skrupel. Dieser Gedanke stellte ihre Integrität infrage und wi-

dersprach allem, was sie ihren Studenten am Franklin College in Athens, Georgia nach Kräften hatte vermitteln wollen.

Skrupel. Integrität. Ehrlichkeit.„Unrecht gepaart mit Unrecht ergibt noch kein Recht, Miss Cassidy“,

hatte sie im letzten Herbst eine Studentin getadelt, die betrogen hatte und danach versucht hatte, sich durch Lügen aus der Affäre zu ziehen.

Molly starrte das Holzschild an und wusste, dass sie genau das Gleiche versuchen würde, wenn sie jetzt ihrem Impuls folgte: Sie würde versu-chen, ein Unrecht durch ein zweites aufzuheben.

Plötzlich wurde ihr heiß und kalt, als sie sich daran erinnerte, wie sie erst vor drei Wochen am frühen Morgen vor Beginn der ersten Vorlesung ins Büro des Collegepräsidenten bestellt worden war. Ihre Entlassung vom Franklin College war schnell und demütigend gewesen. Was sie ge-tan hatte, war falsch gewesen. Das wusste sie. Das hatte sie nie in Frage gestellt. Aber die Strafe war viel zu hart ausgefallen und sie hatte sich nicht damit abfinden wollen. Zumindest anfangs nicht.

Doch als Präsident Northrop ihr dargelegt hatte, was geschehen würde, falls sie sich weigerte, das College zu verlassen und ihre Stelle aufzugeben, hatte sie sich gefügt. Sofort. Er hatte ihre einzige Schwachstelle gefunden und sie erbarmungslos ausgenutzt.

Seinem „eindringlichen Rat“, diese Stelle anzunehmen und hier ein neues Leben zu beginnen, hatte er dadurch Nachdruck verliehen, dass er

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sich geweigert hatte, ihr für irgendeine andere Stelle ein Referenzschrei-ben zu geben; nicht einmal für die Schulen im Osten, die sie ihm vorge-schlagen hatte. Und ohne ein Referenzschreiben würde ihr kein angesehe-nes College und keine Schule je eine Chance geben.

Sie atmete vorsichtig ein und strich mit ihrem Spitzenhandschuh über ihre blaue Jacquardweste. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich ihren Doktortitel zu verdienen und einige Zeit später genauso wie ihr Vater den Professorentitel zu bekommen. Damit hatte sie für Frauen in akademi-schen Berufen eine Bresche geschlagen. Aber das alles hatte sie durch eine einzige Dummheit zunichte gemacht.

Am Ende hatte Präsident Northrop gewonnen, wie das bei Männern in einflussreichen Positionen immer der Fall war. Denn jetzt stand sie hier, weitab von der Zivilisation und der Gesellschaft, und alles, was sie sich erarbeitet hatte, zählte nicht mehr.

Molly traf ihre Entscheidung und steuerte zielstrebig auf das Geschäft zu.

Sie schaute sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beob-achtete, doch dann schüttelte sie leicht den Kopf und schluckte ein bit-teres Lachen hinunter. In dieser Stadt kannte sie niemand. Keine einzige Menschenseele. Einen entlegeneren Ort hätte man nicht für sie finden können, außer vielleicht die Wildnis in Alaska. Wenn dort eine Stelle frei gewesen wäre, würde sie jetzt höchstwahrscheinlich in der weiten, gefro-renen Tundra aus einem Zug steigen.

Mit gesenktem Blick wartete sie, bis eine Kutsche vorbeigefahren war, bevor sie ihren Fuß auf die Straße setzte.

„Entschuldigen Sie, Ma’am, aber das Gepäck müssen Sie dort hinten abholen.“

Sie drehte sich um, um dem Schaffner zu sagen, dass sie nur eine kurze Besorgung erledigen müsse, aber dieses Mal stand nicht der Schaffner hinter ihr. Aus dem regennassen Mantel und dem triefenden, weitkrem-pigen Hut des Mannes schloss sie, dass er kein Angestellter der Eisenbahn war. Und sie war sich ganz sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. An diesen Mann würde sie sich erinnern.

Das Wort „attraktiv“ beschrieb ihn nicht einmal ansatzweise. Früher hätte das genügt, um ihr Interesse zu wecken. Doch das war vorbei.

Das Gesicht dieses Mannes wirkte offen und ehrlich, besonders sein

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Lächeln. „Mir ist aufgefallen, dass Sie gerade erst aus dem Zug gestiegen sind, und…nun ja, Ma’am, dieser Stadtteil ist nicht gerade besonders si-cher. Ich wollte nur, dass Sie wissen, wohin Sie gehen. Denn falls Sie das nicht wissen, Mädchen…“ Ein verschmitztes Funkeln trat in seine Augen, als er in einen makellosen schottischen Akzent wechselte. „…könnte es leicht passieren, dass Sie an einem Ort landen, an dem Sie nicht sein wollen.“ Mit einem leisen Lachen tippte er an seinen abgetragenen Cow-boyhut. „Dieser Rat meines Großvaters, Ian Fletcher McGuiggan, kostet Sie nichts. Ich kann ihn auswendig, denn diesen Satz hörte ich jedes Mal, wenn ich das Haus verließ.“

Molly erkannte einen Flirtversuch genauso schnell wie eine Kakerlake an der Wand. Als Professorin für romanische Sprachen schien sie eine An-ziehungskraft auf Männer zu haben, die gern flirteten. Aber das Verhalten dieses Mannes zeigte nicht die geringsten unlauteren Absichten. Ganz im Gegenteil. Sein Tonfall klang ehrlich und offen und seine Aussprache ver-riet, dass er aus den Südstaaten kam.

„Das klingt, als wäre Ihr Großvater ein sehr weiser Mann gewesen, Sir.“„Das war er. Starrköpfig wie ein Esel, aber auf der ganzen Erde findet

man kaum einen freundlicheren, einfühlsameren Menschen.“Molly brauchte eine Sekunde, bis sie merkte, dass sie jetzt lächelte. Und

noch eine weitere Sekunde, um sich bewusst zu werden, dass ihr Lächeln dieses Mal echt und nicht so mühsam und gekünstelt war wie in den letz-ten Wochen, als sie sich dazu hatte zwingen müssen.

Aufgrund seines Akzents schätzte sie, dass der Fremde aus Tennessee stammte. Vielleicht auch aus South Carolina. Eindeutig aus der Bildungs-schicht. Sein Akzent war nicht mehr sehr stark ausgeprägt, woraus sie schloss, dass er den Süden schon vor einer ganzen Weile verlassen hatte. Auch den schottischen Akzent seines Großvaters hatte er erstaunlich gut nachgeahmt.

Sein Blick wurde wehmütig. „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke.“

„Und an dem Sie sich nicht wünschten, er wäre noch bei Ihnen“, er-gänzte Molly, die ahnte, was er nicht sagte.

„Ja, Ma’am.“ Er legte den Kopf schief. „Ich nehme an, Ihr Großvater war ein ähnlich guter Mensch?“

„Mein Vater. Aber er ist schon gestorben.“ Es verging kein Tag, an dem

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sie nicht wünschte, er wäre noch bei ihr. Aber gleichzeitig hatte sie Gott in den letzten Wochen dafür gedankt, dass er nicht mehr lebte. Ihre Be-strafung war schlimm genug, ohne dass sie auch noch ihrem Vater unter die Augen treten musste.

„Mein Beileid, Ma’am.“ Er nahm den Hut ab und seine Stimme wurde leiser. „Ist er erst vor Kurzem gestorben?“

„Vor einem Jahr. Gestern war sein Todestag. Er war krank. Ich wuss-te also, dass seine Tage gezählt waren. Wenigstens konnte ich mich von ihm verabschieden“, flüsterte sie und staunte über dieses sehr persönliche Gespräch mit einem völlig fremden Menschen. Und dann auch noch auf dem Bahnhof einer abgelegenen Kleinstadt in Colorado.

Der Mann schaute sie an, ohne etwas zu sagen. Sie erwartete, dass durch das Schweigen eine unangenehme Atmosphäre entstehen würde. Aber das geschah nicht. Eine unerklärliche Unbefangenheit erfüllte sie. Etwas sagte ihr, dass Schweigen für ihn nichts Ungewohntes war, dass er nicht jede Sekunde mit Worten füllen musste, obwohl er derjenige war, der sie an-gesprochen hatte.

So weit im Westen hatte sie eine solche Höflichkeit nicht erwartet, be-sonders nach der Begegnung mit einigen sehr ungehobelten Männern, denen sie während ihrer zweiwöchigen Fahrt begegnet war.

„Nun…“ Er setzte seinen Hut wieder auf. Bei dieser Bewegung klappte sein Mantel auf und ein Sheriffstern, der an seiner Weste steckte, kam darunter zum Vorschein. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie aufgehalten habe, Ma’am. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und hoffe, es gefällt Ihnen in Sulfur Falls.“

Molly wich dem Matsch und den Hinterlassenschaften der Tiere so gut sie konnte aus und setzte ihren Weg über die Straße fort. Die Hauptstraße wies tiefe Fahrrillen und Schlaglöcher auf. Das Überqueren der Straße stellte eine Herausforderung dar, besonders in ihren Stiefeln mit den ho-hen Absätzen.

Sie war dankbar, als sie unbeschadet von Menschen und Tieren den Gehweg auf der anderen Seite erreichte, stieg die Stufen hinauf und bahn-te sich mit einem unguten Gefühl ihren Weg über den ungleichmäßigen hölzernen Brettersteg. Vor der Ladentür blieb sie stehen und zog die Ta-schenuhr ihres Vaters aus ihrer Handtasche. Die Postkutsche nach Timber

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Ridge würde in einer halben Stunde abfahren, und sie müsste vorher noch ihren Gepäcktransport in die Wege leiten. Ihr blieb also nicht viel Zeit.

Sie zwang ihre zitternden Nerven, sich zu beruhigen, und öffnete die Tür.

Ein Mann stand hinter der Verkaufstheke und suchte etwas in einer Schublade. Erst als Molly ihn sah, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich gewünscht hatte, eine Frau würde sie bei diesem Kauf bedienen. Vor ihr tauchte das Bild ihres Vaters auf, begleitet von einer mahnenden Stimme und einem unguten Gefühl im Magen. „Gut gemacht, Dr. Whitcomb“, hatte ihr Vater geflüstert, als sie mit ihrer Urkunde in der Hand neben ihm gestanden hatte. „Ein Vater könnte nicht stolzer auf seine Tochter sein.“

Das war vor vier Jahren gewesen. Seine Worte und die Erinnerung da-ran waren für sie immer noch sehr lebendig, wenn auch im Moment aus einem völlig anderen Grund. Als sie daran dachte, was ihr Vater von den Entscheidungen halten würde, die sie in letzter Zeit getroffen hatte, stellte sie in Frage, ob sie das, was sie jetzt vorhatte, wirklich tun sollte. Aber da sie wusste, wie ihre Zukunft aussehen würde, wenn sie es nicht machte, ignorierte sie die warnende Stimme.

Der Verkäufer hob den Blick. „Guten Tag, Ma’am. Was kann ich für Sie tun?“

Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die hinter ihm an der Wand hing. Sie wollte direkt zur Sache kommen. „Ich möchte…“ Sie atmete tief ein. „…einen Ring kaufen.“

„Ah!“ Die Miene des Mannes strahlte auf. „Dann sind Sie hier genau richtig, Ma’am. Brentons Juweliergeschäft hat die größte Auswahl an Rin-gen in ganz Sulfur Falls.“

Molly bemühte sich, beeindruckt zu wirken.Er schaute sie an. „Lassen Sie mich raten. Ihr Geschmack geht eher in

Richtung … Rubine.“Sie schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten. Das zu

verlangen, was sie wollte, fiel ihr schwerer, als sie gedacht hatte. „Was ich möchte, ist …“

„Nein, nein!“, lächelte er. „Verraten Sie es mir nicht.“ Er rieb sich nach-denklich das Kinn. „Saphire“, sagte er mit hoffnungsvoller Miene.

Er schien ganz nett zu sein und sie wollte ihn nicht enttäuschen, aber

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ihr lief die Zeit davon. „Nein, Sir. Diese Steine sind sehr hübsch. Aber mir schwebt etwas anderes vor. Und ich habe nicht viel Zeit. Wenn ich Ihnen also einfach …“

„Diamanten!“, strahlte er. „Das hätte ich mir gleich denken können. Kommen Sie! Folgen Sie mir! Wir haben hier drüben einige schöne Diamantringe.“

Die abgestandene Luft in dem Laden wurde noch stickiger, als Molly ihren nächsten Satz formulierte. „Ich suche keinen Ring mit einem Stein, Sir. Ich suche etwas viel …“ Sie schluckte und hörte das Klirren seiner Schlüssel. „Einfacheres.“

Er hatte sich gebückt, um einen Schrank aufzusperren, erstarrte jetzt aber in seinen Bewegungen und richtete sich langsam auf. „Ah, ja. Ich ver-stehe.“ Er schmunzelte leise. „Dann sollten wir die Sache vielleicht anders angehen, Ma’am. Beschreiben Sie mir doch einfach, welche Art von Ring Sie suchen. Dann zeige ich Ihnen, was wir für Sie haben.“

Ihr Mund fühlte sich an, als wäre er mit frisch gepflückter Baumwolle ausgestopft. Sie biss sich seitlich auf die Zunge, nur ein wenig, um ihren Mund zu einer natürlichen Reaktion zu bewegen. Diesen Trick hatte ihr ein älterer Professor mit auf den Weg gegeben, bevor sie ihre erste Vorle-sung am College gehalten hatte. „Was ich suche, ist ein Ehe …“ Sie brach ab. Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Aber sie musste es sagen.

Sie konnte sich nicht überwinden, dem Verkäufer in die Augen zu schauen. Herr, bitte vergib mir. Wieder einmal. „Ich würde mir gern Ihre Eheringe ansehen, Sir. Nichts Ausgefallenes. Ihr schlichtester Ring ge-nügt.“

Er starrte sie an. „Verstehe“, flüsterte er, aber Zweifel traten in seine Miene. Er schaute hinter sie. „Kommt Ihr … Mann auch noch? Um den Ring mit Ihnen gemeinsam auszusuchen?“ Er sagte das fast hoffnungsvoll, als wollte er sie nicht vorschnell verurteilen.

„Nein“, antwortete sie leise.

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Lisa Wingate

Firefly Island

ISBN 978-3-86827-517-9

361 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im Juni 2015

Mallory Hale ist Juristin und arbeitet für einen führenden Kongressabge-ordneten in Washington. Als ihr zufällig der Biochemiker Daniel Everson, alleinerziehender Vater eines kleinen Sohns, über den Weg läuft, ahnt sie nicht, wie schnell sie Washington der Liebe wegen den Rücken kehren wird.

Nach einer Blitzhochzeit findet die frischgebackene kleine Familie ihr neues Zuhause am malerischen Moses Lake in Texas. Doch die Idylle trügt. Auf Firefly Island, einer verschlafenen kleinen Insel, verbirgt sich ein dunkles Geheimnis und schon bald ist Mallory froh über die Verbin-dungen, die sie noch nach Washington hat.

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Kapitel 1

Als ich Daniel Everson das erste Mal sah, stand ich etwas hilflos zwischen Papieren und Notizzetteln in der Halle des Kapitols und versuchte, in einem kurzen, engen Rock und hochhackigen Schuhen würdevoll in die Hocke zu gehen. Die Schuhe waren seriös genug, um lautstark zu ver-künden: Ich meine es mit meiner Arbeit ernst, aber doch hoch genug, um gleichzeitig zu flüstern: Ich bin eine Frau. Hört ihr mich brüllen? Ich trug mein Lieblingskostüm, die perfekte Kleidung für ein Foto der Kongress-mitarbeiter auf den Stufen des Kapitols.

Die Papiere, die über den Marmorboden segelten, standen in einem krassen Widerspruch zur ambitionierten Wahl meiner Kleidung. Sie ver-kündeten laut und deutlich: Diese Frau ist eine Idiotin.

„Hier sieht es ja aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.“ Die freundli-che, tiefe Baritonstimme war nicht gerade das, was ich im Moment brau-chen konnte. Und genauso unerwünscht waren ihre Worte. Scherze über Bomben auf dem Capitol Hill zeugen grundsätzlich von einem schlechten Geschmack, auch am frühen Morgen, wenn die Touristen noch nicht wie Heuschreckenschwärme über das Gelände hereinbrechen.

„Ich habe alles unter Kontrolle“, antwortete ich knapp und vielleicht ein wenig frostig. Ich reagierte immer noch höchst sensibel darauf, dass ich es möglicherweise dem Einfluss meines Vaters verdankte, dass ich die Stelle als Rechtsassistentin im Büro eines führenden Kongressabgeordne-ten bekommen hatte. Ich bewegte mich in der Hocke zur Seite, rutschte auf dem glatten Boden fast aus und schlug dann mit der Hand auf fünf Blätter des umfangreichen Gesetzesentwurfs für saubere Energie, der jetzt mit gelben Korrekturfähnchen und gekritzelten Notizen am Rand über-sät war und überarbeitet, mühsam Korrektur gelesen und kopiert werden musste. Jetzt würde ich auch noch alles von Hand sortieren müssen, bevor ich mit der Bearbeitung anfangen konnte.

Ein Windstoß wehte durch den Flur – eine Folge der Renovierungs-arbeiten im Gebäude – und ich hörte, wie die Papiere durch den weiten Schlund der großen Rundhalle segelten. Eine einsame Kirschblüte schlug in einem surrealen Zeitlupentempo neben mir einen Salto. Zwei Män-ner in dunklen Anzügen, die in ein angeregtes Gespräch vertieft waren, machten einen Bogen um mich, als wäre ich unsichtbar. Ein Blatt Papier

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wurde in die Luft geweht und blieb hinten an meinem Rock kleben. Ich griff danach und spielte ein seltsames Verrenkspiel, bei dem ich mit einer Hand die Papiere auf dem Boden festhielt und mit der anderen versuchte, das Papier zu fassen, das an mir klebte. Meine Finger schlossen sich im selben Moment darum, in dem ein weiteres Blatt an mir vorbeisegelte. Schnell nagelte ich es unter meinem zweiten Fuß fest.

„Bleiben Sie einen Moment so stehen.“ In der Stimme des Mannes lag ein freundliches, leises Lachen. Ich versuchte, seinen Akzent zuzuordnen. Vielleicht Michigan, möglicherweise auch New York. Er könnte auch Ka-nadier sein. Seine Stimme klang nett. Herzlich und gefühlvoll. Fast musi-kalisch. Er bückte sich und sammelte die verstreuten Papiere ein, die ich auf dem Boden festhielt. Ich malte mir aus, welches Bild er vor sich sah: Eine brünette Frau in einem engen Rock, die sich wie eine Riesenspinne auf dem Boden verrenkte.

Mir ging durch den Kopf, dass der Gesetzesentwurf frisch aus einer Besprechung kam und definitiv nicht für fremde Augen bestimmt war. Streng genommen, war es meine Aufgabe, ihn zu schützen, und wenn der eigene, gerade erst pensionierte Vater sein Leben lang als Lobbyist gearbeitet hat, weiß man, dass immer Leute herumschnüffeln und auf eine undichte Stelle hoffen. „Nein, nicht nötig. Ich habe alles unter Kon-trolle“, beharrte ich.

„Das sehe ich.“ Er zog die Papiere unter meinem Fuß hervor, schob sie zu einem Stapel zusammen und ging dann in die Hocke, um die Blätter auf den Boden zu klopfen, damit die Kanten ordentlich aufeinanderlagen. Als er sie mir reichte, schaute er mich an und lächelte dabei. Genauso wie in diesen alten Schwarzweißfilmen hörte plötzlich die Welt auf, sich zu drehen. Ich hörte das ansteigende Crescendo der Geigen und Bläser, die im Kino eine solche Szene untermalen.

Daniel Webster Everson – ja, so hieß er tatsächlich, auch wenn ich das in diesem Moment noch nicht wusste – hatte die schönsten grünen Au-gen, die ich je gesehen hatte. …

Er reichte mir die Blätter, joggte durch die Halle, um den Rest ein-zusammeln, und reichte sie mir mit einem Lächeln, während ich mich wieder aufrichtete und versuchte, meine schmollende Unterlippe nach oben zu schieben. Ich suchte nach einer intelligenten Bemerkung, nach einem klugen Spruch, der verraten würde, dass diese Ungeschicklichkeit

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nur ein Ausrutscher war. Ich war keine dümmliche Büroassistentin, die nur wegen ihrer attraktiven Erscheinung und der umwerfenden Figur, die sie in einem engen Rock und in eleganten Schuhen machte, eingestellt worden war.

Aber ich brachte nicht mehr als ein „Danke“ über die Lippen. Ich merk-te, dass ich plötzlich rot wurde, und das sollte etwas heißen bei einer vierunddreißigjährigen Frau, die mit dem Leben in der Großstadt bestens vertraut war und die jegliche Beziehungen zu Männern auf Eis gelegt hatte, um sich auf ihre politischen Ziele zu konzentrieren. Der zu diesem Zeitpunkt namenlose barmherzige Samariter war nicht der attraktivste Mann, den ich je gesehen hatte, wenigstens nicht im Sinne von männ-lichen Models in Werbekatalogen, aber trotzdem … passierte etwas. Ein Feuerwerk wurde entzündet, hätte meine Urgroßmutter wahrscheinlich gesagt. Mallory, hatte sie mich immer ermahnt und mit ihrem knorri-gen Omafinger auf mich gedeutet. Eine kluge Frau begnügt sich nicht mit irgendeinem Mann, nur um einen Mann zu haben. Das ist, als kaufe man Schuhe, nur weil sie billig sind. Wenn sie dir nicht passen, hast du nichts davon.

Du musst auf ein Feuerwerk warten.Uroma Louisa stammte aus der heiligen Stadt Charleston in South Ca-

rolina. Sie war die Einzige in der Familie, die aus den Südstaaten kam und allen anderen immer ein wenig ein Rätsel blieb. Sie liebte Plattitüden, die mit feuchten Augen vorgetragen wurden. In ihrem langgezogenen, behäbigen Südstaatenakzent klangen sie entzückend und süß wie Pfirsich-marmelade oder Honigbutter. Sie glaubte an Feuerwerke und daran, dass Menschen füreinander bestimmt waren.

Ich hatte diese Vorstellung immer für reizvoll, aber leider überholt ge-halten. Das änderte sich allerdings an dem Tag, an dem ich Daniel Webs-ter Everson kennenlernte. Wie ein aufgeregter Schmetterling, der in ei-nem Netz gefangen ist, flatterte mein Herz. Ich überlegte flüchtig, ob er das wahrnehmen konnte. In diesem Moment über dem chaotisch ver-zettelten Gesetzesentwurf für saubere Energie hatte ich das Gefühl, dass wir durch eine unsichtbare Macht, die wir beide zwar spürten, aber nicht sahen, zueinander hingezogen wurden. Er fühlte es. Ich wusste einfach, dass er es auch fühlte.

Doch dann zerschmetterte er meine ganzen Fantasiegespinste mit ei-

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nem einzigen, brutalen Schlag. Seine Armbanduhr – eines dieser hässli-chen, dämlichen Plastikdigitalteile mit tausend Tasten und Funktionen – piepste plötzlich. Er warf einen Blick auf die Uhr, lächelte freundlich, wünschte mir viel Glück und verschwand aus meinem Leben. Und ließ mich einfach stehen, leicht spreizfüßig und völlig sprachlos.

Ich stolzierte davon, jonglierte den Gesetzesentwurf wie ein unruhiges Baby auf den Armen und wusste nicht genau, ob ich mich abgelehnt oder vom Schicksal auf den Arm genommen fühlen sollte. Oder beides.

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Karen Witemeyer

Volldampf voraus!

ISBN 978-3-86827-518-6

283 Seiten, Paperback

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im Juli 2015

Texas 1851Der Unternehmer Darius Thornton hat seit einem schrecklichen Schiffs-unglück nur noch einen Wunsch: die Schifffahrt sicherer zu machen. Dazu führt der zurückgezogen lebende Unternehmer gefährliche Experi-mente an brodelnden Kesseln durch. Für seine Berechnungen braucht er dringend einen Sekretär.

Als einzige Tochter und Erbin von Renard Shipping steht die pfiffige Ni-cole Renard, die schon immer Spaß am Rechnen hatte, vor der Aufgabe, ihrem Vater einen würdigen Ehemann zu präsentieren. Als sie aufgrund widriger Umstände plötzlich völlig mittellos dasteht, entdeckt sie eine vielversprechende Stellenanzeige.

Es dauert nicht lange, bis die Funken sprühen und es heißt: Volldampf voraus!

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… Es war zu früh, um aufzugeben. Sie konnte es immer noch schaffen. Alles, was sie brauchte, war Arbeit.

Aushilfe gesucht. Nicole blinzelte, als sie den kaum lesbaren Zettel hin-ter dem Schalter des Postangestellten entdeckte. Sie atmete tief ein und drückte schamlos ihr Gesicht gegen das Glas, um besser sehen zu kön-nen. Tatsächlich. Dort hing ein Aushang. Mehrere sogar. Manche alt und verblichen, einige neu und gut lesbar.

Es war die schönste Wanddekoration, die sie je gesehen hatte.Ihr Hunger war vergessen, sie sprang von der Bank auf und auf die Tür

zu. Im letzten Moment dachte sie daran, ihren Rock glatt zu streichen und die Ärmel zurechtzuzupfen.

„Guten Tag.“ Der Mann hinter dem Schalter legte die Papiere beiseite, die er gerade sortierte, und lächelte sie an.

„Hallo.“ Nicole nickte. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir die Stellenangebote dort anschaue?“

„Machen Sie nur, aber ich glaube nicht, dass Sie dort etwas Geeignetes fin-den.“ Er schob seine Brille zurecht und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Nicole ging an ihm vorbei und besah sich die Rückwand. Ob die Stel-lenangebote geeignet waren, lag im Auge des Betrachters. Und ihre Augen waren verzweifelt.

Ihr Blick flog über die erste Anzeige. Sägewerksmitarbeiter. Nicht ge-rade das, was man mit einem ausladenden Kleid machen konnte. Land-arbeiter. Eher nicht. Es wurden auch Arbeiter für den Schlachthof ge-sucht. Die Getreidemühle musste repariert werden. Nicoles Herz schlug schmerzerfüllt in ihrer Brust. Es musste doch etwas geben, wofür Verstand gebraucht wurde und nicht Muskelkraft oder handwerkliches Geschick.

Viehtreiber. Kutschfahrer. Fährmann.Zornestränen traten ihr in die Augen. Nein. Nein. Nein! Es musste etwas

geben, das sie tun konnte. Es musste einfach.Ihre Suche kam zum Ende, als sie den letzten Zettel las.Gesucht: Sekretär.Sekretär? Nicole riss die Notiz von der Wand. Sie presste sie an die

Brust und sandte ein Dankgebet gen Himmel. Dann las sie die genaueren Informationen. Dort stand, dass der Arbeitgeber einen männlichen Mit-arbeiter suchte, doch die Anzeige schien hier niemanden interessiert zu haben, denn sie war bereits vergilbt. Das könnte ihr in die Hände spielen.

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Sie marschierte zum Schalter. „Entschuldigung? Können Sie mir sagen, wie ich …“, sie warf einen Blick auf den Zettel, „ … nach Oakhaven komme?“

Der Postbeamte sah von seinen Papieren auf, sein Gesicht vor Schreck verzerrt. „Oakhaven? Da wollen Sie nicht hin, Miss. Glauben Sie mir.“

„Doch, das will ich.“ Nicole schenkte ihm ihr bestes Gutsherrinnen-Lächeln. „Und da Sie mir nicht weiterhelfen wollen, werde ich mir wohl jemand anderen suchen müssen.“

„So ist das ja gar nicht. Ich kann Ihnen schon sagen, wo Sie hinmüs-sen.“ Er nahm seine Brille ab und fing an, die Gläser an seiner Weste zu reinigen. „Es ist nur so, dass ich Ihnen diese Arbeitsstelle nicht empfehlen kann. Nicht mit gutem Gewissen.“ Er beugte sich vor. „Er ist verrückt, Miss. Wenn Sie dort hingehen, riskieren Sie Ihr Leben.“

Sie wischte seine Bedenken beiseite. „Warum sollte ein Verrückter einen Sekretär suchen? Sie übertreiben.“

„Nein, Ma’am.“ Er schüttelte vehement den Kopf. „Der Mann ist vor über einem Jahr auf diese leer stehende Plantage gezogen und seitdem hat er nie auch nur einen Quadratmeter davon beackert. Wenn Sie mich fragen, hat er nichts getan, um einen ehrlichen Lebensunterhalt zu verdie-nen. Alles, was er tut, ist Dinge in die Luft zu jagen. Keiner der Händler möchte noch bis auf das Grundstück liefern, seit einer wegen herumflie-gender Metallteile einmal fast sein Bein verloren hätte. Eine Dame wie Sie würde er bei lebendigem Leib verspeisen.“

Das hörte sich wirklich bedenklich an, doch sie konnte nicht wählerisch sein. Das war vielleicht ihre einzige Chance auf eine Anstellung. Nicht die Zeit, um zimperlich zu sein.

„Ich werde es einfach versuchen“, sagte sie und hob ihr Kinn. „Wenn Sie mir jetzt bitte den Weg dorthin aufschreiben würden?“ Nicole legte die Anzeige vor ihm auf den Tisch und lächelte ihn mit einem Gesichts-ausdruck an, der klar machte, dass er besser nicht mehr widersprach.

Der Mann starrte sie lange Zeit an, dann zuckte er mit den Schultern und nahm den Bleistift hinter seinem Ohr zur Hand. „Ihre Sache.“ Er kritzelte einige Sätze auf die Anzeige. „Aber sagen Sie nachher nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.“

„Tue ich nicht.“ Nicole lächelte immer noch, als sie den Zettel wie-der von ihm entgegennahm. Dann verstaute sie ihn in ihrer Handtasche, winkte zum Abschied und ging zurück zur Pension.

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Sie hatte den Postangestellten davon überzeugt, ihr die Adresse zu ge-ben, jetzt musste sie nur noch einen Verrückten davon überzeugen, eine Frau als Sekretär anzustellen, bevor er sie in Stücke riss.

* * *

Darius Thornton legte das Journal aus der Hand und rieb sich die Au-gen. Wieder einmal war er die ganze Nacht wach gewesen. Hatte gelesen. Nachgeforscht. Sich Notizen gemacht. Er kratze sich durch seinen Drei-tagbart am Kinn und blickte finster drein. Er zog seine Schreibtischschub-lade auf, nahm sein Notizbuch hervor und fing an, Ideen für ein Expe-riment mit Dampfkesselplatten niederzuschreiben. Immer wieder sah er sich dabei seine an den Rand gekritzelten Notizen an und versuchte, sie zu entziffern.

Mist. Er konnte nicht einmal seine eigene Schrift lesen. Vor zwei Wo-chen hatte er eine Anzeige für einen Sekretär aufgegeben. Warum hatte sich bisher niemand beworben? Es war mehr als frustrierend.

Plötzlich öffnete sich die Tür und Wellborn, sein Butler, trat ein. „Sie haben einen Besucher, Sir.“

„Einen Besucher?“ Seit Monaten war kein Nachbar mehr hier gewesen, um mit ihm zu plaudern.

Wellborn hob nicht einmal die Augenbraue. „Ihr Besucher ist ein Be-werber. Auf die Position des Sekretärs, die Sie vor einigen Wochen ausge-schrieben hatten, denke ich.“

Hastig lief Darius auf den Butler zu. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Mann? Das ist die beste Nachricht seit Tagen. Schicken Sie ihn sofort rein.“

Wellborns Blick wanderte von Darius‘ ramponiertem Haar über sein unrasiertes Kinn bis hin zu seiner zerknitterten Kleidung. „Vielleicht möchten Sie sich vorher noch einmal frisch machen, Mr Thornton?“

Darius schüttelte den Kopf. „Es ist Eile geboten, Wellborn. Führen Sie den Bewerber hinein.“

Wellborn machte den Mund auf, wie um zu widersprechen, hielt inne, dann schloss er ihn wieder. „Das tue ich.“ Er beugte leicht den Kopf.

Darius sah dem untadelig gekleideten Mann hinterher. Für seinen Ge-schmack war die Menschheit viel zu sehr mit belanglosen Oberflächlich-

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keiten beschäftigt. Welchen Unterschied machten ein Stoppelbart und zerknitterte Kleidung, wenn anderswo Menschen wegen explodierender Kessel starben? Trotzdem nutzte er den Moment, um sich sein Hemd in die Hose zu stecken.

„Ihr Bewerber, Mr Thornton“, kündigte Wellborn gewichtig an. „Miss Nicole Greyson.“

Miss? Darius wirbelte herum und sah sich einer jungen Frau gegenüber, die sein Butler gerade hereingeleitete. Ihr weinrotes Kleid war nach neu-ester Mode geschnitten, umspielte ihre schlanken Schultern und betonte ihre schmale Taille, bevor es sich in Richtung Boden ergoss. Der Strohhut, den sie trug, rahmte ihr Gesicht ein und bändigte die braunen Locken. Sie lächelte ihn unsicher an, während ihre goldbraunen Augen ihn musterten.

Sie war die lieblichste Frau, die er je gesehen hatte. Und die am wenigs-ten geeignete Bewerberin, die er sich hätte vorstellen können.

* * *

Nicole brauchte einen Augenblick, um sich von dem Schock zu erholen, als sie ihren zukünftigen Arbeitgeber in einem derartig … derangierten Zustand sah. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt und entblößten seine muskulösen Unterarme, der Kragen stand offen, die Augen waren rot gerändert, dunkle Bartstoppeln zierten seine Wangen und das blonde Haar stand wild ab, als habe er seinen einzigen Kamm verloren.

Vielleicht war er wirklich verrückt. Zum Glück hatte sie einen falschen Nachnamen genannt. Wenn man dem Postbeamten glauben konnte, mieden die Stadtbewohner die Plantage ohnehin.

„Miss Greyson.“ Der Mann verbeugte sich in einer galanten Bewegung, die in jedem Bostoner Salon hätte zu Hause sein können.

Vielleicht war er nur nachlässig und nicht verrückt. Mit Nachlässigkeit konnte sie umgehen. „Mr Thornton.“ Nicole nickte und lächelte ihn an. „Ich habe gehört, dass Sie eine Sekretärin suchen. Ich bin hier, um Ihnen meine Dienst anzubieten.“

„Nun, ich fürchte, Ihre Dienste sind nicht das, was ich mir vorgestellt habe.“ Er beäugte ihre Kleidung, als würde diese ihm alles über Nicole verraten, was er wissen musste. „Es tut mir leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, aber ich brauche niemanden, der mir feierliche Anlässe

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und Kaffeekränzchen mit meinen Nachbarn organisiert. Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“ Er winkte in Richtung Tür. „Mein Fahrer wird Sie zurück in die Stadt bringen.“

Seine Zurückweisung brachte Nicole auf die Palme. Wie konnte er es wagen, ihre Fähigkeiten anzuzweifeln, nur, weil sie vernünftig gekleidet war? War es ein Vergehen, sich für ein Vorstellungsgespräch herauszuput-zen?

„Vielleicht hätte ich in zerknitterten Hosen und mit zerzaustem Haar bei Ihnen erscheinen sollen – eine Aufmachung, die Sie zu bevorzugen scheinen –, um von Ihnen ernst genommen zu werden und Sie in einem Gespräch von meinen Qualitäten zu überzeugen. Schade.“

Er sah sie überrascht an, dann runzelte er die Stirn und wandte sich ab. „Meine Zeit ist zu wertvoll, um sie mit Höflichkeiten zu vergeuden, Miss Greyson.“

Nicole hob ihr Kinn und trat so dicht an ihn heran, dass ihre Röcke seine Schuhe berührten. „Ich will, dass Sie wissen, Mr Thornton, dass ich im Umgang mit Mathematik sehr versiert bin, Algebra und euklidische Geometrie eingeschlossen. Mein Vater hatte, zu seinem großen Bedauern, keinen Sohn, also gab er sein Geschäftswissen an mich weiter. Anstatt Romane zu lesen wie die anderen Mädchen, habe ich Ladungsvermerke und Kontobücher studiert. Ich gebe zu, dass ich nur rudimentäres Wissen über Wissenschaft und Mechanik habe, aber ich lerne schnell, kann lo-gisch denken und mich schnell in jedes beliebige Thema einlesen. Geben Sie mir die Chance, Ihnen meinen Wert zu beweisen. Wenn ich Ihren Er-wartungen nicht entspreche, können Sie mich immer noch wegschicken und ich werde ohne ein Wort des Widerspruches verschwinden. Aber wenn ich mich als fähig erweise, dann … nun, dann haben wir beide, was wir wollten. Sie haben eine Sekretärin und ich habe eine Anstellung. Ich bin mir sicher, dafür lohnen sich ein paar Momente Ihrer ach so kostbaren Zeit.“

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Elizabeth Musser

Operation Hugo

ISBN 978-3-86827-514-8

413 Seiten, gebunden

Format 13,5 x 20,5 cm

erscheint im Juli 2015

Algerien 1962, kurz vor der Unabhängigkeit. Tausende Algerienfranzosen verlassen Hals über Kopf das Land. Auch die algerischen Araber, die auf der Seite Frankreichs gestanden haben, müssen um ihr Leben fürchten. Der Amerikaner David setzt sich vor Ort für die Rettung der Flüchtenden ein. Unterdessen kämpft seine Freundin Gabriella in einem südfranzösi-schen Waisenhaus für die Integration der Kinder aus Algerien … und ge-gen ihre Eifersucht. Denn auch Davids frühere Freundin Anne-Marie hat in dem Waisenhaus Zuflucht gefunden. Während die Geheimoperation Hugo sie alle in größte Gefahr bringt, fragen sich Gabriella, Anne-Marie und David, was die Zukunft wohl bringen wird.

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März 1962Castelnau, Südfrankreich

Mohnblumen übersäten wie leuchtend rote Blutstropfen die Wiesen und Felder hinter Castelnau. Beim Anblick der zarten Blumen atmete Gabri-ella Madison tief ein. Lebensblut und ewige Hoffnung.

Sie schloss die Augen und ihr Herz schlug höher. Mohnblumen erin-nerten sie an David. Mohnblumen erinnerten sie an ihre Liebe zu ihm. Aber er war jetzt in Algerien. Vielleicht hatte er sogar schon Ophélies Mutter, Anne-Marie, gefunden. Gabriella wünschte sich so sehr, dass er jetzt neben ihr stünde.

Ophélies Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Bribri, glaubst du, Papa und Mama kommen heute zurück?“

Gabriella schüttelte den Kopf und ihre roten Haare schimmerten wie die Farbe der Abendsonne auf einem Fluss. „Heute noch nicht, Ophélie. Aber sehr bald.“

Saßen sie in dieser Minute zusammen und lachten miteinander? Ließen sie alte Zeiten Revue passieren und erzählten sich, was sie in den letzten sieben Jahren, die sie getrennt gewesen waren, erlebt hatten? Erklärte Da-vid ihr, was hier im verschlafenen Castelnau passiert war? Hatte er Gabri-ellas Namen überhaupt erwähnt?

Sie unternahmen einen Spaziergang, Gabriella und eine ganze Kinder-schar. Jetzt waren sie am Ortsrand von Castelnau angekommen und vor ihnen breiteten sich die Felder, Wiesen und Weinberge aus. Die Kinder folgten brav paarweise ihrer jungen Maîtresse, hielten sich an den Hän-den und plapperten aufgeregt. Gabriella warf einen Blick ans Ende der Gruppe und sah Schwester Rosaline, die etwas außer Atem war und mit rot glühendem Gesicht winkte.

„Es sind alle da“, rief die Nonne fröhlich in ihrem melodischen Franzö-sisch. „Alle dreiundvierzig.“

Gabriella winkte zurück und lächelte die Kinder an. „Wollt ihr noch ein wenig weiter gehen? Wir sind gleich am Park.“

Ein einstimmiges „Oui, Maîtresse“ war die Antwort. Und so gingen sie auf einem schmalen Feldweg weiter zu einer Wiese, die von großen Zypressen umgeben war. Am hintersten Ende der Wiese befanden sich mehrere Wippen, einige Klettergerüste und eine alte Schaukel.

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Ophélie ließ ihre Freunde allein weiterspielen und kam zu Gabriella gelaufen.

„Bribri“, begann das Kind und spielte mit Gabriellas langen, roten Lo-cken. „Wie wird es sein, wenn Mama, Papa und du hier zusammen seid?“ Sie zog die Nase kraus und schaute sie mit ihren leuchtenden, braunen Augen ernst an.

Gabriella räusperte sich und strich Ophélie über die Haare. „Das wird ein wunderbares Wiedersehen sein, Ophélie. Eine Gebetserhörung.“

„Und für wen wird Papa sich entscheiden? Für dich oder für Mama? Und bei wem werde ich wohnen?“

Gabriella ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit dem kleinen Mäd-chen zu sein. Sie hoffte, ihre Stimme klang fröhlich und unbeschwert. „Liebe Ophélie, dein Papa wird sich nicht für deine Mama oder mich ent-scheiden. Er wird sich für dich entscheiden! Er wird dich in die Arme neh-men und durch die Luft wirbeln und im ganzen Waisenhaus wird man dein Lachen hören. Mach dir keine Sorgen. Dazu gibt es keinen Grund.“

Ich sollte diesen Rat selbst auch befolgen, dachte Gabriella, während sie Ophélie liebevoll über den Rücken strich und sie wieder zum Spielen schick-te. Vor zwei Tagen hatte David Hoffmann sie zum ersten Mal geküsst, wirk-lich geküsst, und dann war er zu einer humanitären Mission in ein Land aufgebrochen, in dem Wahnsinn und Chaos herrschte. Aber sie wollte sich nicht zu lange mit solchen Gedanken aufhalten, denn die möglichen Szena-rien waren zu beängstigend. Sie wollte lieber an die Kinder denken.

MarseilleDavid Hoffmann stand im Hafen im Stadtteil Joliette in Marseille. Zwi-schen den riesigen Passagierschiffen, den Paquebots, und den Dampfern entdeckte er ein vergleichsweise kleines, schwarzweißes Segelschiff. Das Deck der Capitaine war bis auf einen vom Wetter gegerbten, alten Fran-zosen, der am Steuerruder stand, verlassen.

Der Pier war mit Familien übersät, die mit Truhen und Koffern von den Fähren und Schiffen an Land gingen. Erwachsene und Kinder sahen gleichermaßen verwirrt, traurig und hoffnungslos aus. David schüttelte frustriert den Kopf. Ein einziges kleines Waisenhaus in Südfrankreich, das eine Handvoll Pied-Noir- und Harki-Kinder beherbergte, war nur

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ein Tropfen auf den heißen Stein. Diese Menschen waren französische Staatsbürger, aber wohin sollten sie gehen? Wollte Frankreich sie? David wusste die Antwort. Nein.

Er betrat leichtfüßig die Capitaine und begrüßte den rauen Seemann mit einem kräftigen Händedruck.

„Bonjour“, antwortete Jacques. „Sind Sie sich sicher, dass Sie nach Alge-rien zurückwollen? Die Situation dort ist schlimm und sie wird mit jedem Tag schlimmer.“

„Ja, ich bin mir sicher. Ich muss dorthin.“Jacques senkte den Blick. „Ich kann nicht nach Algier fahren, M. Hoff-

mann. Ich kann nirgends anlegen. Die Fähren nehmen den ganzen Platz ein. Tausende Pieds-Noirs fliehen schneller aus Algerien, als der Mistral die Rhône hinaufweht. Wenn Sie wirklich unbedingt zurückwollen, rate ich Ihnen, eines der großen Passagierschiffe zu nehmen. Das ist viel siche-rer und ich garantiere Ihnen, dass Sie einen freien Platz finden werden. Niemand fährt freiwillig nach Algerien zurück.“

David runzelte die Stirn und dachte über die Worte des Seemanns nach. Dann zuckte er die Achseln. „Das verstehe ich, Jacques. Danke für Ihre große Hilfe. In Castelnau befinden sich mittlerweile viele Kinder, die Ih-nen sehr dankbar sind.“

Die zwei Männer gaben sich die Hand. „Bonne chance, M. Hoffmann. Passen Sie gut auf sich auf. In diesem

Land herrscht der Wahnsinn. Der blanke Wahnsinn.“

David stand auf dem Deck einer riesigen, menschenleeren Fähre. Sei-ne große, schlanke Silhouette stach vom Nachthimmel ab. Der Wind peitschte über das Meer. Seine Haare wurden nach hinten geweht, sei-ne Augen waren wegen des Windes zusammengekniffen und seine Jacke blähte sich im Luftzug auf.

Mit seiner unverletzten Hand umklammerte er die Reling, während sein anderer Arm fest verbunden in einer Schulterschlinge unter seiner Jacke verborgen war.

Die Schaumkronen auf den Wellen schienen den Himmel berühren zu wollen und tausend Sterne funkelten, als wollten sie mit dem Ozean flirten. Die Meeresluft roch frisch und kräftig. Einen kurzen Moment

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wünschte er, Gabriella stünde neben ihm, aber dann verdrängte er diesen Gedanken wieder.

Er war noch vierundzwanzig Stunden allein, bevor er eine Welt betreten würde, die vom Chaos beherrscht wurde. Diese Nacht brauchte er drin-gend, um sich darauf vorzubereiten. Der Anblick vor ihm erinnerte ihn an eine Nacht am Strand vor einem Monat. Als „Nacht der Kapitulation“ bezeichnete er sie in Gedanken. Die Nacht, in der er vor Gabriellas Gott kapituliert hatte.

Er konnte nicht leugnen, dass sich etwas in ihm verändert hatte. In jenem Moment hatte er tatsächlich gefühlt, dass ihm vergeben war. Dar-über hinaus waren in letzter Zeit so viele seltsame Zufälle geschehen, dass er ohne jeden Zweifel wusste, dass Gott mit seinem Leben etwas vorhatte. Er war fünfundzwanzig, aber irgendwie war er ein neuer Mensch gewor-den. Wie neu geboren. Er hatte ein anderes, ein neues Gewissen. Jemand war bei ihm, das spürte er. Und er hatte den Verdacht, dass er diesen Gott jetzt nicht mehr loswerden würde, selbst wenn er es wollte.

AlgierKugelhagel erscholl in der Straße unterhalb des Gebäudes, in dem Anne-Marie Duchemin bei einem anderen Pied-Noir, Marcus Cirou, Unter-schlupf gefunden hatte. Sie sah, wie Moustafa einen jungen Mann eilig in ihr Haus führte, und humpelte schnell zum Spiegel, der an der abblät-ternden Wand hing. Eine schmerzliche Verzweiflung regte sich in ihr, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Ihre schwarzen Haare hingen offen über ihre Schultern. Beim Anblick ihrer vorstehenden Wangenknochen, die ihre tief in den Höhlen sitzenden, trüben Augen betonten, wand sie sich innerlich. Ihre Haut sah blass und fast gelblich aus. Sie wandte sich ab.

Ein dicker, grauer Pullover hing unansehnlich über ihrem dünnen Kör-per, aber sie fühlte sich völlig nackt. David Hoffmann würde wieder in ihr Leben treten und sie war nicht dazu bereit. Ihr Herz gehörte Moustafa. Bei ihm hatte sie keine Angst, wenn sie krank war und schlecht aussah. In seinen Augen sah sie eine tiefe Liebe. Aber David, ihrem Liebhaber aus lange vergangenen Tagen, wollte sie so eigentlich nicht unter die Augen treten.

Plötzlich bekam sie Angst. Er riskierte sein Leben und opferte seine

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Zeit, um ihr zu helfen. Warum? Würde er wütend werden, wenn er sah, was aus ihr geworden war? Eine mitleiderregende, verwelkte Blume …

Die Tür schwang auf. David stand im Türrahmen und erstarrte. An-ne-Marie schluckte schwer und erwiderte seinen Blick. Seine ein Meter fünfundachtzig große Gestalt war muskulöser geworden und er war un-übersehbar zu einem Mann herangewachsen. Seine dunklen Augen wa-ren sanfter, als sie sie in Erinnerung hatte. Die Zärtlichkeit, die sie darin entdeckte, jagte ihr noch mehr Angst ein. Seine schwarzen Haare waren aus seinem Gesicht gekämmt, aber eine Strähne hing ihm in die Stirn. Er hatte eine schwarze Lederjacke lose über seine Schultern gelegt. Als er sich vorbeugte, um einen Koffer auf den Boden zu stellen, fiel ihr sein verbundener Arm auf. Er richtete sich auf, trat aber nicht vor, als warte er auf ihre Einladung.

Sein Mund flüsterte tonlos: „Anne-Marie.“Oh, du bist ein schöner Mann, dachte sie, während sie Mühe hatte,

stehen zu bleiben, und den Wunsch unterdrückte, sich in seine Arme zu werfen. Sie zwang sich, die letzte Umarmung vor sieben Jahren zu ver-drängen. Damals hatte er sie zum Abschied geküsst, während Ophélie bereits in ihr herangewachsen war, ohne dass sie etwas davon geahnt hatte.

David räusperte sich. „Anne-Marie.“ Er sagte ihren Namen fast ehr-fürchtig, dann ging er mit großen Schritten langsam auf sie zu. Er berühr-te ihre zerbrechliche Hand, dann strich er über ihr Gesicht. „Meine liebe Anne-Marie.“

Sie hörte die Traurigkeit und den Schmerz in seiner Stimme – das Mit-gefühl, weil sie litt. Sie biss sich auf die Lippe und schloss die Augen, aber sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und ließ sich von seinem starken Arm festhalten, während sie wie ein verängstigtes Kind, das endlich gerettet worden war, schluchzte.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie die letzten sieben Jahre vorüberziehen, Jahre des Schreckens und des Todes, des Tötens und Laufens um ihr Le-ben. Die Jahre, die den glücklichen Momenten mit David gefolgt waren. Wenn nur … wenn nur … Die Fragen der letzten Jahre meldeten sich mit großer Wucht, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Ihre ohne-hin schon geringe Energie war aufgebraucht. Doch obwohl sie kein Wort herausbrachte, hatte sie das Gefühl, dass David Hoffmann ganz genau verstand, was sie fühlte.

L e s e p r ob e nr o m a n e

In den Leseproben enthalten:

ISBN 978-3-86827-519-3 ISBN 978-3-86827-520-9 ISBN 978-3-86827-515-5 ISBN 978-3-86827-516-2

ISBN 978-3-86827-517-9ISBN 978-3-86827-513-1 ISBN 978-3-86827-518-6 ISBN 978-3-86827-514-8