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Euro 10,00 $ 9,50 £ 6,50 SFR 15,50 ISBN 3-9280 13-35-1 R

Notenpapier No.1

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Notenpapier | Magazin der Hochschule für Musik Freiburg

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Euro 10,00$ 9,50£ 6,50SFR 15,50

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Editorial, Janina Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Grusswort, Mirjam Nastasi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

Die singenden Fans des SC Freiburg, Annika Boehm-Kreutzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Künstlerische Konzepte von Meredith Monk, Ursula Benzing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch, Silke Schwarz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Luciano Berio Sequenza I, Carolin Fütterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Offene und geschlossene Konzepte, Sven Hinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich, Peter Hajek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

Wiener Klassik und Öffentlichkeit, Simone Kathrin Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Das Phänomen der russischen Rockmusik, Yaroslawa Storchak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Mondrian und Musik, Anne Dorothea Kütemeier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin, Georg Hage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

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y Hh YLiebe Leserinnen, Liebe Leser!

{ Musikerinnen und Musiker präsentieren sich klingend. Ihre Gedanken über Musikbleiben dagegen oft nur einem handverlesenen Publikum vorbehalten. Dabei entstehengerade im kreativen Freiraum der Hochschule sehr originelle wissenschaftliche Arbeiten.Mit dem neuen Magazin NOTENPAPIER möchten wir zur Lektüre einladen.

Ob Musik unmittelbar emotional oder vorrangig als tönende Logik genossen wird,hängt davon ab, wie wichtig einem sinnliches Erleben und ästhetische Ideen sind. DerUnterschied entspricht ungefähr dem Verzehr einer Schwarzwälder Kirschtorte und derenlebensmittelchemischer Analyse. Musikbeschreibungen spiegeln diese Ebenen wider. Derwirkenden Chemie auf den Grund zu gehen, gehört zur musikalischen Professionalität.NOTENPAPIER zielt indessen auf eine allgemein interessierte Leserschaft. Darauf nehmen die Beiträge Rücksicht.

Wie stark Musik erleben und Musik machen emotional fundiert sind, bestimmt nicht die ästhetische Qualität, sondern die Motivation, die Situation und das Umfeld.Die singenden Fans leisten im Stadion körperliche Schwerstarbeit und sind doch hoch zufrieden damit, wie Annika Boehm-Kreutzer herausgefunden hat. Dass Stimm-experimente zugleich Körperchoreographien sein können, verfolgt Ursula Benzing bei der Performance-Künstlerin Meredith Monk. Eine Veränderung des Körpergefühlsbeschreibt Silke Schwarz im Selbstversuch mit frühbarocker Gesangstechnik. Ihrepraktische Erfahrung nutzt auch Carolin Fütterer, die unterschiedliche Notationen von Berios Sequenza I testet.

Dahinter steckt ein grundlegendes Problem. Musik entsteht im Erklingen als flüchtiges Schallobjekt und erhält erst notiert einen materiellen Körper. Nun gibt es bei der Rückwandlung von Noten in Klang »schwarze Löcher«, in denen Teile der Auto-renintention verschwinden. Aus diesem Reibungsverlust entspringt Interpretation. Wie stark sie vom subjektiven Lebensgefühl abhängt, diskutiert Peter Hajek an ElgarsCellokonzert. Dagegen bietet Sven Hinz in seinen 729 Momenten ein offenes Konzept an,bei dem der oder die Spieler den Ablauf mit bestimmen. Allerdings muss diese aktiveRolle erst neu gelernt werden, nachdem das Publikum klassischer Sinfoniekonzerte zustummen Zuhörern erzogen wurde, wie Simone Kathrin Mayer nachzeichnet. Gern hättedie UdSSR die grenzenlose Freiheit kontrolliert und konnte Rockmusik doch nicht unter-drücken, so Yaroslava Storchak. Das inspirierende Verhältnis von Musik und BildenderKunst spielt bei Anne Dorothea Kütemeier und Georg Hage eine zentrale Rolle.

Am Gelingen des Startheftes haben viele Anteil, wie Andreas Immer, dem der Titel einfiel, und Susanne Keßler, die so manchen Fehler fand. Bedanken möchte ichmich bei allen, bei den Autorinnen und Autoren, den beteiligten Studierenden der Freien Hochschule für Grafik-Design & Bildende Kunst e.V., Freiburg, und besonders bei Wolfgang Blüggel, Dozent für Gestaltung, für das tolle Teamwork.

Janina Klassen Professorin für Musikwissenschaft

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Grusswort

{ Jeder weiß: eine Musikhochschule ist dazu da, professionelle Musikerinnen undMusiker auszubilden und sie möglichst umfassend auf einen der vielen Musikerberufevorzubereiten. Dabei steht die klingende Musik – wie soll es anders sein – im Mittelpunkt. Nicht umsonst bieten die zahlreichen Konzertveranstaltungen und Vor-tragsabende unserer Hochschule – über 400 im Jahr – einerseits Podiumserfahrung fürdie Studierenden, andererseits sind sie ein öffentlicher und damit überprüfbarer Beleg nach innen und außen für die Arbeit, die wir alle gemeinsam – Lehrer, Lernendeund Verwaltung – leisten.

Übersehen wird dabei leicht, dass außer den Anstrengungen in Bezug auf dasklingende Resultat auch zahlreiche und vielfältige Leistungen seitens der Studenten imBereich der »musikalischen Reflexion« erbracht werden: theoretische und historischeFragestellungen, schriftliche Aufsätze, Examensarbeiten, Abhandlungen zur Inter-pretation und Aufführungspraxis, aber auch zur Verbindung von Musik mit anderenKünsten und Wissenschaften. Schier endlos und grenzenlos sind da die Möglichkeiten:pädagogische und soziale Aspekte der Musik und Musikvermittlung, Musik und bildendeKunst, Musik und Sprache, Musik und Philosophie, Musik und Informatik, Musik undMedizin, Musik und Naturwissenschaften und und und.

Das meiste aus dieser studentischen »Produktion« ist der Erfüllung jener Aufgabenzugeordnet, die von den vielen Prüfungs- und Studienordnungen vorgegeben sind. Das bedeutet leider, dass diese Arbeiten der Öffentlichkeit, auch der Hochschulöffent-lichkeit, weitgehend verborgen bleiben.

Das neue Hochschulmagazin NOTENPAPIER möchte dies ändern. Hier soll ein Forumgeschaffen werden, das zum einen Überblick über die große thematische Vielfalt ver-mittelt, zum anderen auch Anregungen, Anreize und Austauschmöglichkeiten geben soll. Gespräche innerhalb des Rektorates und der Kollegenschaft führten schrittweise zu dem Resultat, das Sie hier erstmals vorfinden und das den Auftakt einer Reihe bildet,die einmal jährlich erscheinen wird.

Das Besondere in der Gestaltung dieses ersten Heftes ist das Ergebnis einer äußerstfruchtbaren Zusammenarbeit mit der Freien Hochschule für Grafik-Design & BildendeKunst e.V. Freiburg, deren StudentInnen aus dem Fachbereich Editorial Design sich mit viel Engagement und Fantasie am Projekt beteiligen.

Ein großer Blumenstrauß für Frau Prof. Dr. Janina Klassen für die intensive konzeptionelle und redaktionelle Arbeit. Ihr ist es gelungen, sowohl ein neues Forum für Studierende als auch eine Verbindung von zwei künstlerischen Ebenen geschaffen zuhaben, welche nicht zuletzt auch zu einer fruchtbaren Kooperation geführt hat.

Prof. Dr. Mirjam Nastasi Rektorin – Hochschule für Musik Freiburgim Oktober 2005

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+»Wenn wir auf der Nordtribüne stehn«

Die singenden Fans des SC Freiburg

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{ Was zieht die Menschen so in den Bann, dass sie – ganz gegen ihre sonstigenGewohnheiten – anfangen rhythmisch zu klatschen und zu singen? Würde man einen Fanauf der Straße treffen und ihn bitten zu singen, täte er das mit ziemlicher Sicherheitnicht. Warum aber fallen im Stadion diese Hemmungen? Was sind das für Lieder und wokommen sie her? Welche Kriterien muss ein Lied erfüllen, um ein Fangesang zu werden?Wie treffen die Fans den Ton? Ist die Tonart willkürlich? Und was mich als Sängerinnatürlich besonders interessiert: Wie benutzen die Fans ihre Stimme? Sie singen meistlänger als 90 Minuten mit nur kurzen Unterbrechungen. Das ist mehr, als ein Opernsängerwährend einer normalen Oper zu singen hat. Um die Gesänge auswerten zu können, standich (übrigens als einziger Nicht-Fan einer Fußball begeisterten Familie) wochenlang mit einem Aufnahmegerät in der Fankurve des SC Freiburg (Nordtribüne) und wertete zuHause das ganze Spiel musikalisch aus.

Wie setzten sich die SC-Fußballfans als Gruppe zusammen?

{ Für den ausdauernden und kräftigen Gesang der Fans, wird eine gute körperlicheKonstitution benötigt. Das Durchschnittsalter der aktiven d.h. singenden Fans liegt zwischen 18-35 Jahren. Der Anteil der männlichen Fans ist hierbei deutlich höher als derweiblichen Fans. Im Stadion vereinen sich tatsächlich alle sozialen Schichten, zumin-dest bei den stark vertretenen Fanclubs auf den Stehplätzen. Nicht alle Besucher sind inFanclubs organisiert oder gehen regelmäßig zu jedem Spiel. Vielmehr verhalten sie sichso wie Rebstock und Saalmüller dargestellt haben:? »Konsumorientierte Fans« sind nicht daran interessiert, sich in die Masse der

Fans einzugliedern. Sie halten sich lieber etwas abseits, da sie Fußball lediglich alsabwechslungsreiche Freizeitbeschäftigung ansehen.

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? »Erlebnisorientierte Fans« geniessen das Spektakel, bei dem nicht das Fußballspielim Vordergrund steht, sondern das Gemeinschaftsgefühl.

? »Fußballzentrierte Fans« sind ihrem Verein treu ergeben, komme was wolle. Fußballund Fanclub nehmen im Leben eine starke Rolle ein.

»Ein Fußballfan verliert sich in der aufgewühlten Atmosphäre eines Fußballspiels, er›läßt sich gehen‹« (Rebstock & Saalmüller, S. 27). Gerade das ›sich gehen lassen‹faszinierte mich am meisten. Um das, was wohl in den meisten Fans vorgeht, richtig be-greifen zu können, muss man vielleicht selbst einmal die Stimmung eines Stadions wäh-rend eines Fußballspiels erlebt haben, selbst wenn man sich für das Spiel selber eigent-lich gar nicht interessiert. In unserer Kultur ist es für die meisten Männer undenkbar,Gefühlen freien Lauf zu lassen. Seit Generationen gilt es, Emotionen zu kontrollieren undzu beherrschen. Doch Emotionen brauchen ein Ventil, um sich zu entladen. Genau daskann man im Stadion beobachten. Plötzlich fallen alle Hemmungen. Männer gehen aussich heraus und singen, schreien ihren Frust, aber auch ihre Freude heraus, fallen sich indie Arme und küssen sich. Einige erlauben sich sogar zu weinen. Voraussetzung istallerdings ein Gefühl von Geborgenheit in der Gemeinschaft. Das wiederum läßt sichdurch die gemeinschaftlichen Rituale und Outfits erzielen.

Fangesang und Sport

{ Bereits in der griechischen Antike wurde während der sportlichen Wettkämpfe Musik gemacht. Allerdings läßt sich hierbei nicht erkennen, ob auch gesungen wurde, daauf den erhaltenen Darstellungen hauptsächlich Aulosbläser abgebildet sind. Was aller-dings übermittelt wurde, ist, dass es auch damals schon Probleme mit Aggressivität undGewalt in den Stadien gegeben haben muss. Meine eigenen, diesbezüglichen Befürch-tungen decken sich allerdings nicht damit. Wider Erwarten traf ich bei meinen Befragun-gen auch direkt vor dem Spiel nie sturzbetrunkene oder pöbelnden Fans – im Unter-schied zur Situation in der Strassenbahn.

Leider sind keine historischen Fanmusiken überliefert. Erst seit Mitte des 20. Jahr-hunderts lässt sich in England, das als »Mutterland« der Fangesänge bezeichnet wird,das Eingreifen der Fußballfans durch rhythmisches Klatschen und Singen in das Spielge-schehen zurückverfolgen. Liverpool gilt als Ursprung der Fangesänge. Auch heute nochbeeindrucken die englischen Fußball-Fans mit ihrem Sangesniveau. Als ›Urhymne‹ wirddas Lied »You’ll never walk alone« von der Gruppe Gerry and the Pacemakers aufgeführt(Morris, Kopiez). Bei meiner Befragung der Freiburger Fans, wurde dieses Lied von vielenals absolutes Lieblings-, sogar »Gänsehaut«-Lied betitelt. Fangesänge sind heute einemultikulturelle Mixtur. Sie konnten in dieser Form nur entstehen, weil Medien und Ver-kehrswesen die Welt des 20. Jahrhunderts immer überschaubarer machen. Aus jedemLand wurde ein Stück hinzugefügt und so eingebracht, dass es sich den spezifischenBedürfnissen der Fans in dem jeweiligen Land einfügt. So hören wir in den deutschen

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Stadien Klatschrhythmen, die man eher aus den südamerikanischen Ländern gewohntist, kombiniert mit Melodien englischer oder deutscher Volkslieder. Daher ähneln sichauch die Fangesänge in allen Ländern sehr, aber sie sind, bis auf einige Ausnahmen,nicht genau identisch.

Die singenden Fans

{ Fans lernen die Gesänge und Rufe meist nach dem Prinzip »learning by doing«.Ausserdem üben Fans die Gesänge auf Auswärtsfahrten im Bus und später im gegneri-schen Stadion, da dort die eigenen Gruppen kleiner sind und man dadurch die Textebesser verstehen kann. Eine weitere Quelle der Liedtexte ist die Zeitung der Fanclubs,»Fanblock«, die es vor den Spielen im Klubhaus der Fangemeinschaften gibt. Hierwerden die neuen und teilweise auch komplexeren Liedtexte veröffentlicht, um sie auchden evtl. weniger engagierten Fans nahe zu bringen. Schliesslich lassen sich die Liedtexte auf den Homepages der Fanclubs herunterladen.

Wenn man Fangesänge analysieren möchte, muss man sich erst einmal von derüblichen Vorstellung des Gesangs lösen. Fangesänge sind weit entfernt von kultiviertklingenden Chören und seien es auch Laienchöre. Sie dienen dazu, sich und andere an-zustacheln und Emotionen zu verarbeiten. Der produzierte Ton ist eine Mischung ausSchrei und gesungenem Ton. Zur Erzeugung des Tons benötigt der singende Fan gehörigKraft. Alle Muskeln des Körpers sind angespannt und arbeiten bei der Tonerzeugung mit.Während gewöhnlich beim Singen darauf geachtet wird, dass der Körper sehr locker istund nur die zur Tonerzeugung nötigen Muskeln arbeiten, wie das Zwerchfell, die Musku-latur des Kehlkopfes und des Gaumens, weil sich nur so sich ein optimaler, voller, ober-tonreicher und daher weit tragender Ton erzeugen läßt, geht es im Stadion um Rauheitund Aggressivität.

Der Gesang der Fans ist eher eine Mischung aus Schreien, um Stärke und Angriffslustzu demonstrieren, und Singen, um die Töne lauter und tragender zu gestalten. Dabei un-tergraben die Fans die Tragfähigkeit ihrer Stimmen dadurch, dass sie sämtliche Muskelnüberspannen. Somit können die Klangräume nicht optimal genutzt werden. Trotzdemerzielen sie in der Masse eine beeindruckende Wirkung.

Die Technik des Fangesangs

{ Die Technik des Fangesangs unterscheidet sich in einigen grundlegenden Dingenvom kultivierten Gesang. Das auffallendste Kriterium ist die Stellung des Kehlkopfesund des weichen Gaumens. Im kultivierten Gesang wird durch die Anhebung des weichenGaumens erreicht, dass sich der Kehlkopf absenkt, wodurch ein größerer Resonanzraumentsteht. Bei der Technik der Fangesänge verhält es sich genau umgekehrt. Durch diekomplette Muskelanspannung wird der Kehlkopf sehr weit nach oben gedrückt und der

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Gaumen nach unten gezogen. Er hebt sich nur minimal, da das Heben des Gaumensegelszur direkten Folge hätte, dass sich der Kehlkopf absenken muß. Dafür ist allerdings der Druck in der Luftröhre von unten auf die Stimmlippen zu hoch. Das heißt, dem Atem-druck müssen die Stimmlippen durch extreme Muskelanspannung entgegenwirken, da-mit ein Ton erzeugt werden kann und die Luft nicht schlagartig entweicht. Dies passiertdann, wenn die Muskeln der Stimmlippen dem Überdruck nicht mehr stand haltenkönnen. Doch in den meisten Fällen funktioniert die Balance zwischen extremen Druckvon unten und äußerster Stimmlippenspannung von oben. In diesem Fall beginnen dieStimmlippen und der Kehlkopf sehr schnell zu schwingen, was zur Folge hat, dass die Tö-ne höher klingen. Doch wie man nun erkennen kann, ist für diese Art von Geangstechnikein großes Maß an Kraft erforderlich, da mehr Muskeln als erforderlich an der Erzeugungdes Tons beteiligt sind. Bei Frauen funktioniert diese extreme Art des Singens übrigensnicht, da ihre Stimmlippen in der Regel weniger Muskelmasse besitzen.

Dagegen wird im kultivierten Gesang mit dosierter Luftgebung gearbeitet. Es gehtdarum, den Druck in der Luftröhre auf die Stimmlippen von unten und den Gegendruckvon oben so in Balance zu halten, dass die Stimmlippen noch optimal schwingen zukönnen. Stimmt die Balance, so kann man hören, wie die Stimme frei schwingt, durchdas sogenannte natürliche ›Vibrato‹. Diese Technik ist viel ökonomischer und auchschonender für die Stimme, als der Fußballgesang. Durch die Überdrucktechnik unter-liegen die Stimmlippen der Fans einer ständigen Reizung, da sie immer mit voller Kraftaufeinander schlagen. Die Folge ist, dass die Stimme heiser wird und stärker verschleißt.Und noch ein Problem wirft diese Überdrucktechnik auf: Das Produzieren tiefer Tönefunktioniert durch den Überdruck nicht, da die Stimmlippen unter diesen Bedingungennicht dazu gebracht werden können, langsamer zu schwingen, um so tiefe Töne erklingenzu lassen. Dazu müssten die Fans ihren Körper locker lassen, was wiederum mit derspannungsgeladenen Situation nicht zu vereinen ist. Im Grunde ist es auch erstaunlich,dass die Fans die Zeit des Spiels sowie vorher und nachher stimmlich so gut durchhalten,da sowohl der Körper als auch die Stimme einer ungeheueren konditionellen Belastungausgesetzt ist.

Stimmlage und Tonumfang

{ Der Großteil der Männerstimmen besteht in unseren Breiten aus Baritonen,während der Anteil von Bässen und Tenören auch im Stadion nicht besonders hoch seindürfte. Nicht ausgebildete Sänger singen meistens in der Bruststimme, da die dengewohnten Stimmklang enthält und sich am leichtesten steuern lässt. Zieht man dieseBruststimme allerdings immer weiter nach oben, da höhere Töne weiter tragen undlauter scheinen, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem die Stimme bricht und indiesem Klang nicht weiter kann. Dann wechselt die Stimme ins Falsett, die reine Kopf-stimme. Die allerdings ist sehr dünn und fast zart (sie wird häufig auch als Fistelstimmebezeichnet) und daher für den »Schlachtgesang« unbrauchbar. Dieser als Bruch be-

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zeichnete Klangraum liegt bei ausgebildeten Baritonen im Bereich von e bis f eventuellbei fis. Bei Laien liegt er oftmals darunter und kann nur mit äußerster Kraftanstrengungerreicht werden, wenn das Klangpotenzial bis aufs Letzte ausgereizt wird. Nun ist auchin den meisten Fußball-Gesängen der höchste Ton ein e, häufiger aber sogar noch f oderfis ist. Das ist außergewöhnlich hoch im Vergleich zu Laiensängern aus Kirchenchören,die bei dem Versuch in der kultivierten Bruststimme zu singen meist schon bei c oder daussteigen. Es scheint, dass die Atmosphäre im Stadion und der Überschwang derGefühle die Männer zu sängerischen Höchstleistungen bewegt! Hört man sich die Fan-gesänge einen nach dem anderen immer wieder an, so stellt man fest, dass die Tonartnicht gleich zu identifizieren ist, sondern es immer erst einige Takte dauert, bis sich der Gesang einheitlich einpendelt. Erst schwimmen die Sänger noch in undefinierbaren,verschiedenen Tonarten herum.

Die Lieder der Fans

{ Fußball- Fangesänge lassen sich in einzelne Stufen gliedern:

? Reine Klatschrhythmen, die meistens durch eine große Trommel angeführt und auch häufig mit Pfiffen untermalt werden

? Reine Sprechchöre? Kombinierte Chöre, die sich aus Klatschen und Sprache zusammensetzten? Kurzgesänge, die häufig nur die Namen der Spieler beinhalten oder

den Namen des Vereins, aber trotzdem schon verschiedene Tonstufen umfassen und somit eine gemeinschaftliche Tonart erfordern

? Kurzgesänge mit Klatschrhythmen? ›Richtige‹ Gesänge, meist mit bekannten Melodien,

auf die neue Texte gedichtet wurden? Gesänge, die sowohl mit Klatschrhythmen,

als auch mit Sprechchören kombiniert werden

Sieht man sich nun die Voraussetzungen der Stimmen an, dann darf das ideale Liedeinen Umfang einer Sexte (a-fis´) aufweisen. Im Überblick fällt eine gewisseRegelmäßigkeit aller Lieder auf. Von 34 notierten Gesängen sind 22 acht Takte lang,neun bestehen aus vier Takten, eines aus 16 Takten und nur zwei fallen aus dem Rahmenund haben fünf bzw. sechs Takte. In der Regel stehen die Lieder in Dur, nur selten isteinmal ein Stück in moll darunter und im 4/4 Takt. Er kann leicht mitgeklatscht werden,was wiederum eine gute Auswirkung auf die Stimmung hat und es erleichtert dasspontane Einsteigen in ein angestimmtes Lied.

Doch sehen wir uns einmal eine Auswahl von Gesängen etwas genauer an. DerSpitzenreiter ist: ›Schallala‹. Es besteht aus acht Takten, der Tonumfang beträgt eineSeptime, wobei der tiefste Ton, das g, ein eher unwichtiger Ton ist, der direkt vor dem

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Kurzgesänge FangesängeHöhepunkt des Liedes »Super SC Freiburg« erklingt. Lassen wir das g also außen vor,dann ergibt sich ein Umfang von a-f’, genau in der Optimallage der Fans. Ein wesent-licher Faktor ist, dass die Melodie sehr einfach zu merken und nicht sehr anspruchsvollist. Sie besteht zum größten Teil aus repitierten Tönen, in drei Phrasen zu zwei Takten,die jeweils den gleichen Rhythmus haben. Nur die letzte Phrase, mit der Huldigung deseigenen Vereins (»Super SC Freiburg«), hat einen auffälligeren Melodieverlauf. Der Text ist sehr einfach und schon nach einmaligem Hören mitzusingen, da er aus immergleichen Silben besteht. Ebenso häufig erklingt »Ole ole ole, Sportclub Freiburg«. Auchdieses Stück besteht aus acht Takten, und der Tonumfang beträgt wiederum eine Sept.Der Rahmen ähnelt zwar dem vorherigen Lied, liegt aber einen halben Ton höher. Auchhier erklingt der tiefe Ton nur ganz kurz, und er erfüllt keine wirklich wichtige Funktion.Somit gliedert sich auch dieses Stück wieder in die Optimallage der Fans ein. Das Original stammt, laut Kopiez und Brink (S. 96), aus dem Refrain des italienischenSchlager L’amico è, gesungen von Dario Baldau Bembo und Catarina Caselli (1983). Das Lied »Auf geht’s, Freiburg schieß’ ein Tor!« besteht aus nur vier Takten und hatlediglich den Tonumfang einer Terz. Der Vorteil bei diesen sehr kurzen Gesängen ist, dassdie Vorsingzeit, das heißt, die Zeit des Anstimmens bis zum Einsteigen der Fans sehr kurz ist. Das Lied wird schnell erfasst und die Strophe ist im Nu vorbei, so dass die Stimmung sehr rasch aufgebaut ist.

Dagegen unterscheidet sich der Hit »Wenn wir auf der Nordtribüne stehn«, von denersten drei Liedern durch seinen langen Text hat. Er ist nicht so leicht und schnell zulernen wie die anderen Texte und viel schwerer zu verstehen. Doch trotzdem gliedert sichauch dieses Lied in das erarbeitete Schema ein. Es liegt in der »Schokoladenlage« derFans. Zu seiner Besonderheit gehört, dass sich der Text auf eine ganz bestimmte Gruppebezieht, nämlich auf die Fans der Nordtribüne. Komplexere Lieder brauchen etwaslänger, bis sie in Schwung kommen und werden auch nicht ganz so häufig angestimmtwie die kürzeren Gesänge. »Wir sind nicht aus Zürich...« besteht zum Beispiel aus 16Takten, wobei acht ein halb Takte mit Text unterlegt sind, während die letzten Takte diesehr beliebten Tonsilben »ol-e« bringen. Der Tonumfang beseht aus einer Quarte. DasProblem bei diesem Lied ist, dass die Fans merklich Schwierigkeiten haben, in Schwungzu kommen. Meistens steigen die übrigen Fans erst bei der Textzeile »wir sind ausBaden...« ein und sind von da ab mit Herz dabei. Im »ole«-Teil setzt auch die großeTrommel wieder ein, und das Lied bekommt mehr Schwung und zieht nun auch die letztennoch nicht singenden Fans mit.

Viele Lieder sind von der Melodie her seit langem bekannt und in den Stadien richtigeEvergreens, die lediglich mit einem passenden Text ausgestattet wurden. So begegneneinem immer wieder bekannte Melodien wie zum Beispiel: »Immer Freiburg siegenseh’n«. Das Original stammt aus Rod Stewards »I am sailing«. Auf die Melodie von»Yellow submarin« (Beatles, 1966) funktionert das Lied »Ihr seid nur ein Karnevalsver-ein«. Dieser Text wurde zur Fastnachtszeit spontan von den Fans als Reaktion auf eineGuggenmusik im Stadion erfunden und sofort von allen übernommen. Das war möglich,da die Melodie allgemein bekannt ist, und der Text lediglich die ständige Wiederholung

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des Wortes »Karnevalsverein« ist. So lassen sich spontane Reaktionen auf das Ge-schehen erzielen. Genau dies passierte auch bei dem Lied »Gar keine Haare«, das aufdem Hit »Guantaramera« basiert. Hier ergab sich die Situation, dass der SC Freiburgkurz vor Schluss den Sieg sicher hatte und nicht mehr viele spannende Aktionen auf demSpielfeld passierten. Als ein Spieler der Gegenmannschaft das Freiburger Tor verpasste,erfanden die Freiburger dann spontan diesen Text (als Reaktion auf die kurzrasiertenHaare des Spielers) und verbanden ihn mit der allen bekannten Melodie. Aber auch aufStücke, die ursprünglich nicht als gesungene Stücke komponiert wurden, wird zurück-gegriffen, oder auf Stücke aus der klassischen Literatur wie Edward Elgars »Stars andCircumstances«, das zu »We are following Freiburg« umfunktioniert wurde, oder demüberall sehr beliebten Triumphmarsch aus der Oper Aida von Giuseppe Verdi.

Zusammenfassend lässt sich sagen, das Fußballgesänge eine wichtige Aufgabe in denStadien haben. Sie dienen dazu, eine Mannschaft anzufeuern und zu unterstützen sowieein Gemeinschaftsgefühl unter den Fans zu erzeugen. Daher wäre es als Folgeprojektsicher auch noch interessant, die Wirkung der Gesänge auf die Spieler zu untersuchen.Die befragten Fußballfans beschrieben alle ein sehr großes Glücksgefühl, wenn sie in derMasse stehen und singen. Viele bezeichneten es als »Gänsehautgefühl« und erklärten,süchtig danach zu sein. Nach einem Spiel fühlten sie sich wieder fit für die Woche und,auch wenn die eigene Mannschaft verloren hat, trotzdem ausgeglichener als vorher.Daraus folgt, dass das intensive Mitsingen im Stadion die über die Woche angestautenAggressionen tatsächlich abzubauen hilft. (Man beachte, dass die randalierendenGruppen meistens nicht aktiv am Singgeschehen teilnehmen.)

Eventuell hat dies auch etwas mit der besseren Sauerstoffversorgung des Blutesdurch das zwangsläufig tiefere Atmen beim Singen beziehungsweise Schreien zu tun.

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L i t e r a t u r

x Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dt., Frankfurt am Main 1981

x Berthold Happel: Der Ball als All – Mythos und Entzauberung des Fußballspiels, Münster 1996

x Reinhard Kopiez / Guido Brink: Fußball-Fangesänge – eine FANomenologie, Würzburg 1998

x Desmond Morris: »Die Stammesgesänge«, in: Ders.: Das Spiel, München / Zürich 1981

x Marc Rebstock / Jörg Saalmüller: Der 12. Mann – Die Fußballfans des SC Freiburg, Oberried 1996

p Annika Boehm-Kreutzer,

Opernsängerin, studierte von 1998 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg.

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+Working between the Cracks

Künstlerische Konzepte von Meredith Monk

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{ Die New Yorker Performance-Künstlerin und Komponistin Meredith Monk agiert im Zwischenbereich zwischen Jazz, Modern Dance, Theater und Neuer Musik. Monk gehörtzu den konsequentesten mix-media-Künstlerinnen der neueren Kunst. Sie hat eine eigene Technik von Stimmperformance kreiert. Ihre Stücke gehen aus von körperlicherKlangerfahrung und Bewegung. Auch in der Darstellung geht sie neue Wege mit den»visual rhymes«, ein auf Farb- und Bildmotive bezogenes, von der Poetik inspiriertesGestaltungsverfahren, das Monk einsetzt, um mehrere Raum- und Zeitebenen überblen-den zu können. Im Laufe ihres Lebens hat sie sowohl mit Jazzern, als auch mit Mitglie-dern des Modern Dance Ensembles sowie »klassischen« Musikern zusammengearbeitet.Zu ihren Besonderheiten gehört der unkonventionelle Umgang mit der Singstimme.

Our Lady of Late – Music for voice and glass

{ Auf der Bühne sitzt eine Frau, ganz in Weiß gekleidet, vor einem kleinen Tisch. Auf dem Tisch steht ein mit Wasser gefülltes Weinglas. Während des gesamten Konzertsändert die Künstlerin ihre Position nicht. Die einzige, fast rituell zelebrierte Bewegungbesteht darin, dass sie immer wieder zwischen den einzelnen Nummern einen kleinenSchluck aus dem Wasserglas nimmt. Diese sichtbare Handlung der minimalistischenChoreografie ist zugleich Teil der akustischen Inszenierung ihrer Gesangs-Performance.Das Wasserglas begleitet ihre Stimme. Indem die Künstlerin mit einem nassen Finger umden Kelchrand ihres Glases streicht, erzeugt sie (nach dem Prinzip einer Glasharmonika)einen kristallinen Ton. Durch die kleinen Schlucke zwischendurch verändert sich dieTonhöhe in subtiler Weise. Our Lady of Late- Music for voice and glass: Unter diesemTitel sang Meredith Monk eines ihrer ersten Konzerte als Solistin im Januar 1973 in derTown Hall in New York City. Die Musik war ursprünglich für eine Performance des TänzersWilliam Dunas geschrieben worden und erklang in dieser Version bereits 1972.

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Die Solo-Fassung von 1973 markierte den Beginn einer Reihe von Konzerten, die Monkals Solistin in den nachfolgenden Jahren immer wieder gab. Der Komponist Tom Johnson,der die Vorstellung im Januar 1973 besuchte, schrieb darüber in der New York City:»Meredith Monk’s ›Our Lady of Late‹ at Town Hall on January 11 was the closest thing toa perfect concert that I have heard for some time. She has as much control over hersinging as she does over her dancing, and her music shows as much originality and ge-nuine inspiration as her choreography« (Johnson, S. 59).

Das Stück Our Lady of Late besteht aus vielen kleinen Abschnitten, die oft nur eine Minute dauern. Jeder Teil trägt einen bezeichnenden Titel, der seinen Charaktermarkiert. Einige genauere Erklärungen mögen dies verdeutlichen: ? Unison: es umspielen sich Glas- und Gesangston, sodass Schwebungen,

Einklänge und mikrotonale Reibungen entstehen? Knee: Gesang hoch und gepresst, auf die klingende Silbe »knee«? Hey Rhythm: rhythmische »Heys« werden akzentuiert in patterns

vorgetragen, die Stimme bewegt sich im Quintraum über dem Glas-Ton? Sigh: Stimme mit viel Luft- und Atemgeräuschen, wie Schluchzen

oder Jammern ? Slide: Stimme glissandiert auf und ab, auf Tonsilbe »ee-yay«

Eine »Partiturseite« zu Slide aus Monks Notizen zeigt eine ungefähre Notation derTonhöhen. Sie verdeutlicht anschaulich die Herangehensweise der Komponistin. DieAusführung der Partie ist nicht dezidiert festgelegt, sondern bietet Raum zur freien Ge-staltung. Dennoch ist der musikalische Verlauf nicht zufällig oder improvisiert, sonderndurch den aufgrund der Vorgaben definierten Spielraum zentriert. Insgesamt dominiertin Our Lady of Late das durch die Kürze der Stücke und deren Farbenreichtum gewonneneErlebnis. Monk selbst will die »weibliche Stimme in all ihren Gestalten« dargestelltwissen. Schließlich gilt ihr die Stimme als ein »Medium« (»vehicle«) für eine »seelischeReise« (»psychic journey«; in: Banes, S. 166). Die Komposition gibt ein faszinierendesBeispiel von der reichhaltigen Ausdrucksstärke der Singstimme, und sie zeigt zudem die große technische Perfektion und Wendigkeit, mit der Meredith Monk arbeitet.

The dancing voice

»I think of my work as a big tree with two main branches. Onemain branch is the singing and it started from my solo work,exploring the human voice and all its possibilities … And thenthe other branch is the composite forms, which could be operasor musical theater pieces, or installations, or films.«

(Monk, Frequently asked Questions).

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{ Seit Beginn ihrer Karriere in den 1960-er Jahren gehört die 1942 geborene Künst-lerin Meredith Monk zu den spannendsten und schillerndsten Persönlichkeiten dermodernen Musikszene. In der sogenannten Performance Art stellt sie regelmäßig neueKompositionen in vielfältigen Bereichen vor. Sie entwirft ebenso Solo- und Ensemble-werke, Filme und Filmmusiken, wie Opern und Begleitmusiken zu Theaterstücken. Monkskünstlerische Werke sind vor allem durch ein wesentliches Element geprägt: die mensch-liche (Sing-) Stimme in all ihren Schattierungen und Potenzialen. Meredith Monk gilt als absolute Pionierin auf dem Gebiet neuer, experimenteller Vokaltechniken. Die äs-thetische Faszination für die expressiv-emotionalen Aspekte der menschlichen Stimme lässt sich zwar schon im frühen 20. Jahrhundert beobachten, wie das Beispiel von ArnoldSchönbergs Pierrot Lunaire zeigt, in dem bereits 1912 neuartige stimmliche Gestal-tungsmethoden gefordert wurden. Doch waren dann vor allem die einschlägigen Stimm-experimente im Jazz und Neuer Musik der 1950-er und 60-er Jahre richtungsweisend fürdie weitere Entwicklung. Wie Luciano Berio in Sequenza III und Cathy Berberian in ihremCross-over von Jazz und modern music, loteten auch Komponisten wie Mauricio Kageloder Luigi Nono die Möglichkeiten des klassischen Kunstgesangs bis ins Extrem aus undstellten in ihren Entwürfen radikal neue Ideen vor. Alle Komponierenden arbeiteten mitexzentrischen Stimmtechniken, die sich vom traditionellen Singen losgelöst hatten undgleichsam die Ränder des klassischen Gesangs präsentierten: Atmen, Keuchen, Lachen,Summen, Schreien und diverse Lauterzeugungen in allen Schattierungen und Tonfällen.Ein wesentliches Merkmal dieser neuen Stimmästhetik war die Emanzipation der Sprachevon ihrer Funktion als Kommunikationsmittel zum musikalischem Material. Worte wurden entsemantisiert und dienten nicht mehr nur als Träger inhaltlicher Bedeutung,sondern die lautliche Hülle von Sprache galt nun selber als Musik.

Meredith Monk gehört zusammen mit der Komponistin und Instrumentalistin PaulineOliveros und Joan La Barbara zu den Künstlerinnen, die die Ausdehnung der stimmlichenMöglichkeiten dann in den 1970-er Jahren weiter vorangetrieben haben. Dabei ent-wickelte Monk allerdings einen eigenen, von amerikanischen und europäischen Vorbil-dern unbelasteten und neuartigen Stil. Losgelöst von der europäischen Neuen Musik,aber auch von den Zufallskonzepten John Cages verlegte sie schon vor dreißig Jahrenihren musikalischen Fokus vor allem auf die emotionale Qualität stimmlicher Äußerun-gen. Daher begann sie konsequent den sinnlichen Aspekt des Singens zu kultivieren. Die Künstlerin berichtet, wie ihr während des Übens im Jahr 1965 eine Art Erkenntnis(»revelation«) aufging, nämlich die Idee, dass zwischen Stimme und Körper eine un-zertrennbare Verbundenheit herrsche, die es zu entdecken galt. »I realized the voicecould have the same kind of flexibility and range that the body has and that you couldfind a language for the voice that had the same individuality as a dancer’s movement,that you could find a vocabulary that was actually built on your own voice« (Monk, in:Strickland, S. 93). Diese angestrebte Beweglichkeit der Stimme erlaubten ihr fortan, dieGrenzen der Stimmgebung und den Klangreichtum weiter auszuforschen und ihre Stimmezu einem Instrument heranzubilden, mit dem sie eine Fülle von neuen Ausdrucksmög-lichkeiten erschloss. Im Unterschied zu vielen zeitgenössischen Kolleginnen und Kolle-

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gen arbeitet sie bis heute nur sehr sparsam mit Elektronik. Stattdessen konzentriert sie sich nach wie vor auf die natürliche Stimme. »Now after working all these years withthe voice I’ve realized that the voice can do almost everything that electronics can do.«(Monk, in: Strickland, S. 93). Sie betont, dass sie nicht abhängig sein will von techni-schen Geräten, die im entscheidenden Moment möglicherweise den Dienst verweigernkönnten. Ebenso schätzt sie die Möglichkeit, zu jeder Zeit und an jedem Ort der Welt mitihrer Musik beginnen zu können.

Ausgehend von der starken emotionalen Qualität des Singens verwundert es kaum,dass Monk in ihren Kompositionen weitgehend und bewusst auf eine semantische Ebenedurch die Einbeziehung von Text verzichtet. Auch damit nimmt sie eine exponierteStellung in der Entwicklung ein. In ihrer Musik liegt das Beredte allein in den Klängen.Tiefsinnige Worte gelten als »manipulierend«. Durch diese radikale Entsemantisierungführt sie in ihren »Sprachkompositionen« die Sprache selber gleichsam ad absurdum.Der Verzicht auf eine Wortsemantik öffnet den Raum zu einer Wahrnehmung des Gesangsals reinen Klang. Im Zusammenhang mit ihrer Musik wird dabei an mehreren Stellen voneinem »vor-linguistischen« Zustand gesprochen. Als Sängerin geht sie davon aus, dassdie Stimme an sich schon eine eigenständige Sprache artikuliert, die sich beim Singenauch ohne Worte verständlich machen kann. Durch ihre Unmittelbarkeit vermag diemenschliche Stimme dies überzeugender zu bewirken als jedes Instrument. »I feel thevoice has a much more intrinsic emotional quality than instruments. In a way, it’sabstract because I don’t use lyrics, but I try never to forget that it’s a human instru-ment.« ( Monk, in: Schaefer, S. 222). In ihren Notes on the Voice beschreibt Monk denZusammenhang zwischen Stimme und Emotion als »a direct line«. Danach repräsentiertStimme das gesamte Spektrum menschlicher Emotionen und Gefühle, für die uns dieWorte fehlen. So liegt die Ausdruckskraft der Musik im Ansprechen einer Gefühlsebene,die durch die starke Subjektivität der singenden menschlichen Stimme vermittelt wird.Zwei Dinge sind für Meredith Monk also für das Singen entscheidend: die emotionaleQualität des Vortrags und das unauflösliche Verbundensein von Stimme und Körper: »The dancing voice. The voice as flexible as the spine. The voice as language.« (Monk, in: Banes, S. 166).

Meredith Monks »extended vocal technique«

{ Stimmtechnisch arbeitet die Künstlerin mit verschiedenen Ansätzen, derenAusformung sie selbst als »extended vocal technique« bezeichnet. Sie benutzt als Aus-gangspunkt den ungewöhnlich großen Ambitus ihrer eigenen Stimme. Extreme Höhenoder Tiefen werden gleichermaßen erschlossen und an den Rändern auch bewusst alsquietschende oder knarrende Farben eingesetzt. Daneben arbeitet sie mit abruptenStimmbandverschlüssen (»glottal stops«) und Register-Brüchen, wie sie zum Beispielbeim Jodeln benutzt werden. Verschiedene Arten von Vibrato, Tremoli und Triller werdenebenso verwendet wie das Einbeziehen von Luft- und Atemgeräuschen. Auch nutzt sie

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gelegentlich Techniken des »Oberton-Singens«. Ein großer Teil ihres Gesangs bestehtallerdings nach wie vor aus natürlich gesungenen Tönen. Dabei verwendet sie tonale, ofteinfache Melodien, die »patternartig« wiederholt werden. Darüber hinaus verleiht sieihrer Stimme häufig andere Farben und Charaktere und singt beispielsweise mit bewusstkindlicher, männlicher oder »alter« Stimme. Durch diese Vielfalt erschließen sich demHörer neue und ungeahnte Klangwelten. Oft fragt man sich mit Erstaunen, auf welcheArt bestimmte Klangeffekte produziert wurden.

Alles, was sie an sich selber erprobt hat, verlangt sie auch von ihren Ensemblemit-gliedern. Sängerinnen und Sänger, die Monk für ihr Vokalensemble und ihre Produktio-nen auswählt, müssen in der Lage sein, die außergewöhnlichen Techniken zu erlernen.Vor allem sollten sie Spaß am Experiment haben. Wichtiger als eine klassische Ausbil-dung ist für Monk die Besonderheit, die jede einzelne Stimme mit sich bringt, wobeiallerdings eine gewisse technische Flexibilität der Stimme unverzichtbar ist! Über ihreEnsemblemitglieder sagt sie: »They all have a fantastic technical base, but what I loveabout their singing is that when you hear them it’s not that you go, ›Opera singer!‹. It’s Andrea’s voice or Bob’s voice or Naaz’s voice. I don’t want them to sound like an imi-tation of my voice.« (Monk, in: Strickland, S. 97). Zur besonderen Performance gehörtauch die Bereitschaft des Ensembles, sich auf neue Herangehensweisen einlassen zukönnen. Monk folgt einer Art »trial and error«-Prinzip, beginnt mit einer Idee, und imVorgang des Ausprobierens und wieder Verwerfens entsteht das neue Werk auf einergemeinschaftlichen Basis innerhalb der Gruppe. Das Unbekannte ist dabei ein Teil desganzen Entstehungsprozesses. Dementsprechend existieren nur selten Noten von einzel-nen Kompositionen. Die Musik wird (wie in Kulturen der mündlichen Überlieferung) ge-meinsam gelernt und behalten, so dass es keiner Notation mehr bedarf. Dieser Lernpro-zess vollzieht sich auf einer unmittelbaren körperlichen Ebene, getragen durch die vitaleEnergie und die kinetische Kraft, die innerhalb der Gruppe wächst. Das einzige, wasMonk gelegentlich notiert, ist eine Art »Fahrplan«, der den ungefähren Verlauf und dieGesangssilben festhält, aber keine genauen Tonhöhen markiert.

Musikalisch arbeitet Monk häufig mit kleinen, sich wiederholenden Mustern. Sie legeneine klangliche Basis fest, über der sich die Gesangslinie frei entfalten kann. In Notes ofthe Voice beschreibt Monk das Zusammenspiel von Stimme und einem begleitenden In-strument so: »Working with a companion (the accompanying instrument: organ, piano,glass, etc.): repeated patterns or drone creating a carpet, a tapestry of sound for thevoice to turn on, fly over, slide down, cling to, weave through.«(Monk, in: Banes, S. 166).Diese Struktur ist kennzeichnend für nahezu alle ihre Kompositionen. Dabei grenzt sichMonk vehement gegen den naheliegenden Vergleich zu Techniken der Minimalmusic ab.Die Wiederholungen in ihrer Musik dienten nicht dem perpetuierenden Selbstzweck,sondern sie unterstützen lediglich die solistische Linie, die bei Monk eben gerade nichtminimalistisch ausgeformt wird: »The repetition in Steve’s music (Steve Reich) seems toset up a long enough time base so that when things shift it becomes an event, whereasin my music I use instrumental repetition more as a carpet for the voice to fly off – to fly from and back onto.« (Monk, in: Strickland, S. 94). Die Stimme, solistisch oder im

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Ensemble, steht demnach deutlich im Vordergrund und eine instrumentale Begleitunghat sich den Nuancen der vokalen Linie unterzuordnen.

Dolmen Music

{ Bei den archaisch anmutenden Klangentwicklungen in Dolmen Music (1981)offenbart sich noch eine ganz andere musikalische Inspirationsquelle – die Musik hateine gewisse Affinität zum Kirchengesang. Monk bestreitet diesen Einfluss nicht, führtihn allerdings nicht ausschließlich auf ihren religiösen Hintergrund zurück. Sie wurdejüdisch erzogen, in einer reformierten Weise, und sie ist vertraut mit der Musik, die imTempel gesungen wurde. Allerdings sieht sie selber keine direkte Verbindung zwischender kultischen Musik ihrer Kindheit und ihren eigenen Kompositionen. Woher die ganzeMusik in ihr komme, wisse sie nicht. Die quasi religiöse Klangqualität von Dolmen Musicentspringt vielmehr einem anderen Kontext. Sie ist inspiriert von den druidischen Men-hirs, den archaischen, kultischen Felsformationen in der Bretagne. Monk spricht davon,dass die Felsen auf sie eine starke energetische Ausstrahlung gehabt hätten. Genau dieswollte sie in der Musik wiedergespiegeln: »I was thinking about Druids, the ancientpeople who had constructed this table. I was trying to make music which had a kind ofprimordial quality but also a futuristic quality at the same time.« (in: Strickland, S.98).Die Faszination des Schamanenhaften, Überdauernden und Geheimnisvollen fließt in dieMusik ein durch langsam aufbauende Steigerungen und Überlagerungen in den Stimmen,die ein virtuoses und fast unheimliches Eigenleben zu entwickeln scheinen. Zum Teil wirddie Musik durch Violoncello und Klavier unterstützt – dabei weben die Instrumente ineinfachen Wiederholungen den »Klangteppich«, auf dem sich die Solostimmen entfaltenkönnen. In einer Aufführung von Dolmen Music bildeten die Interpreten eine Art »ar-chaische Gemeinschaft« nach, indem sie – ähnlich der Anordnung der Felsen – im Kreissaßen. Alle waren in Schwarz und Weiß gekleidet, und sie schienen auf geheimnisvolleArt in einer nicht erkennbaren Sprache und wie spontan miteinander zu kommunizieren.Auch für diese Performance-Komposition gibt es keine partiturhafte Notenvorlage.»The heart of my work is singing«- diese Maxime gilt für alle Werke Monks, auch wennder Gesang nie für sich allein steht. Immer spielt die theatralische und vor allem diekörperliche Präsenz in der Performance eine mindestens ebenso bedeutende Rolle wiedie klangliche.

Working between the Cracks

{ Aufgrund der Art ihrer musikalischen Stimm-Performance verwundert es nicht,dass Meredith Monk als zweiten wichtigen Zweig ihrer Arbeit das Theater nennt. Hiervermischen sich in ihren Werken Musik, Tanz, Lichtgestaltung und Szene zu einem»Gesamtkunstwerk«, in dem sich die verschiedenen Ebenen überlagern und gegenseitig

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ergänzen. »Working between the cracks« – das bedeutet für Monk nicht nur die Auf-hebung der Trennlinien zwischen den Künsten; sie verwirklicht durch ihre Kunst gleichzeitig auch die Idee eines schöpferischen, kreativen und unkonventionellen 7Arbeitens in den »Zwischenräumen« von Kunst, Realität und Leben.

L i t e r a t u r

x Sally Banes: Terpsichore in Sneakers – Post-Modern Dance. Middletown: Wesley University Press, 1987

x Tom Johnson: The voice of new music – New York City 1972-1982. Eindhoven, Holland: Apollohuis, 1991

x Deborah Jowitt(Hg.): Meredith Monk. Baltimore + London: John Hopkins University Press, 1997

x Deborah Jowitt: Time and the dancing image. Berkeley + Los Angeles: University of California Press, 1988

x Meredith Monk: Frequently asked Questions. http://www.meredithmonk.orghttp://www.meredithmonk/faq/index.html, 2001

x Karin Pendle: Women and Music – A History. Bloomington: Indiana University Press, 1991

x John Schaefer: New Sounds: A Listener’s Guide To New Music. New York: Harper&Row, 1987

x Nancy Spector: Das Anti-Erzählerische – Meredith Monks Theater. Parkett 23, Zürich 1990

x Edward Strickland: American Composers – Dialogues on Contemporary Music. Bloomington: University of Indiana Press, 1991

p Ursula Benzing

studierte von 1997 – 2002 Schulmusik mit Hauptfach Blockflöte und Gesang, Referendariat von

2003 – 2005, unterrichtet seit dem Schuljahr 2005/2006 am Melanchthon-Gymnasium Bretten.

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+»Mit der Kehle über dem Vokal a

anzuschlagen«Giulio Caccinis Le nuove musiche von 1602 im Selbstversuch

S i l k e S c h w a r z

{ Der Zufall kam mir zur Hilfe. Unzufrieden damit, Musik des 16. und 17. Jahrhun-derts irgendwie »aus dem Gefühl heraus« zu interpretieren, hatte ich beschlossen, michmit barocken Verzierungslehren zu befassen. Welchen Sinn haben Verzierungen? Warensie dazu da, Zuhörer zu beeindrucken, indem man ihnen die technischen Fertigkeiten der Sänger demonstrierte? Eindeutig ja. Aber gibt es nicht noch eine andere Aufgabe?Da fiel mir ein Faksimile von Giulio Caccinis 1614 in Florenz gedruckter Sammlung Nuove musiche e nuova maniera di scriverle (Neue Musik und neue Notationsweise) indie Hände. Dass Giulio Caccini nicht nur Komponist, sondern auch Gesangsvirtuose und -lehrer war, bekräftigte meine Entscheidung, mich mit diesem Lehrwerk auseinan-derzusetzen und es auf seine praktische Anwendbarkeit hin zu untersuchen.

Wer ist Caccini?

{ In der von Konkurrenz, Intrigen und Missgunst zerfessenen höfischen Gesellschaftum 1600 scheint Caccini den Typus des Wadenbeissers verkörpert zu haben. Als seinKollege Jacopo Peri ihn nach Sängern fragte, die in seiner neuen Oper Euridice mitwirkensollten, verknüpfte Caccini die Unterstützung mit der Bedingung, dass er, Caccini, fürseine Schüler auch gleich die Gesangspartien in Peris Stück beisteuern dürfte. Gleich-zeitig komponierte er in grosser Eile ebenfalls eine Euridice und schaffte es, sein Stücksogar noch vor dem von Peri herauszubringen (Schmitz, S. 3). Giulio Caccini wurde vermutlich am 8. Oktober 1551 geboren und als Dreizehnjähriger an der Capella Giulia inRom zum Knabensopran ausgebildet. Am Hof der Medici in Florenz erhielt er weiterenUnterricht in Gesang, Laute und Harfe. Caccini war ein gefragter Gesangsolist undbekam deshalb eine feste Anstellung in Florenz. Ab 1575 bildete er selber junge Sängeram Hof aus. Außerdem war er Mitglied verschiedener Gruppierungen von Musikern undIntellektuellen, die über ästhetische und aufführungspraktische Fragen in der Musik

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debattierten. Nach internen Streitigkeiten und dem Tod seines Gönners verließ Caccini1610 den Hof von Florenz. Sein letzter bekannter öffentlicher Auftritt war 1614, währendeines Aufenthaltes in Pisa. Dort leitete er die kirchenmusikalischen Aktivitäten an St.Nicola. Im selben Jahr erschien der Traktat Nuove musiche e nuova maniera di scriverleals Fortsetzung der 1602 herausgegebenen Sammlung Nuove musiche. Giulio Caccinistarb 1618 und wurde in der Florentiner Kirche S. Annunziata beigesetzt.

Die Neue Musik von 1602

{ Caccini begeisterten die zeitgenössischen Vorstellungen vom Gesang im antikenTheater. Techniken des überhöhten Sprechgesangs und auch Maskenspiel zur Kennzeich-nung mythologischer Charaktere kannte man bereits aus der Tradition der Renaissance.Im Florenz des jungen 17. Jahrhunderts brachten die Komponisten diese Mischung zwischen Singen und Sprechen in eine Form, den sogenannten »monodischen« Stil, auch»stile recitativo« genannt. Der Text wurde nach der Sprechmelodie komponiert und sollte vom Sänger nach rhetorischen Kriterien in freiem Metrum vorgetragen werden.Dazu diente ein Bassfundament als klangliche Stütze. Es ersetzte den im 16. Jahrhundertüblichen polyphonen Tonsatz. Caccini komponierte nun in diesem »neuen Stil« 1602 eine Sammlung von Madrigalen, in denen die Technik des monodischen Stils mit der Kultur des virtuosen Gesangs verbunden war.

Aufführungspraktische Fragen

{ Die Madrigale und Arien in den Nuove musiche sind alle mit einer Solostimme undeinem Begleitinstrument besetzt. Caccini bevorzugt hier die Chitarrone. Generell istbemerkenswert, dass Caccini in der Vorrede viel öfter von dem berichtet, was schlechtist und was gute Sänger nicht tun sollen, als konstruktive Hinweise zu geben. Er geht also offensichtlich davon aus, dass die Leser seiner Schrift nicht am Anfang ihrerGesangsausbildung stehen und fehlende Hinweise und Erklärungen selbst hinzufügen.Das beste Beispiel hierfür sind vielleicht Hinweise zum Ausführen des Trillo bzw. desGruppo. Wir erfahren nur, dass der Trillo »mit der Kehle über dem Vokal a anzuschlagenist und in ähnlicher Weise der Gruppo«. Der Trillo/Gruppo könnte ein tremolierenderVorgang (wie unser heutiger Triller) sein oder vom Zwerchfell gebildet werden. Möglichsind auch gleichmäßig schnelle Stimmbandschlüsse (weiche Glottisschläge), was amehesten nach Kehlschlag klingt, jedoch schwierig rhythmisch zu kontrollieren ist. Wichtig ist Caccini eine sichere Intonation und gute Atemarbeit. Um beides zu gewähr-leisten, empfiehlt er, die zu singenden Werke immer so zu transponieren, dass man sie»mit voller und natürlicher Stimme singen und das Falsett vermeiden kann.«

Zur Frage des Vibratos äußert sich Caccini nicht explizit, dennoch lassen seine An-merkungen einige interessante Rückschlüsse zu. Wenn man Caccinis Maxime mit »voller

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und natürlicher Stimme zu singen« befolgt, so muss das (nach meiner Auffassung)zwangsläufig zur Ausbildung eines natürlichen Vibratos führen. Unverständlich ist des-halb die verbreitete Meinung, nach der in Renaissance- oder Barockmusik die natürlicheSchwingung einer Stimme reduziert werden müsse oder gar ein vollständig vibratolosesSingen erforderlich sei. Betrachtet man, wie viele Stunden pro Tag die professionellenSänger am Hof gesungen haben, dann scheint es aus physiologischen Gründen schwermöglich, dass Generationen von Sängern, um ein Vibrato zu verhindern, entweder mit zuviel Atemdruck oder (vor allem Frauen) mit zuviel Nebenluft gesungen haben. Beideshätte auf Dauer der Stimme geschadet. Greta Moens-Haenen unterscheidet zwischen»großem und hörbarem kontinuierlichem Vibrato«, »Naturvibrato« und »Verzierungs-vibrato« (Moens-Haenen, Kap. 1). Diese Einteilung ist sinnvoll, um das Tremolo zuvermeiden. Stattdessen können so die Triller und Bebungen bewusst eingesetzt werden,um Dissonanzen oder wichtige Worte zu betonen. Das »Naturvibrato« aber ist ein gewollter Zustand, der sich bei richtigem Gebrauch der Stimme von allein einstellt. Wirdes jedoch absichtlich erzeugt, so wirkt es für den Hörer als Tremolo.

Die Nuove Musiche als Verzierungslehre

{ »Drei Dinge muß derjenige wissen, welcher den schönen Sologesang mit Affektpraktiziert. Das sind der Affekt, seine Vielfalt und die Lässigkeit des Gesangs« (Caccini, Vorwort).

Die Sprezzatura bezeichnet nicht allein eine lässige Haltung insgesamt, sondern auchdie Manier, frei mit der Metrik umzugehen. Neben den verschiedenen Formen von Trillern(Trillo, Gruppo und Ribattuta di gola), Kaskaden und Passagen gehört die Esclamazionezu den wichtigsten Verzierungen. Auch sie wird als bekannt vorausgesetzt. Dem Noten-beispiel nach zu urteilen, ist ein laut angesetzter beziehungsweise durch einen Sprungnach oben angesetzter hoher Ton gemeint, der durch An- oder Abschwellen affektvollgestaltet werden kann. Caccini ist sehr sparsam mit dem Gebrauch von Verzierungen. Er lehrt, dass man die Passagen nur bei weniger affektuosen Musikstücken und Schlusskadenzen, jedoch nicht bei kurzen Silben und Tanzkanzonetten einsetzen solle,denn diese sollten allein durch die Lebendigkeit des Gesangs wirken. Diese puristische Forderung ist aber, betrachtet man die vorausgegangene geniale Entwicklung desKontrapunkts, nur sehr schwer einzuhalten. Auch Caccini benutzt öfters Koloraturen, die seiner eigenen Lehre widersprechen.

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Das Madrigal »Dolcissimo sospiro« – ein Selbstversuch

{ Caccinis Madrigal liegt ein Gedicht von Ottavio Rinuccini zugrunde.

Dolcissimo sospiro Süßester Seufzer,Ch’esci da quella bocca Der du aus jenem Munde kommst,Ove d’amor ogni dolcezza fiocca; Woher alle Süße der Liebe strömt;Deh, vieni a raddolcire Ach, komm und mildere L’amaro mio dolore. Meinen bitteren Schmerz.Ecco, ch’io t’apro il core, Sieh da, ich öffne dir mein Herz,Ma, folle, a chi ridico il mio martire? Aber, ich Tor, wem erzähle ich Ad’un sospiro errante meine Pein?Che forse vola in sen ad’altro amante. Einem herumirrenden Seufzer,

Der vielleicht in das Herz eines anderen Liebenden fliegt.

Das Thema ist Liebespein. Durch die Aufforderung, den bitteren Schmerz des lyri-schen Ichs zu mildern, wird die Situation des Leidens definiert. Das lyrische Ich wird sichseiner Einsamkeit bewusst. Bei der Wortwahl fällt die Häufung des Vokals o auf, kombi-niert mit dem Vokal i. »Dolcissimo sospiro«, der Beginn der Dichtung, steht im Gedichtwie ein vorangestellter Ruf. Diese Zeile hat als einzige keinen Reimpartner. So steht esauch am Anfang der Komposition als Ausruf, der in langen aufsteigenden Notenwertenbeginnt und auf dem Wort »sospiro« … Durch die Vokalkombination dieses Beginnsentwickelt der Sänger beinahe zwangsläufig eine lyrische Grundstimmung. Ich habe zur Probe dieselbe Tonfolge auf die Worte »Cara, mia bella« gesungen undbemerkt, dass die breiten Vokale a und e freudiger und direkter klingen, als dieschlanken Vokale o und i. Rinuccini führt durch die Vokalfarben in die klagende Stim-mung ein. Caccini unterstützt dieses Konzept durch die »seufzenden« Figuren beim Wort »sospiro«.

Ich beginne den ersten Ton laut mit anschließendem Decrescendo, also in einer vonCaccini empfohlenen Exklamation, um ihn wenig später in eine weitere Exklamation aufdem Spitzenton d” zu führen. Wieder decrescendierend singe ich die Seufzerfigur bis zum ersten Einschnitt am Ende des Wortes »sospiro«. Beim Probieren der gegenteiligenAusführung der Exklamation, nämlich crescendierend nach dem Ansatz stellt sich eininteressanter Effekt ein. Die Stimme verliert dadurch an Schwingung, wird also»gerade«. Möglicherweise ist passiert, was Caccini vor allem bei Sopranen widerstrebte:Die Stimme klang »scharf und unerträglich«. Da Caccini empfiehlt, den Einsatz derExklamationen zu variieren, würde diese Art zu dem Wort »amaro« in Takt elf passen.Allerdings dauert dieser Ton eine ganze und eine übergebundene halbe Note. Cacciniempfiehlt ausdrücklich auf ganzen Noten anstatt einer Exklamation eine »messa di voce« (Schwellton) einzusetzen. Am überzeugendsten scheint mir eine kombinierteAusführung, also ein Piano-Ansatz auf »amaro«, wobei der Schwellton bis zum Schluss

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des Wortes »mio« dauert. Wenn diese Passage sehr dicht und vibratoarm gesungen wird,wirkt der Schmerz des »dolore«-Seufzer umso stärker. Betrachtet man die Fortführungdes Anfangseufzers, bemerkt man, dass Caccini eine kleine »kontrapunktische Reminis-zenz« verarbeitet hat. In Takt vier beginnt der Sänger den Text »ove amor« (»ove«bedeutet »dove«, also wo) in folgendem Rhythmus. Dieses Motiv sequenziert der Gene-ralbass sofort. Danach mündet der Gesang in eine lautmalerische »Ribattuta di gola«,die sich dann in Sechzehnteln fortbewegt, danach noch eine ganze Note auf dem Ton a’verharrt, bevor die Schlusssilbe des Wortes »fiocca« erreicht ist. Üblicherweise hätte ich auf der ganzen Note einen Gruppo oder eine Passage verziert. Nach der Lektüre desTraktats scheint mir eine »Messa di voce« der naheliegendste Affekt zu sein.

Nach dem Schmerzseufzer folgt der Satz »Ecco ch’io t’apro il core«. Ich führe dieSeufzer crescendierend aus, um die Exklamation im nächsten Takt decrescendierend zusingen. So hört man die Verzweiflung des Liebenden und die darauf folgende Hoffnungs-losigkeit. »Ma, folle a chi ridico il mio martiro« beginnt mit einer ganzen Note auf dem-selben Ton in C-Dur. Vor der Wiederholung von »ma« (»aber«) schreibt Caccini die einzi-ge Pause, eine halbe Pause, in diesem Stück. In den folgenden Phrasen bis zum Schlussfällt auf, dass im Gegensatz zur ersten Hälfte sämtliche Schlusssilben verkürzt werden.Vergleicht man die Notenwerte der letzten Silben so findet man ganze Noten bei denWorten sospiro, fiocca, dolore, core (beide Male), während martiro, errante, und aman-te (außer im Schlussakkord) zwar jeweils auf der zweiten Silbe (Takt 18, 19, 21, 23, 25)lange Notenwerte aufweisen, die Schlusssilben jedoch immer in Viertelnoten komponiertwurden. Dies ergibt natürlicherweise eine Temposteigerung, da nach kadenzierendenTakten sofort weitergesungen werden soll. Caccini hat also die »sprezzatura« quasimitkomponiert.

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In der Frage der Stimmbehandlung fällt auf, dass bei diesem Madrigal, die Stimmeschlank geführt werden muss. Der Sänger dieser Musik sollte immer koloraturbereit sein,das bedeutet, die Stimme im Klangkern, aber flexibel auf einer guten Stützbasis zuführen. Die Gefahr, diese Einstellung zu verlieren, besteht vor allem während der zahlrei-chen ausgehaltenen Töne. Deswegen ist es sinnvoll, den Rat Caccinis zu befolgen, jedenlangen Ton mit einer »Messa di voce« oder einer »Exklamation« zu versehen. Man wirddadurch gezwungen, die Stimme zu führen und nicht durch Anstreben eines zu großenKlanges unflexibel zu werden. Falsch wäre allerdings, die Stimme nur auf den Klangkernzu reduzieren, da die Exklamation einen vollen Forteklang benötigt, der nur mit Unter-stützung des Körperklangs erreicht werden kann. Abschließend ist festzustellen, dassdas Madrigal »Dolcissimo sospiro« jene Ziele, die Caccini in seinem Vorwort formuliertgrößtenteils erfüllt. Der Text kann verständlich gesungen werden. Wichtige Worte werdenausgeziert oder wiederholt und somit betont. Es ist durchaus anspruchsvoll zu singenund birgt einige technische Schwierigkeiten.

Natürlich habe ich immer wieder Caccinis Texte zu Hilfe genommen, aber schlussend-lich wurde mir bewusst, dass ich aus der Musik viel mehr Nutzen ziehen konnte. Offen-sichtlich demonstrierte Caccini das Erklärte, und der Schüler lernte durch Imitation.Dies macht es uns heute wohl auch so schwer zu entscheiden, welche Singart denn nundie »richtige« ist für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts.

L i t e r a t u r

x Bötticher, Jörg-Andreas: »Singend denken« – und denkend singen? Zur Wechselbeziehung barocker Vokal- und Instrumentalpraxis, in: Reidemeister, P. (Hrsg.): Basler Jahrbuch für historische Aufführungspraxis XXVI 2002, Winterthur, 2003

x Caccini, Giulio: Le nuove musiche 1602 und Nuove musiche e nuova maniera di scriverleFlorenz,1614 ; Nachdruck 1998. Alle deutschen Zitate stammen von Frauke Schmitz.

x Fenlon, Iain: Giulio Romolo Caccini; aus: Sadie, S. (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians Vol. 4, 2. Auflage, 2001, S. 769 – 777

x Moens-Haenen, Greta: Das Vibrato in der Musik des Barock; 1988, Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz

x Potter, John: Vocal authority, 1998, Cambridge University Press

x Schmitz, Frauke: Giulio Caccini, Nuove musiche (1602/1614); Pfaffenweiler, 1995

p Silke Schwarz

Sängerin, studierte von 1999 bis 2005 an der Musikhochschule Freiburg. Sie erhielt bereits mehrere

Auszeichnungen, darunter den Europäischen Kulturförderpreis.

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+Space-Notation

Luciano Berio Sequenza I

C a r o l i n F ü t t e r e r

{ Luciano Berios Stück Sequenza I für Soloflöte von 1958 existiert in zwei verschie-denen Notationen. In der ersten Ausgabe (Editioni Suvini Zerboni Milano; S. 5531 Z) hat Berio die Musik in sogenannter »Space-Notation« komponiert, während die zweiteAusgabe (Universal Edition Wien; UE 19957) traditionell in rhythmisch exakten Wertennotiert ist. Als Flötistin stehe ich also vor der Wahl, zwischen zwei sehr unterschiedlichen»Spielanleitungen« für ein und dasselbe Stück entscheiden zu müssen. Warum hat derKomponist das gemacht? Und was unterscheidet die beiden Notationen? Zunächstwählte Berio eine offene Aufzeichnungsweise, die den Interpreten gewisse rhetorischeFreiheiten erlaubt. Sie sind wichtig in Bezug auf das Konzept, mit verschiedenen Gestaltungselementen die Illusion einer Mehrstimmigkeit zu suggerieren. Berio betratdamit 1958 Neuland. Offenbar fand der Komponist dann allerdings doch, dass die Interpretationen von Sequenza, die er mit verfolgen konnte, zu wenig seinen Intentionenentsprachen. Deshalb entschied er sich für eine zweite, rhythmisch exakt festgelegteVersion des Stücks, damit die Kluft zwischen seiner Klangidee und den Ausführungen derFlötisten geringer würde. Indessen steht dahinter ein generelles Problem der Transfor-mation von verschriftlichter Musik in Klang.

Sequenza I

{ »Ich möchte, dass Du mir ein ein kleines Flötensolo komponierst«, bat der FlötistSeverino Gazzelloni den damals dreiunddreissigjährigen Komponisten. Es sollte zu einemKonzert mit zeitgenössischen Stücken von Togni, Messiaen und Boulez passen. LucianoBerio nahm die Herausforderung an und widmete Gazzeloni das 1958 in Darmstadt ur-aufgeführte Stück Sequenza. Das Flötenstück bildet den Beginn einer ganzen Serie vonSequenzas (I-XIII; 1958-1995), in denen jeweils ein Instrument (einschliesslich Stimme)im Mittelpunkt steht. In Sequenza I besteht die Herausforderung darin, auf der Grund-

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lage dodekaphoner und partiell serieller Strukturen, die Partitur für das einstimmige Instrument Flöte so zu entwerfen, als würden mehrere Stimmen gleichzeitig ablaufen.Der Titel Sequenza soll betonen, dass es sich in erster Linie um eine Folge (= Sequenz)harmonischer Felder handelt, der alle anderen musikalischen Funktionen untergeordnetsind. Die zeitlichen, die sich auf die Tonhöhe beziehenden, die dynamischen und diemorphologischen (form- und gestaltbildende) Dimensionen sind durch drei Spannungs-grade charakterisiert: ? Der Grad der höchsten Spannung in der zeitlichen Dimension herrscht in den

Momenten mit der größten Schnelligkeit der Artikulation beziehungsweise in den Momenten mit der längsten Dauer eines Tones.

? Der mittlere Spannungsgrad ist immer durch eine neutrale Verteilung zwischen ziemlich langen Werten und ziemlich schnellen Artikulationen ausgezeichnet.

? Der kleinste Spannungsgrad wird durch die Stille oder die Tendenz zur Stille bestimmt.

Die Tonhöhendimension hat ihre maximale Spannung, wenn die Noten sich schnell überdas gesamte Register verteilen oder Intervalle großer Spreizung dominieren beziehungs-weise extreme Register gewählt werden. Daraus ergeben sich auch die anderen beidenGrade. Der maximale dynamische Spannungsgrad findet in Momenten der größtenklanglichen Intensität und des größten dynamischen Kontrastes statt. Als morphologi-sche Dimension gilt die Verbindung der drei anderen. Sie dient als eine Art rhetorischesWerkzeug, das den Grad der akustischen Transformation in Bezug auf ein Modell defi-niert. In Sequenza I ist es die Erfahrung mit dem historischen Hörbild einer Flöte (alsModell) und ihre Differenz. Der maximale Grad ist hier erreicht, wenn das typische Hör-ideal, der schöne, kultivierte Ton, modifiziert wird durch Flatterzunge, Klappengeräu-sche oder Doppeltöne. Wenn in der Ausführung die zeitlichen Beziehungen gewissenhaftrespektiert werden, dann hat man manchmal tatsächlich den Eindruck, wenn auch nichteiner Polyphonie, so doch einer Gleichzeitigkeit der Ereignisse.

Das Stück wird durch eine Koexistenz zweier verschiedener, scheinbar gegensätzlicherAnlagen entwickelt. Auf der einen Seite überzeugt die unmittelbare, theatralische undschon fast aggressive Dimension, auf der anderen Seite bleiben isolierte, absoluteGesten. Pausen werden benutzt, um die verschiedenen Teile zu trennen, um etwas rheto-risch hervorzuheben oder einfach als Möglichkeit einer natürlichen Atmung. Über dieDynamik werden gleiche Charaktere gezeichnet oder Echos provoziert. Außerdem dientsie auch für gezielte Überraschungseffekte. Mit schnellen Oktavwechseln, dem Anspielenentfernter Oktaven entsteht eine Art Räumlichkeit, in der verschiedene Klangpunktemiteinander in Aktion zu treten scheinen. Trotzdem wirkt das Stück nie »zerstückelt«oder »auseinander gerissen«. Aufgrund der symmetrischen Verwendung von Dynamik,Dauern und der Gruppierungen der Intervalle gibt es so etwas wie regelmässige Phrasen.Mit Hilfe von Zeichen werden bestimmte Assoziationen erreicht, wie Ähnlichkeit oderKontrast, Wiederholung oder Variation, oder auch die Bestätigung oder Negation vonSymmetrie. Selbst wenn beim Zuhören der Eindruck eines freien Kontinuums entsteht, sosind doch konkrete Orientierungspunkte vorhanden.

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Zwischen Komponierenden und Interpreten

{ Nicht immer lässt sich bei einer Komposition die Absicht des Autors eindeutig er-kennen. Zwischen der Intention, ihrer Fixierung in Noten und der klanglichen Umsetzungdes Notierten bleiben nicht zu schliessende Spielräume. Die Hermeneutik (=Lehre vonder Sinnerfassung von Aussagen) geht sogar auch bei mehr oder weniger eindeutigerkennbaren Intentionen davon aus, dass die Interpretation sich unbedingt vomSinnhorizont des Autors lösen müsse (vgl. Danuser, Sp. 1053-1069). Dem Komponistenbleiben zur Sicherung einer angemessenen Vortragsweise folgende Massnahmen: ? die genaue Vortragsbezeichnung ? die mündlich oder schriftlich praktizierte Vortragslehre ? die Realisierung mustergültiger Aufführungen und ? die Fixierung auktorialer, das heisst vom Komponisten gesteuerter

Reproduktionen auf Tonträgern.

Dem gegenüber steht der von der Autorintention abweichende rezeptions- und interpretationshistorische Wandlungsprozess. Gemeint ist, dass das Stück sich mit jederAufführung ändert und damit möglicherweise sich auch positiv weiterentwickelt. Gerade das macht die Lebendigkeit von Musik aus. Die im Text notierte Struktur einesmusikalischen Kunstwerks weist meist solch einen Reichtum an Beziehungen auf, dass es nicht möglich ist, eine einzige, ästhetisch perfekte Fassung davon darzustellen.Es können immer nur verschiedene einzelne Aspekte eines Werks berücksichtigt werden.Dies zeigt sich am Zwiespalt zwischen der Forderung nach der Deutlichkeit im Detaileinerseits und andererseits dem Verlangen nach einem »grossen Bogen«, einem Zusammenhang der Formteile. In Berios Sequenza I verschärft sich das Problem des-wegen, weil Interpreten bestimmte Entscheidungen selber treffen können. Die absoluteAutorität der Autorenintention ist damit bereits ein Stück weit gelockert. Um so verantwortungsvoller muss nun allerdings auch damit umgegangen werden, dass die vagen Grenzen zwischen Freiheiten im begrenzten Spielraum und willkürlicherInterpretation respektiert bleiben.

Space-Notation

{ Da das Stück extrem virtuos ist, hat Berio sich bei der Komposition für eine»Space-Notation« entschieden. Er sah darin die Möglichkeit einer Notation, die demInterpreten (mehr psychologisch als musikalisch) einen gewissen Spielraum lässt, das Stück seinen musikalischen Fähigkeiten anzupassen. Diese neue Art der Notationhat zur Bekanntheit des Stücks Ende der fünfziger Jahre wesentlich beigetragen. Wäh-rend traditionelle Notationsformen die einzelnen Parameter von Metrik und Tondauerngenau festschreiben, handelt es sich hier um eine Notation in optisch definiertenAbständen. Die Dauer eines bestimmten Zeitraums (hier: 70 Schläge pro Minute) wird

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durch kleine senkrechte Kommata umgrenzt und dient als konstanter Puls. Eine fest-stehende Metrik und ausgeschriebene Notenwerte existieren nicht. Das heisst, dieoptische Verteilung der Noten zeigt den auszuführenden zeitlichen Abstand innerhalbdes vorgeschriebenen Zeitraums (»Space«) an. Sind die Noten mit einem Balkenverbunden, so sind sie quasi tenuto (gehalten) zu spielen. Stehen sie einzeln, jeweils mit »Fähnchen«, so sind sie kurz zu spielen, je nach Art der vorgegebenen Artikulation.Die Dauer der unter Fermaten stehenden Töne wird nicht vorgeschrieben, die kleinenNoten sollen so schnell wie möglich ausgeführt werden.

Die in Sequenza verwendete Space-Notation löste heftige Diskussionen über diedarin enthaltene immanente Aleatorik (»Zufälligkeit«) aus. Wenn nämlich zu der»freien« Notationsweise noch die »freie« Spielweise der Interpreten hinzukommt, wieungenaue Pausen oder willkürliche Agogik, so fürchtete man, wird es mit einer text-getreuen Interpretation schwierig. Skeptiker wie Pierre Boulez fragten daher, ob dieseSchreibweise nicht zu sehr zwischen Zufall und Konstruktion »wackele«. Auch Beriomachte die Erfahrung, dass die Interpretation nach seiner Vorstellungen nur danngewährleistet war, wenn Komponist und Interpret das Stück gemeinsam einstudierten.In seiner zweiten Ausgabe fixierte Berio daher den Notentext metrisch genau. Anstelleeines definierten Zeitraums (70 Impulse pro Minute), bestimmt die Dauer einer Viertel-note (Viertel = 70) das Tempo. Daraus folgt, dass auch die einzelnen Notenwerte jetztmetrisch exakt notiert werden. Das heisst, anstelle »längerer« oder »kürzerer« Werte,die aus dem Zusammenhang heraus interpretiert werden müssen, stehen nun rhythmischfestgelegte Achtel, Sechzehntel, Triolen oder Quintolen. Ob beabsichtigt oder nicht: es ändert sich damit der gesamte Charakter des Stücks.

Ausblick

{ Es nicht ganz unproblematisch, die beiden Ausgaben zu vergleichen. So ist zumBeispiel nicht klar, wo bei der Space-Notation die »Eins« des »Taktes« oder besser desSpaces zu setzen ist. Bedeutet »auf den Puls«, wenn die Noten in einem Abstand von ca. einem Milimeter zum Komma stehen? Auf den ersten Blick scheinen die beidenAusgaben sich in ihrem Notenbild recht ähnlich zu sein. Vergleicht man dann kritischer,so zeigen sich doch einige Unterschiede. Die in den beiden Ausgaben manchmal leichtverschiedene Dynamik ist hierbei unter dem Aspekt der Relativität vernachlässigbar.Erstaunlicherweise lassen sich durch die Space Notation mehr Nuancen ausmachen, die rhythmisch ausgeschrieben so gar nicht notierbar sind. Das betrifft vor allem densprachlichen Gestus des Stücks. Mit dem genauen Ausrechnen der rhythmischen Wertig-keit wird der sprachähnliche Gestus mehr zerstört als gefördert.

Trotzdem gehören die zwei Fassungen zu den besonders reizvollen Aspekten desStücks. Nach der vergleichenden Gegenüberstellung und meiner eigenen Erfahrung da-mit kann ich jedem Flötisten nur empfehlen, sich beide Ausgaben anzuschauen, aberletztendlich aus der Erstfassung zu spielen. Durch das Lesen der rhythmisierten Fassung

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wird man gezwungen, sich die Erstfassung auch wirklich genau zu erschließen. Und wenn man dies gewissenhaft tut, dann hat man sich ein nicht einfaches, aber dafürmeisterhaftes Stück der Flötensololiteratur angeeignet.

L e s e n · H ö r e n · S e h e n

x Luciano Berio und Rosanna Dalmonte: Entretiens avec Rosanna Dalmonte, Lattes, Paris 1983.

x Hermann Danuser: Art. »Interpretation«, in: MGG2, hg.v. Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 4,Kassel etc. 1996, Sp.1053 – 1069.

x Francesca Magnani: La Sequenza I de Berio dans les poétiques musicales des années 50, in: Analyse musicale 14, 1989, S. 74-81.

x Joachim Noller: Art. »Luciano Berio«, in: Komponisten der Gegenwart, hg. v. Hanns-Werner Heister / Walter-Wolfgang Sparrer, München 1992 ff., 26. Nlfg., 10/03.

x Circles, Sequenza I, Sequenza III, Sequenza V, Wergo Schallplatten: Mainz 1991 (CD).

x Donaueschinger Musiktage1996, Col legno Musikproduktion: München 1997 (CD).

x Peter-Lukas Graf: Werke für Flöte solo, Claves Records: 3600 Thun/ Schweiz 1989.

x Olivier Mille: ein Film von Olivier Mille, Artline Orig.- Prod.; Südwestfunk: Baden-Baden 1993 (Video).

p Carolin Fütterer

Flötistin, studierte von 1998 bis 2004 Orchestermusik an der Musikhochschule Freiburg.

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+Offene und geschlossene Konzepte

S v e n H i n z

{ Klangereignisse, die mit einer Intention hervorgebracht werden, können inKonzepten (Partituren, graphischen Notationen, verbalen Anleitungen) beschriebenwerden. Je nach dem Grad ihrer Eindeutigkeit lassen sich offene oder geschlosseneKonzepte unterscheiden.

Auf der linken Seite: Beispiel für ein offenes Konzept. Der Anleitung oben rechts ent-sprechend werden die Elemente A-B-C immer wieder neu kombiniert und interpretiert.Zur besseren Handhabung: Felder entlang der durchgezogenen Ränder ausschneiden, am schraffierten Rand zusammenheften und entlang der gestrichelten Linien schneiden.

Dem gegenübergestellt ist ein Beispiel für ein geschlossenes Konzept (Text unten),das keinerlei Interpretationsfreiheit zuläßt. Der Text über das Werk ist das Werk selbstund muß weder erläutert noch erschlossen werden.

Beide Stücke wurden im Rahmen der Veranstaltung »Experimentelles Komponieren für Schüler« 2005 aufgeführt.

Werkeinführung für einen Sprecher

{ Dieses Werk ist eine reine Sprachkomposition, die aus zwei Teilen, zweimal dreiSätzen und zweimal zweiundsechzig Wörtern besteht. Der Text stammt vom Komponistenund enthält das Werk selbst sowie dessen formale und inhaltliche Beschreibung; darüber hinaus einige Angaben über Vortragston, Artikulation, Sprechtempo und Laut-stärke. Der Vortragston sollte sachlich, die Artikulation verständlich, das Sprechtempogemäßigt und die Lautstärke die einer gewöhnlichen Unterhaltung sein.

Der Titel des Werkes »Werkeinführung« erscheint an zwei Stellen in der Partitur:einmal etwa in der Mitte und einmal am Ende. Form und Inhalt sind vollkommenidentisch. Das Werk ist selbstbezüglich und somit völlig autonom, gleichzeitig jedochprogrammatisch, da es eine außermusikalische Idee zum Inhalt hat: die Werkeinführung.

Aus Symmetriegründen mußten vierzehn Wörter nachträglich eingefügt werden, die jetzt eine Art Coda bilden.

p Sven Hinz

studiert seit dem Wintersemester 2000/01 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik.

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+Zwischen »Fairy-tale«

und »War requiem«Edward Elgars Cellokonzert – ein Interpretationsvergleich

P e t e r H a j e k

{ Gegensätzlicher kann Edward Elgars Cellokonzert kaum charakterisiert werden.Das erste Zitat stammt von Donald F. Tovey aus den 1930-er Jahren (Tovey, S. 143), daszweite von Jerrold N. Moore aus den 80-er Jahren (Moore, S. 741). Wie ist es möglich,dass der eine Märchen voller Humor, der andere den höchsten Ausdruck von Einsamkeithört? Lässt sich diese Frage analytisch klären? Und wie verhalten sich die Interpretinnenund Interpreten? Dazu habe ich vier Aufnahmen untersucht: 1.) eine Einspielung von 1928 unter der Leitung des Komponisten mit Beatrice Harrison, Cello, und dem NewSymphony Orchestra; 2.) eine Aufnahme von 1945 mit Pablo Casals und dem BBCSymphony Orchestra unter Sir Adrian Boult sowie zwei Aufnahmen mit Jacqueline du Pré, von 1965 mit dem London Symphony Orchestra unter Sir John Barbirolli (3) und von1970 mit dem Philadelphia Orchestra unter Daniel Barenboim (4). Welche Variantewählen die drei Interpreten, die humorvolle oder die melancholische? Und mit welchenMitteln arbeiten sie den jeweiligen Grundcharakter heraus? Hierbei erhält die ersteAufnahme von 1928 einen hohen Stellenwert, weil der Komponist sie selber dirigiert.Harrison wurde von Elgar ausdrücklich als »his chosen soloist« bezeichnet.

Aspekte für die Grundstimmung des Cellokonzertes

{ Das Cellokonzert op. 85 gehört zu den Stücken, die Elgar in den Jahren 1918 und1919 in einem idyllisch gelegenen Sommerhaus bei Brinkwells in Sussex komponierte.Das Stück besteht aus vier Sätzen: 1. Adagio – Moderato (e-moll); 2. Lento – Allegromolto (G-Dur); 3. Adagio (B-Dur) und 4. Allegro (e-moll). Sie sind auf mehreren Ebenenmiteinander verknüpft. So geht der erste Satz unittelbar in den zweiten über, währendder dritte und vierte Satz harmonisch mit einander verbunden sind. Ausserdem enthältdie Coda des vierten eine Reminiszenz an den dritten Satz. Darüber hinaus hängen dieThemen aller Sätze in Gestus und Struktur eng miteinander zusammen. Als Bindeglied

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»The Violoncello Concerto

is a fairy-tale, full of (…) humour.«

»Such a concerto of isolation,

loneliness, farewell even, as had never

been written.«

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dient die rezitativische Einleitung des ersten Satzes. Sie ist nicht nur die Quelle melodi-schen Materials, sondern sie taucht auch an mehreren Stellen des Konzertes mehr oderweniger wörtlich wieder auf, so zu Beginn des zweiten und an Anfang und Ende des vier-ten Satzes. Zwei kompositorische Aspekte entscheiden den Grundcharakter von ElgarsCellokonzert: das Spielen mit traditionellen Konventionen, das sich besonders in den re-zitativischen Partien zeigt, und die Interpretation der langsameren Sätze und Passagen.

Spiel oder Scheitern – die Einleitungen der ersten beiden Sätze

{ Schon in der rezitativischen Einleitung des ersten Satzes zeigt sich das für dasganze Werk typische Muster getäuschter Hörerwartungen. Die ersten Takte – vier mit nobilmente und largamente bezeichnete Akkorde des Solocellos im fortissimo – ver-sprechen ein repräsentatives Stück. Jedoch sinkt die Cellolinie in nur vier Takten vomselbstgewissen fortissimo ins piano und rutscht dabei unaufhaltsam ins tiefe Registerab.Danach beschleunigt sich zwar das Tempo. Doch auch die schnelle Bewegung gerätsofort wieder ins Stocken. Dieses Prinzip, nämlich einem vielversprechenden Gestusetwas ›Enttäuschendes‹ folgen zu lassen, lässt sich nun in zwei Richtungen interpretie-ren. Einerseits dahingehend, dass Elgar mit den Erwartungen seiner Zuhörer spielt, um in eine unerwartete Richtung einzulenken – eine humorvolle Variante. Andererseitskann man dieses Muster auch als Resignation auffassen: Der Versuch, das Konzert miteinem strahlenden, emphatischen ersten Satz zu beginnen, scheitert kläglich – einetragische Variante. Die Interpretation der rezitativischen Einleitung als Spiel oderScheitern wirkt sich dann auch auf den Charakter des folgenden lyrisch-schlichtenModeratothemas aus.

Die vier untersuchten Aufnahmen unterscheiden sich deutlich in der Gestaltung desvom Adagio scheinbar zu einem schnellen Satz strebenden Sechzehntelaufgangs und inder Charakterisierung des Moderatothemas. Beatrice Harrison (1) etwa suggeriert einenÜbergang in einen schnellen Kopfsatz. Dagegen hat Casals (2) offenbar das deutlichspürbare Bedürfnis, aus Elgars Vorgaben, etwas machen’ zu müssen. »Gute Musik ist nieeintönig. Wenn sie eintönig klingt, ist es unser eigener Fehler«, so Casals, »weil wir sienicht spielen, wie sie gespielt werden sollte« (zit. n. Blum 1981, S. 34). Er formuliertdaher das Moderatothema als gewichtiges Hauptthema und durchbricht den monotonenFluss durch unvorhersehbare Unregelmäßigkeit, indem er mal auf den einen, mal auf den anderen Ton des Sequenzmodells hinspielt. Außerdem senkt er das Tempo ab (Casal:MM = 49; Harrison: MM = 55). Dadurch fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf denEinsatz des Cellos als eigentliche ›Hauptsache‹ des ersten Satzes. Sein Thema soll sanft»niedergeh[n] wie ein Blatt, welches im Herbst von einem Baume fällt« (zit. n. Blum, S.51f.). Wirkt das Moderatothema bei Harrison unauffällig schlicht, so als sollte derHörer, dessen Erwartung von etwas Großartigem im Rezitativ genährt worden war, sozu-sagen auf den Arm genommen werden, so erhält es bei Casals die Rolle eines echten

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Hauptthemas. Es strahlt aber nicht den in den Anfangstakten versprochenen Triumphsondern eher herbstliche Einsamkeit aus. Casals Ansatz wirkt wie ein resigniertes Einge-ständnis, dass Elgar die Erwartung des triumphalen Anfangsgestus zwar erfüllen konnte,es jedoch nicht wollte. Jacqueline du Pré (3, 4) lässt die Erwartung erst gar nicht auf-kommen. Sie spielt die Sechzehntel von Anfang an sehr langsam, was bewirkt, dass sichhier schon eine gewisse Hoffnungslosigkeit ausbreitet. Diese resignierende Stimmungbehält du Pré auch im (nicht ganz so phantasievoll wie in der Casals-Aufnahme gestal-teten) Moderatothema bei. Ähnliche Beobachtungen gelten für die rezitativische Ein-leitung des zweiten Satzes. Harrison und Elgar spielen mit getäuschten Erwartungen,Casals und du Pré verleihen dem Anfang eine resignative Grundstimmung von Aufbruchund Scheitern. Entsprechend wirkt der Hauptteil des zweiten Satzes, ein von kurzencantabile-Passagen durchsetztes perpetuum mobile, bei Harrison wie ein spielerischesIn-Fahrt-Kommen, bei Casals und du Pré nervös dahinhuschend.

Schlicht oder schmerzvoll-pathetisch – die langsamen Partien

{ Die unterschiedliche Gestaltung der langsameren Partien des Konzertes wirkt sichvor allem auf die Wahrnehmung der letzten beiden Sätze aus. Bei Casals und noch mehrbei du Pré lässt sich eine emotionale Aufladung der langsameren Teile des Konzertesfeststellen, wodurch sich das Hauptgewicht von den lebendigen schnelleren (bei Harri-son) zu den melancholischen langsameren Teilen verlagert. Das Adagio, ein »Lied ohneWorte« des Solocellos, zurückhaltend begleitet von Streichern und Klarinetten, beginntmit drei aufwärts führenden, fragenden Motiven, sinkt dann im 7. Takt zurück in einesynkopische Bewegung des Orchesters, über der sich eine Cellokantilene entwickelt.Diese wird zweimal wiederholt: zunächst fast identisch (ab Takt 27), aber einen Halbtontiefer. Die dritte ›Strophe‹ (Takte 45 bis 53) ist bis zur Unkenntlichkeit gekürzt, so dassfast nur der Beginn wiederzuerkennen ist. Der Schlusstakt dieser letzten Strophe wirdmit dem Wiederaufgreifen der Fragemotive des Beginns verschränkt.

In keiner der vier untersuchten Aufnahmen weichen die Interpreten wesentlich vomNotentext ab. Und doch wirken sie grundsätzlich verschieden. Harrison singt ein trauri-ges, aber schlichtes Lied. Bei Casals und du Pré (1965) geht die Schlichtheit zunehmendzugunsten ergreifender Leidenschaftlichkeit verloren. Wie stark dieser Stimmungs-wechsel wirkt, zeigt ein Vergleich der extremsten Aufnahmen, von Harrison 1928 und du Pré 1970. Harrison lässt die Werkstruktur klar hervortreten. Sie grenzt die einzelnen›Strophen‹ deutlich voneinander ab und auch die einzelnen Phrasen sind gemäß ihrermotivischen Struktur klar untergliedert. Dabei behält sie durchgehend eine einheitlicheKlangfarbe und Tongebung bei. Außerdem schlägt sie ein flüssiges Tempo an (Takte 1-7im Durchschnitt Achtel = MM 46; du Pré: MM 32), welches sie in der zweiten ›Strophe‹(molto stringendo) auf fast das dreifache steigert (Takt 34: MM = 124; du Pré MM 60), sodass der ganze Satz als Einheit überblickt werden kann. Ein völlig anderes Verhältnis

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zwischen Detail und Ganzem wählt du Pré 1970. Sie schöpft ihr ganzes reichhaltiges Ar-senal an Ausdrucksmitteln aus: Vibrato und Klangfarbe variiert sie auf engstem Raum,prägend ist aber besonders ihre Agogik. Während Harrison das Grundtempo vor allemauf höherer Ebene extrem variiert, macht sich bei du Pré eine phantasievolle Zeitgestal-tung vor allem unterhalb der Taktebene bemerkbar. Der Zeitpunkt des jeweils nächstenTones ist kaum vorherzusehen, scheint im Rückblick trotzdem immer zur genau richtigenZeit gekommen zu sein. Du Pré nutzt die agogischen Spielräume bis an die Grenzen aus.Das Zusammenspiel der verschiedenen Ausdrucksparameter (Vibrato, Tongebung, Ago-gik u.ä.) ist bei du Pré so komplex, dass kein Ton dem anderen, kein Takt dem folgendengleicht. Der Hörer wird von ihr in den einzelnen Augenblick hineingesogen und verliertdie Distanz, die im Gegensatz dazu bei Harrison die formale Struktur so klar hervortre-ten lässt. Jacqueline du Pré macht jedes kleine Motiv, ja fast jeden einzelnen Ton zu ei-nem aufregenden Erlebnis. Der Hörer wird zwar dadurch vom Blick aufs Ganze abgelenkt– aber ohne dass der Satz dadurch auseinanderfallen würde. Er wird zusammengehaltenvon einer einheitlichen Stimmung. Denn alle Vielgestaltigkeit in du Prés Spiel ist nichtSelbstzweck sondern dient dem Ausdruck eines ergreifenden Schmerzes.

Die emotionale Aufladung langsamer Passagen wirkt sich besonders stark auf dieWahrnehmung des vierten Satzes aus. Dieses Allegro weist einige für Finalsätze typischeMerkmale auf: Sonatenform mit Rondoelementen, ein schwungvolles Hauptthema, einsich immer weiter steigerndes Modulationstempo und eine triumphale Schlussgeste.Ebenfalls nicht ungewöhnlich für einen Schlusssatz sind Reminiszenzen an vorangehen-de Sätze. Allerdings erscheint der Rückblick auf den dritten Satz (Takt 281-331) in derCoda, die sich stetig bis zum Lento in Takt 325 verlangsamt, mit einer dem dritten Satzentsprechenden Länge ungewöhnlich ausgreifend. Harrison spielt diese Passage zwarsehr leidenschaftlich (viele Portamenti, ausdrucksvolles Vibrato), aber die drängendeUnruhe des Allegros bleibt im Bewusstsein des Zuhörers präsent, so dass in der kurzenStretta (Takt 336-352 Allegro molto) diese wieder aufgreifen und in eine triumphaleSchlussgeste umgeformt wird. Der Rückblick wirkt bei ihr wie eine vorübergehende ›Epi-sode‹. Casals und du Pré verleihen dieser Passage durch Vielgestaltigkeit im Detail einungleich größeres Gewicht. Schon allein durch das langsamere Tempo (Harrison: Viertel= MM 91-35, Casals MM = 59-33, du Pré MM = 62-23 bzw. 56-19) verschwindet allmählichdie Erinnerung an den bewegten Hauptteil, der Episodencharakter geht verloren. DieStretta ist dann zu kurz, um die resignative Stimmung wieder aufzuhellen. Sie wirkt eherwie ein letztes verzweifelt-trotziges Aufbäumen. Die gedrückte Stimmung bleibt beimHörer haften und überschattet das ganze Konzert, das im Rückblick Einsamkeit undDepression auszudrücken scheint.

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Autorenintention und Wende der Rezeption von Elgars Cellokonzert

{ Elgar und Harrison betonen die leichtere, humorvolle, die anderen drei Beispieledagegen die melancholische, tragische Seite des Cellokonzertes betonen. Faszinierendist, dass der Notentext beide Interpretationsrichtungen zuzulässt. Nur die Tempoan-gaben widersprechen der tragischen Interpretation. Offensichtlich hat sich die Inter-pretation von Elgars Cellokonzert zwischen 1928 und 1945 von der humorvollen zur tragischen Version geändert. Zwar ist die Basis von nur vier Aufnahmen keineswegsgenügend repräsentativ, um diese Vermutung auf ein sicheres Fundament zu stellen.Jedoch scheint sie sich in den Entwicklungstendenzen der musikwissenschaftlichenLiteratur über Elgars Cellokonzert zu bestätigen. Die fast ausschließlich angelsächsi-sche Elgar-Forschung ist überwiegend biographisch orientiert. Das Hauptinteresse derBiographen Elgars liegt in der Darstellung seines Charakters, von dem die Musik nicht zutrennen sei. Analytische Betrachtungen begnügen sich daher meistens damit, biogra-phische Bezüge herzustellen. Überliefert ist Elgars Bemerkung, das Cellokonzert spiegele»A man’s attitude to life« wider. Obwohl Elgars Lebenseinstellung als äußerst zwie-spältig zwischen »he was so thin-skinned and so vulnerable« und »jocular gusto«(McVeagh) beschrieben wird, erhält das Cellokonzert einseitig depressive Attribute wie »war requiem« ( McVeagh S. 121), »world of loneliness« (Moore, S. 741) oder»Elgar’s final comment on the agony of the war and of himself« (Anderson, S. 359).

Die zitierten Aussagen entstammen alle der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg,während in der Vorkriegszeit die humorvollen Charakteristika überwiegen wie Toveys »a fairy-tale, full […] of meditative and intimate passages; full also of humour, which,in the second movement and finale, rises nearer to the surface than Elgar usuallypermits« (Tovey, S. 143). Die Indizien sprechen dafür, dass Elgar die humorvolle Inter-pretation seines Cellokonzertes intendierte. Sowohl der Notentext (die sich in den ange-gebenen Metronomzahlen manifestierenden Tempoangaben) als auch die – wenn auchsehr spärlich – überlieferten Aussagen Elgars und die in diesem Fall wichtigste Quelle für die Suche nach der Autorenintention, die Aufnahme mit Beatrice Harrison unter derLeitung von Elgar selbst, weisen in diese Richtung. Würde nun einer Beurteilung deruntersuchten Aufnahmen einzig und allein das Kriterium zugrunde gelegt werden, das im20. Jahrhundert oft dogmatisch gefordert wurde, der Interpret habe die Werkidee desKomponisten wiederzugeben und nichts anderes, so müsste man die Aufnahmen vonCasals und du Pré, die zu den einflussreichsten Interpreten des 20. Jahrhunderts zählen,als die Autorintention verfehlend verurteilen. Hermann Danuser und Hermann Gott-schewski, die sich intensiv mit der Analyse performativer Interpretationen beschäfti-

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gen, schlagen eine andere Beurteilung vor und nennen als das wichtigste Kriterium fürdie künstlerische Qualität eines Interpretationskunstwerks »seine innere Stimmigkeit«.Sie »definiert sich allein aus den auf der Schallplatte festgehaltenen Strukturen«(Gottschewski 1996, S. 20). Legt man diesen Maßstab zugrunde, muss man den ver-meintlichen Verstoß gegen die Autorenintention akzeptieren. Durch Casals entstand ein ergreifendes ›neuen‹ Elgar-Cellokonzert, dessen ausdruckshaften Intensität du Pré noch steigerte.

L i t e r a t u r

x Baldock, Robert: Pablo Casals. Das Leben des legendären Cellovirtuosen, München 1994.

x Blum, David: Pablo Casals und die Kunst der Interpretation, Wilhelmshaven 1981.

x Danuser, Hermann: Artikel Interpretation, in: MGG2, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd. 4, Kassel und Stuttgart 1996, Sp. 1053-1069.

x Gottschewski, Hermann: Die Interpretation als Kunstwerk. Musikalische Zeitgestaltung und ihre Analyse am Beispiel von Welte-Mignon-Klavieraufnahmen

aus dem Jahre 1905, Laaber 1996.

x McVeagh, Diana: Artikel Elgar, in: The new Grove dictionary of music and musicians, hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 8, London 2001, S. 115-137

x Tovey, Donald Francis: Essays in Musical Analysis, Bd. 2: Concertos and Choral Works, Oxford 1989 (erste Auflage 1935-1939).

p Peter Hajek

studierte von 1999 bis 2004 Schulmusik, mit Hauptfach Cello.

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+Konzertsäle – Klangräume

Wiener Klassik und Öffentlichkeit

S i m o n e K a t h r i n M a y e r

{ Ludwig van Beethovens Sinfonien gehören für uns selbstverständlich zum Kern-repertoire »klassischer« Konzertreihen. Ihr adäquater Aufführungsort ist traditionelldas Konzerthaus, dessen architektonische und akustische Gestaltung im Dienst derMusik steht. Konzertsäle sind öffentliche Räume. Sie geben Aufschluss darüber, wie mu-sikalische Öffentlichkeit gestaltet wird und welche Rolle die Musik in der Öffentlichkeitspielt. Zu Beethovens Zeit gibt es in der Stadt Wien allerdings noch gar kein Gebäude,das eigens für Sinfoniekonzerte gedacht oder sogar dafür konstruiert worden wäre. Derrepräsentative Konzertsaal der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien wird erst 1831gebaut, vier Jahre nach Beethovens Tod. Wie funktioniert dann musikalische Öffentlich-keit zur Zeit der Wiener Klassik? Die uns vertraute Art und Weise öffentlicher Konzert-veranstaltungen entwickelt sich um 1800 überhaupt erst. Zu den Begleiterscheinungengehört, dass die mitwirkenden Orchester noch keineswegs den heutigen professionellenSinfonieorchestern entsprechen. Beethoven spielt dabei insofern eine wichtige Rolle,weil er mit seinem Wirken in dieser Entwicklung eine neue Dimension öffnet. Raum hat neben architektonischer und akustischer auch eine soziale sowie als Klangrauminnerhalb der Komposition eine musikästhetische Bedeutung.

Musik und öffentlicher Raum

{ Der Begriff der Öffentlichkeit ist stets eng verknüpft mit dem der allgemeinenGesellschaft. Öffentlichkeit beinhaltet, dass Menschen eines gemeinsamen Lebensrau-mes an dem teilnehmen, was ihre Mitmenschen tun und lassen, dass sie interagieren undkommunizieren. Jede Aktion und Kommunikation findet an einem Ort statt, und sobaldsie öffentlich ist, also viele Personen erreichen soll, stellt sich die Frage nach einemgeeigneten Raum, etwa einem Marktplatz oder einem großen Innenraum. Solche Plätzesind konkreter öffentlicher Raum. Die neu entstehenden Konzertsäle gehören dazu.

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WieBevor sie gebaut wurden, hatte sich indessen das öffentliche Konzert bereits etabliert.Konzerte wurden zunächst als Privatinitiativen organisiert. Im Laufe des 18. Jahrhun-derts bildeten sich in fast allen europäischen Metropolen Vereine zur Veranstaltung vonKonzerten. Sie funktionierten meist nach dem Prinzip der Subskription. InteressierteMusikliebhaber trugen sich in eine Liste ein und verpflichteten sich zur Zahlung einer be-stimmten Summe. Sobald genügend Geld vorhanden war, konnte ein Konzert stattfin-den. Mit dem wachsenden Publikum mussten auch größere Räume angemietet werden,was wiederum auf die Stärke der beteiligten Orchester zurück wirkte. Vor allem gegenEnde des 18. Jahrhunderts wuchsen die Orchester, die für sinfonische Konzerte benutztwurden, allmählich an. Doch die Aufführungen mit so großen Orchestern litten ständigan Platz- und Geldproblemen. Man »durfte nicht wählerisch sein, sondern hatte sich miteinem wenig geeigneten Raume zu begnügen« (Schreiber, S. 203).

Status versus Können

{ Wer spielte in den Orchestern, die etwa Beethovens Sinfonien uraufführten? Wiewar die musikalische Bildung und über welche instrumentalen Fertigkeit verfügte man?Nach Stefan Weinzierl gab es im zeitgenössischen Wien drei Typen von feststehendenprofessionellen Orchestern, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aktiv waren.

? Die kaiserliche Hofkapelle. Sie hatte seit dem Amtsantritt Maria Theresias nur nochliturgische Funktionen zu erfüllen und spielte im öffentlichen Musikleben der Stadtkeine Rolle. Die Hofkapelle bildete allerdings den Kernbestand für das Orchester derTonkünstlersozietät, des ersten dauerhaften Konzertinstituts in Wien.

? Die Theaterorchester, das heißt die Orchester der beiden Hoftheater und die Orche-ster der drei privaten, vorstädtischen Theater. Sie waren die wichtigsten professio-nellen Ensembles im öffentlichen Konzertleben Wiens und bestritten neben ihrerFunktion bei Schauspiel, Singspiel, Oper und Ballett auch alle Konzerte, die innerhalbder Theatergebäude stattfanden. Darüber hinaus wurden sie für Konzerte außerhalbder Theater verpflichtet, zum Teil als komplettes Ensemble, zum Teil nur für diejenigenPartien, für die keine Dilettanten zur Verfügung standen.

? Die fürstlichen Privatkapellen. Obwohl die Institution der fürstlichen Privatkapellebereits Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung verlor, spielte insbesondere die Kapelle des Fürsten Lobkowitz noch bis 1810 eine wichtige Rolle für das sympho-nische Schaffen Beethovens (Weinzierl, S. 114).

Die wichtigste Rolle spielten in Beethovens Aufführungen allerdings nach wie vor die in sogenannten Liebhaberorchestern organisierten Laien oder Dilettanten. Bis weit indie erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurden die meisten öffentlichen Konzertewenn nicht ausschließlich, so doch unter entschiedenem Mitwirken von Dilettantenbestritten. Erst um 1840 waren Aufführungen mit gemischten Orchestern, die, wie inLiebhaberorchestern üblich, gar nicht oder kaum geprobt hatten, obsolet. Die gestiege-

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nen technischen Ansprüche wie in Beethovens Sinfonien machten auch professionellenMusikern zu schaffen. Selbst Berufsmusiker waren zum Teil überfordert. Bei einemKonzert im Wiener Redoutensaal 1814, in dem Beethoven seine 7. und 8. Sinfonie undWellingtons Sieg dirigierte, waren nur sieben der 18 ersten Violinen und sechs der zwei-ten professionelle Musiker. Und noch die erste Aufführung der 9. Sinfonie im Kärntner-tortheater 1824 fand unter Mitwirkung zahlreicher Amateure der Gesellschaft derMusikfreunde in Chor und Orchester statt. Sie spielten aus Manuskripten und nach zweiProben. Neben der mangelnden Vorbereitung der Hobbymusiker verschärfte sich derKonflikt zu den Berufsmusikern außerdem durch die Tatsache, dass die sozial ofthöhergestellten Dilettanten »stets die ›erste Stimme‹ innehielten« (Schreiber, S. 59). Es ist schwierig sich vorzustellen, wieviel von der Absicht der Werke unter solchen Bedingungen noch beim Publikum ankommen konnte.

Konzert und Publikum

{ Im Prinzip waren die Konzerte der Laienorchester eine Form gemeinsamen Musi-zierens, zu der nach und nach auch Publikum zugelassen wurde. Passiv zu sein, war inihren Konzerten eigentlich nicht erwünscht. Das veranschaulichen die Statuten der 1805in Warschau gegründeten Musikalischen Gesellschaft. Danach werden ausschließlichaktive Mitglied aufgenommen. »Wer auf gebührende Einladung des ersten Vorstehers inden Konzerten nicht musiciren oder singen will, der giebt eben dadurch zu erkennen,dass er aus der Gesellschaft austritt.« Der Kommentar der Redakteure der AllgemeinenMusikalischen Zeitung dazu lautet: »Streng, aber weise« (AMZ, in: Preußner, S. 40). Beiden Besuchern überwog der gesellige Anlass, und der soziale Prestigegewinn, den dieUnterstützung der meist mit wohltätigen Zwecken verbundenen Konzertveranstaltungenmit sich brachte, war oft wichtiger als der Musikgenuß selbst. Der Anspruch, die darge-botenen Werke perfekt ausgeführt zu hören, war also nicht unbedingt vorhanden. Aufder anderen Seite wurde indessen schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhundertsder Ablauf der Konzerte bemängelt. Man wünschte mehr Konzentration des Publikumsauf die Musik und forderte eine dementsprechende Programmgestaltung.

Als im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Besucherzahlen aufgrund der all-gemeinen wirtschaftlichen Krise so stark zurückgingen, dass kaum mehr Subskriptions-konzerte zustande kamen und reisende Virtuosen vor fast leeren Bänken spielenmussten, sann man über Neuerungen nach. Zwei Entscheidungen veränderten die Situa-tion. Auf der einen Seite wurde der Musikbetrieb professionalisiert, indem öffentlichfinanzierte Berufsorchester gebildet wurden. Auf der anderen Seite rückten die päda-gogischen Potentiale der Musik in den Vordergrund. Durch den Umgang mit Musik solltenBildung, Humanität und Volkswohl gefördert werden. Mit der Umwandlung der zahlrei-chen Musikschulen in Konservatorien wurde die Brücke von der Idee der musikalischenVolksbildung zum professionalisierten Musikbetrieb geschlagen. Am Ende dieses Wandelssteht das fast ausschließlich vom Staat getragene Konzert, wie wir es heute kennen.

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Beethovens Wiener Konzerträume

{ Aufführungen von Beethovens sinfonischer Musik fanden in sehr unterschiedlichenRäumlichkeiten statt. Die jeweiligen Auswahlgründe waren vielfältig:

? Der Raum mußte Platz für alle Aufführenden bieten und aus ökonomischen Gründen noch für möglichst viele Zuhörer.

? Er sollte von den höheren (zahlungskräftigen) Schichten sozial akzeptiert sein, damit auch die »vornehmen« Leute dem Konzert nicht fernblieben.

? Es musste eine Erlaubnis für das Konzert eingeholt werden.? Saalmiete und Heizungskosten (die Beheizbarkeit überhaupt) mußten

berücksichtigt werden.? Manche Räume wurden in akustischer Hinsicht zwar bevorzugt, doch es finden

sich keine Belege, dass dieses Kriterium jemals den Ausschlag für die Wahl eines Konzertraum gab.

Vor allem im 18. Jahrhundert spielten fürstliche Privatpalais eine wichtige Rolle. Mandenke etwa an Haydn, dem im Schloß Esterháza ein eigener Musiksaal für seine Kapellezur Verfügung stand. Im Hinblick auf Beethoven sind das Palais Lobkowitz, das Palaisdes Fürsten Lichnowsky und die Residenz des Erzherzogs Rudolf als Proben- und Auffüh-rungsstätten von einiger Bedeutung, ebenso das Haus des Bankiers von Würth. Indessenverloren die privaten Konzertstätten im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gänzlichan Bedeutung. Im Jahr 1807 fand die letzte belegte Aufführung einer Beethoven-Sinfo-nie in einem Privatpalais statt. Stattdessen lässt sich eine deutliche Verschiebung umdas Jahr 1810 hin zu den größeren öffentlichen Repräsentations- und Festsälen. So fan-den bis einschließlich 1810/11 dreizehn Konzerte in den Theatern, acht in öffentlichenSälen, sechs in Privatpalais und vier in Gasthäusern statt. Dagegen sind es von 1811 bis1827 acht Sinfonieaufführungen in den Theatern, 53 in öffentlichen Sälen, kein einzigesmehr in den Privatpalais und elf in den Gasthäusern belegt (vgl. Weinzierl). In öffent-lichen Sälen erklangen 1807 zum ersten Mal eine Sinfonie von Beethoven. Doch schonsechs Jahre später, 1813, übernehmen die öffentlichen Säle hier eine Vorreiterrolle. Deranfangs sehr hohe Anteil der Theater fällt nie ganz weg, was wahrscheinlich daran liegt,dass an den Theatern die Berufsmusiker angestellt waren, die zur Aufführung derSinfonien immer dringender benötigt wurden. Doch mit Aufkommen der öffentlichen und der Gasthaussäle als Konzertstätten mussten die Theater Aufführungen an dieseabtreten, im folgenden rangierten sie etwa gleichbedeutend mit den Gasthäusern.

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Klangräume

{ Dass Orchesterstärken den architektonischen und akustischen Gegebenheiten derAufführungsräume angepasst werden mussten, ist keine Entdeckung der Wiener Klassik,sondern war auch vorher schon bekannt. Mich interessierte, ob und inwieweit auch kom-positionsästhetische Entscheidungen räumlich gedacht sind. Aufschlussreich ist, wel-che grosse Rolle eine räumliche Metaphorik in den Beschreibungen spielt. In einem fikti-ven Dialog über die 7. Sinfonie schildert die Figur Faustin eine Hochzeit. An einer Stelleheißt es: »Im Trio aber, da sitzt der Bräutigam selig neben der Holden, die ihm nun fürewig angehört, gleichsam im Nebenkabinett, und durch die oft geöffnete Thüre dringtder Lärm der Gesellschaft herein und übertönt die leisen Liebesworte.« Dazu meint einweiterer Dialogpartner: »Ja, [...] und wie soll denn in dem (zweifelsohne kleinen) Ne-benkabinet [sic] Platz sein für das ungeheure Fortissimo, wo die Violinen unter stetemPaukendonner ihr bisher unausgesetzt ausgehaltenes A an die Trompeten abgeben?«(Ambros, in: Lomnäs/Strauß, II, S. 72 f). Mit der Musik wird hier erstens eine konkreteRäumlichkeit, nämlich das »Nebenkabinett« assoziiert, zweitens kommt die Vorstellungzum Ausdruck, dass ein lauter Klang Platz brauche. Tatsächlich ist die Verbindung vonzeitlichen mit räumlichen Phänomenen für uns oft selbstverständlich.

So übt der Anfang der 4. Sinfonie durchaus einen Einfluss auf das subjektive Raum-empfinden eines Hörers aus. Mit dem ersten Takt wird ein Klangraum skizziert, indem derTon B über fünf Oktavlagen verteilt ist. Gerade durch das Fehlen eines identifizierbarenmusikalischen Inhalts ist im ersten Takt keine Orientierung möglich. In den Takten 2 bis5 bleiben die Konturen vor allem harmonisch verschwommen, doch es gibt eine musika-lische Linie, deren satzartiger Aufbau mit dem Ohr verfolgt werden kann. Hier zieht dieLinie die Aufmerksamkeit auf sich. Deshalb ist auch ihre räumliche Wirkung begrenzt.Dagegen hat Takt 6 hat eine starke Wirkung auf das Raumgefühl, man empfindet einedeutliche Erweiterung des Klangraumes, eine Aufhellung, als betrete man ein anderesZimmer. Hier zählt die Beobachtung, dass in der Musik Raumgefühl mit Stimmung zu-sammenhängt. Wir ordnen Räumen bestimmte Stimmungen zu und auch umgekehrtmanche Stimmungen einer gewissen Umgebung. Dabei kann einer bestimmten Stimmungnur eine begrenzte Auswahl an Räumen zugeordnet werden. Das langsame Tempo begün-stigt beim Hörer die Vorstellung von einer Räumlichkeit, abweichend von der objektiven,in der er sich befindet. Dabei kommt bei lauten Klängen und großem Tonabstand inner-halb eines Klanges das Empfinden von großem Raum auf. Eine weitere Charakterisierungder vermittelten Räumlichkeit findet über die Gefühlsebene statt, die bestimmtenStimmungen bestimmte Räume zuordnet. Hier ist allerdings auch eine Konzentration aufdie Musik und ihre Klangentfaltung, also ein aktives Zuhören gefordert.

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Die Etablierung der klassischen Musik

{ Für die ernste Musik bedeutete die musikalische Professionalisierung vordergrün-dig einen Publikumsverlust. Zugleich war sie aber ästhetisch auch ein Befreiungsschlag.Dem Zwang enthoben, allen verständlich zu sein, konnte Musik nun allein ihren innerenGesetzen folgend ganz neue Bahnen einschlagen. Immer häufiger wurden vollständigeWerke (anstelle einzelner Sätze) aufgeführt. Das verbliebene Publikum wollte dieKunstwerke begreifen. Wiederholte Aufführungen ermöglichten ein (Wieder-) Kennender oft komplexen Werke. Kürzere Konzertprogramme sicherten eine durchgängige Kon-zentration des Hörers. Die Musikverlage druckten erstmals Werkausgaben statt bunterSammlungen. Mit Taschenpartituren gerüstete Kenner erschienen im Publikum und for-derten von den Interpreten Werktreue und angemessene Interpretation. Es entstand aufdiese Weise eine Kunstmusikgemeinde, die sich zunehmend von der Masse der Liebhaberabgrenzte (vgl. Neitzert, S. 91). An die Stelle einer symmetrischen Kommunikation zwi-schen Publikum und Musiker, wie in den Musikgesellschaften und Liebhaberorchestern,tritt nun eine Ungleichheit.

Das Konzert ist eine Darbietung geworden, bei der die Musik allein im Mittelpunktsteht. Die Errichtung prunkvoller Konzertsäle ist ein weiterer Hinweis auf die neue Stel-lung der Musik und ebenso ihre Verdunklung. All diese Tendenzen machen den Hörer zumpassiven Konsumenten von Musik, der seine Rolle als kritische Instanz im kommunikati-ven Prozess verloren hat. Mit der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Befreiungder Musik aus dem Korsett der Allgemeinverständlichkeit emanzipieren sich alle musi-kalischen Parameter: Die Dynamik verselbständigt sich, wofür gerade Beethovens Werkeüberall Beispiele liefern, es können Passagen allein aus rhythmischen Motiven entste-hen, der Sinn für Klangfarben verfeinert sich maßgeblich.

Um im Konzert verschiedene persönliche Interpretationen auszuschalten, etabliertsich der Taktstockdirigent. An der Entwicklung dieser Figur läßt sich der Wandel in der Musikauffassung auch gut mitvollziehen. Im 19. Jahrhundert muß der Dirigent dievielfach verfeinerten Spielanweisungen überblicken und die für den Einzelspieler alleinschon wegen der Orchestermasse und Lautstärke undurchschaubaren musikalischenKonstrukte koordinieren, wozu auch erstmals eine entsprechende Probentechnik benö-tigt wird. Den ständig gewachsenen Anforderungen an den Orchestermusiker begegneteman im 19. Jahrhundert mit zunehmender Ächtung der Dilettanten in den Orchestern beigleichzeitig besserer Ausbildung für Berufsmusiker. Bis jedoch genügend Berufsmusikerfür alle Orchester vorhanden waren, mischten die Amateure noch lange mit.

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G r u n d l a g e n l i t e r a t u r

x Bonnie und Erling Lomnäs, Dietmar Strauß (Hrsg.): Auf der Suche nach der poetischen Zeit –Der Prager Davidsbund, 2 Bde, Saarbrücken 1999

x Adam Carse: The Orchestra from Beethoven to Berlioz. New York, 1949

x Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuauflage der 5. Auflage, Frankfurt am Main 1990.

x Lutz Neitzert: Die Geburt der Moderne, der Bürger und die Tonkunst. Stuttgart 1990.

x Eberhard Preußner: Die bürgerliche Musikkultur. 2. Auflage, Kassel und Basel, 1954.

x Charles Rosen: Der klassische Stil. 3. Auflage, Kassel, Basel, London, New York und Prag, 1999.

x Ottmar Schreiber: Orchester und Orchesterpraxis in Deutschland zwischen 1780 und 1850. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1938, Hildesheim und New York, 1978.

x Stefan Weinzierl: Beethovens Konzerträume: Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt am Main, 2002.

p Simone Kathrin Mayer

studierte von 1999 bis 2004 an der Musikhochschule Freiburg Schulmusik mit Hauptfach Klavier.

Ihre Abschlussarbeit wurde im Juni 2005 mit dem Helene-Rosenberg-Preis ausgezeichnet.

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+Die Stimme aus dem Untergrund

Das Phänomen der russischen Rockmusik

Y a r o s l a w a S t o r c h a k

{ »Ein Freund besuchte mich und fragte, ob ich die neue Sensation gehört hätte, dieBeatles. Er schaltete ein Tonband an, die Aufnahme einer BBC-Radiosendung. Es warhimmlisch. Ich fühlte mich gesegnet und unbesiegbar. Alle Depressionen und Ängste derletzten Jahre verschwanden. Ich verstand, dass alles, was nicht Beatles war, eigentlichUnterdrückung war,« berichtete Kolya Vasin über das Frühjahr 1964. Rockmusik wurdevon Anfang an von der Regierung als eine dem sozialistischen Staat feindlich gesinnteBewegung eingestuft. Daher entwickelte sie sich in der Sowjetunion vor einem gänzlichanderen Hintergrund, als es in Westeuropa, in den USA und England der Fall war. Parado-xerweise brachten die schwierigen Bedingungen aber auch positive Effekte mit sich: nurso konnte ein solch einmaliges Phänomen entstehen, wie der sowjetische Rockmusik-Untergrund. Er aktivierte und vereinigte den nonkonformistischen Teil der Jugend in sich.In den frühen 80-er Jahren – auch die Jahre des »späten Stillstands« und der »Stagna-tion« in der Gesellschaft und Politik genannt – spielte die Rockmusik eine besondersgroße und positive soziokulturelle Rolle. Für Millionen von Menschen trugen ihre Songsseltene, kostbare und ersehnte Worte der Wahrheit in sich.

Was versteht man unter »Rock« in Russland?

{ Die russischen Rockjournalisten belegten den Begriff mit so verschieden Ausdrük-ken wie »Musik der Jugend«, »Stil des Lebens«, »Lärm und Krach«, »geistiges AIDS« (sonannten einige sowjetische Schriftsteller die Rockmusik; damit kritisierten sie den an-geblich demoralisierenden und zerstörerischen Effekt dieser Musik auf die sowjetischeJugend) oder »demokratischste aller Künste«. Sie verstanden Rock als soziales Phäno-men, als die zeitgenössische Form der Folklore, als ideologische Diversion und schließ-lich im typisch russischen Verständnis als das böse Schicksal, das auf das Volk und seineKultur wartet. Letzteres bedarf einer Erklärung. In der russischen Sprache hat das Wort

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»Rock« neben der Musikrichtung auch die Wortbedeutung »Schicksal« und »bedrücken-de Vorahnung«. Unter den russischen Philosophen des Mystizismus und den Dichtern desSymbolismus Anfang des 20. Jahrhunderts war das Wort »Rock« in dieser seiner ur-sprünglichen Bedeutung sehr beliebt. Auf diese Weise ergibt sich aus dem spezifischenKontext ein besonderer Anknüpfungspunkt an eine bestimmte Phase in der kutlurellenGeschichte, der nicht direkt von der Musik ausgeht, sondern über die Wortbedeutung as-soziiert wird. Die Rockmusiker in der Sowjetunion betrachteten diese Musik tatsächlichals ihr »Schicksal«. In den Texten ihrer Lieder sprachen sie das Thema des »Rock-Schicksals« oft an und beschrieben, was man als Dichter und Musiker in Russland für ein schwieriges, nicht selten gefährliches Leben hatte.

Die Anfänge

{ Der Rock’n’Roll erlebte Anfang der 50-er Jahre in Amerika und bald darauf inEuropa seinen Durchbruch. Dies war die Zeit einer harten Konfrontation zwischen derUdSSR und den USA. Im Bewusstsein der sowjetischen Bürger war zu diesem Zeitpunkt dieIdee vom neuen Feind, dem amerikanischen Imperialismus, schon fest verankert. Soge-nannte »Verehrung des Westens« galt als Vergehen und war strafbar. Offenes Interessean allem Westlichen – sei es Musik, Literatur, Malerei oder Mode – war nicht ungefähr-lich und auch in praktischer Hinsicht nicht einfach, denn alle offiziellen Wege für dasEindringen von Information aus dem Westen in die Sowjetunion waren verschlossen.

Jedoch existierte trotz dieser Abschottung eine kleine Gruppe Jugendlicher in derUdSSR, die alles Amerikanische verehrte, insbesondere den Jazz. Sie kleideten sich mit›Stil‹, weswegen man ihnen auch den vom englischen Wort »style« abgeleiteten Namen»Stiliagi« gab. Die Stiliagi waren eine skandalöse, ausgeflippte Jugendkulturszene derfünfziger Jahre, die ersten Anhänger exotischer Musik und eines alternativen Stils. Ins-gesamt war die Gruppe der Stiliagi eher klein und exklusiv. Von den Menschen auf derStrasse wurden sie nicht besonders wohlwollend angesehen. Artemy Troitsky, ein be-kannter russischer Rockjournalist, interviewte 1988 den ehemaligen ›Stiliaga‹ AlexeyKozlov, der später der Kopf der populären Funk- und New Wave-Gruppe Arsenal werdensollte. Hier ein Ausschnitt aus dem Interview mit A. Kozlov: »Die Leute reagierten immersehr stark auf uns, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln (…) Wann immer ich dieStraßenbahn betrat, fingen die Leute zu diskutieren und zu fluchen an: ›Uh, angezogenwie ein Pfau!‹ oder: Junger Mann, schämen Sie sich nicht, wie ein Papagei herumzulau-fen? (…) Ich lief immer rot an.«

Die sowjetische Gesellschaft jener Zeiten war monolithisch und konnte daher keineAusnahme wie die Stiliagi in ihren Reihen dulden, die sich vom gewöhnlichen grauensowjetischen Leben abhoben und als erste provokative Gruppe überdrehter Jugendlicherbezeichnet werden könnten. Die Stiliagi hatten eigentlich keine Gemeinsamkeiten mit der Rockmusikbewegung: sie hörten altmodische Jazzmusik, und ihre Idole warenLouis Armstrong, Duke Ellington und vor allem Glenn Miller. Jedoch kann man in diesem

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Phänomen den ersten Versuch erkennen, eine eigenständige Jugend-Subkultur zu be-gründen. Der Rock’n’Roll erreichte die sowjetische Jugend erst in den Jahren des »Krustschower Tauwetters« ab 1957. (Unter Krustschow lockerte sich die äusserstgespannte politische Situation der Ära Stalin, auch die Beziehungen zu den USA verbes-serten sich in dieser Zeit). Damals erlebte die Hauptstadt Moskau ein »InternationalesFestival der Jugend und der Studenten«. Jazzmusiker, Beatnik-Poeten, moderne Künstlerströmten ins Land. Die Einwohner von Moskau sahen zum ersten Mal echte, lebende jun-ge »Fremdlinge«. Sie trugen Jeans, hatten einen aufsehenerregenden Haarschnitt undtanzten Rock’n’Roll. In der Anfangszeit war Rock’n’Roll nur den Kindern einflussreicherBeamter, Offiziere und Professoren zugänglich, der sogenannten »goldenen Jugend«.Aber relativ schnell verbreitete sich der neue Stil auch unter den Massen, zuerst in dengroßen Städten der Sowjetunion, anschließend in der Provinz. Man muss anmerken, dasssowohl die Stiliagi- als auch die Rock’n’Roll-Bewegung in der Sowjetunion nicht langeandauerten und nie die Mehrheit, sondern eher kleinere Jugendkreise ansprachen. DerGroßteil der sowjetischen Jugend jener Jahre war von patriotischem Enthusiasmus er-füllt, angeregt durch Yuri Gagarins Weltall-Flug und durch die Kubanische Revolution.»Dekadent«, »cool« oder »anders« zu sein war unter den meisten Jugendlichen nichtangesagt. Man gab sich romantisch, fleißig und wissensdurstig und wollte der Gesell-schaft von Nutzen sein. Es herrschte unter ihnen also ein Gefühl von Einheit mit derMehrheit der Gesellschaft und die Hoffnung, schon bald die versprochene Ära des Kom-munismus zu erreichen.

Der Twist gewann 1960 international große Beliebtheit und konnte sich in dersowjetischen Gesellschaft fest etablieren. Junge russische Musiker übernahmen denTwist-Stil in eigene Kompositionen, und die im ganzen Land bekannten sowjetischenHits der damaligen Jahre basierten auf den Twist-Rhythmen. Die Versuche der staat-lichen Organe, eine Kampagne gegen den Twist zu starten und als Alternative zu denwestlichen Tänzen neue »sozialstische« Tanzformen einzuführen (die hauptsächlich aufden Volkstänzen derjenigen Völker beruhten, die zur UdSSR gehörten), schlugen fehl.

»Beatlemania« und der Aufstieg der Rockmusik in der UdS SR

{ Die »Beatlemania« überrollte Osteuropa und die UdSSR im Frühjahr 1964. DieBeatles wurden zur Inspirationsquelle für viele führende sowjetische Rock-Musiker undspielten bei der Entstehungsgeschichte der sowjetischen Rockmusik eine einzigartigeRolle. Nicht nur Kolya Vasin, der Kopf einer Untergrundbewegung von Beatles-Fans inden 60-er Jahren, fühlte sich durch diese Musik »gesegnet und unbesiegbar«. Millionenjunger Sowjetbürger sangen die Lieder der Beatles, die sie von ausländischen Rundfunk-übertragungen auf Tonband aufnahmen oder auf dem Schwarzmarkt ersteigerten. Dieneue musikalische Sprache regte die Menschen nicht nur zum Zuhören an, sondern dazu,sich mit den neuen Mitteln dieser Musik selbst auszudrücken. Viele wollten diese Musiknatürlich nur imitieren, um ihre Neuartigkeit nachzuempfinden, für einige Musiker aber

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bedeutete die neue Musik noch viel mehr: Zum ersten Mal bekam die russische Jugendden Impuls zu individuellem, unabhängigem künstlerischem Ausdruck. Die Beatlesbrachten der Sowjetunion viel mehr als nur tanzbare Musik: Ihre Lieder waren »seelischeNahrung« für viele Jugendliche. In der sowjetischen Rockmusik-Szene zeichnete sichdadurch ein neuer Weg ab. Die einheimische Rockmusik wurde immer mehr zur sozialenKraft, die von der sowjetischen Regierung nicht länger ignoriert werden konnte. In derzweiten Hälfte der 60-er Jahre fasste die Rockmusik-Gemeinde in der sozialistischenGesellschaft immer mehr Fuß und nahm allmählich politische Dimensionen an.

Die sowjetische Rockmusikszene der Siebziger Jahre

{ Die russische Gesellschaft nahm die westliche Pop-Kultur viel langsamer auf, als die dem Westen benachbarten sozialistischen Staaten. Die Gründe dafür lagen zumeinen in der weiten geographischen Entfernung Russlands von Westeuropa, zum anderenin der sozialistischen Ideologie der Partei, die die sowjetische Gesellschaft vor dem»zersetzenden Einfluss« des Westens »schützen« sollte. Die westliche Rock- und Pop-musik drang währenddessen auf anderen Kanälen in die sowjetische Kultur. Die Jugend-lichen fanden eine neue Ideologie und einen neuen Stil, mit dem sie sich identifizierenkonnten: die Hippiebewegung. Ende der Sechziger Jahre tauchten in der Sowjetunion dieersten überzeugten Hippies auf. Das Aussehen der Hippies wirkte auf die sowjetischenBeamten abschreckend, aber was sie am meisten beunruhigte, war nicht das äußereErscheinungsbild. Hinter den Hippies und ihrer Musik stand eine politisch aktive Jugend-bewegung, die sich gegen Krieg und Gewalt, insbesondere gegen den Vietnamkriegrichtete. Daher lag in dieser neuen Bewegung eine ungemein stärkere Bedrohung für diesowjetische Ideologie, als es in Zeiten der Beatlemania der Fall war.

Trotz all der mit der Hippie-Bewegung verbundenen Ereignisse hatte die Rockmusik inder ersten Hälfte der 70er Jahre mit den begleitenden Phänomenen nur wenig Einflussauf die sowjetische Gesellschaft. Die relative Isolation vom Westen und die aus der Stalin-Ära überkommene Vorsicht verzögerten die Entwicklung der Rockmusik in denmeisten sowjetischen Republiken. Gelegentlich drang die Pop-Kultur westlichen Stils indie Fernseh- und Radioprogramme vor, im öffentlichen Leben dominierte jedoch haupt-sächlich die traditionelle sowjetische Kultur. Die einheimischen Bands spielten fast alleangloamerikanische Rockmusik; dabei wurde kopiert, ohne zu verstehen, was man sang.Jedoch entsprach dies den Erwartungen des Publikums. Die erste russisch singende Leningrader Band »Nomads« wurde oft ausgepfiffen und blieb ohne Erfolg. Die russischeSprache galt als ein Symbol für das Einverständnis mit den herrschenden Wertsystemen,die der Rockmusik abgeneigt waren. Die ersten russischen Rocksongs unterschieden sichinhaltlich nicht von den anspruchslosen Popliedern jener Tage.

Ein Höhepunkt des landesweiten Aufstiegs der Rockmusik war in den Jahren 1970 –1972 erreicht. Mit dem Auftauchen von Underground-Rockgruppen wie »Aquarium« und»Zoopark« bildete sich vor allem in Leningrad allmählich eine Jugend-Subkultur. Der

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Sinn dieser Subkultur bestand in der Erschaffung einer eigenen Welt, die sich von ihrerUmgebung abgrenzte und durch den Rückzug aus der Gesellschaft gekennzeichnet war.Dieser Rückzug bedeutete jedoch nicht, dass die Rockmusiker auf die politischenGeschehnisse nicht reagierten. Im Gegenteil: Sie reagierten darauf mit ihrem bewusstoppositionellen Lebensstil und mit ihrer Musik. Für die Gründer dieser Untergrund-Bewegung waren die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, gemeinsame Interessen undähnlicher Lebensstil von größter Wichtigkeit. Rockmusik war die sie alle einendeLeidenschaft.

In der zweiten Hälfte der 70-er Jahre erreichte die »Disco-Welle« die Sowjetunion. Zuerst waren die Kulturbeamten gegenüber der neuen »Musik-Ware« feindlich gesinnt.Jedoch verstanden sie bald, dass die Disco-Musik aus ideologischer Sicht nicht so»gefährlich« war wie die Rockmusik. Das Image und der Sound der »Discomania« ge-fielen den sowjetischen Kulturbeamten. Diskotheken sollten als effektive Möglichkeitzur massenhaften Unterhaltung junger Menschen dienen; dabei sollte die Jugend dergeeigneten politischen und ideologischen Beeinflussung unterzogen werden. Die Disco-musik wurde von den Kulturpolitikern als Mittel benutzt, Jugendliche von ihrer Begeiste-rung für die Rockmusik abzulenken. Ihre Freizeit sollte in den von städtischen Partei-komitees eingerichteten Discotheken kontrolliert und unter Aufsicht gestaltet werdensollte. Die Disco eroberte allmählich die Köpfe vieler sowjetischer Jugendlicher, die sichgleichsam im »Disco-Fieber« befanden.

Die »heldenhaften« Jahre: sowjetische Rockmusik nach 1980

{ Die 80-er Jahre wurden aufgrund der rasanten Entwicklung innerhalb der Rock-musik oft als ihre »heldenhaften« bezeichnet. Die Lage der Untergrund-Rockszene ver-änderte sich zunehmend: Sie war längst keine kleine, eher isolierte Gruppe von Gleich-gesinnten und Eingeweihten mehr, sondern unter den jungen Menschen sehr populär ge-worden und vereinte nun hunderte und tausende Jugendlicher. Diese große Popularitätist der Tatsache zuzuschreiben, dass die Rockgruppen nicht mehr ausländische Starskopierten, sondern ihren eigenen Stil entwickelten und ihre eigenen Lieder schrieben.Und was noch wichtiger war, sie fingen an, in ihren Liedern Fragen und Probleme anzu-sprechen, die junge Menschen bewegten. Die Texte dieser Rockbands waren wesentlichaktueller und »schärfer«, als diejenigen der vom Staat unterstützten sogenannten»VIAs« (vokal-instrumentale Ensembles, s.u.). Die neue Bandgeneration sang über dasLeben in der Sowjetunion.

Die Rock-Subkultur der 80-er Jahre wurde differenzierter und vielfältiger. Die wich-tigste Veränderung war die schnelle geographische und gesellschaftliche Ausbreitungder Rockmusik, in die nun große Jugendmassen verschiedenen Alters und sozialerHerkunft miteinbezogen wurden. Während die Subkultur früherer Jahre hauptsächlichaus Studenten und Intellektuellen bestand, kamen nun Schüler und Mitglieder derArbeiterjugend dazu. Die Rockmusik-Szene wuchs von einer isolierten und elitären zur

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Massenbewegung heran. Das gewaltige Ausmass der Subkultur Mitte der Achtziger Jahreführte dazu, dass sie sich nicht mehr in den Untergrund drängen ließ. Man konnte sienicht länger ignorieren. Nun erfuhren von ihr sogar Menschen, die nie damit in Berührunggekommen waren. Der Untergrund-Rock stieg aus den Kellern und Wohnungen auf undverlagerte sein Wirken in Sportstadien. Für die Verbreitung der Rock-Kultur wurden dieMassenmedien – Presse, Radio und Fernsehen – immer wichtiger. Diese benutzten nundie von ihnen jahrzehntelang vernachlässigte Rock-Kultur als einen »Rammbock« und»Mauerbrecher«, der die Bastionen des alten Regimes niederreissen und der Gesell-schaft neue Wege bahnen sollte. Für die »Perestroika-Kultur« war vor allem die Infor-mationsflut in den Medien typisch: Alles, was früher mit Verboten belegt war, wurde nunals Sensation dargeboten. Gleichzeitig mit der Anerkennung der Rockmusik vollzog sichauch die Legalisierung anderer, früher verbotener Kulturformen (wie zum Beispiel derLiedermacher- oder Bardenkultur von Vladimir Vysotski, Literatur von Dissidenten wieSolschenizyn, Kultfilme von Tarkowski).

Anfang der 80-er Jahre verbreitete sich die Rock-Kultur auch in weit entferntenStädten Russlands wie Swerdlowsk und Nowosibirsk, sodass dort eigenständige Rock-musik-Szenen entstanden. Es entwickelte sich gleichsam eine »Sibirische Rock-Schu-le«. Die Repräsentanten dieser »Schule« setzten sich von den Großstadt-Rockmusikern,die in ihrer Musik eher westlich orientiert waren, ab. Der Ursprung dieser Rockmusikrich-tung und Poesie lag in den Besonderheiten, die das Leben in Sibirien vom Stadtlebenunterschieden. Eine wichtige Entwicklung war die Verarbeitung folkloristischer Elementein den Texten dortiger Rockgruppen und die damit verbundene Hinwendung vieler Rock-musiker zu mündlichen Volkstraditionen. Darum begann man in diesem Zusammenhangvon »echter«, »typisch russischer« Rockmusik zu sprechen. Diese Gruppen begannenauch russische Musikinstrumente wie Baian (Ziehharmonika) und das ZupfinstrumentBalalaika in ihren Werken einzusetzen und den Stil der traditionellen Tschastuschka(kurze vierzeilige Volkslieder, meistens mit witziger oder ironischer Konnotation) zuübernehmen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Einfluss der westlichen Musikkultur aufdiejenige des Sozialismus und der wechselseitige Austausch wurden durch den ideologischen Faktor massiv behindert. Es war in der Sowjetunion ausreichend, einekünstlerische Richtung aus ideologischer Sicht als »nicht vertrauenswürdig« undverdächtig zu bezeichnen, um sie zum feindlichen Element zu erklären und sie öffentli-cher Verfolgung auszusetzen. Die alternative Jugendkultur wurde nach den Verordnun-gen der Partei und Regierung allerdings nie ausdrücklich verboten: Ihr wurde lediglichdie Unterstützung versagt und der Nährboden entzogen. Erst mit den politischenVeränderungen Ende der 80-er Jahre konnte die Rockmusik-Bewegung sich allmählichoffizielle Anerkennung erkämpfen.

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Die praktische Seite des Musikmachens: Leben als Rockmusiker in Russland

{ Die inoffizielle Rockmusikbewegung entwickelte sich abseits vom öffentlichengesellschaftlichen Leben im sowjetischen Russland und war einer »verschleierten,doppelzüngigen« Behandlung durch die Regierung ausgesetzt: Sie wurde je nach Situa-tion einmal verfolgt, einmal mit völliger Gleichgültigkeit behandelt und in die Isolationgetrieben. Diese Tatsachen prägten die russische Rockmusik entscheidend. Die Rock-musik existierte jedoch nie als ein in seiner eigenen Welt abgeschlossenes und von derÖffentlichkeit abgetrenntes Phänomen, sondern war immer eine Reaktion auf das Zeit-geschehen und die jeweilige politische Situation.

»VIAs« versus Rockmusik im Untergrund

{ Die ersten offiziellen Rockgruppen wurden 1966 im Auftrag des Kultusministeriumsgegründet. Da man aus ideologischen Gründen die Worte ›Rock‹ und ›Beat‹ aber mög-lichst vermeiden wollten, nannte man solche Gruppen ›VIAs‹‚ nach der russischen Abkür-zung für »vokal-instrumentale Ensembles«. Die Förderung dieser Ensembles war eineReaktion der sowjetischen Regierung auf das Eindringen von westlicher Rock- und Pop-musik. Es war den Beamten unmöglich, den Jugendlichen die Beschäftigung mit Beat-Musik zu verbieten, darum suchten die kommunistischen Führungskräfte nach einer derStaatsdoktrin kompatiblen Lösung. Eine solche Lösung schienen die VIAs zu sein. DieseEnsembles sollten ein »akzeptables Gesicht« der sowjetischen Rockmusik darstellenund junge Menschen vom rebellischen und provokanten Rockmusikstil des russischenRockuntergrunds ablenken. Artemy Troitsky beschreibt die VIAs als »disziplinierte oder,um ehrlich zu sein: kastrierte« Version der Rockmusik-Gruppen. Diejenigen Musiker, diebereit waren, ihren Haarschnitt zu kürzen, ihren Dezibel-Pegel zu senken und ihr Reper-toire von den als besonders provokant empfundenen westlichen Songs zu »säubern«,konnten die Gunst und Unterstützung der Regierung genießen. Ihnen wurde ermöglicht,nationale Konzert-Tourneen zu veranstalten, in diversen Radio- und Fernsehprogram-men aufzutreten und bei der sowjetischen Monopol-Firma »Melodiya« Aufnahmen zu machen. All diese Privilegien blieben den inoffiziellen Rockgruppen verwehrt. Die VIA-Musiker sollten ein makelloses Bild lebensfroher und munterer sowjetischerMenschen abgeben und ein »gesundes« Äußeres mit temperament- und gefühlvollemSound verbinden. Im Repertoire der VIAs überwogen Lieder mit folgender Thematik:romantische Liebe, melodramatische Leidenschaften und Pseudopatriotismus.

Während es den Untergrund-Rockgruppen um eine persönliche schöpferische Her-angehensweise an die Musik ging, spiegelten die Lieder der VIAs keinen persönlichen Stilder einen oder anderen Popgruppe wider, sie konnten im Prinzip von beliebigen Musikernvorgetragen werden. Die »Muster«-VIAs schwächten die Entwicklung der Untergrund-Rockmusik und entzogen der inoffiziellen Rockszene Energie und Talente (denn viele in-offizielle Rockbands wurden aufgelöst, um sich einem VIA anzuschließen). Andererseits

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Disco auf dem Campus Lenino bei Moskau, Designfestival MIRICAL 2003

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trugen die VIAs auf dem Weg der sowjetischen Kulturrevolution ihren Teil bei, indem siedie Akzeptanz der Rockmusik in der Bevölkerung vermehrten. Bei einem großen Teil derJugendlichen waren sie tatsächlich sehr populär.

Festivals und Rock-Clubs

{ Die inoffiziellen Rockbands in ganz Russland fanden verschiedene, alle gleicher-maßen ungewöhnliche Möglichkeiten sich zu Proben und Konzerten zu versammeln, etwain verschiedenen Jugendvereinen und -zentren (auch »Kulturpaläste« genannt). Die»Kulturpaläste« wurden auf Anordnung der Regierung noch während der Stalin-Ära mitdem Ziel gebaut, die Jugend außerschulisch zu beschäftigen. Daher gab es in jeder Stadtmindestens einen Kultur- oder Jugendpalast. Hier konnten die Jugendlichen an den viel-fältigsten Arbeitsgruppen (von der Basketball- bis zur Strick-AG) teilnehmen. SolcheZentren wurden zur Herberge für viele Rockgruppen, die unter dem Vorwand, einer Beat-musik-AG anzugehören, dort ungehindert proben konnten. Eine besonders konspirativeAtmosphäre herrschte dagegen bei der Durchführung von Untergrund-Konzerten und -Partys in Privatwohnungen, welche den Namen Kwartirniki erhielten (vom russischenWort für ›Wohnung‹). Aufgrund des offiziellen Verbotes waren Kwartirniki stets einAbenteuer. Hier konnte man die eigenartigsten und originellsten Gestalten des Rock-Untergrunds treffen, und Bands, über deren Existenz die ansonsten allwissenden Behör-den nur vage Vermutungen anstellen konnten.

Trotz der Existenz solcher Nischen litt die Arbeit der inoffiziellen Rockgruppen unterden ihnen durch ihr Schattendasein auferlegten Problemen: Sie waren zerstreut undhatten wenig Austauschmöglichkeiten mit anderen Bands. Auch konnten sie sich gegenVerfolgungen durch die städtischen Beamten nicht wehren. Eine weitere Möglichkeit für die inoffiziellen Rockgruppen sich zu treffen, ihr Können zu zeigen und neue Ver-bindungen zu knüpfen war die Durchführung von Festivals. Die Festivals gewannen großeBedeutung, weil sie die Rockgruppen, die nicht vom Staat unterstützt wurden, zusam-menbrachten und die inoffizielle Rockmusik-Szene vernetzten. Einigen Rockgruppenermöglichten solche Veranstaltungen den Durchbruch, indem sie nach Jahren der Untergrund-Existenz endlich mit ihren Auftritten ans Licht der Öffentlichkeit tretenkonnten. Festivals beförderten also die öffentliche Anerkennung einiger Rockgruppen,denen ansonsten keinerlei »Promotion« möglich war. Ein wichtiger Schritt auf dem Wegder Vernetzung und Legalisierung des Wirkens der inoffiziellen Rockgruppen war dieGründung der sogenannten »Rock-Clubs« in grossen Städten wie Leningrad, Moskau,Swerdlowsk u.a. Unter einem Rock-Club verstand man eine offizielle Organisation, die die inoffiziellen Rockgruppen in sich vereinte und so den Rockmusikern und Fans dieMöglichkeiten eröffnete, Kontakte anzuknüpfen, mit anderen Gruppen zusammenaufzutreten und Informationen auszutauschen.

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Das Instrumentarium – Magizdat und Samizdat

{ Ohne die Medien Rundfunk, Schallplatte und Fernsehen ist die Rockmusikbekanntlich undenkbar, denn gerade dadurch bekam diese Musik die Chance, weltweitverbreitet zu werden. Den russischen Underground-Rockmusikern und -Rockgruppenblieben die offiziellen Wege des Aufzeichnens der eigenen Musik und ihrer Verbreitungverwehrt. Auch die Anschaffung benötigter Musikinstrumente sowie westlicher Schall-platten bereiteten den Untergrund-Rockmusiker in Russland bis in die 80-er Jahregrößte Schwierigkeiten. Aufgrund dieser Verhältnisse entwickelten sich in Russlandeinige interessante Besonderheiten. Bezüglich der materiellen Ausstattung blieb dieSituation katastrophal. Es gab nur eine altmodische russische Ausrüstung und qualita-tiv billige Instrumente. Aber selbst diese waren Mangelware. Zwar wurde 1966 in Moskauein Musikgeschäft eröffnet, das elektrische Gitarren aus Westdeutschland anbot. DieInstrumente waren aber innerhalb einer halben Stunde ausverkauft. Am nächsten Tagwurden die gleichen Gitarren für den doppelten Preis auf dem Schwarzmarkt verkauft.Einige innovative Moskauer Jugendliche entdeckten, dass man mit Hilfe einiger Bauteileeines gewöhnlichen Telephonapparats eine akustische Gitarre zu einer elektrischen um-bauen konnte. Daraufhin erschütterte Moskau eine Welle des Vandalismus, als hundertejunger Menschen öffentliche Telephone zerstörten, um die kostbaren Elektroteile zuergattern. Die unbefriedigte Nachfrage der Rockmusiker nach technischer Ausrüstungund der Rockfans nach Aufnahmealben schufen eine Marktlücke, in der eine Unter-grundindustrie und ein Schwarzmarkt von ungekannten Ausmaßen heranwuchsen.Kleinkriminelle, bekannt als Fartsovshchiki, kauften und verkauften begehrte westlicheWaren wie Alben, Instrumente und modische Kleider. Dadurch konnten sie amSchwarzmarkt märchenhafte Summen einstreichen. Fartsovshchiki waren der sowjeti-schen Regierung und der Bevölkerung ein Dorn im Auge. Da es aber damals keine andere Möglichkeit gab, an westliche Produkte und Musikproduktionen heranzukommen,schufen gerade sie die einzige Verbindungslinie zwischen der westlichen und dersowjetischen Jugend.

In den frühen 80-er Jahren tauchte ein neues Phänomen auf, das wahrscheinlich eineder wichtigsten Stufen in der Entwicklung der russischen Rockmusik darstellt: »haus-gemachte« Alben. Dies waren Kassetten und Tonbänder, die mit Photos und Texten überdie jeweilige Gruppe ergänzt wurden. Man bemühte sich dabei, die Alben nach allenRegeln der westlichen Muster zu gestalten (inklusive der ©- und ®-Symbole). SolcheAlben bildeten die Grundlage für die sogenannte »Kassettenrekorder-Kultur« (Magni-tofonaia kultura oder Magizdat: ›mag‹ kommt vom Wort für ›Tonband‹; ›Izdat‹ stammtvon dem Wort ›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹). Hausgemachte Alben veränderten baldden Kurs des russischen Rock und eröffneten sowohl den Musiker als auch den Fans eineneue Welt. Von nun konnten die Gruppen ihre Musik verbreiten, ohne die Schwierigkeitender Organisation eines Konzertes auf sich nehmen zu müssen. In den Jahren 1982 bis1983 ergriff das Aufnahmefieber alle Rockzentren. Viele Rockgruppen hatten dieHoffnung auf das Monopolaufnahmestudio »Melodiya« aufgegeben und bevorzugten

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nun diese einfachere Methode der Verbreitung ihrer Musik. Es entwickelte sich eineregelrechte Heimindustrie für das Aufnehmen und Vervielfältigen von Bändern. Einweiteres Phänomen der Untergrund-Rockbewegung war der Rock-Samizdat (›Izdat‹ –›drucken‹ oder ›veröffentlichen‹; ›sam‹ bedeutet ›selbst‹): das heisst eine ganze Reihevon »Verlagen«, organisiert in Eigeninitiative der Rockmusiker und Fans. Diese »Verla-ge« gaben selbstgemachte Rockzeitschriften heraus, die diverse Artikel über Unter-grund-Rockmusik, Mitteilungen über die Geschehnisse in der Untergrund-Rockszene,Interviews, Aufsätze, Stellungnahmen zur politischen Situation in Russland u.a.enthielten. Solche maschinengetippten Magazine wurden von Rockmusik-Gemeinden inmehreren Städten Russlands herausgegeben und waren nicht-kommerzieller Art.

Rock-Poesie in Russland

{ Die zweite Dimension der Rockmusik, die Dichtung, spielt im russischen Rock eineaußerordentlich große Rolle und kann für das Verständnis nicht außer Acht gelassenwerden. Die Gründe hierfür mögen zum einen in der Erkenntnis der russischen Musikerliegen, dass sie zunächst den westlichen Musikstil nur »borgten« und dass sie darüberhinaus technisch meist weniger virtuos waren. Zum anderen hatte die Beschäftigung mit Poesie in Russland eine lange Tradition und war unter sowjetischen Bürgern sehr po-pulär (die bekanntesten Dichter trugen ihre Werke oft in ausverkauften Fußballstadienvor!) Daher legten die russischen Rockmusiker besonderen Wert auf den Text ihrer Liederund verstanden sich in erster Linie als Vermittler einer Idee, einer Botschaft; die kom-merzielle Produktion profitabler Tanzmusik stand für sie nie im Vordergrund. Heutespricht man von der russischsprachigen Rock-Poesie als von einem ausgeformten eige-nen Genre.

Die Texte der russischen Rockmusik standen in direktem Bezug zur dichterischenTradition Russlands und setzten diese in Wortschatz und Stil fort. Russische Dichter desSymbolismus (Ende des 19. Jahrhunderts – erste Hälfte des 20. Jahrhunderts) waren in Russland die ersten, die vom Synkretismus der Künste sprachen. Poeten wie AnnaAchmatova, Marina Zvetaeva, Vladimir Majakowski und Sergej Esenin trugen ihre Werkein »singender Deklamation« vor. In ihren Auftritten verbanden sie Wort und Musik mitszenischen und Show-Elementen. Diese Vortragsweise beförderte die Entstehung einerneuen Liedermacher- oder Bardenkultur entscheidend. In den 60-er Jahren des 20. Jahr-hunderts wuchs in Russland eine neue Generation intellektueller Dichter heran, die ihreWerke gesungen und mit Gitarrenbegleitung vortrugen. Zu diesen »Barden« gehörtenbeispielsweise Bulat Okudzhava und Vladimir Vysotski.

Vladimir Vysotski und seine Poesie übten einen großen Einfluss auf die Rockmusikerder 70-er und 80-er Jahre aus, für die Vysotski gleichsam zum Vorbild und »Lehrer« wur-de. Viele Rockmusiker zeigten tiefe Bewunderung für Vysotski als einem Poeten und Re-präsentanten einer zum sozialistischen Realismus alternativen Kultur. Sie übernahmenseine dichterische Tradition und vereinigten sie mit dem energischen und kraftvollen

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Stil der westlichen Rockmusik. Daher tauften führende Rockmusikkritiker und Journa-listen den neuentstandenen Stil »Barden-Rock«. Die Rockmusiker, die diesen Musikstilvertraten, wurden entsprechend »Rock-Barden« genannt. Troitsky schreibt: »DerEinfluss der literarisch hochwertigen Poesie, insbesondere der Barden-Lieder, auf dierussische Rockmusik in ihrer Blütezeit (ab dem Ende der 70er Jahre), ist vielleicht nichtweniger wichtig, als der Einfluss des afrikanischen Blues-Stils – auf die amerikanischeRockmusik« (Troitsky 1990, S. 52).

Die Rockmusiker in Russland betrachteten sich selbst nicht nur als Künstler im Allge-meinen, sie verstanden sich als Poeten. Rockmusik war Poesie. Die lyrische Qualität derTexte wurde zum maßgeblichen Kriterium, an dem sich die Musiker beziehungsweise ihreMusik messen ließen. Rockmusik wurde als eine eigene Kunstform aufgefasst, und einechter Rocker mußte nicht nur ein guter Musiker, sondern in erster Linie ein guter Dich-ter sein. In russischer Rockmusik ist eine bestimmte Vorstellung von Wahrheit (und zwarvon ihrer besonderen Form: Istina) verbreitet. Istina bedeutet im russischen Verständniseine einzigartige »höhere« oder »wahrhaftigste« Wahrheit, und unterscheidet sichdadurch von Prawda, der »gewöhnlichen« Wahrheit. Die Rockmusiker in Russland be-schrieben ihre Musik oft als Ausdruck der Istina. Rockmusiker sprachen immer wiedervon der »großen Lüge« der sowjetischen Gesellschaft und von der Schwierigkeit, indieser Gesellschaft ehrlich zu sein. Die Rockmusik war für die Rockmusiker inmitten desals machthungrig und heuchlerisch empfundenen sozialistischen Systems eine Insel der Wahrheit, ihrer Wahrheit, der sie in ihrer Musik Ausdruck gaben. Istina hatte somiteine größere Authentizität als die Realität des alltäglichen Lebens und die Politik des Staates. Dieser Istina wollten die Rockmusiker dienen und sie den Menschen durchihre Musik verkünden.

Im Rückblick von heute

{ Der Konflikt zwischen der Jugend-Kultur und dem sowjetischen Staat war von Anfang an vorprogrammiert und im sozialistischen System selbst begründet. Das So-wjetsystem fußte auf dem staatlichen Monopolanspruch in allen kulturellen und sozia-len Belangen. Dieser konnte keine spontan hervorgebrachte und andersdenkende Kulturneben sich dulden. Die Haltung der Regierung zur Jugend-Kultur und ihrer Musik war oftvon »Doppelgleisigkeit« und »Doppelzüngigkeit« geprägt. Der sozialistische Staat warunfähig, mit sozialen und kulturellen Abweichungen umzugehen, erhielt aber den Scheineiner planvoll durchorganisierten sozialistischen Kultur aufrecht. Hinter dieser Fassadegab es für die Jugendlichen durchaus Möglichkeiten, ihre eigene Kultur zu entwickelnund sich selbst zu behaupten. Der Staat seinerseits war aus taktischen Gründen gezwungen, inoffizielle Jugend-Kulturen bis zu einem gewissen Grad zu dulden, um denEindruck, alles unter Kontrolle zu haben, nicht zu gefährden. Somit konnten in dersowjetischen Gesellschaft jugendkulturelle und musikalische Stile wie die der Hippiesund später der Punks existieren, solange durch sie die Allmacht der Partei nicht ernst-haft in Frage gestellt wurde.

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Für viele Rockmusiker wurde gerade der Zwang zur Konspiration zum zusätzlichenAnsporn, sich der Rockmusik zu widmen: sie erfüllte ihr Leben mit den Gefühlen von Ro-mantik und Gefahr, von Furchtlosigkeit, Unbestechlichkeit und dem Gefühl der Freiheit.Der Rockmusiker jener Jahre verstand sich als Held, der selbstlos bereit war, sich für dieRockmusik, für seine Freunde und für sein Volk einzusetzen. Mit den gesellschaftlichenVeränderungen in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre, in der Ära der Perestroika also,erhielt die Rockmusik endlich ihre offizielle Existenzberechtigung. Die Rockmusikverwandelte sich von einer halblegalen zur modernen und begehrten Musik. Durch dierevolutionierten Rahmenbedingungen aber vollzogen sich in ihr allmählich tiefgreifendeVeränderungen. Konterkultur und Untergrund verschwanden, weil sie als oppositionelleBewegung zur Bekämpfung des »Feindes« nicht mehr gebraucht wurden. Die Rebelliongegen das staatliche System hatte ihre Attraktivität verloren, der Rückzug aus derGesellschaft demonstrierte nicht mehr Protest, sondern war jedermanns private Angelegenheit und erregte kein öffentliches Aufsehen mehr. Die Thematik der Rock-lieder veränderte sich wesentlich: die Rocktexte büßten nach und nach ihre Schärfe undWiderständigkeit ein, sie wurden milder und anspruchsloser.

Heute wird russische Untergrund-Rockmusik vergangener stürmischer Jahre zur Ge-schichte. Ihre musikalischen und poetischen Traditionen jedoch haben eine Grundlagefür kommende Generationen von Rockmusikern und neuen Musikrichtungen geschaffen.Der Prozess geht weiter.Auch heute entstehen immer wieder Gruppen, mit denen sich dieJugend identifizieren kann. Die Rockmusik stiftete den russischen Jugendlichen großenZusammenhalt. Sie war immer ein Barometer für die Stimmungen des Volkes und scheutenicht davor zurück, unter allen Bedingungen ehrlich zu bleiben, sie hielt den Menschen in Russland solch kostbare Werte wie Wahrheit und Freiheit vor Augen.

L i t e r a t u r

x Texte zum Weiterlesen gibt es nur spärlich, die meisten Informationen sind auf Russisch im Internet veröffentlicht.

x Troitsky, Artemy: Rock in Russland. Rock und Subkultur in der UdSSR. Wien: Hannibal-Verlag, 1989.

x Cushman, Thomas: Notes from Underground. Rock Music Counterculture in Russia. New York: State University of New York Press, Albany, 1995.

p Yaroslava Storchak

studiert seit dem WS 1999/2000 Schulmusik mit Hauptfach Klavier.

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+Mondrian und Musik

Wechselströme zwischen den Künsten

A n n e D o r o t h e a K ü t e m e i e r

{ »Immer mehr drängen sich mir Parallelen zwischen Musik und bildender Kunst auf.Doch will keine Analyse gelingen« (Paul Klee 1905). Paul Klee wusste, wovon er sprach,wenn es um die Wechselströme zwischen Musik und Malerei geht, weil er als ausgezeich-neter Geiger und praktizierender Maler in beiden Disziplinen zu Hause war. Seine Notizverrät, dass er Verbindungslinien zwischen den Künsten wahrnahm, jedoch sah er sichaußerstande, sie rational zu bestimmen und zu systematisieren. Zu vielfältig waren diePhänomene und zu unbefriedigend die wissenschaftliche Suche nach Analogien. Bis heute sind wir auf diesem Gebiet kaum einen Schritt weitergekommen. Staunendblickt man umher, wieviel Kunst entsteht, wenn sich die Künste berühren, und dochbefindet man sich in einem Niemandsland, einer nicht definierten Zone zwischen denEinzeldisziplinen, in der es Menschen, Ideen, Kunstwerke gibt, aber keine empirischkonstruierbaren Brücken von einem Ufer zum anderen. Auf komplexe Weise sind dieKünste miteinander verwoben. Manche Fäden kann man verfolgen, andere verschwindenauf dem Weg oder sind nur intuitiv begreifbar.

Am Beispiel der sogenannten neoplastizistische Malerei des holländischen KünstlersPiet Mondrian (1872-1944), in die einerseits musikalische Vorstellungen einflossen unddie andererseits wiederum zu »musikalischen Reaktionen« führte, können verschiedeneAspekte dieser komplexen Beziehung nachvollzogen werden. Wie werden Elemente auseiner Kunst durch kreative Prozesse modifiziert und in ein anderes Medium integriert?Die übersichtliche, ökonomische Kunst Mondrians – heute flächendeckend bekanntdurch das Logo der Studio-Line von L’Oréal – integriert erstaunlicherweise Elemente der damaligen Unterhaltungs- und Tanzmusik, ist also inspiriert vom Jazz. MondriansAffinität zu dieser rhythmus- und geräuschbetonten Musik spiegelt sich sowohl in denTiteln des Spätwerks wider (Fox Trot, Victory Boogie-Woogie usw.) als auch in der Art,wenige Bildelemente gleichsam »rhythmisch« miteinander in Beziehung zu setzen. Erentwickelte ein strenges ästhetisches Konzept, das das dynamische Gleichgewicht von

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Gegensätzen ins Zentrum stellt und in Verbindung mit dem Gedankengut der Theosophiewegweisend für die junge holländische Kunstbewegung wurde. Mondrians Bilder habenbesonders unter holländischen Komponisten zu ganz unterschiedlichen musikalischenReaktionen und Umsetzungen geführt – von der meditativen, horizontal-vertikalenKlavierkomposition Proeven van Stijlkunst (1916) seines Zeitgenossen Jakob van Dom-selaer bis zu eher assoziativen Transferverfahren im Werk des MusiktheaterkomponistenLouis Andriessen können Mondrians Spuren in Tönen aufgenommen werden. Doch lässtsich auch bestimmen, ob es eine adäquate musikalische Reaktion auf Mondrians Kunstgibt? Kann man Mondrian hören? Und wenn ja: Wie klingt er?

Abstraktion als Weg zu einer Malerei des Geistigen

{ In seiner Zeit galt Piet Mondrian als einer der entschlossensten Verfechter konsequent abstrakter Malerei. Am bekanntesten sind sicher die nach 1921 entstande-nen Werke, so etwa die zahlreichen Bilder mit dem Titel Komposition mit Rot, Gelb undBlau. Die horizontale und vertikale Linie emanzipiert sich als autonomes Gestaltungs-element, gleichzeitig wird das farbliche Spektrum weiter auf seine Ursprünge zurückge-führt, bis nur noch viereckige Farbflächen in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowiein den Nicht-Farben Weiß und Grau Verwendung finden. Diese wenigen Elemente bestim-men von nun an Mondrians Oeuvre, werden in unzähligen Variationen durchgespielt undprägen bis heute das unverwechselbare Profil des Künstlers. Seine Bilder erwecken denAnschein einer genau berechneten Anlage. Die Bildaufteilung wirkt klar und mathema-tisch. Skizzen belegen jedoch, dass Mondrian die Proportionen seiner Bilder nicht be-rechnete, sondern intuitiv entwickelte. Dabei wurden Symmetrien vermieden, wenn auchgelegentlich mit visuellen Erwartungen gespielt wird. Die Balance, die trotz der eigent-lich asymmetrischen Anlage von den Kompositionen ausgeht, ist eine qualitative, keine,die durch quantitative Berechnung entstanden ist. Ein weiteres Merkmal von MondriansMalerei besteht darin, dass seine Bilder nach außen »offen« sind. Sie wirken wieAusschnitte, die über den Bildrand hinausdrängen und sich mit dem Raum verbinden.Das brachte Mondrian in die Nähe der Architektur, denn der sein Bild umgebende Raumwird durch die Malerei gleichsam mitgestaltet.

Der »Priester im Dienst an der weißen Fläche« – Kunst und Theosophie

{ Neben den schwarzen Linien im rechten Winkel gehörten Farbflächen in den Pri-märfarben Rot, Gelb und Blau sowie den Nicht-Farben Weiß und Grau zu denGestaltungselementen der Pariser Jahre (1919-1938). Sie dienten als elementareSprachmittel eines komprimierten künstlerischen Ausdrucks, dem der Neuen Gestaltung(Nieuwe Beelding) oder des Neoplastizismus, der alle figurativen Momente vermied undin totaler Abstraktion das Essentielle der Erscheinungsformen objektiv zu gestalten

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suchte. Willkür und Zufall sollten aus der Kunst entfernt und »Raum für das Göttliche«geschaffen werden, indem »man nicht die Dinge darstellt«, sondern ihre innere Kon-struktion durchschaut In der konsequenten Abstraktion des Neoplastizismus vereinensich Kunsttheorie und Ideologie zu einer Art Pseudo-Religion mit idealistischem Sen-dungsbewusstsein. Mondrian selbst stammte aus einem religiösen Elternhaus und warvon väterlicher Seite her stark kalvinistisch geprägt. Lange Zeit spielte er mit demGedanken, die Priesterlaufbahn einzuschlagen, und auch nachdem er sich für die Kunstentschieden hatte, beschäftigte er sich mit theosophischen Schriften, trat 1909 in dieNiederländische Theosophische Gesellschaft ein und liebte zeitlebens Spekulationenund ausschweifende Gedankenspiele. Dabei wurden besonders die Schriften des Theoso-phen M.H.J. Schoenmaekers bestimmend für die Theoriebildung der De Stijl-Bewegung,indem die in ihnen entwickelten Ideen den philosophischen Hintergrund zu der bislangnoch überwiegend spekulativen De Stijl-Theorie boten.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Mondrians Kunsttheorie (diezumindest in diesen Jahren immer auch die Theorie der De Stijl-Gruppe insgesamt war)durchzogen ist von einem religiös oder mystisch besetzten Vokabular wie etwa Reinheit,Klarheit, Erkenntnis, Gleichgewicht mit dem Geistigen, dem Universalen etc. DiesesUniversale, nach dem Religion sucht und fragt, soll in der Kunst visualisiert werden,damit im ästhetischem Erleben eine geistige Erhöhung stattfinden kann, wie man siesich sonst von der Meditation, dem Gebet oder Gottesdienst erwartet.

Bach, Schoenmaekers und die Kreuzfigur

{ Auf den theosophischen Hintergrund im Werk Mondrians greift der holländischeKomponist Louis Andriessen in seinem Musiktheater »De Materie zurück«. Im De Stijl(1984/85) betitelten dritten Teil nähert er sich Leben, Werk und Ästhetik Mondrians inassoziativer Weise, stellt unterschiedliche Aspekte heraus und bringt sie in einerMusiktheaterszene montageartig zusammen. Bei seiner Auseinandersetzung mit Mondri-an dauerte es nicht lange, bis Andriessen auf die Schriften Schoenmaekers stieß, und ererkannte den prägenden Einfluss, den der Theosoph auf das Denken und nachweisbarauf den literarischen Stil des Malers ausübte. Er entschloss sich, einen Text aus Schoen-maekers Schrift »Beginselen der beeldende Wiskunde« (Prinzipien einer bildendenMathematik) für De Stijl zu verwenden. Dieser handelt von der sogenannten Kreuzfigurals der vollendeten geometrischen Figur, die zugleich Grundlage für Mondriansbildnerisches Werk werden sollte.

Diese Kreuzform, bei Schoenmaekers auch »T-Form« genannt, da sich Horizontaleund Vertikale nicht kreuzen, sondern nur berühren, diente als Symbol der Vollkommen-heit. Andriessen wollte nicht allein den metaphysischen Text vertonen, sondern auch die T-Form musikalisch abbilden. Seine erste Idee führte zu einer der berühmtesten Kreuz-

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figuren in der europäischen Musikgeschichte, nämlich zum B-A-C-H-Motiv. Verbindetman die nach Tonhöhe angeordneten Noten miteinander, entsteht ein Kreuz. Das Kreuzerschien Andriessen im Zusammenhang mit Mondrian auch deshalb als geeignet, weil es auf seinen religiösen Hintergrund verweist. Um jedoch der Schoenmaekerschen T-Figur gerecht zu werden, suchte er nach einer ähnlichen musikalischen Figur, die einerepetierende Note beinhalten musste, um das Kreuzen der Linien zu vermeiden. Er kamauf folgendes Motiv:

Für musikalisch interessanter als sein eigenes Motiv hielt er allerdings Bachs Kreuzfi-gur, und so finden beide Kreuzformen in der Komposition Verwendung. Auch mit anderenKompositionsprinzipien verweist Andriessen auf den Schöpfer der musikalischen Kreuz-figur. Er verfährt über weite Strecken frei oder aber streng imitatorisch, schiebt sogareine groteske Fuge ein, die sich aus dem Diskobass heraus entwickelt und im Grunde einstrenger Kanon ist, in dem sich die Stimmeinsätze je einen Halbton von as nach h hoch-arbeiten. Damit verweist Andriessen nicht nur zurück in den Barock, sondern auch in die20er Jahre, die zu porträtieren er sich zum Ziel gemacht hat.

Was ist Rhythmus?

{ Bevor man sich auf die Spur rhythmischer Phänomene in der Malerei begibt, ist zu klären, was Rhythmus überhaupt meint. Während lange die platonische Definitionvom Rhythmus als Ordnung der Bewegung oder der Zeit (in Abgrenzung zu Harmonie alsOrdnung der Töne) präsent war, wird heute alles unter den Terminus subsumiert, »wasirgendwie mit der Struktur oder dem Ablauf der musikalischen Zeit, oft auch, was mitBild- und Raumbewegungen zu tun hat« (Seidel, MGG 8, Sp. 257). Rhythmus ist keinespezifisch musikalische Qualität. So sprechen wir etwa vom Tagesrhythmus und meinendamit die bestimmte Abfolge von Ereignissen, die unserem Tag eine (möglichst adäqua-te) Ordnung verleiht. Wir staunen über den Rhythmus einer Großstadt, brauchen denRhythmus der Jahreszeiten und kennen Menschen, die Rhythmus im Blut haben. DerTerminus Rhythmus ist allgegenwärtig, man meint zu wissen, was er aussagt, und doch

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bleiben Definitionen ungriffig, unvollständig oder unverständlich. Musik als »Zeitkunst«kommt ohne eine Strukturierung der Klangereignisse in der Zeit nicht aus. Daher hat inder Musikgeschichte die Rhythmus-Theorie eine lange Tradition. Je nach Blickwinkel desForschers unterscheiden sich die Methoden dabei erheblich und tragen eher zur Komple-xität des Themas bei als Lösungen zu liefern. Neben dem Versuch, Klangereignisse inihrer Interaktion mit metrischen Gegebenheiten mathematisch aufzuschlüsseln und soden rhythmischen Wert eines Tones zu bestimmen, geht etwa Jaques-Dalcroze, der»Urvater« der Rhythmik, von Bewegung und dem unmittelbaren Erleben von Rhythmusdurch den Körper aus und macht Rhythmus zu einer Sache persönlicher, in erster Linierein subjektiver Erfahrung. Von kognitionswissenschaftlicher Seite aus werden dieVerarbeitungsprozesse im Gehirn untersucht und zum Ausgangspunkt einer Rhythmus-definition herangezogen, während sich Künstler aller Art zwar vielleicht unwissenschaft-lich, doch meist effizient über die Wirkung des Phänomens Rhythmus Gedanken machenund ihre Ergebnisse kompositorisch erproben.

Von Rhythmus kann nur gesprochen werden, wo es Kontraste gibt. Eine monochromeFläche hat ebensowenig rhythmische Qualität wie ein einzelner, unendlich fortgesetzterTon. Erst wenn sich ein zweiter, von dem ersten unterschiedener Ton oder eine Pause als»Nicht-Ereignis« anschließt, ist aus der Beziehung der Ereignisse (und »Nicht-Ereignis-se«) zueinander ein rhythmisches Verhältnis zu erschließen. Diese Ereignisse benötigeneinen Raum, in dem sie stattfinden können. Dabei ist es unwesentlich, ob es sich umeinen architektonischen Raum oder, wie in der Musik, um einen Klang-Zeit-Raum han-delt. Im Bild gibt die Größe der Leinwand einen Raum vor, in dem Bildelemente angeord-net und zueinander in Beziehung gebracht werden. Anders als bei einem Musikstück, dassich dem Hörer nur nach und nach zugänglich macht, kann der Betrachter das Gemäldein seinem Gesamteindruck auf einen Blick erfassen und auf sich wirken lassen. In ab-strakter Malerei ist es ihm zudem in erhöhtem Maße freigestellt, ob oder wo er einen An-fang oder ein Ende erkennt. Der Blick kann frei von oben nach unten oder von einer Seitezur nächsten wandern, von innen nach außen, in Kreisen oder Geraden – man kann einBild »lesen« und seinen Verlauf in der (Betrachtungs-) Zeit frei bestimmen, währendman als Hörer von Musik die Dinge auf sich zukommen lassen und sich damit abfindenmuss, dass man das Ende eines Stücks ebensowenig voraussehen wie sich den Anfang biszum Schluss merken kann. Dennoch ist man heute vorsichtig geworden, Musik als Zeit-und Malerei als Raumkunst zu bezeichnen, wie es in Anlehnung an Lessings AbhandlungLaokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie lange Zeit üblich war. Immer mehrsetzt sich die Vorstellung durch, die Kategorien Raum und Zeit als zwei Wahrnehmungs-weisen desselben Phänomens zu begreifen, die einander ergänzen, aber nicht herme-tisch trennbar sind. Wie nah unsere intuitive Wahrnehmung dieser Vorstellung ist, zeigtsich im natürlichen Sprachgebrauch: Das Adjektiv lang etwa kann räumlich (eine langeLinie) wie zeitlich (ein langer Tag) verwendet werden, und oft fließen die Kategoriensogar ineinander.

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»Fox Trot« und Modernes Lebensgefühl

{ In Mondrians bildnerischem Denken ist Rhythmus das wesentliche Element, durch das der Künstler seine Komposition subjektivieren kann, denn nach Mondrian wirdnur durch die Realisation eines dynamischen Rhythmus’ ein Werk zum Kunstwerk undsein Schöpfer zum Medium absoluter Wirklichkeit. »Der Rhythmus von Farb- undMaßverhältnissen (in genauer Proportion und im Gleichgewicht) bringt das Absolute inder Relativität von Zeit und Raum zur Erscheinung« (Mondrian, in: Jaffé, S. 40). Andersausgedrückt: Es gibt nur wenige Gestaltungsmittel, mit denen der abstrakte Künstlerumgehen soll, und der Rhythmus, d. h. hier die geschickte Anordnung der Teile zueinan-der, das wechselseitige Gleichgewicht von Farben und Maßen, entscheidet über den Wertder Komposition und gibt ihr die individuelle, besondere Note ihres Schöpfers. Rhythmusist bei Mondrian schon früh Programm. Die gleichgewichtige Kombination der Bildele-mente tritt sozusagen an die Stelle des Gegenstands und ersetzt Achsensymmetrie undPerspektive. Schon die Pier und Ozean-Bilder um 1914/15 mit ihren sich verdichtendenoder entzerrenden Plus-Minus-Zeichen wirken wie eine stenographische Aufschlüsse-lung der Wellenbewegung in rhythmische Symbole. Durch die gebrochenen Linien wirdBewegung für das linear voranschreitende Auge klar erfassbar. Tatsächlich wäre sogaran eine musikalische Realisation der Bilder im Sinne später entstandener graphischerNotationsformen in der Musik zu denken, obwohl Mondrian sicher weit davon entferntwar, seine Bilder als Partituren zu verstehen. Dass es sich bei einigen seiner Kompositio-nen aber um ins Visuelle überführte Musik handelt, belegt die Schilderung von W.F.A.Roëll, einem Korrespondenten der Zeitung Het Vaderland, der Mondrian 1920 währendder Arbeit an einem bislang nicht identifizierten Foxtrottbild besuchte:

Mitten im Atelier ist auf der Staffelei eine quadratische Leinwand befestigt,

die der Maler gerade in Arbeit hat. Sie ist in rechteckige Blöcke aufgeteilt, die mit den

Hauptfarben Rot, Blau und Schwarz ausgefüllt sind. Sie stellt nichts dar. Es ist keine

Regelmäßigkeit in der Figur zu entdecken. Trotzdem herrscht ein nicht unangenehmes

Gleichgewicht – sagt der Maler – und während er dies sagt, dreht er die Leinwand rasch

um, damit sie die richtige Position erhält… Während ich in einem eckigen Korbsessel

mein erstes Staunen verarbeite, enthüllt der Maler den Namen seiner Schöpfung:

Foxtrot. Sie enthält das gleiche modern-rhythmische Lebensgefühl und das regelmäßige

Vor- und Zurücktreten… der Maler erklärt mir bald kurz und deutlich, wie er vom

Foxtrot zu seiner Ab- oder Umbildung gekommen ist und wie die irdische (reale)

Vorstellung auf geheimnisvolle Weise gänzlich verschwunden ist (zit. n. Maur, S. 403).

Mondrians Bilder der zwanziger Jahre sind dynamisch ausbalanciert, aber im Rhyth-mus weitaus getragener, weniger »schnell« als die späten New Yorker Werke. Ihre beson-dere Qualität besteht darin, dass sich ihr Rhythmus in den Raum fortzusetzen scheint.Ein Bild wie Komposition in Rot, Gelb und Blau von 1927 gibt scheinbar den Blick auf le-

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diglich einen Ausschnitt frei, der nach außen offen ist und ins Unendliche weitergedachtwerden kann. Das Bild an der weißen Wand wird als Fenster ins Universum zum Initiatoreines Imaginationsprozesses, in dem die Grenze zwischen Bild und Raum, zwischensichtbarer und unsichtbarer Wirklichkeit verwischt. Es geht also nicht nur um Rhythmusim Bild, sondern auch um Rhythmus außerhalb des Bildes. In seinem New Yorker Atelierschließlich wurde der Raum selbst zur Bildfläche, Lebensraum zum Kunstwerk. Vergrö-ßerte Farbflächen in Rot, Gelb und Blau waren über die weißen Atelierwände verteilt und wurden von Mondrian immer wieder nach Belieben neu angeordnet. So erschuf erunablässig neue visuelle Rhythmen um sich herum und realisierte, zumindest in dieserHinsicht, die Vereinigung von Kunst und Leben, um die es ihm zeitlebens gegangen war.Diese Kunst hatte keine Bilder im konventionellen Sinn mehr nötig. Ihr Rhythmus warvollends in das Leben eingegangen und mit ihm verschmolzen. Es gab einen Rhythmusohne Bild.

Wie klingt Mondrian?

{ Am Anfang meiner Beschäftigung mit dem Thema stieß ich auf eine alte Kassette,betitelt Mondrian’s Music, die laut Computer im Kunsthistorischen Seminar lagernsollte. Es dauerte ziemlich lange, bis sie gefunden wurde, nachdem man etwas ratloszwischen den Bücherregalen umher gelaufen war und die Studierenden befragte, ob sie von dem Tonband schon mal etwas gehört hätten. Eine Studentin reagierte spontan:»Mondrian’s Music? Gibt’s so was wirklich? Das stell’ ich mir ja total spannend vor:horizontal, vertikal, horizontal, vertikal …« Wie klingt Mondrian? Endlich in Besitz derKassette, hörte ich mich 30 Minuten durch wilden Boogie-Woogie und frühen Big BandSound, bevor die ätherischen Klavierklänge der Proeven van Stijlkunst mich sacht ein-hüllten. Von da an wollte ich einem Geheimnis auf die Spur kommen, das unenthüllbarbleibt: Wie wird aus einer ausgelassenen Tanzmusik – mit einem Gemälde als Zwischen-instanz – eine meditative Akkordstudie? Natürlich ist eine solche Frage unzulässig. Es war nie Domselaers Absicht, Mondrians Beeinflussung durch den Jazz in seine Kompo-sition miteinzubeziehen, schon gar nicht wollte er ein musikalisch inspiriertes Werk»zurückübersetzen«. Was sollte es auch für einen künstlerischen Nutzen haben, ein Bildzu komponieren oder eine Komposition zu malen? Ein solches Verhalten entspränge –wenn nicht der Suche nach dem Urprinzip des Seins wie bei Mondrian selbst – allenfallsfotografischer Neugierde, im Grunde einer Abbildungsästhetik, die sich nun nicht mehrauf Natur, sondern eben auf eine andere Kunst bezieht. Viel spannender und aufschluss-reicher ist doch, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen ein einziges KunstproduktAnreiz geben kann.

Jedes Kunstwerk wird irgendwann in die Welt »entlassen« und ist von da an freiverfügbar, um zu neuer kreativer Auseinandersetzung anzuregen oder herangezogen zuwerden. Was letztendlich dabei heraus kommt, obliegt keinen apriorischen Gesetzmä-ßigkeiten, sondern der Person, die darauf reagiert: ihrem Naturell, ihrem künstlerischen

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Selbstverständnis, ihrem Wissen um den Kontext der Vorlage, ihrer Absicht, ihremKönnen, ihrem Ideenreichtum, ihrem persönlichen Kontext. Über den »Wert« des Kunst-werks entscheidet nicht die mehr oder weniger gelungene Bezugnahme auf einen gat-tungsfremden Gegenstand. Das Wissen um eine solche Bezugnahme kann die Rezeptionum eine Ebene erweitern, dennoch bleibt ein Bild ein Bild, eine Komposition eine Kom-position. Im Mondrian-Gedächtnisjahr 1994 fanden besonders in Holland zahlreicheAusstellungen und auch Konzerte statt. Der Pianist Marcel Worms studierte zu diesemAnlass ein Solo-Programm ein, das er unter dem Titel Pictures at a Mondrian Exhibitionbei Emergo Classics (Holland) einspielte. Neben jazzigen Kompositionen von u.a.Schulhoff und Tansman sind mehrere aktuelle Auftragskompositionen zu hören, die aufkonkrete Bilder Bezug nehmen. Sie machen noch einmal mehr deutlich, dass Mondriansehr unterschiedlich klingen kann, und dass die mannigfaltigen Wechselströme zwischen Musik, Bild und wieder Musik sich, wenn überhaupt, so nur mit größter Mühe insystematische Bahnen eindämmen lassen.

Wie klingt Mondrian in mir? Wie würde ich an ein Bild wie Komposition mit Rot, Gelb und Blau herangehen? Plötzlich stehe ich zwischen den Ufern und beginne, meineeigenen Fäden zu spinnen.

L i t e r a t u r

x De la Motte-Haber, Helga. Musik und bildende Kunst. Von der Tonmalerei zur Klangskulptur, Laaber: Laaber 1990.

x Jaffé, Hans L.C.: Mondrian und De Stijl. Schauberg, Köln: DuMont 1967.

x Maur, Karin v. (Hrsg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München: Prestel-Verlag 1985 (anlässlich der gleichnamigen Ausstellung

in der Staatsgalerie Stg., 6. Juli-22. Sept. 1985)

x Wismer, Beat: Mondrians ästhetische Utopie, CH-Baden: LIT-Verlag Lars Müller 1985.

p Anne Dorothea Kütemeier, geb. Pardall

studierte von 1997 bis 2002 Schulmusik mit Hauptfach Klavier. Das Studienjahr 2001

verbrachte sie in Amsterdam.

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+Das Oratorium »Golgotha«

von Frank Martin Archaisierendes und Modernes in einer Passion des 20. Jahrhunderts

G e o r g H a g e

{ »Golgotha« lernte ich kennen und schätzen, als ich zu zwei Aufführungen des Oratoriums am 3.und 4. April 2004 in der Freiburger Christuskirche fürdie Ausführung des Orgelparts engagiert wurde. EineAufführung in der Bielefelder Rudolf-Oetker-Hallenur eine Woche zuvor vermochte mich, der ich dasWerk erstmals hörte, kaum zu berühren, doch währendder Probenarbeit begann mich die Musik mehr undmehr zu beschäftigen. Die Reaktionen des Freiburger Publikums waren hingegen be-merkenswert: Emotional bewegt verharrte eine Reihe von Zuhörern noch minutenlangschweigend auf ihren Plätzen, der außergewöhnlichen Passion nachsinnend. Was ist der Grund dafür, begann ich mich zu fragen. Wie vermag diese »neue Vision der Leidenund des Sieges Jesu Christi«, dieses große, aber nicht pompöse und in seiner Haltungeinfache und bescheidene Werk des 20. Jahrhunderts eine solche Wirkung zu erzeugen?

Frank Martin (1890 – 1974) galt zu Lebzeiten als »ein Außenseiter der neuen Musik«(Billeter 1970). Mittlerweile, dreißig Jahre nach seinem Ableben, scheint es, dass seine Musik die Aussicht hat ein neues Publikum zu erreichen und zu ergreifen.

Doch was trägt zu diesem Personalstil bei und welche Aspekte spielen dabei eineRolle? Ein Kritiker der Uraufführung von »Golgotha« im April 1949 berichtet: »Um derThematik einen angemessenen, würdevollen und erhebenden Eindruck zu verleihen, hat Frank Martin sein ›Libretto‹ selbst verfasst, äußerst dicht, knapp und direkt. Seine musikalische Sprache ist hier außerordentlich vielfältig. Die verschiedensten undgegensätzlichsten Elemente finden sich vereinigt: Da trifft die gregorianische Psalmodieauf das Arioso mit obligatem Soloinstrument, der kontrapunktische Satz steht nebender Homofonie nach Art Palestrinas und die Schönbergsche Zwölftontechnik neben perfekten Konsonanzen und dem Volkslied entlehnten Rhythmen und Melodien«(Tappolet 1949, S.262 f.). Die ersten Eindrücke von verschiedenen Zeitzeugen geben dazu Anlass, das Oratorium »Golgotha« von Frank Martin näher zu beleuchten.

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Frank Martins künstlerische Entwicklung und sein religiöser Hintergrund

{ Ausgehend von seiner klassischen musikalischen Ausbildung und zunächst von der Bachschen Harmonik gefesselt, erweiterte sich Frank Martins stilistischer Horizontsukzessive. Seine Begegnung mit den französischen Impressionisten, Experimente aufrhythmischem Gebiet sowie die partielle Integration der Zwölftontechnik führtenschließlich zu der für seinen Stil der Reife charakteristischen erweiterten Tonalität, diein seinem Kammeroratorium »Le Vin Herbé« seine erste charakteristische Ausprägungfand und die in »Golgotha« zur Hervorhebung besonderer Textinhalte um Passagenäußerster harmonischer Einfachheit bereichert ist.

Parallel zu diesem stilistischen Werdegang steht Martins ebenso individuell geprägtereligiöse Entwicklung. Als Reaktion auf sein familiäres Umfeld hatte er sich zunächst vonden erfahrenen Traditionen und Einflüssen im elterlichen Pfarrhaus distanzieren müssen.Schließlich erschien es ihm aber eine innere Notwendigkeit, seinen Glauben musikalischauszudrücken – ein universaler Glaube, gegründet auf die christliche Lehre, aber nichtauf eine Konfession festgelegt. So komponierte er sein eigenes Glaubensbekenntnis,auch wenn er es im Grunde für vermessen und unangebracht hielt, eine Vertonung desPassionsgeschehens zu wagen. Insofern ist »Golgotha« eine »Summe« (Meylan, S. 280)von Glaubensinhalten und -aussagen, die in komprimierter Form zu einer Textvorlage von hoher literarischer Qualität und höchster Aktualität zusammengestellt sind.

Die Texte und ihre Zusammenstellung

{ Wie die Arbeit im Detail zeigt, ist die Textvorlage zu »Golgotha« aus bestimmtenTexten der Evangelien sowie ausgewählten nichtevangelischen Textstellen zusammenge-setzt, die in ihrer Ganzheit vor allem verschiedene Gegensätze (Tag – Nacht, Licht –Schatten, Schuld – Unschuld, Himmel – Erde, menschlich – göttlich, Grab – Sieg) zumAusdruck bringen. Stets steht der Mensch Jesus im Zentrum des Geschehens, und wie einroter Faden spannt sich durch alle Texte inhaltlich der Gedanke der Erlösung: ChristiOpfertod und seine Auferstehung sind die Voraussetzung für das Heil der erlösungsbedürf-tigen Menschheit. Diese Aussage ist die befreiende und frohe Botschaft der gesamtenTextvorlage, gleichzeitig Zeichen für die »gläubig christozentrische Haltung des Kom-ponisten« (Fischer, S. 126) und damit Frank Martins eigenes Bekenntnis.

Durch Eingangschor, Intermedium und Schlusschor ist das Werk formal gegliedert.Durch seine zweiteilige Anlage trennt es klar die Vorboten zur Leidensgeschichte (JesuEinzug in Jerusalem, seine Verurteilung der Pharisäer, das letzte Abendmahl mit der An-kündigung des Verrats durch Judas sowie der Verrat selbst im Garten Gethsemane, Nr. I-V)von der eigentlichen Passion (Jesu Prozess vor dem Hohen Priester, seine Verurteilungdurch Pilatus und sein Tod am Kreuz, Nr. VI-X) – wie Bach in der Matthäus-Passion. DenPlatz, den Bach Arien und Chorälen zuweist, nehmen bei Frank Martin die so genanntenMeditationen ein, die die einzelnen Szenen der Passion-Jesu-Darstellung, die für sichdramatisch gestaltet sind, und die verschiedenen Haltungen Christi reflektieren und

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kommentieren. Wodurch sich die textliche Konzeption von »Golgotha«, bei aller Nähe informaler Hinsicht, jedoch nicht nur von Bachs Passionen, sondern von der gesamtenTradition der Passionsvertonung deutlich unterscheidet, ist die Einbeziehung des Oster-ereignisses, in dem nicht zuletzt die bejahende Glaubensaussage Martins und seinegesamten Lobpreisungen zum Ausdruck gebracht sind. Die Textvorlage kann man als eineArt Collage bezeichnen, als Montage in ihrem positivsten Sinne. Die engagiert gestalteteDramaturgie lässt die zusammengestellte Vorlage als literarisches Kunstwerk erscheinen.Besonders auffällig ist die außerordentliche emotionale Beteiligtheit des Komponisten.

Die musikalische Realisierung

{ Eine Passion zu schreiben fand Martin zunächst »anmaßend«. Doch dann erhielt erdurch Rembrandts Kupferstich Die drei Kreuze eine neue Inspiration. Hier war das christ-liche Heilsgeschehen konzentriert auf den Punkt gebracht. Berührt und ergriffen von dem»seltsame{n} weiße{n} Licht, das senkrecht auf eine düstere Welt fällt« (in: Halbreich,S. 27), sah er den Hell-dunkel-Kontrast als Gegensatz von Licht und Finsternis. DiesesPrinzip übertrug er nun auf die textliche und die musikalische Ebene seiner Komposition.Der Gegensatz prägt auch die formale Anlage sowie das Klangkonzept des Werkes. Nebender profilierten Vox Christi, deren herausragende Stellung dem Baritonsolisten zuge-wiesen ist, treten die übrigen Partien in den – dunklen – Hintergrund. Um die zentraleStellung der Christuspartie weiterhin nicht zu gefährden, entschied sich Frank Martin füreine entpersonalisierte Evangelistenpartie und verteilte die Erzählung auf verschiedeneSolisten und den Chor, je nach spezifischer Aussage und Kontext. Wird die Handlungschnell vorangetrieben und zeigt sie dramatische Elemente, berichtet eine Solostimme,die für den Moment unmittelbar an der Szene teilzuhaben scheint; an Stellen mit eherdeskriptivem Charakter abseits von dramatischer Handlung singt hingegen der Chor.Dieser repräsentiert außerdem die Volksmenge, übernimmt also zusätzlich die Funktionder so genannten Turba, und ist im Eingangs- und Schlusschor sowie in einigen derMeditationen beschäftigt – in letzteren in der Rolle der Gemeinschaft der Glaubenden(vgl. Meester 1993, S. 135). Die abwechslungs- und kontrastreiche Rollenverteilungträgt entscheidend zur dramatischen Wirkung des Werkes bei.

Gegenüber dem Vokalpart ist die Rolle des Orchesters – einem großen Orchester-apparat mit sinfonischem Streichersatz, doppelt besetzten Holzbläsern, vollem Blech-bläsersatz und Schlagwerk, erweitert um Klavier und Orgel – im Wesentlichen auf dieinstrumentale Begleitung beschränkt. Rein instrumentale Sätze enthält »Golgotha«nicht, allein zur Eröffnung des zweiten Teils findet sich (zu Beginn von Nummer VI) eine längere instrumentale Einleitung. In jedem Fall trägt die farblich differenzierteInstrumentation maßgeblich zu dynamischen Effekten bei.

Den ersten Satz kann man als Mikrokosmos des ganzen Werkes bezeichnen. Hier findensich die wichtigsten Parameter der Tonalität, der Satzweise, der Melodik, Harmonik undder kontrastreichen Klangregister. Charakteristisch sind stilistische Anklänge an andere

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Vorbilder (wie Bach) und Epochen (Mittelalter) ebenso wie moderne experimentellerhythmische Kontrapunktik, Zwölftontechnik und Jazzelemente. Martin verarbeitet die heteronomen archaisierenden und modernen Elemente zu einer Synthese, die seinegenuine Tonsprache prägt.

Beispiel: Der Aspekt der Rhythmik

{ Exemplarisch herausgegriffen sei der siebte Satz: Jésus devant le Sanhédrin (Jesusvor dem Hohen Priester). Im »heftigen Rhythmus einer Tokkata« (Halbreich, S. 32) be-ginnt die Szene Jesu vor dem Hohen Priester, deren Orchesterbegleitung mit durchgehen-den Achtelläufen zunächst den Satz bestimmt. Die erzählende Rolle kommt den Chor-tenören und -bässen zu und wechselt nach der kontrastierenden Passage der Jesusworte(T. 104 ff.: »Tu l’as dit…«), die vorübergehend das »Allegro con fuoco« beruhigt, zumSolotenor (T. 137 ff.: »A ces mots…«). Die unruhige Begleitung wird wieder aufgegriffen.Der erneute Tumult des Volkes mit Steigerungswirkung bis zum Fortissimo bricht unver-mittelt ab, und in starkem Kontrast schließt sich die Meditation im Pianissimo-Choral-klang (T. 267 ff.) an. Unmittelbar ins Auge fällt die Vielzahl der Taktwechsel: Zweier- undDreiermetren wechseln ununterbrochen ab, »was den unsteten Effekt großer Fünfer- undSiebenertakte bewirkt und durch die Klangfarben, besonders der Blechbläser, verschärftwird.« (Brandt, S. 102) Prinzipiell handelt es sich hier insofern um eine Variante musika-lischer Prosodie. Man könnte in den Taktwechseln Anklänge an die perfekte und imper-fekte Mensurierung der Ars nova sehen, verknüpft mit Martins Erkenntnissen aus derBeschäftigung mit der bulgarischen Folklore und dem rumänischen Volkslied. Die collavoce geführten Blechblasinstrumente, zunächst im vollen Hörnersatz, abgelöst von denPosaunen (T. 9 ff.) und gesteigert durch die Trompeten (T. 23 ff.), »fügen dem Ganzeneine herb archaische und durchaus mittelalterliche Tönung hinzu« (Halbreich, S. 32).

Ein unerwartetes Ende

{ Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Wirkung von »Golgotha«:Wodurch überzeugt Frank Martins Werk? Meines Erachtens spielen bei der Rezeption zwei Komponenten eine wichtige Rolle. Zum einen wird dem Publikum in der Tat einvollendetes Drama vor Augen geführt, das Passionsgeschehen emotionsgeladen, vollerLiebe und voller Hass, und aus verschiedenen Sichtweisen mit aller Härte und Brutalität schonungslos dargestellt – unmittelbare Betroffenheit stellt sich ein: »Wie konntenMenschen dich richten mit solcher Härte, solchem Hass, einen Tod dir bereiten, soschändlich und grausam?« (vgl. Meditation in Nr. VII.) Andererseits aber nimmt dasPassionsoratorium ein gänzlich unerwartetes Ende. Nicht stille Trauer oder mitleidsvolleBeweinung der Kreuzigung beschließt das Werk, sondern die Einbeziehung der österlichenAuferstehung, der Jubel über Jesu Sieg, der Triumph des Lebens über den Tod. Daraus

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wächst die Erkenntnis: Die Leidensgeschichte war lediglich Durchgangsstation auf demWeg zum Osterereignis, die Passion die andere, aber notwendige Seite des Heilsgesche-hens. Zu guter Letzt hat Christus die gesamte menschliche Schuld auf sich und damit alleLast von mir selbst genommen; auf unverhoffte und unbegreifliche Weise bin ich befreit:»Christus starb für uns, in Christ ward uns geschenkt das Leben.« (vgl. Nr. I.) »Martinkonnte gar nicht den Tod Jesu abgelöst sehen von seiner Auferstehung, beides gehörtefür ihn zusammen wie Sündhaftigkeit und Hoffnung auf Erbarmen« (Brandt, S. 107).

Diese Sichtweise spiegelt sich in »Golgotha« unbedingt wider, ohne dass das Werk inirgendeiner Weise auf äußerliche Effekte zielt oder plakativ wirkt. Es ist ein authenti-sches und persönliches Zeugnis, eine Musik, die von Herzen kommt und zu Herzen geht.»So besorgt er sonst auf seine Empfindungen bedacht und um Zurückhaltung bemühtwar, hat in diesem Werk sein großes Herz geöffnet.« (Tappolet 1949, S. 263)

Die große Außenwirkung ist dem Komponisten selbst nicht verborgen geblieben. »Sopassiert es, dass ein Werk, welches man für sich selbst und ohne sich darum zu sorgen,was man davon denken oder darüber schreiben könnte, geschrieben hat, genau das Werkist, das nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker und selbst jene erreicht, derenUrteil man fürchten könnte. Nicht nur einmal konnte ich diese Erfahrung machen.« Welch großen Stellenwert Frank Martin selbst seiner Komposition zumaß, zeigt nicht nurihr langer Entstehungszeitraum von drei Jahren, sondern nicht zuletzt Martins rückblik-kende Erinnerung an die Kompositionszeit: »>Golgotha< stellte für mich ein einzigartigesEreignis in meinem Leben als Komponist dar. Die lange Zeitspanne, die der Ausarbeitungdieses Oratoriums gewidmet war, lebt für uns beide, für meine Frau wie für mich, in derErinnerung fort als eine gesegnete Zeit, als eine Karwoche, die fast drei Jahre gedauerthat.« (in: Maria Martin, S. 77 f.)

L i t e r a t u r a u s w a h l

x Billeter, Bernhard: Frank Martin. Ein Außenseiter der neuen Musik, Frauenfeld/Stuttgart: Huber 1970

x Brandt, Regina: Religiöse Grundzüge im Werk von Frank Martin, Regensburg: Bosse 1992

x Halbreich, Harry: Entstehung von »Golgotha«; Frank Martin kommentiert »Golgotha«; Kurze Analyse der Partitur, im Beiheft zur CD-Einspielung: Frank Martin: Golgotha/Messe pour double chœur a cappella, Erato 2292-45779-2(1992), S. 25 – 34

x Lütteken, Laurenz: Martin, Frank, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil Bd. 11, 2., neubearb. Ausg., 1999 ff., Kassel: Bärenreiter 2004, Spalte 1169 – 1175

x Martin, Maria: (Hrsg.): A propos de…, commentaires de Frank Martin sur ses oeuvres, Neuchâtel: La Baconnière 1984, S. 79 – 88

x Melroy, Mardia: Frank Martin’s »Golgotha«, D. M. A. dissertation, University of Illinois at Urbana-Champaign 1988

x Tappolet, Willy: Golgotha. Oratorio de Frank Martin, in: SMZ 89 (1949), S. 262 – 263

p Georg Hage

studiert nach dem Abschluss in Schulmusik 2004 an der Musikhochschule Freiburg

Kirchennmusik A und Gesang.

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