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Neustart Schweiz So geht es weiter P.M.

Neustart Schweiz

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So geht es weiter ­ mit lebendigen Nachbarschaften zur 1000-Watt-Gesellschaft

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Neustart SchweizSo geht es weiter

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P.M.

Neustart Schweiz

So geht es weiter

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P.M.

Neustart Schweiz – So geht es weiter

1. Auflage November 2008

ISBN: 978-3-033-01779-5

Umschlag und Illustrationen: Kaspar Flueck, Biel

Lektorat: Barbara Lehmann, Bern

Typographie: Zeitpunkt, Solothurn

Druck: Baldegger, Winterthur

© 2008 edition Zeitpunkt, Drosselweg 17, CH-4500 Solothurn

www.zeitpunkt.ch

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Neustart SchweizSo geht es weiter

P.M.

Die nächste Schweiz

Edition

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Inhalt

Vorwort 7

Einleitung 9

Wir brauchen einen «New Deal» 13

Unser globaler Haushalt 31

Das Territorium Schweiz 41Nachbarschaft 43Mikro-Agro 52Basisgemeinde 57Metropole, agro-urbane Region 61Verkehr 66Territorium Schweiz (Territorium Helveticum) 69Bildung für alle: die territoriale Akademie 74Eine Armee für internationale Einsätze 79Einwandernde aus anderen Territorien 81Europa – ein subkontinentales Netzwerk 85Der Neustart beginnt hier 88

Bibliographie 90

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Vorwort

Die Zeit für Nachbesserungen an unserer Gesellschaft läuft langsam aus. Zum einen machen immer mehr Menschen die Erfah-rung, dass es sich dabei um Verschlimmbesserungen handelt, die an anderer Stelle teuer zu bezahlen sind. Zum anderen zeigt die jüngste Geschichte, dass selbst Tausende von Milliarden Dollars für eine eini-germassen sichere wirtschaftliche Basis nicht genügen.

Es reicht also nicht mehr, die Dinge etwas besser zu machen, wir müssen anders an sie herangehen. P.M. ist nicht der erste Autor mit diesem Ansatz. Aber im Gegensatz zu den vielen Abhandlungen über bessere Zukünfte setzt er dort an, wo das Zusammenleben mit anderen Menschen, die Gesellschaft an sich, beginnt: in der Nachbar-schaft. Anstatt sie auf Treppenhausgespräche und ein gelegentliches Quartierfest zu beschränken, gibt er ihr eine wirtschaftliche Funktion und eine politische Rolle.

«Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen», sagt der Volksmund. Ich denke, das gilt nicht nur für Kinder, sondern für uns alle. Ohne echte Verwurzelung am Ort, wo wir leben, können wir die multikulturelle Aufmischung und die wirtschaftliche Entgrenzung, die wir derzeit erleben, gar nicht verarbeiten.

«Neustart Schweiz» orientiert sich ideologiefrei am Konkreten, er skizziert Strukturen, die für den erforderlichen gesellschaftlichen Konsens viel weniger Politik benötigen und er gibt dem Menschen das zurück, was ihm vermutlich am meisten fehlt: Freiheit.

Weil P.M. als Autor unbestrittene Langzeitwirkung hat – die einmalige Zürcher Siedlung «Kraftwerk1» ist eine Spätfolge seines «bolo’bolo» von 1983 – und weil sich sein «Neustart Schweiz» so wohl-tuend von all den Appellen und gesellschaftlichen Rezeptsammlun-gen abhebt, haben wir uns entschlossen, daraus ein schönes, kleines Buch zu machen, das in jede Rocktasche passt und das schon beim ersten Griff signalisiert: Das darf und soll unter die Haut gehen.

Christoph Pfluger, Herausgeber

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EinleitungSo geht es nicht weiter

Die Zeichen, dass es nicht mehr weiter gehen kann wie bis-her, mehren sich. Das Leben geht zwar vorerst noch weiter in seinen gewohnten Bahnen, aber viele alte Sicherheiten erweisen sich als trügerisch, und es zeichnen sich grosse Veränderungen ab. Noch fah-ren die Autos, aber der Benzinpreis hat sich innerhalb von einigen Jahren verdoppelt. Sogar in den USA steigen die Menschen auf die Bahn um und fahren Velo. Das Einfamilienhäuschen im Grünen und das Shoppingcenter mit Wellnesspark stehen plötzlich abseits. Un-ser Arbeitsplatz, unsere Schulen, unsere Erholungsorte sind weiter von uns weggerückt, zumindest in Benzinfranken ausgedrückt. Am weitesten weggerückt ist alles in den USA, und dort haben sich die Streusiedlungen von Suburbia typischerweise am schnellsten ent-wertet. Zugleich haben jene Banken, die am stärksten in das Auslauf-modell Auto/Suburbia investiert hatten, am meisten Geld verloren. Viele Themen, die früher scheinbar getrennt waren, erscheinen nun in ihrem inneren Zusammenhang. Wenn das Erdöl teurer wird, muss nach anderen Quellen gesucht werden. Eine davon ist die Treibstoff-produktion aus Pflanzen. Neuste Studien zeigen, dass die Benutzung von Agrarland zur Herstellung von Energiepflanzen die Lebensmittel-preise global um 75 Prozent hinaufgetrieben und damit zusätzlich die Spekulation angeheizt hat. Die Lebensmittelpreise steigen, die Milch wird teurer. Am härtesten betroffen davon sind jene achtzig Prozent relativ Armen, denen bisher schon nur zwanzig Prozent der globalen Ressourcen zur Verfügung standen. Die Produktion von Bio-Treibstoff ist zu einem sozialen Sprengstoff, die schon lange schwelende Ernäh-rungskrise zur Hungerkatastrophe geworden. Wenn unsere Autos den Armen die Lebensmittel wegfressen, wie unrecht haben dann Terroris-ten, die dem Westen vorwerfen, die Welt zu zerstören?

Lange nicht gestellte Fragen tauchen wieder auf: Wie werden wir uns in Zukunft ernähren? Wo sollen wir wohnen, wenn Transpor-

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te, auch öffentliche, sich verteuern? Was passiert mit unseren Pen-sionskassengeldern, die letztlich im selben Finanzsystem angelegt sind, das heute in Krise ist? Was geschieht mit unserem Sozialstaat, wenn die Banken keine Steuern mehr zahlen? Wie sicher sind unsere Arbeitsplätze, falls wir überhaupt noch zu ihnen gelangen können?

Unsere gewohnte Lebensweise ist heute in Frage gestellt. Was selbstverständlich war, wird prekär. Das Kartenhaus, das seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in immer hektischerem Tempo aufgebaut worden ist, droht zusammenzufallen. Mehr Kon-sum, mehr Umsatz, mehr Profit, mehr Geschwindigkeit, mehr Ener-gie. Der Kreislauf ist ins Stocken geraten – die Party ist vorbei, und jetzt sehen wir den Abfall und bekommen die Rechnung präsentiert. Es war alles nur eine Blase, ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Das Ganze war nicht nachhaltig, nicht dauerhaft, schlicht nicht zum Aushalten. Für die meisten war es eine Katastrophe, für die wenigen Glücklichen immer noch Stress, Existenzangst und Depression. Es war keine gute Idee.

Eine Umkehr hätte wahrscheinlich nach der ersten «Erdöl-krise» 1973 erfolgen müssen. Schon diese war mehr als eine blosse Energiekrise, es war eine Systemkrise. Die autofreien Sonntage wa-ren noch Volksfeste, eine andere Lebensweise schien noch möglich. Doch dann kam der Rollback, wir verfielen den Versprechungen der neoliberalen Propheten: Eigentum für alle, Egoismus ist gut, Gesell-schaft gibt es nicht, der «Markt» wird es richten. Mahner und Warner wurden als Miesmacher abqualifiziert und überhört. Alles wird gut gehen. Es ging aber nicht gut.

Trotzdem gibt es keinen Grund zur Panik oder zum Pessimis-mus. Die Einsicht in die Unhaltbarkeit der heutigen Lebensweise ist weiter verbreitet denn je. Die Faszination der neoliberalen Propheten und Führer, seien es Bush oder Blocher, ist gebrochen. Der Glaube an die Magie des freien Marktes ist an der Finanzkrise zerschellt.

Die Schweiz, einst eine Insel der Seligen in einer Welt voller Probleme, ist nun mitten im Auge des Sturms. Es sind auch unsere Banken, die sich verspekuliert haben. Das Platzen der Blase wird uns

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genauso treffen wie andere. Wir werden im wahrsten Sinne des Wor-tes wieder auf den Boden zurückgeholt werden. Die letzten (Bauern) werden die ersten sein.

Ich bin fest überzeugt, dass wir diese Krise nicht nur überle-ben werden, sondern dass sie die Bedingung für einen längst fälli-gen Wandel ist. Wir haben die Fähigkeiten, die Ressourcen und den sozialen Zusammenhalt, um einen Neustart auf diesem Territorium – kombiniert mit einem globalen Neustart – zu schaffen. Die alten Ba-byboomer, die Echoboomer und ihre Kinder haben eine breite Palette von Ideen, Netzwerken und Kommunikationsformen entwickelt, um eine neue Gesellschaft möglich zu machen. Wir wissen: Es geht auch anders. Wir haben viele Erfahrungen gesammelt – in Wohngemein-schaften, auf dem Land, in fernen Ländern. Wir wissen, was Zusam-menarbeit alles leisten kann, wie man zusammen wirtschaftet und kocht, wie man improvisiert, wie wichtig es ist, niemanden auszu-grenzen. Wir wissen, dass wir keine Heiligen zu sein brauchen, um zu sehen, dass kurzfristiger Egoismus nicht funktioniert, am wenigsten für die Egoisten selber. Wirtschaft ist nicht Schicksal. Wenn wir die herrschenden Privilegien, Abhängigkeiten und Denkblockaden über-winden, dann können wir den globalen Haushalt so einrichten, dass alle ein gutes Leben führen können. Es hat genügend Lebensmittel, es gibt genug erneuerbare Energien, genug Kreativität – der Planet ist bewohnbar.

Neustart Schweiz ist ein Prospekt für eine gemeinsame Pau-schalreise mit Erlebnisprogramm, diesmal nicht bloss nach Goa oder Kos, sondern in die Zukunft.

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Wir brauchen einen «New Deal»

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Ist die Schweiz überhaupt ein Thema?

7,4 Millionen Menschen aus allen Teilen der Welt haben sich auf einem Stück Land von 44 000 Quadratkilometern Fläche in Mit-teleuropa versammelt. Sie bilden nur 1,15 Promille der Weltbevölke-rung, und ihr Stück Land bietet eigentlich ausser Wasser, Geröll und Gras nicht viel. Dank viel Glück, Fleiss und Findigkeit ist dieses Land zum reichsten, sichersten und stabilsten Staat der Welt geworden – Ranglisten über Lebensqualität und Wohlbefinden werden regelmäs-sig von ihm angeführt. Wir sind also erwiesenermassen das einzige Land der Welt mit null «Reformbedarf». Nicht nur das: Jede falsche Bewegung kann alles kaputt machen. Wir haben allen Grund, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn es die Schweiz offiziell nicht gibt, dann geht es ihr am besten. Wenn die Welt uns entdeckt, dann gibt es Ärger. Wir erinnern uns an die Sache mit den nachrichtenlosen Ver-mögen, an die diversen Konten von dubiosen Machthabern, an die EU, die bemerkt hat, dass es mitten in ihr drin eine Lücke gibt, die vor allem für Steuerhinterzieher interessant ist. Auf solche Pannen reagieren wir mit einer Mischung von Verzögerung, Abwimmelung und möglichst kostengünstiger Beschwichtigung. Dann setzen wir ein paar sympathische Zeichen, etwa mit dem Roten Kreuz, mit «gu-ten Diensten» in der UNO, bei der Katastrophenhilfe – und kommen relativ ungeschoren davon.

Am klügsten wäre es also, von der Schweiz gar nicht zu re-den, sie zu vergessen und still die Vorteile zu geniessen, die man hat, wenn man zufälligerweise hier geboren wurde.

Wir sind arbeitsam, weltoffen und hilfsbereit

Obwohl Thinktanks wie Avenir Suisse immer wieder den Teufel an die Wand malen und uns weissagen, wir riskierten, «hin-ter Österreich» zurückzufallen, geht es unserer Wirtschaft sehr gut. Wir haben die längsten Jahres- und Lebensarbeitszeiten, die höchste Erwerbsquote, die niedrigsten Lohnstückkosten, eine der geringsten Staatsquoten. Wir arbeiten wie verrückt zu praktisch stabilen Löh-

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nen. Während die gefürchteten Österreicher sich spätestens mit sech-zig aus dem Erwerbsleben zum Heurigen zurückziehen und die Itali-ener nach fünfundfünfzig kaum noch einen Finger rühren, arbeiten wir bis fünfundsechzig durch und werden demnächst vielleicht noch ein paar Jahre anhängen.

Es kommt noch besser. Die Schweiz ist ein weltoffenes Land, das geistige Klima ist durchaus angenehm. Es herrscht kein verbohr-ter Nationalismus. Selbstironie, kulturelle Vermischungen, lockerer Hedonismus stehen in grosser Blüte. Viktor Giacobbo ist sozusagen ein Nationalheiliger. Es gibt eine Tradition von Ausbruch und inter-nationalem Engagement. Denken wir an Henri Dunant, der das Rote Kreuz gründete, an Bruno Manser, der sich im Dschungel von Bor-neo gegen die Abholzung wehrte, an zahllose Einzelne, die in armen Ländern Brücken bauen, den HIV-Kranken helfen, Schulen finanzie-ren, Flüchtlinge betreuen oder verstecken, an jenen SVP-ler, der in Kuba eine Hilfsorganisation aufgebaut hat. Wenn bei Katastrophen gespendet werden muss, dann zeigt sich die Schweizer Bevölkerung regelmässig als sehr grosszügig. Nein, die Schweiz ist kein dumpfes, kein besonders egoistisches Land. Und wir nehmen uns nicht ernst ge-nug, um darauf auch stolz zu sein.

Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, das wirklich in der Globalisierung angekommen ist. Nach einigen Schwierigkeiten haben wir akzeptiert, dass sie ein multikultureller, internationaler Ort ist, wo sich unsere eigenen Traditionen mit Einflüssen aus der ganzen Welt verbinden. Schweizer und Schweizerinnen reisen in die ganze Welt, sie sind neugierig, wissen, was los ist, man kann ihnen nichts vorma-chen. Sogar Europa samt der EU ist ihnen zu eng geworden. Vielleicht ist die Schweiz ein Ausblick auf die bessere Welt der Zukunft.

Die gegenwärtige Welt hingegen ist ein einziges Schlamas-sel. Es herrschen Armut, Hunger, Umweltzerstörung, Gewalt. Daran können wir als 1,15 Promille der Weltbevölkerung allerdings nicht viel ändern. Auch wenn wir alles weggäben, das wir haben, wäre das nur ein Tropfen auf einen heissen Stein. Das Resultat wäre bloss ein ärmeres Land mehr. Die Welt können wir nicht retten, und ihren Zu-stand als moralisches Druckmittel zu nehmen, würde uns allenfalls

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in Depressionen stürzen und niemandem nützen. Für sich selbst hat die Schweiz ihren Zweck erfüllt, aber weltweit gäbe es doch noch eini-ges zu tun. Wenn wir schon an der Spitze all dieser Ranglisten stehen, so könnten wir doch versuchen, allen andern wenigstens zu helfen, weiter nach oben zu kommen. Vielleicht zeigt es sich dann auch, dass die Statistiker falsch gemessen haben.

Wie könnten wir einfach nützlich sein?

Obwohl wir kein allzu schlechtes Gewissen zu haben brau-chen, weil wir in einem reichen und glücklichen Land leben, wäre es schön, wenn das Ganze einen weiteren Zweck, eine weitere Per-spektive hätte. Es wäre zu hoch gegriffen, von einer Mission oder gar einem «Sinn» zu reden. Es würde genügen, wenn wir uns für die Welt nützlich machen könnten. Und ich behaupte, dass eine solche Aus-richtung uns selbst nicht schaden, sondern gut tun würde.

Tatsächlich sind wir in der Lage, kurzfristig etwas Wesentli-ches beizutragen, also sofort nützlich zu sein. Wir haben zum Bei-spiel eine Pharmaindustrie, die an der Weltspitze mitmischt und in unserem Land produziert. Wenn wir schnell sehr billige Medikamen-te dorthin liefern, wo sie viele Menschen dringend brauchen, aber nicht bezahlen können, dann wären wir sehr nützlich. Während wir an langfristigen CO2-Reduktionsprogrammen und an der 2000-Watt-Gesellschaft herumstudieren – der Zeithorizont bewegt sich meist um 2050 – sterben viele an der Klimakatastrophe gänzlich unschuldige Menschen, die heute schon mit wenigen hundert Watt leben. Sie be-nötigen Soforthilfe und dann weitere Unterstützung.

Was wir brauchen, müsste ein Sofortprogramm sein, das nicht von den grossen epochalen Strukturveränderungen abhängt, aber mit diesen kompatibel ist. Wir können die Schweiz nicht in ein öko-logisches Musterland umbauen, während Millionen von Menschen immer tiefer ins Elend geraten und an sofort heilbaren Krankheiten sterben. Oder noch extremer gesagt: Wir dürfen unsere Ressourcen nicht in eine komfortable Nachhaltigkeit investieren, wenn wir damit

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viel mehr Menschen aus unmittelbarer Not befreien könnten. Und wir nützen weder uns noch der Welt, wenn wir den gegenwärtigen hohen Ressourcenverbrauch beibehalten und damit vor allem den Ärmsten das Klima kaputt machen.

Wir nützen der Welt auch nicht, wenn wir unseren Wohlstand opfern, um die Welt zu retten. Unser Wohlergehen ist eine Voraus-setzung dafür, dass wir die Energie haben, um überhaupt nachhaltig einen Überschuss zu produzieren, den wir dann für nützliche Aufga-ben einsetzen können. Was wir brauchen, ist also eine Strategie, bei der alle gewinnen – wir und die Welt. Eine solche Strategie gibt es. Sie heisst «Neustart Schweiz».

Verliebt in Leerlauf und Schwerfälligkeit

Wenn wir einen zweiten Blick auf die Schweiz werfen, dann stellen wir fest, dass eben doch nicht alles so glänzt, wie die inter-nationalen Statistiken es nahe legen. Vor allem stellen wir in diesem Land ein obszönes Ausmass von Ressourcenverschwendung und von falschem Einsatz von Ressourcen fest. Wir leisten uns in vielen Be-reichen einen Scheinperfektionismus, der sich bei genauerem Hin-schauen nur als Schwerfälligkeit und Leerlauf entpuppt. Schon un-sere Lebensweise dient mehr der Pflege von Gewohnheiten als dem echten Lebensgenuss. Dem Fetisch Wahlfreiheit, der oft nur versteck-te Mehrarbeit bedeutet, opfern wir viel Geld, Zeit und Material. Wo ist der Lustgewinn, wenn wir mit einem Off-Roader im Pendlerstau stecken, weil wir nicht von den Fahrplänen der öffentlichen Ver-kehrsmittel abhängig sein wollen? Macht es wirklich Spass, zwischen zweihundert Krankenkassen, fünf Telefongesellschaften, dreissig Waschmittelmarken, vier Grossverteilern usw. zu wählen? Die Zeit, die wir geniessen könnten, wird damit verschwendet, uns mit sinn-losem Auswählen abzuplagen. Wenn es dabei um qualitativ wichtige Vielfalt ginge wie zum Beispiel bei Wein und Zigarren, dann wäre da-gegen nichts einzuwenden. Tatsache ist aber, dass das System absur-der Wahlfreiheiten nur eine allgemeine Kommunikationspanne ist und sogar zur Nivellierung wirklich echter Genüsse geführt hat.

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Die Liebe zu Unterschieden und Details war sinnvoll, als die Schweiz als Nation aus den mitteleuropäischen Restposten zusam-mengeschustert wurde. Umständliche Mediationen und Kompromis-se zwischen Konfessionen, Sprachen, Stadt und Land waren nötig. Das System «Teilen statt Herrschen», das zu unserem bunten Kantons-patchwork führte, war erfolgreich, und viele Weltgegenden haben diesen Prozess heute noch vor sich. Inzwischen sind andere Faktoren wie Qualifikation, Einkommen, Infrastruktur viel wichtiger geworden und haben die alten Einteilungen völlig verwischt. Seit mindestens fünfzig Jahren ist der schweizerische Perfektionismus bloss noch ein Resultat verfehlter Diskussionsprozesse, von Berührungsängsten, Pseudoindividualismus und der Tatsache, dass es immer genug Pro-fiteure dieser Umtriebe gibt. Viele von uns gehören als Arbeitnehmer selber dazu. Wann immer ein Lebensbereich vereinfacht wird, fallen überflüssige Arbeitsplätze weg, und das könnten gerade unsere sein. Da die Politik nur bestehende Interessen vertreten kann, dreht sich das Karussell von gegenseitiger Verschwendung im Kreis.

Wenn es uns gelingt, unsere Lebensweise und unsere sozia-len und politischen Strukturen aufs Wesentliche zu reduzieren, dann können riesige Ressourcen sowohl für ein besseres Leben hier im Land als auch für die Verwendung nach aussen frei gemacht werden.

Wo «Vielfalt» in die Beliebigkeit führt

Das Syndrom «strukturelle Ressourcenverschwendung» hat in vielen Bereichen der Schweiz zu chronischen Krankheitsbildern geführt. In der Landwirtschaft werden Milliarden verbuttert, ohne dass Bauern und Konsumenten etwas davon haben. Es werden damit vor allem un-nötige Industrien subventioniert. Die viel gelobte Gemeindeautonomie hat nicht etwa zu dreitausend schönen und einzigartigen Gemeinden, intakten Ortsbildern oder bunten Lebensstilen, sondern via Kampf um «gute» Steuerzahler zu einem hässlichen Siedlungsbrei ohne Charakter geführt. Unsere sechsundzwanzig Kantone sind aus den gleichen Grün-den in der Gesichtslosigkeit untergegangen und haben nur noch symbo-lische Bedeutung. Real sieht das Leben überall gleich aus.

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Unser Bildungswesen krankt an vielfältigen unnötigen Dif-ferenzierungen, die im Resultat keine feststellbaren Spuren hinter-lassen. Wir leisten uns tatsächlich ein sich mehrfach überlappendes und widersprechendes Berufsbildungssystem mit Universitäten, Fachhochschulen, Höheren Fachschulen, Berufslehre usw., deren Absolventen je nach Job praktisch gleich gut oder schlecht ausgebil-det sind. Wir schicken Zehntausende junger Menschen in ungeliebte Lehren, nur damit nachher aus Elektrikern Polizisten werden und un-ser Gewerbe mit Gratissklaven subventioniert wird. Gleichzeitig fin-den Tausende von jungen Menschen, vor allem Ausländer, gar keinen Zugang zu einer Ausbildung. Unser Spitalsystem ist ebenfalls dank der Kantone ein Fass ohne Boden. Das Gesundheitssystem als Ganzes ist in der Krise. Die Raumplanung hat nie funktioniert. Die Armee ist zu gross, zu wenig mobil und wird vor allem dort eingesetzt, wo es nicht um Gewaltbekämpfung geht.

Diese strukturelle Verschwendung ist eindeutig ein Ergebnis eines blockierten Entwicklungsprozesses, eine Sackgasse, in die uns ein Wildwuchs von Interessenpolitik geführt hat. Im gleichen Stil kann es nicht weiter gehen, wir brauchen einen Ausbruch, einen Neustart. Wir brauchen eine «Entwicklungshilfe», die wir uns nur selbst geben können.

Jenseits der Parteien

Unsere absurde Lebensweise, unsere in sich verstrickten In-stitutionen, unsere gelähmte Politik verschlingen Ressourcen, die für uns, aber noch viel mehr für andere, für die sie den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, eingesetzt werden könnten. Ein Neustart dieses verknorzten Systems würde nicht nur die bisherige Verschwendung beenden, sondern würde dringend benötigte neue Ressourcen freisetzen. Es ist ein richtiger Win-Win-Vorschlag. Leider hat ein solcher Neustart, weil er eben bestehende Interessen verletzt, keine gesellschaftlichen oder politischen Vertreter.

Die Parteien – bis zu zweihundert Jahre alt und zum Teil unun-terbrochen an der Macht – sind nur noch Versammlungen unglückli-

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cher Bürger, die eigentlich anders möchten, aber nicht können, wenn sie vom Volk wiedergewählt werden wollen. Das gleiche «Volk» ist allerdings – wenn man den Umfragen glaubt – schon längst zu radi-kalen Umstellungen bereit, vor allem in den Bereichen Umwelt und Bildungswesen. Rot-Grün hat typischerweise vor Betreten der Wahl-lokale in Umfragen die Mehrheit – hinterher sind es aber nur knapp dreissig Prozent. Hat das Volk Angst vor seinem eigenen Mut?

Selbstverständlich sind die Interessen, die von Parteien und Verbänden vertreten werden, einzeln genommen, legitim und ver-ständlich: Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Bauern, Alte, Junge, Schwei-zer, Ausländer – sie alle haben verschiedene Interessen. Doch das Gesamtresultat dieses Kampfes aller gegen alle ist ein Gesamtver-lust für alle Beteiligten. Da nützen auch hochtrabende ideologische Profilierungsbemühungen um links und rechts gar nichts: Niemand glaubt noch daran.

Die heutige Krise der linken Parteien ist die Folge davon, dass sie zu reinen Arbeitnehmerinteressenverbänden geworden sind. Die Interessen der reichen Arbeitnehmer des Nordens sind jedoch nicht mehr die Interessen einer Mehrheit der Menschheit, es sind Son-derinteressen einer privilegierten Minderheit. Die «Verteidigung der Kaufkraft» ist als Programm nicht gerade eine begeisternde Vision. Damit hat die Linke ihre soziale Basis und ihre Zukunft verloren – sie ist nicht mehr Träger einer global gültigen Lösung. Das dürfte mit ein Grund dafür sein, dass die Benachteiligten der Welt sich von religiösen Fanatikern besser vertreten fühlen als von den bequemen Wohlstandslinken. Die einheimischen Arbeitnehmer wiederum se-hen ihren Egoismus besser verteidigt durch nationalistische Dema-gogen.

Die drei Elemente für einen Neustart

Ein Neustart kann nur ein Paket praktischer Massnahmen sein. Obwohl die Durchführung komplex und viele Probleme aufwer-fen wird, lassen sie sich auf drei Elemente reduzieren:

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1) Senkung der Lebenskosten durch:• integrierte Lebensweise in kooperativen Nachbarschaften• regionale Lebensmittelversorgung auf der Basis von Direkt-

belieferungen• Siedlungsumbau• Vereinfachung der Verwaltungsstrukturen

2) Akademische Bildung für alle3) Verwendung des Überschusses für weltweite Aktionen zur

Verbesserung der Lebensbedingungen

Diese drei Elemente bedingen sich gegenseitig und auf keines kann verzichtet werden.

1) Kooperative Nachbarschaften sind die neuen Haushalte, die dank ihrer Infrastruktur eine bessere Ausnutzung von Ressourcen erlauben: teilen statt besitzen. Sie sind zudem die einzig effizienten Partner für eine Lebensmittelversorgung, die ohne Grossverteiler und Shoppingcenter auskommt und auf der direkten Zusammenarbeit mit Bauernhöfen der Umgebung basiert. Daraus resultieren billigere Nah-rungsmittel. Sie erlauben einen Rückbau unserer Streusiedlungen zu verdichteten Zentren, was das Verkehrsaufkommen drastisch redu-ziert. Die Vereinfachung der Verwaltungsstrukturen bedeutet den Um-bau zu nur noch etwa fünfhundert Basisgemeinden, sieben Regionen und einer schlanken Zentralverwaltung für alle landesweiten Belange.

2) Akademische Bildung, das heisst, umfassende Allgemein-bildung mit anschliessender Berufsausbildung auf höchst möglicher Stufe für alle, ist notwendig, weil nur eine Gesellschaft, die auf abso-luter Chancengleichheit aufgebaut ist, überhaupt gemeinsam hand-lungsfähig ist und nicht wieder in Sondergruppen zerfällt. Die neue Lebensweise braucht selbständig denkende, sich als gleichwertig ver-stehende Bürgerinnen und Bürger.

3) Wenn die Lebenskosten sinken, können auch Löhne ohne Wohlstandseinbusse gesenkt werden. Mit den daraus resultierenden Gewinnen können Medikamente verbilligt, Hilfsaktionen finanziert und langfristige Entwicklungsprojekte angepackt werden. Nur in ei-ner sicheren Welt gibt es auch eine sichere Schweiz.

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Wir sind reich genug

Viele werden sich fragen, warum wir uns – die meisten von uns sind lohnabhängig – die Löhne kürzen sollten, um die Probleme der Welt zu lösen, wo es doch genug Superreiche gibt, die in Milli-arden schwimmen, während gleichzeitig Steuergelder für Kriege ver-schwendet werden. Der Irak-Krieg wird gemäss Joseph Stiglitz 5100 Milliarden Dollar kosten. Nach Jeffrey Sachs brauchen wir 195 Milli-arden Dollar pro Jahr zur Überwindung der grössten Armut (Sachs, 2005, S. 299), also 26 mal weniger als für den Irakkrieg.

3,72 Prozent der natürlichen Personen besitzen in der Schweiz 54,1 Prozent des Vermögens. Diese Proportionen gelten auch welt-weit: Die reichsten zwei Prozent besitzen einundfünfzig Prozent des Weltvermögens, die reichsten zehn Prozent schon fünfundachtzig Prozent – Tendenz steigend (Der Spiegel 23/2007). Warum sollen nicht sie zahlen? Auch bei den Einkommen hat sich die Schere zwischen Reichen und Armen vergrössert. Zugleich werden laufend Steuerge-setze eingeführt, die Entlastungen für die Reichsten bringen.

Der Ärger der gerupften Normalverdiener und der Ruf nach Besteuerung oder gar Enteignung der Reichen, die ihre Verantwor-tung offensichtlich nicht wahrnehmen, ist verständlich. Doch wie die Geschichte zeigt, sind diese einleuchtenden Massnahmen nicht so einfach zu bewerkstelligen. Die Vermögen der Reichen und Super-reichen sind unauflöslich verquickt mit den Mechanismen unserer Wirtschaftsordnung. Die Interessen der Superreichen sind nicht nur ihre persönlichen, auch die Angestellten ihrer Firmen identifizieren sich mit ihnen. Eine Konfiszierung der grossen Vermögen würde da-her den ganzen Wirtschaftsapparat lähmen und zum Chaos führen. Zuerst darunter leiden würden die Armen, denn die Reichen haben nicht nur Vermögen, sondern auch politischen Einfluss. Wir sind sozusagen die Geiseln eines absurden und undemokratischen Wirt-schaftssystems. Geiselbefreiungen aber sind immer heikel.

Die Bankenkrise, die Unfähigkeit des Markts mit Umweltpro-blemen oder Ressourcenknappheiten umzugehen, der unheilvolle Zwang zum Wachstum um jeden Preis, die Ernährungskrise usw.

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sind Symptome schwerer Konstruktionsmängel, die ihre Ursache in der historischen Entstehung des Systems haben. Unser Wirtschafts-system ist nicht ein rationaler Weltversorgungshaushalt, sondern ein Kampffeld archaischer Interessen, eine Art kalter Krieg, der im-mer wieder zu heissen Kriegen ausartet. Dass wir diese Fesseln ei-nes Tages abschütteln müssen, ist inzwischen sogar den Vertretern der Wirtschaft klar geworden.

Die privatisierte Marktwirtschaft hat alle unsere Lebensbe-reiche durchdrungen. Die weltweiten Verflechtungen sind so eng und delikat, dass ein abrupter Wechsel mehr Schaden als Nutzen bringen würde. Wir gleichen einem Patienten auf der Intensivstati-on, der sich schrittweise von den Abhängigkeiten der Apparate lö-sen muss. Wir müssen lernen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Dabei kann uns niemand helfen. Und wir haben dafür durchaus genug Mittel.

Die Schweizer Arbeitnehmer verdienten 1995 220 Milliarden Franken – inzwischen dürften es dreihundert Milliarden sein. Dar-unter sind auch Arbeitnehmer wie Kurer und Vasella, aber die fal-len trotz aller populistischer Empörung nicht wirklich ins Gewicht. Wenn man ihre Einkommen auf die Bevölkerung verteilen würde, reichte es nicht einmal für einen anständigen Cocktail. Anderer-seits gibt es unter den Selbständigen (28 Milliarden Einkommen) arme Schlucker, die trotz ihres Status‘ eher dem unteren Mittel-stand zuzurechnen wären. Allerdings ist ihr «Erwerbsverhalten» grundsätzlich verschieden sogar von dem reicherer Lohnabhängi-ger (Vielleicht haben wir doch mehr gemeinsam mit Vasella als mit dem Lädeler an der Ecke). Sie stilisieren sich gerne als Unternehmer empor, auch wenn sie, wie zum Beispiel fünfundzwanzig Prozent der Bauern, eigentlich «working poor» sind und identifizieren sich gerade mit jenen Grossunternehmern, die ihnen früher oder später das Genick brechen werden. Vom Einkommen aus Vermögen (71 Milliarden) ist ein Teil Arbeitnehmereinkommen, nämlich in Form von Pensionen (nominell ca. 650 Milliarden Franken oder was nach dem Börsencrash noch übrig bleibt).

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Zudem sollten wir die gute Nachricht nicht übersehen, dass wir 96,28 Prozent «Armen» immerhin 45,9 Prozent oder 454,4 Milli-arden des gesamten Vermögens besitzen. Mit so viel Geld lässt sich doch einiges anfangen, wenn wir nur wollen. Und das, ohne einen einzigen Villenbesitzer zu enteignen.

Die Lohnabhängigen müssen selbst handeln

Die Lohnabhängigen haben die Erfahrung gemacht, dass sie die am meisten Betroffenen sind, wenn etwas schiefläuft in den Chefe-tagen. Während die einen millionenschwere Abfindungen beziehen, werden sie mit mickrigen Sozialplänen abgefertigt. Sie sind es, die schliesslich in den Strassen von Bagdad stehen und nicht die Milliar-därssöhne. Und sie werden nach Umweltkatastrophen, wie zum Bei-spiel Katrina, als Letzte oder gar nicht evakuiert. Wir verlieren unsere Jobs zuerst und sitzen im Ozon, während die andern in die Karibik ausweichen. Bei Terrorakten sterben gewöhnliche U-Bahnbenützer, nicht Rolls-Royce-Fahrer. Für uns ist globale Solidarität keine morali-sche Forderung, sondern ein simples, nachhaltiges Interesse.

Wie viel Geld steht uns zur Verfügung, wenn wir unsere Le-benskosten senken und vielleicht noch auf ein paar überflüssige Pro-dukte verzichten, die keinen direkten Einfluss auf die Lebensquali-tät haben? Allein bei den Nahrungsmittelkosten gibt es heute schon ein Sparpotenzial von zwölf Milliarden. Wenn wir alle weiter oben erwähnten Spareffekte mit einbeziehen, so dürfte es möglich sein, dreissig Prozent unseres Einkommens, also immerhin rund hundert Milliarden Franken pro Jahr, für andere Aufgaben frei zu machen. Da-von gehen – wie jetzt schon – Steuern und Abgaben weg. Zudem müss-ten einige Umlagerungen zu Gunsten der niedrigsten Löhne vorgenom-men werden, damit Solidarität überhaupt zustande kommen kann.

Die Senkung der Lebenskosten kann nicht abrupt erfolgen, weil die neuen Strukturen allmählich aufgebaut werden müssen und Investitionen erfordern.

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Neustart als neuer Deal

Neustart Schweiz läuft im Grunde auf einen neuen Deal mit den global gesehen produktivsten Branchen – Pharma, Banken und Maschinen – hinaus: Wir geben euch unsere Arbeit billiger, qualifi-zieren uns besser, dafür lasst ihr uns freie Hand, uns selbst besser zu organisieren. Und ihr garantiert uns, dass der Zusatzprofit, der aus der Senkung der Personalkosten resultiert, nicht in eure Taschen wandert, sondern in einen Neustart-Fonds eingespeist wird, aus dem verbilligte Produkte, weltweite Hilfsprogramme und der Infrastruktur-umbau im Inneren finanziert werden.

Insgesamt ist dieser Deal «kostenneutral», auch wenn es phasenweise Investitionsschübe geben wird, die vorfinanziert wer-den müssen – da kämen dann unsere Banken ins Spiel. Er ist auch «interessenneutral»: Die Profite der Unternehmen werden nicht tan-giert, der Lebensstandard der Arbeitenden wird nicht gesenkt, nur verändert. Die Glücksforschung hat herausgefunden, dass das «sub-jektive Wohlbefinden» ab einem gewissen Einkommensniveau nicht mehr geldabhängig ist. Mit 40 000 Franken pro Kopf und Jahr ist die Schweiz weit über dieser Schwelle, mit 27 000 Franken wäre sie es immer noch.

Wie der New Deal der dreissiger Jahre in den USA wird auch der neue Deal ein Resultat von Verhandlungen zwischen Arbeitneh-mern, Arbeitgebern und dem Staat (selbst ein grosser Arbeitgeber) sein müssen. Ging es damals im Wesentlichen darum, Produktivitäts-gewinne zwischen den Sozialpartnern zu teilen, so geht es heute da-rum, eine allgemeine Strukturreform und eine effiziente Hilfe für die Ärmsten der Welt zu ermöglichen.

Es geht also darum, bei uns selbst zu tun, was wir den armen Ländern empfehlen: Nachhaltigkeit, Regionalversorgung, Ernährungs-souveränität, demokratische Selbstaktivität usw. Es kann auf die Länge nicht zwei Lebensweisen, eine komfortable für uns und eine beschei-dene für die Ärmeren, geben.

Die Modalitäten des neuen «Swiss» Deals müssen im Detail noch ausgehandelt werden. Vor allem muss sichergestellt werden,

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dass die Senkung der Lohnkosten nicht einfach die Profite der Unter-nehmen erhöht. Doch auch Risiken und Nebenwirkungen müssen be-dacht werden: So resultiert eine gewisse Schrumpfung der Nachfrage im Binnenmarkt, die allerdings durch eine Verbilligung des Angebots (auch die Löhne für den Binnenmarkt sinken) und mehr Exporte aus-geglichen wird.

Wenn es klar ist, in welche Richtung es geht, können Lösun-gen ausgehandelt werden. Wenn also in einem ersten Jahr alle Löhne über fünftausend Franken pro Monat um drei Prozent gesenkt wer-den (das ergibt neun Milliarden Franken), dann gehen davon ein Pro-zent an die Unternehmen, ein Prozent in die Entwicklungshilfe und ein Prozent in den ökologischen und sozialen Umbau von Nachbar-schaften, Quartieren und landesweiten Institutionen. Parallel dazu bewirkt dieser Umbau eine Senkung der Lebenskosten.

Was hat die Schweiz zu bieten?

Heute beträgt die gesamte Entwicklungshilfe der Schweiz rund zwei Milliarden Franken. Unser neuer Deal muss es möglich machen, diesen Betrag mindestens zu verzehnfachen. Das wäre dann fast so viel, wie die USA 2006 aufwendeten (23,5 Milliarden Dollar) und gäbe der Schweiz ein besonderes Gewicht. Doch selbstverständlich wür-de dieses Ziel nicht von einem Tag auf den andern erreicht, und die Schweiz hätte genug Zeit, sich an ihre Rolle als Big Player zu gewöh-nen. Der gleich grosse Betrag würde für den ökologischen Umbau der Schweiz aufgewendet. Doch effektive Hilfe ist nicht nur eine Frage des Geldes, es geht vielmehr darum, dieses auch so einzusetzen, dass es den Menschen wirklich nützt, dass es sie nicht noch abhängiger macht, sondern ihnen hilft, ihren eigenen Weg in eine bessere Zukunft zu ge-hen. Was hat die Schweiz überhaupt zu bieten? Ich sehe vier wichtige Bereiche:

• Pharmaindustrie• Ernährung• Energie• Demokratie

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• Die pharmazeutische Industrie muss so ausgebaut werden, dass sie die Armen der Welt mit billigen Medikamenten versorgen kann. Jede Nachbarschaft muss mit einem Set der zweihundert wichtigs-ten Medikamente ausgerüstet werden. Medikamente gegen Epi-demien wie Malaria, AIDS usw. müssen allenfalls gratis zur Ver-fügung gestellt werden. Aber auch die Forschung und Produktion im Bereich der Spitzenmedizin und Medizintechnik muss verstärkt und für die Ärmeren der Welt zugänglich gemacht werden. Auf Grund der besonderen Rolle der Pharmaindustrie in der Schweiz sollte die Belieferung mit billigen Medikamenten der Schwerpunkt der schweizerischen Hilfe sein. Da dies in vielen Fällen Überlebens-hilfe ist, muss sie zuerst und so direkt wie möglich erfolgen.

• Eine lokal und biologisch ausgerichtete Landwirtschaft wird eben-falls neue Technologien und unschädliche Zusatzstoffe brauchen. Die Bewahrung von Saatgut und Tierarten, die Erforschung von An-baumethoden (intensive Mischkulturen), die Entwicklung von neuen Maschinen usw. muss zu einer Schwerpunktaufgabe der Schweiz wer-den. Sie alle dienen der Ernährungssouveränität. Die Versorgung mit Wasser und auch die Lebensmittelverarbeitung und -konservierung, beides Sektoren, in denen die Schweiz viel Know-how angesammelt hat, gehören dazu.

• Wenn in einigen Jahren die fossilen Brennstoffe zuerst zu teuer wer-den und dann zur Neige gehen, müssen neue Energietechnologien zur Verfügung stehen. Auch hier kann die Schweiz an bisheriges Know-how anknüpfen und es weiterentwickeln. Lokal einsetzbare Energieanlagen (z.B. Biomasse) müssen entwickelt und verfügbar gemacht werden. Ausgehend von neuen Energietechnologien müs-sen auch neue Transporttechnologien entwickelt werden (z.B. Kom-pogas-Lastwagen).

• Ohne in Selbstbeweihräucherung zu verfallen, können wir sagen, dass die schweizerische Bevölkerung ein gewisses Know-how in Selbstverwaltung und im Umgang mit demokratischen Strukturen erworben hat. Obwohl populistische Bewegungen versuchen, un-

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sere politische Kultur zu ruinieren, ist immer noch viel an zivilge-sellschaftlicher Aktionsfähigkeit vorhanden. Der Staat ist relativ transparent und regelkonform. Unter schwierigen Bedingungen hat die Schweiz um die Mitte des 19. Jahrhunderts, umringt von koloni-alistischen, monarchischen Grossmächten, eine gewisse Eigenstän-digkeit errungen. Obwohl sie später ein Teil des kolonialistischen Weltsystems wurde, könnte sie doch einen Beitrag leisten, um in armen Ländern demokratische Strukturen herbeizuführen. Dies kann natürlich nicht in einem plumpen Systemexport geschehen, sondern in gezielten Hilfestellungen beim Aufbau von Gemeinden, Genossenschaften, Rechenschaftslegungsverfahren, also bei einem allgemeinen «Empowerment». Nur wenn es solche selbstverant-wortliche Strukturen gibt, können auch die oben erwähnten Tech-nologieexporte überhaupt ihre volle Wirkung entfalten und lang-fristig brauchbar bleiben.

Das Beispiel der Schweiz zeigt allerdings auch, dass Demo-kratieexport mit gewaltsamen Mitteln durchaus nachhaltig wirksam sein kann: Das Ancien Régime wurde bei uns nicht durch eine Revo-lution von unten beseitigt, sondern durch die französische Revolu-tionsarmee. Die Demokratie, auf die wir heute so stolz sind, wurde uns zumindest teilweise aufgezwungen. Bewaffnete Interventionen gegen besonders brutale Regimes sind also durchaus gerechtfertigt – die Schweiz kann sich da nicht heraushalten. Selbstverständlich sind alle andern Methoden vorzuziehen.

Was wir für die Welt tun, tun wir für uns

Wenn wir das, was ich vorschlage, mit dem vergleichen, was die Schweiz heute schon tut und was Entwicklungsexperten vor-schlagen, so stelle ich fest, dass es weitgehend deckungsgleich ist. Die Millenniumsziele können wir ohne Weiteres übernehmen. Die Schweiz macht heute schon keine «falsche» Entwicklungshilfe, sie macht nur zu wenig, sie kann gewisse quantitative Schwellen nicht überwinden («Tropfen auf den heissen Stein»), sie kann zu wenig zivilgesellschaftlich wirksame Aktionen unternehmen. Die Schweiz

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allein kann keines der grossen Weltprobleme lösen. Doch eine spek-takulär aktivere Schweiz hätte durchaus Chancen, einen proportio-nal grösseren Beitrag zu leisten. Das Image der Schweiz als «kleines, unabhängiges, demokratisches Land» könnte in vielen Ländern mit autoritären Systemen ermutigend und vorbildhaft wirken – wenn es selbst im Innern das tut, was es gegen aussen empfiehlt.

Eine der bisher wichtigsten Branchen für die Wertschöpfung in der Schweiz sind die Banken. Was können sie für die Ärmsten der Welt leisten? Als erstes könnten sie gewisse Finanzdienstleistungen nicht mehr erbringen, nämlich die Verwaltung von Diktatorengel-dern und hinterzogenen Steuern. Zumindest aber könnten sie für die schweizerischen Hilfsaktionen und ihre Projekte das leisten, was sie in der Schweiz als Kantonal- oder Raiffeisenbanken für den Aufbau regionaler Infrastrukturen geleistet haben. Da die Schweiz in der Weltbank und im IWF trotz allem keinen grossen Einfluss hat, könn-te sie ihre eigene Entwicklungsbank gründen und damit endlich das Versprechen, das sie mit dem (längst vergessenen) Solidaritätsfonds einmal abgegeben hat, einlösen.

Die schweizerische Entwicklungsoffensive, die natürlich nicht schlagartig erfolgen kann, sondern sich wie das ganze Neustart-Pro-gramm graduell, aber zügig, entwickelt, ist nicht systemsprengend, sondern gibt der Schweizer Wirtschaft im Gegenteil noch einmal eine Chance, sich zugleich nützlich und profitabel zu entwickeln. Dank Lohnreduktionen werden wichtige Branchen wieder konkurrenzfä-hig, vor allem die Maschinen- und Lebensmittelindustrie, die sich im mittleren Bereich der Wertschöpfung befinden. Neustart Schweiz könnte das Rezept für einen kurzfristigen Alpentiger werden, der neue Produkte entwickelt, die nicht nur in armen Ländern, sondern überall für nachhaltige Lebensweisen benötigt werden. Die Schweiz könnte ein Pionier des Ökodesigns werden.

Langfristig führen ökologisch nachhaltige Technologien al-lerdings zu jener Wirtschaftsschrumpfung, die für das Überleben des Planeten unausweichlich ist. Der Alpentiger macht noch einen letz-ten Sprung – und wird dann wieder zum Murmeltier.

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Unser globaler Haushalt

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Wir sind keine Insel

Alle Vorschläge, die darauf abzielen, die Welt zu einem le-benswerten Ort zu machen (und darum geht es ja letztlich), müssen von einer klaren Vorstellung ausgehen, wie denn eine andere Welt aussähe. Es gibt keine Vorschläge für die Schweiz, die nicht zugleich global gültig sein können. Wir sind schon lange keine Insel mehr. Überwinden wir unsere nationalen Beschränkungen nicht, so wird das die Globalisierung tun – auf rücksichtslose Art.

Die Globalisierung der industriellen Marktwirtschaft, die im 18. Jahrhundert von England aus die Welt erobert hat, ist heute an ihrem Ende: Da keine Kosten mehr externalisiert werden kön-nen, muss sie ersticken. Es gibt kein «Aussen» mehr, wo Sklaven oder billige Arbeitskräfte geholt, Ressourcen gratis abgebaut oder wohin Abfälle und missliebige Menschen abgeschoben werden können. Kurz gesagt: Die Flucht ins ewige Wachstum stösst an ihre Grenzen. Was verdrängt werden konnte, kehrt heute wieder zurück. Wir verbrauchen heute die Ressourcen von drei bis fünf Planeten Erde. Wir leben sozusagen von seinem Kapital. Oder wie Jared Diamond es ausdrückt: «Wir bauen den Planeten ab.» (Di-amond, 2005) Der wichtigste Energieträger, Erdöl, wird in zehn bis zwanzig Jahren spürbar knapper, das heisst, zu teuer werden. Andere Ressourcen wie Wasser und Boden werden durch Übernut-zung und Verschmutzung rar. Die Klimarisiken verschärfen sich. Wir können nicht mehr so weiter machen wie bisher. Zum Glück wollen wir das auch nicht.

Sozial gesehen hat die auf Vergleich und Kampf beruhende Wirtschaftsweise zu so extremen Ungleichheiten und Spannungen geführt, dass Fluchtbewegungen, Bürgerkriege, Terrorismus und militärische Interventionen die logische Folge sind. Das heisst, es muss in den nächsten Jahren eine Alternative zur blindwütigen, nicht steuerbaren freien Marktwirtschaft gefunden werden.

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Die Alternative: eine nüchterne «Sachwirtschaft»

Eine Alternative zur marktwirtschaftlichen Industriegesell-schaft wird mit etwa 20 Prozent des heutigen Energieverbrauchs aus-kommen müssen, das heisst, die Lebensweise muss sich drastisch ändern, die Produktion muss regional organisiert werden, Bedarf und Aufwand müssen ausgehend von den verfügbaren Ressourcen von den Konsumentinnen und Produzenten direkt ausgehandelt werden. Im Grunde genommen wird der neue planetarische Stoffwechsel eine «Sachwirtschaft» sein, eine global interne Hauswirtschaft wie auf ein-em riesigen Bauernhof: Alle arbeiten mit, so gut sie können, alle essen und wohnen, feiern und trauern. Geld und Profit spielen keine grosse Rolle, solange die Nachhaltigkeit gewährleistet ist. Ökobilanzen erset-zen Buchhaltungen, Glücksbarometer das Bruttosozialprodukt.

Diese Alternative wird oft als der New Global Commons (die Neue Globale Allmende) bezeichnet. Sie ist eine Art globaler «Service public».

Abschied vom seltsamen Charme der Regulierungen

Fast reflexartig reagieren wir auf Probleme mit neuen Regeln oder Regelkreisläufen. Sowohl auf nationaler wie globaler Ebene setzen wir auf Preismanipulationen, Steuern und Steuerabzüge, Boni aller Art, Verbote und Vorschriften. Ein typisches Beispiel ist der Vorschlag von Attac für die Tobin-Steuer, die auf internationalen Finanztransaktionen erhoben werden soll, um mit den Erträgen ärmeren Ländern zu helfen. Der Handel mit CO2-Zertifikaten oder der myclimate-Ablasshandel beim Flugticket sollen das Klima retten. Selbstverständlich wäre es schön, wenn durch solche Regeln die Weltprobleme gelöst werden könnten. Der Haken dabei ist, dass Regulierungen nur in schon demokratisch funktio-nierenden und relativ reichen Ländern greifen können. Im Grossen und Ganzen hat sich aber gezeigt, dass sich die Weltwirtschaft nicht durch Regulierungen bändigen lässt. Die Globalisierung hat die Nationalstaa-ten geschwächt, aber gleichzeitg keine legitimen globalen Institutionen geschaffen. Daher fallen Regulierungsvorschläge einfach ins Leere.

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Regulierungen sind aufwändig, kostspielig und unterminie-ren zudem die soziale Selbstorganisation und Aktivität. Sie brauchen Bürokratien, die sie kontrollieren und sanktionieren. Sie führen zu Verschwendung, Betrug und Korruption. Sie machen uns zu egoisti-schen und isolierten Beitragszahlerinnen, die versuchen, so viel wie möglich aus den staatlichen Programmen herauszuholen. Die Men-schen werden in die Position von abhängigen Kindern gedrängt, die dauernd am Rockzipfel von Mutter Staat hängen. Direkte Solidarität und soziale Organisation werden untergraben, obwohl sie viel effizi-enter wären. Sowohl kollektive wie individuelle Freiheit und Autono-mie schwinden dahin. Unser Leben ist immer weniger von uns selbst gestaltbar. Je mehr Verantwortung wir einfach an die Regulierer ab-schieben, um so ohnmächtiger werden wir, und um so schwieriger wird es, die politischen und ökologischen Probleme zu lösen.

Die Haushaltgemeinschaften, die existentielle Sicherheit ga-rantieren könnten, sind inzwischen fast gänzlich zerfetzt worden. Ge-nauso wie in den sogenannten Entwicklungsländern brauchen auch wir dringend ein neues «Empowerment», eine Fähigkeit, unser Leben gemeinsam selbst zu organisieren. Der Wiederaufbau solcher Basis-haushalte ist notwendig, wenn wir nicht entweder zu passiven Sozi-alstaatsklienten oder Opfern des ungebändigten Weltmarkts werden wollen. Regulierungen sollten nur subsidiär zur Selbstregulierung im Rahmen von Alltagsgemeinschaften und deren Allianzen eingesetzt werden.

Globale Module machen das Leben für alle direkt gestaltbar

Damit das Leben auf dem Planeten nicht auf eine enge lokale Autarkie zurückfällt, muss es eine Art von globalem Vertrag über Mo-dule, Austauschformen und Organisationsformen geben. Während das neoliberale Credo den Marktkräften blind den Lauf liess und damit den Planeten in die Wand fuhr, muss der neue Welthaushalt bewusst und demokratisch organisiert werden – eine grosse Heraus-forderung an Selbstverantwortung und Eigeninitiave.

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Wenn wir einen ökologischen Ressourceneinsatz und prak-tikable Kommunikationsformen berücksichtigen, wird ein globaler Haushalt mit sechs sozialen Modulen auskommen können:

1) Nachbarschaften von etwa 500 Bewohnern kombiniert mit Landwirtschaftsbetrieben von ca. 80 ha; LMO (Life Mainte-nance Organisation = Lebenserhaltungsorganisation)

2) Kooperative Quartiere und Kleinstädte von etwa 10 000 bis 20 000 Menschen; CA (Communal Area = Basisgemeinde)

3) Agrourbane Regionen von 100 000 bis Millionen Einwohnern (Städte mit Umland; Zürich oder Shanghai); AUR (Agro-urban Region)

4) Autonome Territorien von 5 bis 10 Millionen Einwohnern und ca. 50 000 km2 Fläche, für regionale Industrien und Verkehrs-netze; AT (Autonomous Territory = autonome Territorien)

5) Subkontinentale Kooperationsgebiete für Industrie, For-schung, Verkehr, z.B. Nordamerika, Europa; SN (Subcontinen-tal Networks = subkontinentale Netzwerke)

6) Eine planetarische Organisation für Ressourcenverteilung, Katastrophenhilfe usw.; PO (Planetary Organisation = plane-tarische Organisation)

Mit allen nötigen geographischen und kulturellen Anpassun-gen kann dieses grobe Modell planetarisch funktionieren. Das Prin-zip besteht darin, dass alles so nah und so kooperativ wie möglich getan wird – weil ja die Energie für massenhafte Ferntransporte nicht mehr zur Verfügung stehen wird. Schon auf der Ebene der kombinier-ten Stadt-/Landgenossenschaften (siehe MikroAgro) können achtzig Prozent des Lebensunterhalts produziert werden. Die weiteren sozia-len und politischen Stufen dienen im Wesentlichen der ergänzenden Versorgung und Umverteilung.

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Module für den globalen Haushalt(Querverbindungen sind beliebig viele möglich)

Modul

PlanetPO6,7 Milliarden

SubkontinentSN500 Millionen

TerritoriumAT10 Millionen

Region/StadtAUR100 000 bisMillionen

BasisgemeindeCA20 000Nachbarschaft

LMO500 Personen

Einzelperson

Infrastrukturell, «Service public»

Rohstoffe, Energie, Know-howVerkehr, KommunikationNothilfe, RaumfahrtWissenschaft, Transportmittel Waffen, elektronische Komponen-ten, Medikamente, Forschung

Fahrzeuge/SchiffeWasser, Energietechnologie(Land-)Maschinen Farben, Chemieprodukte

Energie, Bahnen, GerichteKommunikation, Armee, Metall-waren, Universität

Energie, Wasser Spital/MedikamenteVerkehr, ZementBaumaterialien Verkehr, Spital, Polizei, Kanalisa-tion, Energie, Wasser, BauTheater

Gymnasium, PrimarschulePoliklinikEnergie, InstallationenEnergie

kooperativ/kreativer Sektor

Softwareentwicklung, Musik Literatur, Film

Textilien,GlasVelos, TeppicheLiteratur, Zirkus

MöbelHolzverarbeitungZiegel, LederPanurgienMöbel, Kleider, Fahrzeugmonta-ge, Schmuck, Keramik Kreatorien, Werkstätten

Schuhe, elektr(on)ische ApparateHüte, Werkstätten

GebäudeinstandhaltungKleider, Waschen, ReinigenWerkstätten

Hausarbeiten, Toilette, Kleidung Reparaturengegenseitige Hilfe

Landwirtschaft

Saatgut, GewürzeKaffee, Kakao, Tee

Wein, OlivenölFischkonservenGetreide, Käse

Getreide, KartoffelnZucker, Bier, Wein, SalzKäse, Würste, Fette

Milchprodukte, Obst(säfte)Gemüse, Eier, GeflügelFleischAgrozentrenGemüse, Kräuter, ObstWürste, Charcuterie, Schokolade Bier

Kräuter, Mahlzeiten, Teigwaren Patisserie, Limonaden

MikrozentrenJoghurt, BrotKräuter, Beeren

Mahlzeiten

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Modul

PlanetPO6,7 Milliarden

SubkontinentSN500 Millionen

TerritoriumAT10 Millionen

Region/StadtAUR100 000 bisMillionen

BasisgemeindeCA20 000Nachbarschaft

LMO500 Personen

Einzelperson

Infrastrukturell, «Service public»

Rohstoffe, Energie, Know-howVerkehr, KommunikationNothilfe, RaumfahrtWissenschaft, Transportmittel Waffen, elektronische Komponen-ten, Medikamente, Forschung

Fahrzeuge/SchiffeWasser, Energietechnologie(Land-)Maschinen Farben, Chemieprodukte

Energie, Bahnen, GerichteKommunikation, Armee, Metall-waren, Universität

Energie, Wasser Spital/MedikamenteVerkehr, ZementBaumaterialien Verkehr, Spital, Polizei, Kanalisa-tion, Energie, Wasser, BauTheater

Gymnasium, PrimarschulePoliklinikEnergie, InstallationenEnergie

kooperativ/kreativer Sektor

Softwareentwicklung, Musik Literatur, Film

Textilien,GlasVelos, TeppicheLiteratur, Zirkus

MöbelHolzverarbeitungZiegel, LederPanurgienMöbel, Kleider, Fahrzeugmonta-ge, Schmuck, Keramik Kreatorien, Werkstätten

Schuhe, elektr(on)ische ApparateHüte, Werkstätten

GebäudeinstandhaltungKleider, Waschen, ReinigenWerkstätten

Hausarbeiten, Toilette, Kleidung Reparaturengegenseitige Hilfe

Landwirtschaft

Saatgut, GewürzeKaffee, Kakao, Tee

Wein, OlivenölFischkonservenGetreide, Käse

Getreide, KartoffelnZucker, Bier, Wein, SalzKäse, Würste, Fette

Milchprodukte, Obst(säfte)Gemüse, Eier, GeflügelFleischAgrozentrenGemüse, Kräuter, ObstWürste, Charcuterie, Schokolade Bier

Kräuter, Mahlzeiten, Teigwaren Patisserie, Limonaden

MikrozentrenJoghurt, BrotKräuter, Beeren

Mahlzeiten

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Einigen wird auffallen, dass ein heute sehr prominentes Mo-dul, nämlich die Nation, nicht erscheint. Selbstverständlich sind vie-le der erwähnten «Territorien» zugleich Nationen, wie zum Beispiel die Schweiz, Ecuador oder Estland. Andere wie Wyoming, Sachsen, die Bretagne oder Sardinien sind es nicht. Wichtig ist jedoch, dass der nationale, das heisst, kulturelle Aspekt nur eine Begleiterschei-nung ist. Schon im Falle der Schweiz zeigt es sich, dass Territorien nicht kulturell einheitlich zu sein brauchen. Territorien sind definiert durch ihre Infrastrukturaufgaben, sie erbringen öffentliche Dienste für ihre Bevölkerung, sie bieten eine kommunikativ effiziente Verwal-tungsbasis an. Ob die Bezüger dieser Dienste nun französisch reden, Christen sind oder Muslime, Atheisten oder Fussballfans, modisch bewusst oder retro, spielt keine Rolle. Nur solch nüchterne Dienst-leistungsbereiche können schliesslich einen Ausweg aus der Sack-gasse von national oder religiös definierten «Heimatländern» bieten, die nur zu endlosen Konflikten führen.

Vielleicht wäre es besser, zum Beispiel den Nahen Osten in Territorium I, Territorium II und Territorium III aufzuteilen, statt sich darüber zu streiten, ob es einen jüdischen, arabischen, christlichen oder anderen Staat braucht. Hauptsache, Schulen, Spitäler, Lebens-mittelversorgung usw. funktionieren.

Der Weg dahin scheint noch lang.

Weder Staatswirtschaft noch Marktwirtschaft

Im Gegensatz zu sozialistischen Modellen, die den blinden Markt einfach durch eine nicht weniger blinde Staatsbürokratie erset-zen wollten und daher scheiterten, ist der neue globale Haushalt ein gesellschaftliches Modell, das auf der direkten Zusammenarbeit von mitdenkenden Menschen in übersichtlichen Gemeinschaften beruht. Die heutigen Wirtschafts- und Staatsformen werden also auf den Bo-den zurückgeholt.

Statt auf Regulierungen basiert der neue globale Haushalt auf persönlichen Kontakten, auf Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitiger Hilfe. Dafür braucht es kein besonders positives

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Menschenbild – wir werden einfach keine andere Wahl haben. Alle anderen Verfahren sind kostspieliger, fehleranfälliger und letztlich ruinös. Wir sind objektiv gezwungen, freundlicher miteinander zu sein. Wir kommen nicht darum herum, uns gemeinsam und ver-bindlich darüber zu unterhalten, was wir wirklich brauchen und wie viel wir dafür arbeiten wollen. Es muss einen Plan geben, weil wir uns keine Verschwendungen mehr leisten können. Und den Plan, den machen wir!

Ohne Planung keine Ökologie

Die ideologischen Aufregungen um Staatswirtschaft oder Marktwirtschaft haben sich etwas gelegt, seit die neoliberale Ad-ministration Bush die grösste Verstaatlichung der Wirtschaftsge-schichte, nämlich die Übernahme der Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac, beschlossen hat (mit Verbindlichkeiten von 5400 Milliarden Dollars). Ein gewisses Mass an Planung ist rein pragmatisch erforderlich, weil eine ungeregelte Marktwirtschaft erst im Nachhinein bestimmen kann, welche Produkte wirklich ge-braucht wurden.

Dieses System kann nur funktionieren, wenn Ressourcen in verschwenderischem Ausmass zu Verfügung stehen – was heute nicht mehr der Fall ist. Öffentliche Dienste und grosse internati-onale Firmen operieren heute schon mit Planungshorizonten von zehn oder zwanzig Jahren. Da wir einen ökologischen und haushäl-terischen Umgang mit Ressourcen brauchen werden, werden wir nicht darum herum kommen, einen grösseren Teil der Wirtschaft zu planen. Das kann ganz einfach durch eine Ausdehnung der heu-tigen öffentlichen Dienste, die ja schon demokratisch gelenkt sind, geschehen. Planung heisst hier, dass demokratische Mechanismen zum Vornherein bestimmen, was von der Wirtschaft bestellt wer-den soll. Die Frage ist also nicht, ob geplant wird oder nicht, son-dern von wem und wie. Mit dem Einsatz von Computern kann auch komplexe Planung von Moment zu Moment rollend erfolgen (siehe Cockshott, 2006).

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Gerade der sichere Rahmen einer geplanten Infrastruktur er-laubt einen nicht regulierten Sektor kooperativer oder individueller Initiativen, wo weniger lebenswichtige Produkte und Dienstleistun-gen entwickelt werden können. Je nach Erfolg können diese dann in den geplanten Sektor aufgenommen werden.

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Das Territorium Schweiz

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Von den sechs Bereichen eines globalen Haushalts lassen sich auf dem Territorium der Schweiz vier austesten. Wir hätten als erstes ein autonomes Territorium (AT), sieben agro-urbane Regionen (AUR), die wiederum in ca. fünfhundert kleine Landstädte oder Stadtquar-tiere (CA) aufgeteilt würden. Schliesslich gäbe es 14 000 erweiterte Haushaltseinheiten (LMO) mit je fünfhundert Bewohnerinnen. Mit diesen Modulen lässt sich eine nachhaltige, vielfältige, spannende und haushälterische globale Reorganisation bewerkstelligen.

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Nachbarschaft

500 sind genau richtig

Gemäss den Untersuchungen des Instituts für Agrarwirt-schaft der ETH eignet sich als grundlegende Versorgungseinheit eine möglichst kompakte Siedlung von etwa fünfhundert Menschen am besten, dies sowohl auf dem Land (Dorf) wie in der Stadt (Nachbar-schaft). Ökologisch ist diese Grösse gut geeignet, um zum Beispiel Minergiegebäude, Infrastrukturen (Waschen, Kochen, Biogas), so-ziale Dienste usw. mit wenig Arbeitsaufwand und kostengünstig zu realisieren.

Ökologisch ideal wären mässig hohe und kompakte Gebäude

in einer Stadt (sechs bis acht Stockwerke auf 20 000 Quadratmetern Fläche) für fünfhundert Menschen: Hier ist das Verhältnis von Hülle und Volumen am besten, die Verkehrsanbindung optimal. Das theo-retische Optimum flächendeckend durchsetzen zu wollen, ist aller-dings weder machbar (würde mehr als hundert Jahre dauern) noch wünschenswert, die Folge wäre eine fatale Monotonie. Die realisti-sche Herausforderung besteht vielmehr darin, unsere heutigen Nach-barschaften mit Umbauten und Ergänzungen so umzugestalten, dass sie ihre Individualität entfalten können. Ein örtlicher Zusammenhang ist wichtig, weil dann alle Bewohner «an einem Ort» wohnen, also höchstens ein paar Minuten zu Fuss brauchen, um sich zu treffen. Wenn alle wichtigen Funktionen örtlich gut gebündelt werden, lau-fen sich die Bewohner automatisch über den Weg. So entsteht ohne Aufwand eine informelle Alltagskommunikation (Mikrozentrum), die dazu beiträgt, eine ganze Reihe von Problemen bei ihrem Entste-hen unbürokratisch zu lösen. Fasst man weniger Menschen zu einer «Heimat» zusammen, gehen sie sich gegenseitig bald auf die Nerven, und es bestehen zu wenig Ressourcen (Ausbildung, Altersgruppen, verfügbare Zeit) für eine Infrastruktur mit einer gewissen Reichhal-tigkeit. Grössere Einheiten hingegen beginnen schon bald wieder zu zerfallen und müssen mit speziellen Institutionen – Kommissionen,

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Sitzungen – kommunikativ gekittet werden. In mittelgrosse Nachbar-schaften lässt sich vieles auf elegante Weise einbetten.

Diese neue «Beheimatung», die nichts mit alten Dörfern oder verhockten Stadtquartieren zu tun hat, ist besonders wichtig für eine Lebensweise, die durch das Internet, weltweite Mobilität, virtuelle Kontakte aller Art bestimmt ist. Ohne eine soziale Verankerung ris-kieren wir, uns in diesen Netzwerken zu verlieren und zu vereinsa-men. Gerade weil wir immer woanders und mit anderen zusammen sein können, ist die Rückkehr nach «Hause» und der Kontakt mit den etwas widerborstigeren, nicht-virtuellen Nachbarn wieder spannend. So sagt zum Beispiel einer der Propheten unserer schönen, virtuellen Zukunft, David Gelernter (Yale): «Die institutionellen Bürogebäude, die heute unsere Landschaft prägen, werden verschwinden. Geschäf-te und Läden sind schon daran, überflüssig zu werden. (...) Der End-effekt der weltumspannenden Informationsstrahlen wird aber Nach-barschaften so wichtig machen, wie sie es im 19. Jahrhundert waren. Die Leute werden Häuser brauchen und bequeme, nahe gelegene Treffpunkte...» (Gelernter, 2002, S. 241)

Vielfalt und Vergleichbarkeit

Die Nachbarschaften sind also keine normierten Siedlun-gen, sondern entstehen aus heutigen Nachbarschaften und unter heutigen Eigentumsbedingungen. Sie werden so umgebaut, dass die Bewohnerinnen ihre Bedürfnisse und Phantasie individuell oder kollektiv ausleben können. Aus dem heute vorherrschenden Einheitslebensstil wird ein Mosaik «eigenartiger» Nachbarschaften. Die Vielfalt ist ein neuer Reichtum. Vielleicht werden lokale Traditio-nen, kulturelle Eigenheiten, gemeinsame Hobbys (Jazz, Retro-Mode, No-Theater), Spezialitäten (Leberwurst, Holundersirup, Ravioli), Wohnideen (Klosterzellen, Grosswohngemeinschaften, möbelfreies Wohnen), internationale Austauschbeziehungen (Siena-Nord, Tribe-ca-Ost, Rio II), Farben (Ocker, Weiss, Rot), Formen (Spitzbögen) diese Nachbarschaften prägen – wir können es nicht wissen. Der Mix von Gemeinschaftsleben und Privatsphäre kann in jeder Nachbarschaft

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Eine städtische Nachbarschaft vorher (oben) und nachher (unten).

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selbständig bestimmt werden. Alle haben so die Chance, endlich die Wohnumgebung zu finden, die zu ihnen passt – denn zügeln ist na-türlich immer möglich. Was allen Nachbarschaften ähnlich ist, ist lediglich ihr «Grundleistungsauftrag»: das Alltagsleben ihrer Bewoh-nerinnen zu sichern.

Die neuen Nachbarschaften füllen die Lücke, die durch die Auflösung traditioneller Solidargemeinschaften wie Familien, Sippen, Stämmen, Dörfern entstanden ist. Im Unterschied zu diesen sind sie jedoch offene Beitrittsvereine, mit denen die Mitglieder Verträge auf Zeit abschliessen. Nachbarschaften sind also keine verschworenen Gemeinschaften, in denen alles kollektiv geschehen muss. Eine strikte Wahrung der Privatsphäre ist im Gegenteil äusserst wichtig, damit sich die Energien für gemeinschaftliche Aktivitäten erneuern können.

Nachbarschaften sind die idealen Institutionen, um die Stür-me der Weltwirtschaft, die vom Platzen einer riesigen Finanzblase be-droht ist, ohne Rückfall in die Armut überstehen zu können. Sie sind ein global verträgliches Modul, das an lokale Bedingungen angepasst werden kann. Die Mitgliederzahl von fünfhundert ist eine Richtgrös-se, unter gewissen Bedingungen können es auch 200 oder 2000 sein. In geographisch isolierten Situationen – so zum Beispiel auf Inseln oder in abgelegenen Tälern – wird es vorkommen, dass die Nachbar-schaften Aufgaben wahrnehmen müssen, für die sonst Gemeinden oder Nationen zuständig sind. Wichtig ist eine Übereinstimmung der Grundfunktionen und die Fähigkeit, miteinander auf gleicher Augen-höhe verkehren zu können.

Nachbarschaften sind nicht für alle Menschen die passende

Lebensform. Zwischen und mit ihnen können auch Einsiedler, unab-hängige Weiler und Höfe, Einzelhaushalte und andere unabhängige Gruppen und Gemeinschaften besser überleben als heute. Entschei-dend ist, dass die globalen Nachbarschaften, und nicht Einzelhaus-halte wie heute, das prägende gesellschaftliche Modul sind. Auch wenn nur die Hälfte oder zwei Drittel der Menschen sich so organisie-ren, reicht das für einen wirksamen Umbau.

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Was bedeutet die 1000-Watt-Lebensweise?

Wenn wir weltgerecht leben wollen, dann muss unser Ziel mindestens die 1000-Watt-Gesellschaft sein. Zwar wird heute noch – wohl um einer diffusen Akzeptanz willen – die 2000-Watt-Gesell-schaft propagiert, doch Studien zur Energiezukunft zeigen, dass wir Mühe haben werden, diese 2000 Watt nur schon aus nachhaltigen En-ergiequellen herzustellen (www.satw.ch, Roadmap Energie Schweiz, 2007, S. 21). Um auf einen CO2-Ausstoss von 0,8 Tonnen pro Kopf und Jahr zu kommen – was gemäss Klimaforschern das Maximum ist –, dann müssten wir sogar unter 1000 Watt verbrauchen, wenn man rea-listische Formen der Energieproduktion berücksichtigt (vgl. Monbiot, Hitze, S. 44).

Was eine 1000-Watt-Lebensweise bedeutet, zeigt folgendes Re-chenmodell eines Ökobilanzspezialisten (vgl. P.M. Subcoma, S. 126). Es geht nicht um die Beschreibung einer allgemein obligatorischen Lebensweise, sondern nur um die konkrete Illustration von theoreti-schen Rahmenbedingungen.

Mit 1000 Watt zu leben, bedeutet zuerst einmal ein Leben ohne

Privatautos, Flugreisen und private Haushaltmaschinen. Das heisst nicht, dass man keinen Zugang zu letzteren hat: Man kann sie sich ausleihen (zum Beispiel Franz Hohlers berühmte Bohrmaschine). Die Mobilität wird verschoben auf das Äquivalent von 9,34 Personenki-lometer pro Tag Bahnfahrten, eine Europareise von 2000 Kilometern und eine Übersee-Schiffsreise von 12 000 Kilometern pro Jahr. Zusätz-lich kann man so viel herumwandern und Velo fahren, wie man will. Die Mahlzeiten kommen aus der zentralen Grossküche, es gibt nur Saisongemüse aus der Region und wenig Fleisch (achtzehn Kilo pro Kopf und Jahr). Kleider und Möbel stammen aus Secondhanddepots, alles wird in der Grosswaschmaschine gewaschen, nur siebzig Liter Wasser werden pro Tag verbraucht (heutiger Schweizer Durchschnitt: 160 Liter ohne industriellen Verbrauch). Es gibt eine Zeitung auf zehn Bewohner. Man lebt auf zwanzig Quadratmetern Privatwohnraum in einem kompakten Gebäude mit allen Öko-Technologien. So kommt

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ein 1000-Watt-Bürger auf 26 729 Nano-Punkte Umweltbelastung und 17,5 Terajoule Energieverbrauch pro Jahr, beides ca. fünfmal besser als der heutige Schweizer Durchschnitt. Die Energiebilanz entspricht 1008 Watt pro Person. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte be-steht darin, dass diese Umweltbelastung gemäss den Annahmen der Ecoindicator95rf-Methode immer noch elfmal zu gross ist (im Ver-gleich zum heutigen CH-Durchschnitt, der 51 mal zu hoch ist). Wir müssen uns also ein noch radikaleres Modell vorstellen, zum Beispiel eine Schiffsreise nur alle drei Jahre, gänzliche Vermeidung von Plas-tik, praktisch kein Abfall mehr, nur halb so viele Bahnfahrten, noch weniger Fleisch. Damit liesse sich die Ökobilanz noch einmal halbie-ren. Das wären dann nur noch fünfmal zu viel... Wem diese Zukunft allzu grimmig erscheint, der soll nicht vergessen, dass schon heute eine Äthiopierin mit hundert Watt pro Tag auskommen muss.

Die 1000-Watt-Lebensweise lässt sich auf verschiedene Arten mit verschiedenen Methoden umsetzen: Vielleicht gibt es in der einen Nachbarschaft einige Mietautos, dafür essen deren Bewohner noch weniger Fleisch. Wenn es viele Arbeitsplätze innerhalb der Nachbar-schaft gibt, reduziert sich die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, und dann liegt auch mal eine Flugreise drin. Der Phantasie sind kei-ne Grenzen gesetzt. Die Faktoren einer Ökobilanz können individuell und von Nachbarschaft zu Nachbarschaft variieren, aber ihr Durch-schnitt muss etwa 1000 Watt betragen.

Nachbarschaftshaushalte sind ideal geeignet, um eine nach-haltige Lebensweise mit möglichst wenig Komfortverlust zu erreichen. Viele Ressourcen können an Ort und Stelle gemeinsam genutzt werden, eine grosszügige Infrastruktur kann sogar mehr Luxus bieten als heute unsere isolierten Kleinhaushalte. Eigene Restaurants, Bars, Billardsa-lons, Mediatheken, Wellnessräume, Dachterrassen, vielleicht sogar In-Door-Swimmingpools liegen drin. Die neuen Nachbarschaften funktio-nieren ähnlich wie Pauschalarrangements in einem Appartmenthotel. Reduktionen im individuellen Verbrauch bedeuten nicht einfach Ver-zicht, sondern höhere Lebensqualität auf kollektiver Ebene, genauso wie wir es in den Ferien so schätzen.

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Weniger Hausarbeit für alle

Nachbarschaften sind nicht nur aus ökologischen Gründen optimal, sie bieten auch im wirtschaftlichen Bereich Vorteile und vor allem echte Existenzsicherheit. Gemeinschaftliche Dienstleistungen sparen Hausarbeit. Einen Teil dieser eingesparten privaten Hausar-beitszeit leisten wir als allgemeine Hausarbeit, die zwar verrechnet, aber nicht in Franken ausbezahlt wird. Das werden je nach Entwick-lung der neuen Strukturen zwei bis vier Stunden pro Woche (bzw. ca. hundert bis zweihundert Stunden pro Jahr) sein. Diese Nachbar-schaftsarbeit ist für alle Erwachsenen obligatorisch, kann aber indi-viduell eingeteilt werden. Jede hat dafür ein Konto, das innerhalb be-stimmter Zeiträume ausgeglichen sein muss. Mit dieser Arbeit werden die gemeinschaftlichen Einrichtungen und Dienstleistungen betrie-ben: Kochen, Putzen, Kinder beaufsichtigen, Swimmingpool reini-gen, Laden betreuen, Waschen, Reparieren usw. Alle Mitarbeitenden erhalten ein Mehrfaches ihres Einsatzes zurück.

Mit dieser Arbeit wird sowohl die Lebensqualität verbessert, als auch der monetäre Aufwand gesenkt. Die Lebenskosten sinken. Zudem wird ein Teil bisher unbeliebter Arbeiten auf alle, auch auf die Männer, verteilt. Die Hausarbeit bildet heute mindestens fünfzig Prozent der gesellschaftlich notwendigen Arbeit und wird zu neunzig Prozent von den Frauen verrichtet, meist unbezahlt. Die nachbar-schaftliche Hausarbeit ist die lang ersehnte Chance für die Männer, ein Stück Gleichstellung herzustellen.

Die Entlastung von Hausarbeit ermöglicht, dass alle eine aus-wärtige Tätigkeit ausüben können, die eine spezialisierte Ausbildung und mehr Erfahrung erfordert (siehe: Helvetische Akademie). Das kann durchaus wieder im Haushaltbereich sein, aber diesmal pro-fessionell und in einer kontinuierlichen, leitenden oder gestaltenden Funktion: Neben den landwirtschaftlichen Ernteeinsätzen wird eine professionelle Arbeit als Ärztin, Hausverwalterin, Agronomin, Loko-motivführerin, Architektin, Kampfpilotin, Lehrerin usw. ausgeübt.

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Ein vielseitiges Mikrozentrum alle zweihundert Meter

Aus gesichtslosen Schlafquartieren entsteht in den Städten und in grösseren Dörfern ein buntes Mosaik «eigenartiger» Orte. Es kann auch Einzelnachbarschaften geben, die ein kleines Dorf bilden. Die Dienstleistungszentren und Treffpunkte der Nachbarschaften bilden urbane Mikrozentren, wo sich das Alltagsleben bündelt. Das kann eine intime Piazzetta sein, ein grosszügiges Foyer, eine kleine «Soziallandschaft». Die Nachbarschaften bereichern also nicht nur das Leben ihrer Bewohner, sondern auf Gegenseitigkeit das aller Stadtbewohner. Es entsteht endlich jene Urbanität, von der heute nur beschwörend geredet wird.

Ein Mikrozentrum mit integriertem Lebensmittellager würde idealerweise am gleichen Ort ein Restaurant (auch für Veranstaltun-gen, als interne Kantine), eine Bar, Reproduktionsdienste (Waschen, Kleiden, Reparieren, Körperpflege), Info-Dienste (Post, Mediathek, Anschlagbretter, Computer), einen Backofen, die Verwaltung, eine Pension oder Gästezimmer enthalten. Es ist kein Quartierzentrum, sondern ein halböffentlicher Raum, der privates Innenleben mit Strassenleben verbindet.

Siebzig Milliarden für viele bunte Nachbarschaften

Wenn wir für eine erste Umbauetappe fünf Millionen Franken pro Nachbarschaft einsetzen, dann kostet das siebzig Milliarden Fran-ken (bei einer theoretischen Annahme von 14 000 Nachbarschaften – in Realität werden es viel weniger sein, weil ja nicht alle Menschen in Nachbarschaften wohnen werden). Verteilt auf zehn Jahre sind das sieben Milliarden aus dem Neustart-Fonds. In Wirklichkeit wird weniger gebraucht, weil ein Teil des Umbaus im Rahmen normaler Sanierungen finanziert werden kann. Neubauten sind natürlich auch möglich, werden aber die Ausnahme sein müssen. Vielmehr wird es darum gehen, bisherige Bauten zu verdichten, zusammenzurücken, Rochaden zu ermöglichen, mehr kleinere Wohnungen zur Verfügung

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zu stellen. Heute entfallen fast fünfzig Quadratmeter Wohnfläche auf eine Person. In Zürich zum Beispiel werden dreiundzwanzig Prozent der Vierzimmer-Wohnungen nur von einer Person bewohnt. Wenn die Menschen in den Städten zusammenrücken, dann wird zugleich mehr Wohnraum frei für Zuzüger aus den ökologisch besonders schlechten Einfamilienhaussiedlungen. «Grün» ist nicht das Leben im Grünen, sondern dasjenige in ökologisch optimierten Stadtgebäuden.

Mit dem Aufbau von Nachbarschaften können wir sofort be-ginnen. An vielen Orten bestehen sie als Gebäudeensembles schon und brauchen nur noch mit den nötigen Einrichtungen versehen zu werden. Bei Umbauten müssen wir darauf achten, keine Häuser mehr zu bauen, sondern Nachbarschaften. Gemeinden, Genossenschaften, private Eigentümer können diesen Umbau finanziell unterstützen. Es liegt an den Neustart-Mitgliedern, solche Initiativen in ihren Gemein-den in Gang zu bringen.

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Mikro-Agro

Landwirtschaftsbetriebe und Nachbarschaften werden Partner

Die Nachbarschaften sind ideale Partner für die Landwirt-schaft. Als kollektive Abnehmer sind sie gross genug, um Lieferung und Lagerung effizient betreiben zu können. Wenn die Lebensmittel regional, biologisch, saisonal und von persönlich bekannten Bäu-erinnen produziert werden sollen, dann sind direkte Verträge mit Bauernbetrieben mit einer Fläche von etwa hundert Hektaren er-forderlich. Rein theoretisch ergäben das 14 000 Grossbetriebe mit je hundert Hektaren Fläche, gleich viele, wie es Nachbarschaften gibt. (Heute gibt es in der Schweiz 61 800 Landwirtschaftsbetriebe.) Ein solcher intern diversifizierter Betrieb kann bis zu achtzig Prozent der Nahrungsmittel liefern. Die Betreiber könnten mit der Nachbarschaft zusammen eine Universalgenossenschaft bilden, die entscheidet, was und wie produziert werden soll, mit beidseitiger Beteiligung am Risiko. Die Stadtbewohner hätten damit einen Landsitz, die landwirt-schaftlich Tätigen ein Pied-à-terre in der Stadt. Abweichend von die-sem theoretischen Beispiel sind weitere, immer noch ökologisch sehr gute Lösungen denkbar: mehrere Bauernbetriebe, die mehrere Mikro-zentren beliefern, stadtnahe Gärtnereien für Gemüse, stadtferne für lagerfähige Produkte (spart Transporte!), zwei Mikrozentren, die mit einem Betrieb mit zweihundert Hektaren Fläche verbunden sind, Lie-ferungen an den ergänzenden Grossverteiler (MigrosplusCoop=MICo) und an diverse Mikrozentren usw.

Es ist wichtig, dass sowohl Bauern wie Konsumentinnen Be-triebsformen und Lieferbedingungen finden, die zu ihnen passen. Es wäre nicht sinnvoll, in einer Art schematischer «Melioration» gut funktionierende Bauernbetriebe zusammenzulegen. Umgekehrt sol-len Bauern auch nicht Sklaven ihrer Kühe sein und die Möglichkeit haben, neue Betriebsformen auszuprobieren.

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Belebte Agrozentren statt isolierte Einzelbetriebe

Die Landwirtschaftsbetriebe einer oder mehrerer Nachbar-schaften können sich zu einem Agrozentrum zusammentun, das ei-nige Gästezimmer, ein Restaurant, eine Mediathek, einen Badeteich, einen Milchverarbeitungsbetrieb, eine Hofmetzgerei, eine Kompogas-anlage, ein Kinderparadies usw. einschliesst. Es entsteht ein reich-haltiger ökonomisch-kultureller Mikrokosmos, der mit der Stadt und benachbarten Agrozentren im Austausch steht. In vielen Fällen kön-nen solche Agrozentren durch einen Ausbau bestehender Weiler oder Dörfer geschaffen werden. Der Kooperation zwischen Agrozentren sind keine Grenzen gesetzt. Wichtig ist aber, dass Transporte zu den Konsumenten nicht getrennt erfolgen.

Eine weitgehend einheimische Lebensmittelversorgung be-dingt eine arbeitsintensive Mischkultur, die eher 100 000 bis 200 000 Arbeitskräfte als die heutigen 50 000 bis 150 000 (je nach Zählung der haupt- oder nebenberuflich Beschäftigten) benötigen würde. So-wohl die Arbeit in den Mikrozentren, als auch jene auf dem Land wird teilweise als Nachbarschaftshausarbeit geleistet und nicht monetär vergütet.

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Landarbeit für alle

Die Beschäftigung aller Menschen mit Landwirtschaft ist ein integraler Bestandteil eines globalen Heilungsprozesses, genauso wie jene mit Demokratie. Das heisst also, dass auch Forscherinnen und Forscher in den Hightech-Labors immer wieder Landeinsätze in ihren Nachbarschafts-Bauernhöfen leisten werden. Andere Arbeitskräfte können Freiwillige sein, die schon pensioniert sind, gerade eine Lü-cke in der Beschäftigung haben, eine «ländliche Phase» brauchen. Damit ist die Landwirtschaft subventioniert durch «Gratisarbeits-kräfte», die ihrerseits ein Grundeinkommen beziehen. Ein weiterer Teil des bäuerlichen Einkommens besteht aus der Mitbenutzung aller Dienstleistungen ihrer städtischen Partner. Die Versorgung mit Ener-gie, Maschinen, Saatgut, Zusatzprodukten wiederum wird von einer einzigen territorialen Organisation übernommen. (Die Bauern zahlen heute eine Milliarde zu viel für ihre Hilfsprodukte. Vgl. Sommaruga/Strahm, 2005) Damit kann die Territorialverwaltung, wie heute schon, mit der Preisgestaltung einen ausgleichenden Einfluss auf die Betrie-be nehmen. Das verfügbare Geldeinkommen entsteht aus den Zah-lungen der auf diese Weise stark verbilligten Nahrungsmittel durch die Abnehmenden, womit die angestrebte Senkung der Lebensmittel-preise um mindestens dreissig Prozent zustande kommt, ohne dass das Auskommen der Bauern leidet. Im Mittelland und in den Hügel-gebieten ist also durchaus eine sinnvolle Landwirtschaft möglich, die weder marktwirtschaftlich noch rein dekorativ ist.

Kurzfristig kann der Mikro-Agro-Prozess dadurch eingeleitet werden, dass ein Teil der Subventionen zum Aufbau von Nahrungs-mitteldepots in den Nachbarschaften und den Agrozentren auf dem Land verwendet wird. Diese gezieltere «Subventionierung» durch die Konsumenten wird die heutige, unsinnige flächendeckende Struk-turerhaltung ablösen. Es macht keinen Sinn, ein bisschen Industrie und Handwerk in Tälern am Leben zu erhalten, wenn dies besser an-derswo und vor allem näher bei den Kunden geschehen kann (vgl. Verkehr).

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Für einen spannenden Kontrast zwischen Stadt und Land

Die Abwanderung aus den Bergtälern ist nicht nur eine Folge ungenügender Arbeitsplatzangebote, sondern eine Reaktion auf das sozial und kulturell zu schwache Dorfleben (vgl. die ETH-Studie zu Vrin). Darum ist es in vielen Fällen vernünftiger, Bergregionen «auf-zugeben», Hanglagen aufzuforsten und zusammenhängende «tech-nologiefreie» Zonen (keine Elektrizität, keine Verbrennungsmotoren, keine elektronische Kommunikation) zu schaffen, in denen sich die High-Tech-Arbeitenden wirklich erholen können, ohne von Trakto-ren- und Heubelüftungslärm genervt zu werden. Wir werden uns auf wochenlange Wanderungen begeben können und ausser Gemsen, Wölfen und Bären nur einzelnen Sennen und Senninnen, Hütten-warten und vielleicht einem besonders schmucken Bergdorf begeg-nen. Für die Pflege der Wälder und Alpen reichen saisonale Einsätze aus. Qualitativ hochstehende Erholungsgebiete, zu denen man nicht hinfliegen muss, werden für die gesamte Produktivität des Landes wichtiger sein als mühsam aufrechterhaltene Betriebe. Sie werden Kosten, die sonst der Ferntourismus verschlingt, einsparen. Dieser wird ohnehin wegen der steigenden Treibstoffkosten bald nicht mehr erschwinglich sein.

Wenn wir nicht mehr wegfliegen und die transkontinentalen Touristen nicht mehr einfliegen können, verschwindet der Massen-tourismus und das «Leben wie zu Gotthelfs Zeiten» wird als Ausgleich wieder möglich. Während die Techno-Zone entlang der Bahnlinie St.Gallen-Genf verdichtet und optimal vernetzt wird, wird der Alpen-raum von Zweitwohnungsburgen und Bergbahnen befreit und auf Schritt- oder Maultiertempo verlangsamt. Drei Wochen Alpenurlaub werden so zu einem tiefgreifenden, mystischen und gefährlichen Er-lebnis, das die Inspiration zu neuen techno-kulturellen Sprüngen liefert.

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Basisgemeinde

500 urbane Einheiten

Die zweite Heimat neben der Nachbarschaft ist das Stadtquar-tier oder die kleine Landstadt mit zehn bis vierzig Nachbarschaften und 10 000 bis 20 000 und mehr Bewohnern.

Kleine Städte und Quartiere dieser Grösse gibt es überall in der Schweiz schon. Sie müssen nur noch rück-verdichtet und umgerüstet werden. In der Studie der Metron zu einem nachhaltigen Raumkon-zept (Frauenfeld, Uster, Grenchen, 2006) finden wir eine Zwischen-grösse zwischen Nachbarschaft und Basisgemeinde, nämlich «fuss-läufige Quartierzellen» von 2500 Bewohnern. Diese Zellen sind zu klein für eine volle Dienstleistungspalette (z.B. Schulen) und doch wieder zu gross, um ein intensives Nachbarschaftsleben und eine feinmaschige Stadt-Land-Beziehung zuzulassen. Sie würden letztlich unnötige Transporte erzeugen. Selbstverständlich kann einmal ein Dorf/Quartier nur aus fünf Nachbarschaften bestehen. Wichtig bei all diesen Modulen ist jedoch eine klare funktionale Hierarchie. Diese garantiert letztlich die ökologischen und wirtschaftlichen Vorteile.

Diese fünfhundert Basisgemeinden bilden zugleich die po-litische Basis des Territoriums. Ein Gemeinderat kümmert sich hier um alle Belange, die nicht territorial geregelt sind. Die Reduktion von heute 3000 auf fünfhundert lebensfähige Gemeinden ist an vielen Or-ten schon im Gang (z.B. im Kanton Glarus). Während Kleingemeinden zu lebensfähigeren Basisgemeinden zusammengeschlossen werden, müssen auch die oft gesichtslosen Quartiere grosser Städte eine Um-gestaltung und Aufwertung erfahren. Basisgemeinden vergleichbarer Grösse und Ausstattung und mit einem klar definiertem, multifunk-tionalem Zentrum sind das Rezept gegen öde Vorstädte und den Ag-globrei. Wenn sie in fünf Minuten Fussdistanz alles Lebenswichtige bieten, ist der grösste Teil des Verkehrsproblems schon gelöst.

Die Basisgemeinden ergänzen einerseits die Nachbarschaf-ten, bilden aber andererseits das Bindeglied zu den landesweiten Institutionen, zum helvetischen Territorium (siehe unten). Diese

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Aufgabe übernimmt ein Bürgerzentrum, das Teil des Gemeindezen-trums ist. Hier haben alle territorialen Dienste und Organisationen ihre Vertretung: der ergänzende Lebensmittelgrossverteiler (MICo), die territoriale Akademie, die Polizei, die Verwaltung, der Gesund-heitsdienst, die Sozialversicherung usw. Dieses Bürgerzentrum ist das One-stop-Interface zwischen Bürgern und Staat. Diese Dienste und die Unternehmungen des Quartiers selbst bilden ein Quartier- oder Stadtzentrum von einer Fläche von etwa zweitausend Quadrat-metern.

Die ursprüngliche politische Arena

Eine Ergänzung zu den zwar demokratischen, aber doch für in-terne Fehlentwicklungen und Blockierungen (Feindschaften, Intrigen, ausweglose Kommunikationsschleifen) anfälligen Nachbarschaften ist notwendig. Das «Dorf» ist zwar von aussen gesehen oft schön, doch es kann sozial zur kleinen Hölle werden. Die Verletzbarkeit des Indivi-duums durch eine Gemeinschaft, die ihm so viel bietet, ist gross und braucht daher ein externes Schutzsystem. Die Basisgemeinde ist dafür der richtige Rahmen. Sie bietet unabhängige Richter, Untersuchungs-organe, Ausweichmöglichkeiten (Hotel), zusätzliche Unternehmungen (Primar- und Gymnasial-Akademie, handwerkliche Betriebe, Theater, Thermen), Versorgungsstrukturen (Wasser, Elektrizität, Verkehrsmit-tel, Poliklinik) und Freiräume (Markt, industrielle Areale, Festsäle, Salons, Parks). Auf dem zentralen Quartierplatz beim Quartierzent-rum bewegen sich die Menschen nicht als Nachbarinnen, sondern als Bürgerinnen, als gleichberechtigte Teilhaber an einem gesellschaftli-chen Organismus. Hier verfolgen sie technische, künstlerische, wissen-schaftliche oder andere Interessen zusammen mit Partnern aus allen Nachbarschaften, aus der ganzen Stadt und darüber hinaus. Es ist das Reich der freien Assoziation, wo öffentliche Angelegenheiten persön-lich diskutiert werden. Ohne diese moderne Wiederbelebung der Polis kann keine funktionierende Demokratie bestehen.

Wo die Basisgemeinde nicht einem Quartier einer grösseren Stadt entspricht, kann sie auch als kleine Landstadt mit 10 000 bis

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Eine städtische Basisgemeinde mit ihrem Zentrum

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30 000 Bewohnern existieren und dort zu einem Verdichtungspunkt von Streusiedlungen werden. Wo überhaupt keine grösseren Siedlun-gen bestehen, zum Beispiel in Alpentälern, kann eine Basisgemeinde ihr Zentrum in einem geeigneten Dorf aufbauen. Isolierte Siedlungen unterhalb dieser Grössenordnung sind weder ökologisch (Landver-brauch, Wege) noch sozial attraktiv. Das Dorf ist definitiv kein Modell mehr, trotz Satellitenschüssel. Das sieht man schon daran, dass es in der Schweiz von halbverlassenen, überalterten Dörfern wimmelt. Weiterhin lebensfähig sind die Weiler (Agrozentren) der Landwirt-schaftsbetriebe von städtischen Nachbarschaften oder Quartieren und schöne Land- und Berggasthöfe.

Dreissig Milliarden für den Siedlungsumbau

Der Umbau des heutigen Agglobreis zu einer abgestuften, urbanen Struktur braucht ein landesweites Programm, das aus dem Neustart-Fonds gespeist wird. Wenn wir für den Ausbau der Basis-gemeindezentren je fünfzig Millionen Franken einsetzen, so ent-spricht dies dreissig Milliarden, verteilt über zehn bis zwanzig Jahre. Zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten sind Benzinpreiszuschläge (Klimarappen), die regulären Budgets von bestehenden Gemeinden, Ausgleichszahlungen von reichen Basisgemeinden oder solchen mit weniger Umbaubedarf.

Der Auf- und Umbau von lebendigen Quartierzentren hat vie-

lerorts schon begonnen, indem bei den heutigen Planungen darauf abgezielt wird. Wenn die Mikrozentren einen immer grösseren Teil der Lebensmittelversorgung übernehmen und die Grossverteiler (vor allem Shoppingcenters ausserhalb der Siedlungen) ersetzen, wird es wieder möglich, zusätzliche Dienste und Versorgungslokale in die Quartierzentren zurückzuholen. Die heute oft öden oder künstlich museal aufgemotzten Kleinstadtzentren werden wieder zu Orten des Alltagslebens.

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Metropole, agro-urbane Region

Grossstädte: die grünste Lebensweise

Seit dem Jahr 2007 lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten. Seit dem alten Babylon, Rom und Bagdad sind Metropolen die kräftigsten Attraktoren der Weltgeschichte gewesen. Die Welt-städte des 19. Jahrhunderts (London, Paris, New York) haben die Weltgesellschaft erst geschaffen. Die heutigen Global Citys sind al-lerdings kaum noch als Städte, als organisch kommunizierende Ein-heiten, zu bezeichnen, sondern sie sind nur gigantische Additionen von Wohn- und Arbeitsplätzen. Diese Gebilde sind unüberschaubar, chaotisch, unplanbar, parasitär. In vielen Aspekten sind sie mit den globalen Rahmenbedingungen (Ressourcenverbrauch, Demokratie, Kommunikabilität) nicht mehr vereinbar. Und doch bilden sie einen unverzichtbaren und auf jeden Fall unwiderstehlichen Attraktor, eine faszinierende Mischung von Anonymität und kollektivem Rausch. Kombiniert mit den anderen Modulen können sie ihr Potenzial ent-falten, ohne sich selbst und das Umland zu zerstören.

Wenn Metropolen (Städte über 250 000 Bewohner) aus selb-ständig organisierten Basisgemeinden bestehen, kann der für eine echte Kreativität notwendige Chaosbereich in einem Rahmen gehal-ten werden, der nicht selbstzerstörerisch ist. Da fünfhundert Nach-barschaften und fünfzig Quartiere intern ihren Nachschub organi-sieren und die meisten Alltagsaufgaben übernehmen, entsteht kein parasitärer Moloch, sondern ein Weltspielplatz von Projekten und Produkten.

Ökologisch gesehen sind die grossen Städte die «grünste» Siedlungsform. Die grünste Stadt der USA ist zum Beispiel Manhattan –nicht etwa Houston Texas mit seinen vielen Gärten –, und das nicht wegen des Central Parks. Dank kurzer Distanzen, öffentlicher Ver-kehrsmittel und verdichtetem Wohnen beträgt der Energieverbrauch pro Kopf nur einen Bruchteil von dem in anderen Städten. Die nach-haltige Zukunft findet in den Städten statt. (Owen 2004, S. 111)

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Sieben Regionen für den Alltag – 26 Kantone für Feste und Feiern

Es gibt in der Schweiz keine echte Weltmetropole, sogar Zü-rich mit Umland (1,5 Millionen Bewohner) ist nur eine mittelgrosse Stadt mit einigen Ambitionen. Was wir haben, sind sieben grössere Städte oder Agglomerationsschwerpunkte, die als Zentren von sie-ben agrourbanen Regionen fungieren können: Zürich, Bern, Basel, Genf/Lausanne, Lugano, St. Gallen und Luzern. Wir haben also eine Region Zürich (TURO), eine Region Ostschweiz (ORO), eine Region Mittelland/Bern (MIRO), eine Region Nordwestscheiz (NORO), eine Region Innerschweiz (IRO), eine Region Léman (LERO), eine Region Südschweiz (SURO). (Vgl. Diener, 2005) Diese Regionen sind in ver-schiedenen Varianten schon vorgeschlagen worden, manchmal wer-den sie auch als Grosskantone (Romandie, Ostschweiz usw.) bezeich-net. Landesplaner, Politiker, Publizisten verschiedener politischer Couleur haben erkannt, dass die Kantone schon lange nicht mehr die wirklichen Lebensbereiche der Bürger und Bürgerinnen enthalten, und dass viele Aufgaben in ihrem Rahmen nur schlecht oder kost-spielig gelöst werden können. Vor allem im Verkehrswesen sind die erwähnten Regionen sozusagen von selbst schon entstanden.

Die Realisierung der Regionen ist jedoch nicht möglich, wenn nicht die ganze Struktur von Nachbarschaften bis Basisgemeinden und Territorium in ihrem Zusammenhang verändert wird. Als reine Verwaltungsreform hat sie zu wenig Wirkung. Ohne lebensfähige Ba-sisgemeinden und eine verstärkte Zentralregierung werden Regionen nur zu einem schlechten Kantonsersatz.

Die Kantone und ihre kulturellen Eigenarten bleiben als tra-ditionelle Einheiten erhalten. Sie können ihre Dialekte, ihre Trachten und gastronomischen Spezialitäten, ihre bunten Fahnen und ihre Feste und Feiern weiterpflegen. Teilweise fallen die neuen Regions-grenzen mit früheren Kantonsgrenzen zusammen.

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Gemütliche Quartiere – pulsierende Zentren

Wenn eine Stadt nur eine Ansammlung gemütlicher, selbst-versorgender Quartiere wäre, dann wäre sie langweilig, weil jegliche Spannung fehlen würde. Die Stadt bietet zusätzliche, ihr eigentümli-che Qualitäten. Sie eröffnet spezifische Gestaltungsspielräume: indus-trielle Anlagen, Hochschulen, Opern, Spitäler, Märkte für Luxusgüter, Spitzengastronomie, architektonische Wunder (Museen, Konzerthal-len, Türme), Labors, Zirkusse, Messen, Kongresse usw. Diese Zentren sind sowohl regionale wie globale Treffpunkte, wo sich die Kommu-nikation in verschiedenen Assoziationen abspielen kann. Die Gross-stadt ist zugleich das Schwerkraftzentrum einer agro-urbanen Regi-on (AUR). Die Versorgung auch grosser Städte aus einem regionalen Umland (bis zu fünfzig Kilometer weit) ist auch heute noch möglich. Umgekehrt können viele Dienstleistungen für die Region am besten und kostengünstigsten zentral erbracht werden. «Technisch scheint es möglich, auch Megacitys mit traditionellen Mitteln zu versorgen.» (Grimm, 2008, S. 23)

Die demokratische Repräsentation auf Stadtebene enthält zwar auf Grund einer grösseren Volksferne einige Risiken, die aber wiederum durch die starke Position der Quartiere und die intensive Kommunikation im Zentrum relativiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben Zeit, sich um ihre Politiker zu kümmern. Diese neuen «organischen» Global Citys werden einerseits lebendiger und bunter sein als die heutigen, andererseits aber doch grundsätzlich demokra-tisch beherrschbar bleiben.

Konzentrierter Luxus in einer einzigen City

Während die Quartiere ein gemütliches Alltagsleben bie-ten, sollte das Stadtzentrum den aussergewöhnlichen Ereignissen, dem Luxus, dem internationalen Kontakt, den Spitzenleistungen dienen. Keine Stadt der Schweiz erreicht die Stufe einer Weltme-tropole. Dafür haben wir gemütliche, mittelgrosse Städte, mit ei-nigen internationalen Verbindungen (Genf, Basel, Zürich). Wenn

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wir als Beispiel Zürich nehmen, so stellen wir grosse Defizite an grossstädtischem Leben fest. Das Zentrum ist zu schwach ausge-baut, nicht wettersicher, oft leer. Wenn das Shopping vorbei ist, veröden die Strassen. Da das Gebiet um den Hauptbahnhof optimal durch den öffentlichen Verkehr erschlossen ist, sollten die meisten grossstädtischen Kommunikationszentren in Fussgängerdistanz von dort aus erreichbar sein. Leider sind gerade hier viele öffent-lich zugängliche Nutzungen verschwunden und haben sich Ban-ken und Verwaltungen breit gemacht. Dafür breiten sich an den Rändern allerlei «Citys» – Sihlcity, Science City – aus, die keine sind. Die Bahnhofshalle ist zwar gross und schön, aber wegen ih-rer dauernden Durchspülung durch Passantinnen doch kein echter Treffpunkt.

Zürich: ein Metro-Foyer auf der Limmat

Bleiben wir beim Beispiel Zürich: auf dem Areal des Glo-busprovisoriums soll endlich ein echter Stadttreffpunkt (Metro-Foyer) gebaut werden, und zwar grosszügig, mindestens doppelt so gross wie die heutigen Gebäude. Im Erdgeschoss befindet sich eine mit dem Bahnhofsareal durch Galerien oder Arkaden wet-tersicher verbundene Halle, die vor allem dem intermetropolita-nen Austausch dient. Weltstädte wie London, Bombay, New York, Moskau oder San Francisco würden dort Bars, Foyers, Restaurants oder andere Lokale unterhalten, wo sich reisende Landsleute mit Zürchern treffen können. Die Stadt selbst betreibt dort ein gros-ses Foyer ohne Konsumationszwang, wo Gäste Unterkünfte su-chen, Medien konsultieren, sich über Quartiere informieren oder einfach Stadtbewohner treffen können. Aus anonymen Touristen sollen Gäste werden. In den oberen Räumen befinden sich Ver-sammlungsräume für städtische Organisationen (Parteien, Ver-bände, NGOs, Initiativgruppen aller Art). Es gibt eine Infothek zur Stadtentwicklung, ein ständiges Stadtlabor und gut ausge-rüstete Veranstaltungsräume.

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Das Metro-Foyer erlaubt es den Bürgerinnen und Bürgern, sich an der Entwicklung einer lebensfreundlicheren Stadt aktiv zu be-teiligen, Kontakte über Quartiergrenzen hinweg zu pflegen, ein inter-nationales Netzwerk der Städte von den Bewohnern her aufzubauen. Logischerweise kann das Metrozentrum zugleich der Sitz der Regio-naladministration TURO werden, die kurzfristig aus einem gemisch-ten Zweckverband von betroffenen Kantonen und Gemeinden beste-hen kann. (Im Falle von Zürich wären das wohl der Kanton Zürich selbst und Teile der Kantone Aargau, Thurgau, Schaffhausen, Schwyz – im Prinzip der ZVV-Bereich.) Diese AUR-Räte könnten zuerst ergän-zend, dann immer mehr ablösend regional relevante Funktionen der alten Verwaltungseinheiten übernehmen wie Verkehr, Industrie, Ge-wässer, Abfälle, Kultur, LMO- und CA-Finanzausgleich usw.

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Verkehr

Gar nicht erst einsteigen statt bloss umsteigen

Das Verkehrsvolumen ist eine Resultante vieler, wechselseitig abhängiger Faktoren wie Funktionsteilung, Freizeitverhalten, Versor-gungsstrukturen, Siedlungsstruktur usw. Insofern kann es keine isolierte Verkehrspolitik geben. Zugleich ist die für den Verkehr aufzubringende Energie eines der «Hauptsorgenkinder» aller Studien zur nachhaltigen Energiezukunft («Gemäss Roadmap kann, bezogen auf das Verbrauchs-niveau des Szenarios IV, ein Viertel einheimisch erneuerbar gedeckt werden, sofern das aus Biomasse erzeugte Gas vollständig im Verkehr eingesetzt wird.» SATW, 2007, S. 21). Ohne eine drastische Reduktion des Verkehrsaufkommens durch ein ganzes Bündel von strukturellen Ver-änderungen ist deshalb eine nachhaltige Zukunft undenkbar.

Die nötige Verkehrsenergie resultiert aus den Faktoren Frequenz, Distanz und Masse (korrigiert – wie immer – durch die technische Ener-gieeffizienz der Verkehrsmittel). Das heisst, dass Nähe und Multifunkti-onalität Energie sparen. Im Prinzip hat das Territorium Schweiz 28 000 Verkehrsterminals (Agro- und Mikrozentren), wozu noch Betriebe kom-men, die sich an diese örtlich anlehnen, was in den meisten Fällen mög-lich ist. Für eine ausreichende Erschliessung mit öffentlichem Verkehr reichen allerdings die fünfhundert Gemeindezentren aus, von wo aus wiederum Nachbarschaften leicht zu Fuss oder mit dem Velo erreichbar sind. Wenn die nötige Verdichtung zu Stande kommt, resultiert sowohl eine Reduktion des privaten Quellverkehrs als auch ein ausreichendes Verkehrsaufkommen für die Knoten des öffentlichen Verkehrs (keine leeren Busse).

Zusammenbringen, was zusammengehört

Die Reintegration von Wohnen, Arbeiten und Erholung in urbane Verdichtungen wird von sich aus das Verkehrsaufkommen vermindern, und zwar sowohl den privaten als auch den öffentlichen Verkehr. Das

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lokale Strassennetz kann auf Fahrstrassen reduziert werden, die vor allem dem landwirtschaftlichen und dem Velo-Verkehr dienen. Nach einer Umstellungszeit, in der sie zuerst intensiver benützt werden, können auch die S-Bahnnetze redimensioniert und die Fahrpläne ausgedünnt werden. Statt leere Busse nach starren Fahrplänen durch die Gegend zu schicken, können computeroptimierte Kleinbussyste-me nach Bedarf ausgebaut werden. Hingegen wird der internationale Bahnverkehr wohl eher zunehmen, damit der immissionsreiche Flug-verkehr auf ein Minimum reduziert werden kann.

Die ökologischen Rahmenbedingungen einer 1000-Watt-Ge-sellschaft erfordern eine drastische Reduktion des motorisierten Pri-vatverkehrs und eine gezielte Reduktion und Optimierung des öffent-lichen Verkehrs.

Technische Effizienzsteigerungen, wie zum Beispiel Hybrid-autos, sind natürlich immer willkommen, werden aber nie zu sub-stanziellen oder rechtzeitigen Einsparungen führen, weil Mobilität viel zu stark mit unserer Lebensweise als ganzer verflochten ist. Wir müssen uns schneller und wirksamer umstellen.

Eine ganze Reihe von Faktoren können zur Flexibilität und Bündelung der erforderlichen Transportleistungen beitragen. So kön-nen die Gästezimmer der Nachbarschaften spontane Übernachtun-gen statt Nachtfahrten (die schwer auszulasten und zu planen sind) ermöglichen. Der Austausch zwischen Nachbarschaften, die ja alle vergleichbare Dienstleistungen anbieten, erleichtert die Wahl eines Wohnortes nahe am Arbeitsort.

Wieder lustvoll reisen

Verdichtung und Multifunktionalität ersparen vor allem den ohnehin lustlosen, überflüssigen Verkehr, die Mobilität als Plage. Doch ist es klar, dass ohne Mobilität eine kreative, gesellschaftlich dynamische Kommunikation nicht möglich ist. Auch wenn die ent-stehende globale Cybersphäre physische Mobilität überflüssig macht und vielfältige Kontakte fördert, so ist doch das Zusammentreffen von Menschen, die Möglichkeit schnell Teams bilden oder Veranstal-

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tungen persönlich besuchen zu können, immens wichtig. Auch Welt-reisen müssen möglich sein.

Die Reduktion der routinemässigen Mobilität macht Kapazi-täten frei für eine gezielt gewählte Mobilität. Andere Faktoren, zum Beispiel die grössere Flexibilität im Arbeitsleben, die Möglichkeit mit dem Internet Termine optimieren zu können und unnötige Treffen zu vermeiden, geben weitere Kapazitäten frei. Im Bereich des Freizeit-verkehrs bringt eine höhere gesellschaftliche und kulturelle Attrak-tivität von Nachbarschaften, Quartieren und Städten Entlastung. Die Umstellung von Kurzferien auf längere Urlaube, also alle vier Jahre ein halbes Jahr frei statt eine Woche Mallorca im Frühling und zwei Wochen Malediven im Herbst, spart insgesamt Transportenergie (Schiff und Bahn statt Flugzeug) und führt erst noch zu intensiveren Erlebnissen. Warum nicht zu Fuss nach Wladiwostok wandern und dabei noch tungusisch lernen?

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Territorium Schweiz (Territorium Helveticum)

Während von «unten» her die gesellschaftlichen Strukturen erneuert und ausgebaut werden, ist von «oben» her eine allgemeine Verwaltungsreform nötig.

Lokale Selbstbestimmung und zentrale Verwaltung = weniger Staat

Wenn wir von den drei Stufen – Nachbarschaft, Basisge-meinde, Stadt/agrourbane Region – ausgehen, dann kann die ganze Verwaltung radikal vereinfacht werden und können damit Ressourcen für die effektiven Aufgaben frei gemacht werden. Wozu braucht ein winziges Gebiet, das kleiner ist als Dutzende Weltstäd-te, dreitausend Gemeinden, dreihundert Bezirke und sechsund-zwanzig Kantone? Andernorts wäre das nur eine Gemeindeverwal-tung mit einem Bürgermeister. Warum also nicht formell-staatliche Aufgaben wie Gerichtsbarkeit, Polizei, Einwohnerkontrolle, Bau-bewilligungen, Besteuerung usw. direkt dem Bund (bzw. der Ter-ritorialverwaltung) übertragen? Schweden hat zum Beispiel nur eine einzige Polizei und ist immer noch keine Diktatur. Warum auch nicht andere flächendeckenden Aufgaben wie Sozialwesen, Gesundheitswesen, Schulwesen, Verkehr, Energie, Kommunikati-on usw. einer einzigen Verwaltung unterstellen? Dieser Vorschlag tönt – wenn man von heutigen Bedingungen ausgeht – monströ-ser als er ist. Zum einen wird es ausreichend Basisdemokratie in den Nachbarschaften/Städten/Regionen für die vielen Aufgaben, die dort besser gelöst werden können, geben. Zum andern wird die entstehende territoriale Verwaltung viel weniger Gestaltungs-macht als heute haben: Der Staat agiert noch subsidiär zu den er-starkten gesellschaftlichen Institutionen. Sein Einfluss endet bei mächtigen selbstverwalteten Basisgemeinschaften, die in weiten

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Bereichen halbautark überleben können. Das Resultat ist eine ide-ale Mischung von kollektiver Eigenverantwortung und administrati-ver Vereinfachung.

Viele kleine Gemeindeverwaltungen von Nachbarschafts-grösse werden radikal entlastet und können sich mehr um lokale Aufgaben kümmern (Kanalisation, lokale Strassen, Feuerwehr usw.). In grösseren Städten können Quartier/Stadt-Organe wieder neben-amtlich werden. Die wenigen Grossstädte werden stark entlastet und können sich auf die alltagsnahen Bereiche konzentrieren.

500 Delegierte im Territorialparlament

Im helvetischen Territorium wird ein einziger Territorialrat von fünfhundert Abgeordneten gewählt. (7,4 Millionen Einwohner geteilt durch die mittlere Grösse einer Basisgemeinde, 15 000, erge-ben 493 Abgeordnete.) Die sieben Regionen bilden die Wahlkreise für den Territorialrat. Dieses Parlament ist zwar etwas gross, erlaubt es aber jeder Basisgemeinde, mindestens einen Abgeordneten, der auf Grund seiner politischen Präferenzen oder seiner Herkunft zu ihnen passt, zu «adoptieren». Die Bürger eines Wahlkreises haben eine zu-ständige Ansprechpartnerin (wie z.B. in England), und dank der rela-tiv grossen regionalen Wahlkreise ist das Proporzsystem gewährleis-tet. Dafür fällt der Ständerat weg, der bisher einen ungerechten und nur historisch bedingten Majorzfaktor ins Spiel brachte. Die gleichen Delegierten bilden zugleich die Regional-Räte, die mit je etwa siebzig Abgeordneten relativ schlank sind. Damit ist eine optimale Koordina-tion zwischen Basisgemeinde, Region und Territorium gewährleistet und können Tausende von Mandatsträgern «gespart» werden. Die verbleibenden fünfhundert Abgeordneten sind voll ausgelastet und können halbamtlich oder vollamtlich agieren.

Der Territorialrat wiederum wählt eine Territorialverwaltung mit elf Verwaltern, die als Exekutive wirkt und den heutigen Bun-desrat ersetzt. Die Zentralisierung vieler Aufgaben wird zu einer bescheidenen Aufstockung der Territorialverwaltung führen, aber

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immer noch eine immense Einsparung bringen, da alle Kantonal-verwaltungen wegfallen und die Regionalräte nur wenige strategi-sche Aufgaben (Landwirtschaft, Wasser, Abfälle, Siedlungsumbau) haben. Der Staat wird insgesamt nicht stärker, vor allem da wichti-ge Lebensbereiche, wie z.B. die Nahrungsmittelversorgung, direkt in den Händen der Grundgemeinschaften sind. Genauso wie heute wählt der Territorialrat auch Richterinnen und Richter, die neben den lokalen Schlichtungsstellen zusammen mit einem Kassationsgericht eine einzige Struktur mit regionalen Filialen bilden. Selbstverständ-lich bleiben die heutigen Volksrechte wie Initiative und Referendum integral erhalten.

Ein Dienstleistungsstaat mit 500 Filialen

Das neu organisierte Territorium ist die Voraussetzung für eine ganze Reihe weiterer Vereinfachungen:

• Im Sozialbereich kann eine einzige Sozialversicherung geschaffen werden, die die Arbeitslosenversicherung, alle Fürsorgeinstituti-onen und eine Einheitskrankenkasse einschliesst. Mit einer stark ausgebauten AHV können die Pensionskassenvermögen frei ge-macht werden für Investitionen in Forschung, Entwicklung und Heilungstechnologie. Die Sozialversicherung ist de facto eine Insti-tution zur Sicherung eines garantierten Grundeinkommens (einer Territorialpension). Dieses besteht latent heute schon, es kann also als reine Verwaltungsreform verwirklicht werden, wenn die heute getrennten Kassen zusammengelegt werden. Für die Bürgerinnen und Bürger genügt es zu wissen, dass sie eines der fünfhundert Bürgerbüros aufsuchen können, um ein existenzsicherndes Ein-kommen zu beantragen, wenn ohne eigenes Verschulden eine Lücke entsteht. Im Gegensatz zum bedingungslosen Grundeinkom-men, das heute von verschiedener Seite vorgeschlagen wird, funk-tioniert diese soziale Absicherung nur auf Antrag und mit einer Bedürfniskontrolle. Eine rein monetäre Absicherung aller würde nur den Aufbau von selbstversorgenden Strukturen untergraben,

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weil ja niemand mehr einen Grund hätte mitzumachen oder mit anderen zu kommunizieren. Es würde sich eine zerstörerische Individualisierung ergeben. Wenn gleichzeitig auf den Ebenen Nachbarschaft/Basisgemeinde/Stadt selbstverwaltete Existenz-sicherungssysteme auf Naturalbasis entstehen, die auf direkter Mitarbeit beruhen, dann wird diese Territorialpension später nur noch einen monetären Rest abdecken müssen und eines Tages noch ein Taschengeld liefern.

• Die Schaffung einer Einheitskrankenkasse erleichtert auch den Zu-sammenschluss aller Spitäler zu einem territorialen System. Auch damit können unendlich viele Parallelismen und Verschwendun-gen vermieden werden, und die Kostenkontrolle wird «an beiden Enden» erleichtert. Die Förderung der Gesundheit durch mehr gesellschaftliche Kontakte, die Ausscheidung von echten Erho-lungsgebieten und eine Basisversorgung (LMO=HMO) wird weite-re Einsparungen bringen. Ein eventueller Ärzteüberschuss kann durch Beschäftigung in der Forschung oder durch globale Einsät-ze aufgefangen werden.

• Der Zusammenschluss des gesamten öffentlichen Verkehrs wird Synergien, ein einheitliches Tarifsystem, eine bessere Ausnut-zung des Materials und eine gezielte Verkehrspolitik ermöglichen. Wenn der Rückbau der Streusiedlungen einsetzt, wird auch das öffentliche Verkehrssystem reduziert werden können.

• Ein einziges Steuer- und Finanzwesen wird sehr viel Bürokratie sparen, Steuergerechtigkeit schaffen und den destruktiven Steu-erwettbewerb beenden.

Die gesamte Verwaltung (inkl. Akademie, Gerichte, Polizei) basiert nur noch auf etwa fünfhundert Filialen des Territoriums im Zentrum von Quartieren und Landstädten. Dort sind alle Dienste integriert vertreten (ein Schalter für alles), und dort hat die Territo-rialrats-Abgeordnete ihr Büro. Alle Angestellten sind Territorialan-gestellte. Am gleichen Schalter gibt es Baubewilligungen, Pässe,

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Sozialhilfe-Schecks, Diebstahlmeldungen, Zivilstandsänderungen usw. Der Kontakt der Bürger mit der Staatsverwaltung ist nicht mehr ein zeitraubender bürokratischer Hürdenlauf, sondern eine umfassende Dienstleistung. Die Koordination der diversen Ämter findet im Hintergrund, unterstützt durch computerisierte Systeme, statt. Reklamationen können gleich nebenan bei der Abgeordneten angebracht werden.

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Bildung für alle: die territoriale Akademie

Ohne Chancengleichheit keine gesellschaftliche Solidarität

Eine eigentliche Bildungsoffensive ist, wenn wir den Neustart Schweiz in Schwung bringen wollen, unabdingbar. Hier müssen die Mittel, die von Polizei über Armee bis Steuerverwaltung gespart wur-den, eingesetzt werden. Wenn wir den Zugang aller zu allen wissen-schaftlichen und kulturellen Errungenschaften ernst nehmen, dann müssen alle Bewohnerinnen und Bewohner des Territoriums Akade-miker werden. Die seit langem versprochene Chancengleichheit muss endlich hergestellt werden. Ohne dieses Angebot ist jede Vorstellung von der Integration von ausländischen Kindern leeres Geschwätz.

Das gesamte Ausbildungssystem des Territoriums muss als eine Einheit, die territoriale Akademie, organisiert werden. Im Alter von sechs Jahren (oder je nach Schulreife) treten alle Kinder in diese Akademie ein. Alle Lehrenden, von der Primarschule bis zu den Uni-versitäten, sind Angestellte des Territoriums. So sind sie gefeit gegen Beeinflussungs- oder gar Bestechungsversuche. Sie können mobiler eingesetzt werden, ihr Einsatz kann auf verschiedenen Stufen erfol-gen. Alle Lehrpläne können durchgehend aufeinander abgestimmt und Parallelismen vermieden werden.

Wenn wir Chancengleichheit ernst nehmen, dann muss das Bildungswesen territorial organisiert sein, das heisst, getragen von lokalen Gemeinschaften, die sich dafür verantwortlich fühlen. Das schliesst eine sogenannte freie Schulwahl, die immer nur so frei ist, wie man es sich finanziell leisten kann, aus. Das ganze Bildungswe-sen muss zentral organisiert und finanziert werden, damit Menschen, die zufällig in «armen» Regionen oder Gemeinden leben, dadurch keinen Nachteil haben. Hingegen kann die konkrete Organisation des Schul- oder Universitätsbetriebs ein grosses Mass an Autonomie

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geniessen. Im Rahmen der Lehrpläne kann jede Institution ihre ei-genen Methoden, Regeln, ihre eigene Ambiance entwickeln. Die re-lative «Ferne» des territorialen Bildungsrates wird zur Freiheit der einzelnen Lernzentren beitragen und den heutigen Wildwuchs an Bildungsbürokratie, die kreuz und quer hineinredet, reformiert und evaluiert, beseitigen. Die Kontakte zur gesellschaftlichen Umgebung werden viel enger sein als heute.

Schulen in der Mitte, nicht am Rand

Die Primarschulen werden zu einem Bestandteil des Quar-tier- oder Basisgemeindezentrums, beziehen die Eltern (vor allem in Betreuung, Förderung, Nachhilfe) mit ein, machen Bibliothe-ken, Kantinen (Tagesschulen), Turnhallen usw. nutzbar für das ganze Quartier. Das Prinzip heisst «fördern statt selektionieren», weil wir uns das Ausselektionieren von bildungsfähigen jungen Menschen schlicht nicht mehr leisten können. Das braucht etwa doppelt so viele Lehrende.

Anschliessend treten alle Schülerinnen und Schüler in ein sechs Jahre dauerndes Gymnasium Helveticum über. Im Un-terschied zu heute wird das Programm auf einen Typus verein-facht, der eine grosse Kultursprache (Latein, Griechisch, Ara-bisch, Chinesisch), eine Landessprache, Englisch, Mathematik, Geschichte, Physik, Biologie, Geographie, Musik, Zeichnen und Sport umfasst. Der «Zusammenhalt des Landes» wird nicht durch das obligatorische Erlernen einer andern Landessprache garan-tiert, sondern durch ein gemeinsames Projekt. Er beruht nicht auf Konservierung, sondern auf einer neuen Dynamik. Das Erlernen des Umgangs mit Informationstechnologien ist bei allen Fächern selbstverständlich. Dazu kommt im fünften Jahr ein halbes Jahr Praxis in der Hauswirtschaft (wichtig für die obligatorische Nach-barschaftsarbeit), der Landwirtschaft, dem Bau, der Industrie. Dieses Praktikum soll – zusammen mit anderen Aktivitäten im Gemeindezentrum – verhindern, dass die Schulen sich vom Le-ben entfernen.

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Statt Energie auf Wahl- und Freifächer zu verschwenden, die eine zu frühe Spezialisierung fördern und ohnehin an den Hoch-schulen zum Zug kommen, wird ein breites Angebot von Förder- und Nachhilfestunden geschaffen, das allen Schülern erlaubt, ohne Re-petitionen mitzukommen und das Lehrziel je nach ihren Begabungen mehr oder weniger zu erreichen. Das Motto muss sein: Besser ein ho-hes Ziel nicht ganz erreichen, als sich mit Zweitrangigem zufrieden geben. Auch die Gymnasien werden – je nach Bedarf – an Quartier-zentren angeschlossen, damit ihre Einrichtungen von der ganzen Be-völkerung genutzt werden können. Auch aus ökologischen Gründen müssen sie in Fuss- oder Velodistanz sein.

Das Elend der «Sekundarstufe» beenden

Während in andern Ländern – Finnland 95 Prozent, Frank-reich 80 Prozent – fast alle Jugendlichen mit einer Maturität ab-schliessen, sind es in der Schweiz nur um die 20 Prozent. Statt alle Kinder in die «richtige Schule», das Gymnasium, zu schicken, verteilen wir sie auf ein Gewimmel von Realschulen, Oberschu-len, Sekundarschulen (A, B, C), Bezirksschulen, Fachmittelschu-len, Diplommittelschulen, Berufsmaturitätsschulen usw. Statt alle Kinder mit allen Mitteln zu fördern, sortieren wir sie einfach aus und produzieren damit unzählige soziale und auch psychologische Dramen. Ein solches System wirkt demotivierend. Natürlich sind unsere Berufslehren sehr gut, doch in Wahrheit werden sie nur als Trostpflaster für die Deklassierten empfunden.

Vielleicht sind auch die Gymnasien in andern Ländern nicht so gut wie unsere – aber wir könnten es ja auch als Herausforde-rung anschauen, bessere Gymnasien für alle zu schaffen. Das Elend der Sekundarstufe ist heute allgemein anerkannt, doch die Dis-kussionen sind in einer Sackgasse, weil sie nicht kantonal geführt werden können, sondern nur Teil einer territorialen Gesamtlösung sein können. Wollen wir wirklich das Glück ganzer Generationen opfern, nur um mit der Berufsausbildung drei Jahre früher begin-nen zu können?

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Von der geschlossenen Anstalt zum offenen Lernzentrum

Primarschulen und Gymnasien werden ihren Charakter als «geschlossene Anstalten», den sie im 19. Jahrhundert analog zu an-dern gesellschaftlichen Einrichtungen (Spitäler, Gefängnisse, Fabri-ken, Kasernen) verpasst bekamen, ablegen und zu blossen Lernzen-tren werden, die mit dem alltäglichen Umfeld verwoben sind. Vom Rand der Siedlungen gehören sie ins Zentrum, das sie damit zugleich beleben und stärken. Die Einrichtungen werden synergetisch vielfäl-tig genutzt und zugleich werden die Schulwege verkürzt – alles wich-tige ökologische Faktoren. Der Umbau der Schulen zu klassen- und stufenüberschreitenden Geflechten ermöglicht auch die Einführung von selbständigem, projektorientiertem Lernen, das das rein instruk-tive, formale Lernen ablösen muss. Die Benützung der Cybersphäre für individuelles Lernen kann weitere unnötige physische Bewegun-gen sparen.

Ein integriertes Berufsbildungs- und Universitätssystem

An das Gymnasium schliesst ohne Maturitäts- oder Eintritts-prüfungen die Territoriale Universität (TU) an, die alle heutigen Universitäten, Fachhochschulen, Höheren Fachschulen und Be-rufsschulen als ihre Filialen umfasst. Alle Studiengänge schliessen eine Praxisbegleitung schon mit ein. Alle Studenten werden beim Übertritt interviewt und mit den nötigen Betreuungsprogrammen individuell studierfähig gemacht. Das Verhältnis zwischen Studen-ten und Dozentinnen wird ähnlich jenem des Auszubildenden und Berufsbildners. Die Studenten verlassen das integrierte akademisch-industrielle System mit der Befähigung, übergangslos an Forschung, Entwicklung und Produktion auf Weltspitzenniveau teilzunehmen. Damit wird der Praxisbezug, der heute schon als besondere Quali-tät des schweizerischen Bildungswesens gilt, noch einmal verstärkt. Auch eine Hochschulausbildung ist eine Berufslehre. Eine besonde-

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re Ausscheidung von Spitzenuniversitäten wäre dabei schädlich: Es darf gar keine zweitklassigen Universitäten geben. Die Priorität liegt überall bei den Heilungstechnologien im weitesten Sinn. Die diesbe-zügliche Forschung kann allerdings, je nach Situation, mehr generell oder spezifisch sein. Akademische Titel wird es nicht mehr geben, da alle einen haben werden: den «Master».

Die TU wird im Vergleich zu heute viel mehr Mittel und Perso-nal erfordern, dies vor allem im Bereich Förderung und Betreuung. Dies ist deshalb gerechtfertigt, weil jede Begabung in den Dienst der Ziele von Neustart Schweiz gestellt werden muss. Bildung ist die wichtigste Ressource, die das Territorium zum eigenen Nutzen und zu dem der Welt einsetzen kann – es ist verpflichtet, sie zu pflegen.

Die TU wird auch deshalb mehr Mittel benötigen, weil For-schung und Entwicklung massiv ausgedehnt werden. Vor allem in den vier erwähnten Neustart-Bereichen, in denen die Schweiz traditi-onell ihre Stärken hat – Life Sciences, Agro-Technologie, Energie und Demokratie – muss die Forschung verstärkt werden.

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Eine Armee für internationale Einsätze

Die demokratische Schweiz – ein Importprodukt

Das Entstehen der ersten demokratischen Republik (Helveti-sche Republik 1798 bis 1804) auf Schweizer Boden verweist direkt auf aktuelles Geschehen. Die alte Eidgenossenschaft wurde von der fran-zösischen Revolutionsarmee besetzt und das widerstrebende Volk zu einem demokratischen Regime gezwungen, das kaum mehr als eine Marionettenregierung war. Napoleon verordnete Urversammlungen von tausend Männern, die Delegierte für die nächsthöhere Versamm-lung wählten usw. Letztlich entstand so die «schweizerische» Demo-kratie. Dass die neue, gegen herrschende Familienmafias gerichtete Republik nach dem obskuren keltischen Stamm der Helveter benannt wurde, verdeutlicht die grimmige Ironie der Operation. Der illegiti-me, gewaltsame Ursprung der demokratischen Institutionen hat die Schweiz nicht daran gehindert, sie mehr oder weniger beizubehalten, ja sogar noch stolz auf sie zu sein. Der sozialtherapeutische Eingriff Frankreichs war erfolgreich, auch wenn er aus rein egoistischen Mo-tiven erfolgte.

Auf geradezu unheimliche Art erinnert die Initialbesetzung der Schweiz an den Kampf der internationalen Brigaden in Spanien, den Kampf der Roten und US-Armee gegen Nazideutschland, die UNO-Interventionen auf dem Balkan, vielleicht sogar an die Polizeiaktion der USA im Irak... Die Lehre aus all diesen meist erfolgreichen mili-tärischen Interventionen lautet, dass Stammes-, Mafia- oder Oligar-chenherrschaft in vielen Fällen nur bewaffnet beendet werden kann, weil sie eben selbst auf gewaltsamer Unterdrückung beruht. Pazifismus ist hier aktives Dulden von täglicher Gewalt. Mit viel Geld Infrastruk-turen (Spitäler, Schulen, Genossenschaften) aufzubauen und sie dann nicht notfalls militärisch zu schützen, ist ein Verbrechen gegen die lo-kale Bevölkerung. Das Vorschützen von nationaler Souveränität oder

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kultureller Verschiedenheit gegen solche Interventionen sind nur allzu leicht durchschaubare Tricks der jeweiligen Autokraten. Das Territori-um Schweiz ist der Welt, neben ihren diplomatischen Bemühungen, eine Teilnahme an solchen Interventionen schuldig, sie sind das letzte (nicht das erste!) Mittel der Heilungstechnologien, «militärische Sozial-therapie», auch wenn das zynisch oder zumindest euphemistisch tönt.

Für eine globale Polizeitruppe

Wenn wir davon ausgehen, dass eine (möglichst bald zu schaf-fende) planetarische antioligarchische Armee eine Million Soldaten erfordern könnte, dann wären das etwa 2000 Kämpfende pro Terri-torium. Die Schweiz schuldet also der Welt theoretisch 2000 bestens ausgebildete, professionelle, mit Spitzentechnologie ausgerüstete, sofort überallhin verschiebbare (Lufttransporte) Kämpfende. Diese Truppe muss auch in Gebieten eingesetzt werden können, wo keine, insbesondere keine medizinischen, Infrastrukturen vorhanden sind. Die allgemeine Wehrpflicht macht schon rein zahlenmässig keinen Sinn mehr, es genügt eine Kombination von Freiwilligenarmee mit Berufsarmeekadern. Zusammen mit Ausbildungsstrukturen, Reser-ven, Logistik usw. müsste also unsere territoriale Armee nicht mehr als einige zehntausend Personen umfassen. Die heutige Armee könnte nochmals halbiert werden. Dabei geht es nicht primär um Einsparun-gen, sondern darum, den jungen Leuten einen plausiblen Grund für ihren Dienst angeben zu können.

Zunächst werden die Einsätze noch im Rahmen der UNO statt-finden müssen, die erst noch zu einer demokratischen Weltorganisa-tion werden muss. Trotzdem kann die schweizerische Armee heute schon dort mehr Truppen zur Verfügung stellen, wo es besonders sinnvoll ist: beim Schutz von gesellschaftlicher Infrastruktur und zi-vilgesellschaftlicher Organisation gegen patriarchale Herrschaftscli-quen. Es handelt sich hier eigentlich um einen militärischen Aspekt von Entwicklungshilfe. Demokratische Interventionsarmeen sind er-fahrungsgemäss auch militärisch die besten Armeen. Nur den Status quo zu verteidigen, motiviert nicht wirklich.

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Einwandernde aus anderen Territorien

Hilfe im Herkunftsland – aber grosszügig

Eines der dramatischsten Symptome für den katastrophalen Zustand der Welt sind die periodischen Flüchtlings- und Auswande-rungsströme. Wenn die Zustände zum Davonlaufen sind, dann müs-sen wir uns nicht wundern, wenn die Menschen davonlaufen. Weil ein kleines Land wie die Schweiz nicht sehr viel tun kann, um die Welt innert nützlicher Frist zu verbessern, gibt es keine Art mit diesem Pro-blem umzugehen, die es lösen könnte oder die nur schon halbwegs befriedigend und gerecht wäre. Was wir tun können, besteht darin, mit der Flüchtlingsproblematik so umzugehen, dass wir etwas zur Lö-sung beitragen und nicht noch mehr Schaden anrichten.

Was wir tun, muss darauf abzielen, dass Menschen dort, wo sie wohnen, ein anständiges Leben aufbauen können. Diese Politik ist jedoch – im Gegensatz zu heute – nur glaubwürdig, wenn wirklich eine grosse finanzielle Anstrengung gemacht wird, nicht wie heute bloss 1,4 Milliarden, sondern eher das Zehnfache davon. Zugleich Entwicklungshilfe zu kürzen und über den Zustrom von Ausländern zu klagen, ist völlig paradox. Je mehr partnerschaftliche Projekte dort aufgebaut werden, wo Probleme bestehen, um so weniger Gründe gibt es zu fliehen oder auszuwandern. Je «schweizerischer» die Welt wird, um so weniger Anlass gibt es, in die Schweiz zu kommen.

15 000 Gäste

Solange diese Projekte noch nicht greifen, brauchen wir eine gezielte Einwanderungspolitik, die darin besteht, dass Menschen, die aus egal welchen Gründen (auch aus wirtschaftlichen) keine andere Chance haben, als wegzugehen, zu uns eingeladen werden, möglichst von Mitarbeitenden unserer Entwicklungsprojekte, die in den jeweili-

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gen Ländern aktiv sind und die Verhältnisse kennen. Dafür können wir eine Quote – sagen wir 15 000 Menschen pro Jahr – festlegen, wobei Frauen bevorzugt werden sollten. Selbstverständlich kann auch ein Territorium Schweiz nicht alle Menschen, die Not leiden, aufnehmen. Die verzweifelte Lage der Flüchtenden und die Unfä-higkeit der Zufluchtsländer alle aufnehmen zu können, hat zu aller-lei scheinheiligen Unterscheidungen zwischen «echt Verfolgten», «Wirtschaftsflüchtlingen», «Kriminaltouristen» usw. geführt. Doch schlimme wirtschaftliche Bedingungen können genau so lebens-bedrohend sein wie repressive Regimes. Es wird nie eine gerechte Aufnahmeregelung geben können. Trotz aller Not auf der Welt wäre es sicher falsch, einfach so viele wie möglich aufzunehmen. Was wir tun können und müssen, ist, unsere bisherige Aufnahmepraxis grosszügig auszulegen. Hilfe in Notfällen bleibt nötig, die Zusam-menarbeit mit andern Ländern ist unumgänglich.

Wer bei uns aufgenommen wird, ist ein willkommener Gast, ein Teil unseres Projekts und nicht ein in abgelegene Lager ver-bannter Asylant. Wie die Einheimischen auch werden diese Gäste in der territorialen Akademie in Gebieten ausgebildet, die ihnen als zukünftige Mitarbeitende von Entwicklungsprojekten nützlich sein können. Ausgerüstet mit dieser Ausbildung und dem Schweizer Pass können sie wieder in ihre Länder zurückkehren und dort beim Aufbau mithelfen. Oder auch hier bleiben.

Die Schweiz ist kein «Einwanderungsland»

Das Argument, die Schweiz sei ein «Einwanderungsland» und brauche zur Sicherung der AHV eine «Blutauffrischung», ist völlig abwegig und im Grunde genommen ausbeuterisch. Auch in den Ländern des Südens gibt es alte oder kranke Menschen, die Be-treuung brauchen. Es gibt keine Ein- oder Auswanderungsländer, sondern nur Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Wohnsitz wechseln.

All die gut gemeinten Argumentationen, etwa dass Einwan-derer wirtschaftliche und kulturelle Impulse geben, dass «sonst

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niemand unsere Dreckarbeit» machen würde, dass sie für «Viel-falt» und «Dynamik» sorgten usw. sind ausgesprochen zynisch. Es kommt nicht darauf an, ob «wir Ausländerinnen brauchen». Sie haben ganz einfach das Recht, das wir für uns selbstverständlich beanspruchen, nämlich, sich den Platz auf dem Planeten auszu-suchen, der ihnen passt. Wenn das gesagt ist, dann müssen wir zugleich verstehen, dass dieses Recht in der heutigen Situation globaler Ungerechtigkeit nicht garantiert werden kann. Es ist nicht das Gleiche, ob wir drei Wochen Ferien in Kenia machen und da-nach zurückkehren, oder ob ein kenyanischer Tourist bei uns Ferien macht und dann merkt, dass die Rückkehr keine gute Option ist.

Integration durch Widerstand und gemeinsame Projekte

Dass das Zusammenleben von Menschen mit unterschied-lichem kulturellem Hintergrund Probleme schafft, ist offensicht-lich. Ob blosse Integration zu ihrer Lösung aber das allgemein-gültige Rezept ist, ist mehr als fraglich. Ist es denn richtig, sich in ein Land zu integrieren, in dem Diktatorengelder sicher sind, in dem es extreme soziale Benachteiligungen gibt, in dem auf die Umweltprobleme nur schleppend reagiert wird? Ist unsere Lebensweise dermassen überlegen, dass man sie übernehmen muss? Wissen wir denn so genau, was der gültige Helvetismus ist? Ist es nicht im Gegenteil unverantwortlich, sich in eine sol-che Gesellschaft einzugliedern? Erinnern wir uns daran, wie die «Integration» meiner Generation (68er) in die Schweiz vor sich gegangen ist: Indem wir sie radikal ablehnten! Wir versuchten das Land erst zu einem zu machen, in das wir uns mit gutem Ge-wissen integrieren konnten. (Natürlich ist das nur zu einem klei-nen Teil gelungen. Aber die Schweiz von 2008 sieht doch anders aus als jene von 1960: nur noch dreissig Prozent der Armee, kein exklusives Männerstimmrecht mehr, ein Kanton mehr, Akzeptanz unverheirateter Paare, mehr Mittelschülerinnen aus bildungsfer-nen Schichten usw.)

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Die Integration ist nur glaubwürdig, wenn sie mit einer Einladung zur Kritik, zur Veränderung, zur Mitgestaltung des Gastlandes verbunden ist. Wir begrüssen die Einwandernden als Mitstreitende, nicht als Objekte von sozialer Befriedung. Wenn Inte-gration etwas bedeuten soll, dann kann sie nur Integration nach vorn sein. Wir haben kein «Ausländerproblem», sondern eher ein Patri-archatsproblem, und zwar mit Ausländern genauso wie mit Schwei-zern.

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Europa – ein subkontinentales Netzwerk

EU-Mitgliedschaft ist keine Schicksalsfrage

Als «grosses Thema» ist die EU-Mitgliedschaft der Schweiz längst erledigt. Alle sozialen und ökologischen Veränderungen, die im Territorium Schweiz nötig sind, sind selbstverständlich auch in Europa nötig. Ohne die Zusammenarbeit mit den europäischen Struk-turen, wie sie nun einmal sind, perfekt oder nicht, kann in unserem Land praktisch nichts erreicht werden. Nicht einmal unsere Ernäh-rung können wir allein sicherstellen, auch wenn eine viele höhere Ernährungssouveränität als heute machbar wäre. Vor allem in den technologischen Bereichen ist eine subkontinentale Vernetzung un-erlässlich – das bedingt aber dazu passende Strukturen.

Nichts, was bis jetzt über den Umbau der Schweiz gesagt wurde, widerspricht einem Beitritt zur EU. Andererseits kann die Schweiz natürlich noch eine Weile ohne den formellen Beitritt weiterkutschieren, verliert damit aber viele Möglichkeiten und En-ergien. Gerade heute, wo die materielle Globalisierung wegen der erhöhten Transportkosten am Schrumpfen ist, werden subkonti-nentale Räume wieder interessanter. Zwischen Oslo, Lissabon, Pa-lermo und Moskau sind alle grösseren Städte und Industriezonen per Bahn erreichbar. Vielleicht wird sogar die teilweise stillgelegte Kanalschifffahrt wieder attraktiv.

Das notwendige Ökodesign für zukunftstaugliche Industrie-produkte kann nur in grösseren Räumen, die eine gewisse Standar-disierung erlauben, sinnvoll funktionieren. Module aller Art müssen zusammenpassen. Werkstoffe, Bauteile, Komponenten müssen an den Orten produziert werden, wo die Rohstoffe liegen und wo er-neuerbare Energien zur Verfügung stehen. Solche Orte gibt es nicht ausreichend in den aus historischen Zufälligkeiten entstandenen Na-tionalstaaten.

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Ein Europa nicht-ethnischer Territorien

Funktionsfähige Territorien brauchen die Vernetzung im sub-kontinentalen Rahmen. Umgekehrt kann die Entwicklung dieser Zu-sammenarbeit auch dazu beitragen, die schwerfälligen historischen Nationen aufzulösen. Schon im Rahmen der EU, die ein Bündnis von al-ten Nationalstaaten ist, haben die Grossregionen ein grösseres Gewicht bekommen. Viele von ihnen haben nicht zufällig die «richtige» Grösse für ökologisch/sozial definierte Territorien, denken wir nur an Sizilien, Andalusien, Schottland, Sachsen, die Bretagne. Im Kampf gegen die entstehenden Nationalstaaten haben viele von ihnen ethnische Werte mobilisiert, eine Art Extremnationalismus betrieben (wie zum Beispiel die ETA im Baskenland), was in die Sackgasse führt oder, wie im Fall von Jugoslawien, in die Katastrophe. Die Stärkung der materiellen lokalen Autonomie und das Überflüssigwerden der konstruierten Grossnationen wird zu entspannten, nüchternen Territorien führen können. Territorien sind einfach Orte, wo man gut lebt. Der Subkontinent Europa ist dafür der richtige Rahmen, die Schweiz kann hier als Modell einer pragmati-schen «Anti-Nation» eine wichtige Rolle spielen, wenn sie mitmacht.

Europa ist praktisch, mehr nicht

Die Diskussion über den Beitritt zu europäischen Institutionen hat bisher hauptsächlich unter dem übertriebenen Enthusiasmus sei-ner Befürworter gelitten. Zwar stimmt es, dass ein friedliches Europa angesichts von Jahrhunderten von Kriegen und von zwei katastropha-len Weltkriegen eine grosse Errungenschaft ist. Doch Europa als eine Art Nationalersatz zu propagieren oder es gar als Grossmacht gegen die USA oder Russland zu positionieren, ist völlig absurd. Was wir brauchen, sind nicht nochmals kulturelle oder gar ideologisch aufge-ladene Grossreiche, sondern lediglich nüchterne Vorschläge für eine ökologisch und sozial tragbare Zukunft. Europa ist ein subkontinen-taler Raum, der verkehrsmässig, technologisch, ausbildungsmässig, in Bezug auf Ressourcenverteilung viele offensichtliche Vorteile und Synergien bietet. Das genügt.

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Die Welt ist längst «europäisiert», denn die Globalisierung ist in Wahrheit eine Europäisierung. Die Chinesen sind heute stolz auf Olympia, wir schätzen in China hergestellte Computer. Es gibt keine besondere europäische Mission mehr, wir haben hier genau so viel Mühe, «europäische Werte» wie Demokratie, Chancengleichheit oder Aufklärung zu verwirklichen wie anderswo. Für die Schweiz ist Euro-pa ein unvermeidlicher Raum der Zusammenarbeit, praktisch, mehr nicht. Neue Hymnen und Fahnen braucht es nicht.

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Der Neustart beginnt hier

Diskussionsplattform für schon Organisierte

Neustart Schweiz ist keine neue Organisation, sondern nur ein Versuch, eine Reihe von wichtigen Themen in ihrem Zusammenhang dar-zustellen. Parteien, Verbände und andere Organisationen, in denen die-se Themen angegangen werden können, gibt es heute schon genug. Die meisten dieser Organisationen sind jedoch, wie schon erwähnt, in einer engen Interessenpolitik festgefahren, und ihre Programme bilden ideolo-gisch ausgerichtete Multipacks, die immer weniger Menschen als ganze einkaufen wollen. Daher kommt es auch, dass sich Parteiabspaltungen gegenwärtig häufen (Grünliberale, BDP usw.). Viele von uns sind schon in bestehenden Parteien und Verbänden organisiert, vermissen aber eine unvoreingenommene Diskussion und vielleicht eine «dritte» Position, von der aus neue Allianzen und neue Themen lanciert werden können.

Neustart Schweiz ist ein Versuch, eine Plattform für Organisierte zu finden, sozusagen eine «Sphäre» zu schaffen, die aus diversen Sack-gassen führt und neue Handlungsspielräume eröffnet. Das Verhältnis von Parteien und Bürgern ist im Augenblick nur noch ein einziges kolossales Missverständnis. Um den Teufelskreis von «Wollen, aber nicht Können» zu durchbrechen, müsste eine Partei vom Himmel fallen, die es wagt, of-fen über die Probleme zu reden und sachliche Lösungen vorzuschlagen. Diese Partei müsste vor allem schlechte Botschaften, Lohneinbussen und den Abschied von der ungebremsten Konsumgesellschaft, verkünden. Diese Partei gibt es nicht und wir brauchen sie auch nicht.

500 Neustart-Punkte?

Soziale und politische Veränderungen beginnen heute nicht not-wendigerweise in den klassischen politischen Organisationsformen. Eini-ge der in Neustart-Schweiz vorgeschlagenen Massnahmen können sogar ohne Politik direkt gesellschaftlich umgesetzt werden (z.B. der Aufbau ökologischer und sozialer Nachbarschaften). Die elektronischen Medien

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erleichtern die persönliche Kommunikation ausserhalb aller formellen Organisationen: Ein SMS genügt. Treffpunkte können spontan irgendwo entstehen, sich zu Netzen verweben und gesellschaftlich aktiv werden. Neustart-Schweiz setzt auf die Eigeninitiative all jener, die die hier dar-gestellten Themen diskutieren und daraus Handlungsstrategien machen möchten.

Das Organisationsmodell ist also nicht eine hierarchische Partei-enstruktur, sondern eher eine Epidemie, die von Ansteckungspunkten ausgeht und zu einem veränderten gesellschaftlichen Zustand führt. Ob dies funktioniert, hängt davon ab, wie ansteckend der «Virus» wirklich ist.

Wie Treffpunkte geschaffen werden, wo sich die an einem Neu-start Interessierten finden können, ist daher ganz der Phantasie der Lese-rinnen und Leser überlassen. Logischerweise sollten sich Neustartpunkte genau in jenen fünfhundert zukünftigen Basisgemeinden entwickeln, die dereinst die Basis eines nachhaltigen Territoriums Schweiz bilden. Solche Treffpunkte können Bars, Beizen, Läden, Galerien, Werkstätten oder auch bloss eine Parkbank sein. Hilfreich könnte ein «jour fixe» sein. Wie wär‘s mit Dienstagabend um 20 Uhr?

Von der «Klimawahl» zur Neustart-Wahl

Die Nationalratswahlen von 2011 könnten der erste Anlass sein, um die Neustartsphäre wirksam werden zu lassen. Wenn die Neustart-punkte sich verbreiten und vernetzen, können sie zum Beispiel Wahl-empfehlungen abgeben, einzelne Themen auf Tagesordnungen von Gemeinderäten und Kantonsparlamenten setzen, Medien benutzen. Sie können in verschiedenen Parteien und Verbänden bestimmte Tenden-zen und Personen unterstützen. Selbstverständlich ist es auch möglich, grössere Treffen von Neustart-Interessierten zu veranstalten, um eine breitere Diskussion zu führen und gemeinsame Vorschläge zu machen. Alles Weitere wird sich ergeben – wir sind ja alle genügend organisati-onserfahren.

Doch nun gilt: Wann sehen wir uns am nächsten Neustartpunkt?

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Sarkar, Saral: Die nachhaltige Gesellschaft. Rotpunktverlag, 2001 (vergr.)

www.satw.ch: Roadmap Energie Schweiz. 2007

Sommaruga, Simonetta und Rudolf Strahm: Für eine moderne Schweiz. Nagel&Kimche, 2005

Sennett, Richard: Handwerk. Berlin Verlag, 2008

Stahel, Walter: The Performance Economy. Palgrave, London, 2006. http://product-life.org

Stiglitz, Joseph: Die Schatten der Globalisierung. Goldmann, 2003

Stiglitz, Joseph: Die wahren Kosten des Krieges. Pantheon, 2008

Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande. Bertelsmann, 2005

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Der Autor

P.M. lebt als Schriftsteller und Publizist in Zürich. In seinen Roma-nen und Sachbüchern befasst er sich mit wirklichen und alternati-ven Welten. Er ist aktiver Urbanist, Mitinitiant von genossenschaft-lichen Wohnprojekten, Gewerkschafter. Zu seinen wichtigsten Werken gehören Weltgeist Superstar (1980), bolo‘bolo (1983), Die Schrecken des Jahres 1000 (1996), Subcoma (2000), Der goldene Weg, AKIBA (ein gnostischer Roman) 2008.

Korrespondenzadresse:

P.M.c/o Edition ZeitpunktDrosselweg 17CH-4500 Solothurn

www.neustartschweiz.ch

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Veränderungen kann man nicht bestellen,aber die Anregungen dazu.

«So geht es nicht mehr weiter, wenn es so weiter geht.»

Unter diesem Motto von Erich Kästner schreibt der Zeitpunkt alle

zwei Monate über das, worauf es heute ankommt in Politik und

Wirtschaft, im Alltag, in Beziehungen, in der Kunst des Lebens.

Einzelnummer am Kiosk: Fr. 10.-.

Schnupperabo mit 3 Ausgaben: Fr. 20.-

Jahresabo mit 6 Ausgaben: frei bestimmte Beiträge

Zeitpunkt, Redaktion und Verlag

Drosselweg 17, CH-4500 Solothurn

Tel. ++41 (0)32 621 81 11 – www.zeitpunkt.ch

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Die Zeit für Nachbesserungen an unserer Gesell-schaft läuft ab. Es reicht nicht mehr, die Dinge zu optimieren, wir müssen anders an sie herange-hen. P.M. setzt dort an, wo das Zusammenleben mit anderen Menschen, die Gesellschaft an sich, beginnt: in der Nachbarschaft. Anstatt sie auf Treppenhausgespräche und ein gelegentliches Quartierfest zu beschränken, gibt er ihr eine wirt-schaftliche Funktion und eine politische Rolle.«Neustart Schweiz» ist nicht als Antwort auf die Finanzkrise gedacht, aber es könnte eine sein.

Die nächste Schweiz

Edition