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perspektive 21 Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik Heft 14 • Juli 2001 B B r r a a n n d d e e n n b b u u r r g g i i s s c c h h e e I I d d e e n n t t i i t t ä ä t t e e n n

perspektive21 - Heft 14

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Brandenburische Identitäten

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Page 1: perspektive21 - Heft 14

perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik

Heft 14 • Juli 2001

BBBB rrrr aaaa nnnn dddd eeee nnnn bbbb uuuu rrrr gggg iiii ssss cccc hhhh eeee IIII dddd eeee nnnn tttt iiii tttt ääää tttt eeee nnnn

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Vorwort 3

Klaus FaberWer sind die Brandenburger? 5

Christian Maaß und Madeleine JakobKämpfen für den Traum von Tüffelland 21

Julius H. SchoepsZweckmäßigkeit und Staatsräson? 45

Pavel KarolewskiChancen des Zusammenwachsens in Europa: Übergang zu einer

Europäischen Identität 51

Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst SigmundWissenschaftliche technische Entwicklung

und Leitbild für die Infrastrukturpolitik 59

Prof. Dr. Helmut SeitzDemographischer Wandel und Infrastrukturaufbau

in Berlin-Brandenburg bis 2010/15 65

Benjamin EhlersWohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland 73

Inhalt

3

BrandenburgischeIdentitäten

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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg

RedaktionKlaus Ness (ViSdP)

Lars Krumrey

Christian Maaß

Klaus Faber

Madeleine Jakob

Klara Geywitz

Benjamin Ehlers

AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61

14469 Potsdam

Telefon03 31 - 200 93 - 0

Telefax03 31 - 270 85 35

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Internethttp://www.spd-brandenburg.de

DruckDruck- und Medienhaus

Hans Gieselmann, Bergholz-Rehbrücke

Satzkai weber medienproduktionen

Impressum

4

Page 5: perspektive21 - Heft 14

Liebe Leserinnen und Leser!

„Die Heimatlosigkeit der Macht“ ist zur

Zeit ein viel diskutiertes Buch der Poli-

tikwissenschaftler Franz Walter und

Tobias Dürr. Sie setzen sich u.a. mit der

Frage auseinander, welche Identitäten

Parteien und politische Lager nach

zunehmender Auflösung der sozialmora-

lischen Milieus in einer globalisierten

Ökonomie noch vermitteln können. Mit

dieser Ausgabe der Perspektive 21 bewe-

gen wir uns im Fahrrwasser auch dieser

Debatte, versuchen sie aber zu erweitern

und auf die Bedingungen Brandenburgs

herunterzubrechen.

In Brandenburg, aber auch in den

anderen ostdeutschen Bundesländern,

ist 12 Jahre nach Wiedererstehung des

Landes der Transformationsprozefl

immer noch nicht abgeschlossen. Der

Bezug auf die Landesidentität war für die

Märker in den Veränderungsprozessen

der vergangenen Jahre ein wesentlicher

Orientierungpunkt. Offensichtlich zu-

mindest so wichtig, dass die große Mehr-

heit der Brandenburger einen wichtigen

Modernisierungsprojekt der politischen

Klasse, der Fusion mit Berlin, eine klare

Absage erteilte.

Das Abstimmungsergebnis war quasi

ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung

Politik, dass die Menschen gerade in Zei-

ten, in denen ökonomische Prozesse Fle-

xibilisierung und Individualisierung

abverlangen, ein verstärktes Bedürfnis

nach Heimat und Identität haben. Für die

Einleitung von notwendigen Modernisie-

rungsprozessen bedeutet das, dass die

Menschen von der Politik verläßliche Ori-

entierungspunkte, die Vermittelung von

Identitäten und schlüssigen Leitbildern

verlangen. Ein SPD-General würde das

„Sicherheit im Wandel“ nennen…

Die Autoren des vorliegenden Heftes

nehmen diese Debatte aus unterschiedli-

chen Blickwinkeln auf, versuchen Um-

risse für Leitbilder zu entwickeln, rekurrie-

ren auf die Geschichte der Region, analy-

sieren Zukunftspotentiale,diskutieren die

Rolle der Sozialdemokratie und blicken

von außen auf Brandenburg. Ein Anfang

einer notwendigen Debatte, nicht mehr

und nicht weniger

Ein weites Feld, hätte ein identitätsstif-

tender Brandenburger Dichter gesagt.

Wer es aus unser Leserschaft mit

beackern will, kann seinen Beitrag gerne

an die Redaktion übermitteln. Wir freuen

uns auf ihre Reaktionen.

Die Redaktion

Vorwort

5

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Page 7: perspektive21 - Heft 14

7

Das Thema ist weder neu noch origi-

nell. Ein „Leitbild“ – ein trotz einiger Bezü-

ge zu anderen aktuellen Debatten doch

noch unbelasteter Begriff – soll für die

regionale Politik und Präsentation gefun-

den, eine regionale Identität definiert

werden, nämlich diejenige Branden-

burgs, des „Landes Brandenburg“, wie

man im Land selbst formulieren muß, um

das Land von der Stadt Brandenburg zu

unterscheiden. Die „Mark“ und das „Mär-

kische“ sind seit 1945 aus dem staatli-

chen Sprachgebrauch verschwunden; als

Namensgeber bleiben sie heute Zeitun-

gen und Agrarprodukten vorbehalten.

Brandenburg – das Land Brandenburg –

hat im Gegensatz zur Mehrheit der ande-

ren deutschen Länder so etwas wie eine

eigene Hymne, die ein Berliner mit nicht

ganz zweifelsfreiem politischem Hinter-

grund verfaßt hat.Das Rot des Adlers,den

die Hymne besingt, läßt – wohl meist auf

Mißverständnissen beruhende – Assozia-

tionen zu, die nichts mit heraldischen Tra-

ditionen oder der Entstehungsgeschichte

des Liedes zu tun haben. Brandenburg sei

eine kleine DDR, war eine zunächst nicht

freundlich gemeinte Charakterisierung.

Andere griffen das Stichwort auf und

machten daraus ein positives Etikett. Daß

Brandenburg sich stärker an DDR-Tradi-

tionen orientiere als andere ostdeutsche

Länder, war aber, so oder so gewendet

und bewertet, nie eine rundum überzeu-

gende These.

Einige Diskussionsteilnehmer meinen,

es sei nicht die Zeit oder überhaupt keine

gute Idee, Identitätskonturen für ein Land

wie Brandenburg zu bestimmen. Das

Land stehe über kurz oder lang vor einer

Fusion mit Berlin und überdies im Schat-

ten des in jeder Hinsicht übergroßen

Preußens, zumal im Preußenjahr 2001.

Identitätsprobleme gebe es in Deutsch-

land Ost und West genug. Die Palette mit

brandenburgischen Spezifika anzurei-

chern, mache keinen Sinn. Und zudem:

„Kleine“ Identitäten wie diejenigen des

Uckermärkers oder des Spreewälders

gebe es durchaus. Kaum jemand sei der

Auffassung, zwischen diesen und der

deutschen Identität, einschließlich ihrer

östlichen Untervariante, öffne sich eine

schmerzliche Lücke. Wo das historische

Brandenburg anfange – etwa in der Alt-

mark, die heute zu Sachsen-Anhalt

gehört? – oder aufhöre – in der jetzt pol-

nischen Neumark? – , sei schon unter ter-

ritorialen Gesichtspunkten eine offene

Wer sind die Brandenburger?von Klaus Faber

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Klaus Faber

Frage. Die Existenz eines deutschen

Gliedstaates mit dem Namen Branden-

burg begründe für sich allein genommen

noch keinen Bedarf, eine besondere bran-

denburgische Identität zu konstruieren.

Die Liste der Einwände ließe sich ver-

längern. Die umgekehrte Argumentati-

ons-linie führt übrigens ebenso auf ein

weites Feld: Die Wiederbelebung der

Preußentradition fördere die Bereitschaft

der Brandenburger, einer Fusion mit Ber-

lin zuzustimmen, war vor kurzem zu

hören. Falls das – kühne – Argument tra-

gen sollte, wohin würde es führen – zur

weiteren Vereinigung mit Sachsen-

Anhalt, weil, abgesehen von Anhalt, dort

die meisten Gebiete zu Preußen und

zuvor zu Brandenburg gehörten? Wo –

und wie – wären die neupreußischen

Identitätsgrenzen zu ziehen? Auch

andere stellten die ostdeutsche Territo-

rialneugliederung nach 1990 in Frage. In

der letzten Zeit wird häufig ein früherer

sowjetischer Funktionsträger zitiert, den

die Wiedererrichtung der Länder in Ost-

deutschland nicht überzeugt hatte;

Preußen sei, so sein Kommentar, eine

außerhalb Deutschlands bekannte Größe,

abgesehen etwa von Sachsen viele der

neuen ostdeutschen Länder dagegen

nicht.

Zentrum und RegionenMitterand hat in der ersten Hälfte der

achtziger Jahre die Befugnisse der in

Frankreich neugegründeten Regionen in

beachtlichem Umfang gestärkt. In er-

sten Zwischenbilanzen zu dieser für fran-

zösische Verhältnisse sehr weit gehen-

den Strukturreform waren die beträchtli-

chen Unterschiede in der Identifizierung

mit den neuen Gebietseinheiten ein

wichtiges Thema der internen Kritik. Die

Bretagne,die Provence,das Elsaß,Lothrin-

gen (zu dem nicht nur der im 19. und 20.

Jahrhundert vorübergehend deutsche

Teil gehört) oder Aquitanien waren nach

ziemlich kurzer Zeit anerkannte und

akzeptierte territoriale Einheiten gewor-

den. In der Mitte Frankreichs blieb die

Identifikation mit den neuen Regionen

jedoch häufig blaß. Die räumliche Nähe

und, damit verbunden, eine lange, unbe-

strittene Zugehörigkeit zu einem älteren

politischen Zentrum schwächen offenbar

die Identifikationslinien und behindern

ihre Neubildung. Die politisch-räumliche

Peripherie hat es in dieser Beziehung ein-

facher.

Dem Zentrum selbst, in Frankreich

Paris und die Ile de France, mangelt es in

aller Regel nicht an Identitätsstärke. Das

Land Brandenburg in seinen heutigen

Grenzen gehört in diesem Sinne aber

wohl nicht zum engeren deutschen Zen-

trum,jedenfalls nicht mit allen seinen Tei-

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Wer sind die Brandenburger?

len. Cottbus oder Frankfurt/Oder sind,

was die historische Nähe und Distanz

anbelangt, von Berlin ungefähr genauso

weit entfernt wie etwa Halle oder Mag-

deburg. Die regionale Identitätsbildung

steht in einer derartigen Konstellation

vor einer Orientierungsfrage: Man ist

dem nationalen Zentrum und damit dem

territorialem Symbol für die größere

räumliche Einheit nahe,was die regionale

Sonderidentität schwächt, aber doch

nicht so nahe,daß man mit dem Zentrum

selbst identifiziert werden kann. Der

zitierte sowjetische Kommentar hat, mit

einer etwas groben Sonde, ein territoria-

les Identitätsproblem „entdeckt“.

DDR-PrägungenDabei spielen, was den Fall komplizier-

ter macht, auch DDR-Prägungen eine

Rolle. Walter Ulbricht hat den Kritikern

und Feinden, die ihm vorwarfen, er wolle

Deutschland spalten, in den fünfziger

Jahren entgegengehalten, das 20. Jahr-

hundert sei nicht mehr die Zeit, in der

man, wie früher unter dynastischen Ver-

hältnissen, Länder beliebig aufteilen oder

vereinen könne; Deutschland sei deshalb

nicht zu teilen. Vielleicht hat er dies

damals, selbstverständlich unter der Prä-

misse einer gesamtdeutschen DDR-Mis-

sion, auch wirklich geglaubt, im Gegen-

satz zur Situation bei seiner späteren

Behauptung, niemand habe die Absicht,

in Berlin eine Mauer zu bauen. Die

tatsächlich, mit preußisch-deutscher

Konsequenz und technischer Tüchtigkeit

vollzogene Teilung hatte zwar, zum

Erstaunen vieler deutscher Beobachter,

auch und gerade der westdeutschen,

historisch keinen Bestand. In vielem hatte

die DDR, was die politischen und sonsti-

gen Mentalitätsprägungen anbelangt,

jedoch Erfolg, was wiederum nicht er-

staunen kann oder sollte,wenn man ähn-

liche, frühere und aktuelle Situationen in

Deutschland oder in anderen Ländern

zum Vergleich heranzieht.

Zum DDR-Erfolgsbestand gehört wohl

auch die Gewöhnung an den zentrali-

sierten Staat. Für die Zeit vor 1945 kann

die Gewöhnung bis 1933 und für die ehe-

mals preußischen DDR-Gebiete in gewis-

ser Hinsicht noch viel weiter zurückge-

führt werden. Dem steht nicht etwa die

„Reichsreform“ der späten NS-Zeit entge-

gen, die eine Zergliederung Preußens

unter Einbeziehung nicht-preußischer

Gebietsteile und eine entsprechende Auf-

teilung anderer deutscher Teilstaaten

vorsah. Neben den durch militärische

Eroberung neugewonnenen, dann bald

wieder verlorenen Gebieten im Osten

und im Westen erhielten in diesem Kon-

text z. B. Thüringen mit Erfurt und Sach-

sen-Anhalt, ungefähr, ihre Gestalt – und

selbstverständlich war auch Branden-

burg, die „Mark Brandenburg“, als Territo-

rialgröße in die Überlegungen einbezo-

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Klaus Faber

gen worden. Eine Aufwertung der kleine-

ren neuen Gebietseinheiten des NS-Staa-

tes, die in vielen Fallen, nicht immer, den

NSDAP-Gauen entsprachen, im Sinne

einer weitergehenden administrativen

Verselbständigung oder gar der Entwick-

lung einer starken regionalen Individua-

lität war aber nicht unbedingt beabsich-

tigt. Im Vordergrund stand die Schwä-

chung oder Auflösung der größeren Zwi-

scheneinheiten, der ehemaligen Staaten

im Deutschen Reich. Daß Preußen als

größter deutscher Teilstaat mit verblas-

sender rechtlicher und sozialer Gestalt

davon negativ betroffen war, macht Hit-

ler-Deutschland übrigens nicht automa-

tisch zum Feind Preußens oder Preußen

zum Hort eines verbreiteten Widerstands

gegen das NS-System. Die in dieser Frage

angelegte, heute von vielen beschriebene

Ambivalenz wird 1933 am Tag von Pots-

dam und 1944 in dem hohen Anteil von

Militärangehörigen aus preußischen

Offiziersfamilien an der Aufstandbewe-

gung des 20. Juli sichtbar – an der aber

nicht nur Preußen teilnahmen; Stauffen-

berg war z.B. kein Preuße.

Nach 1945 wurden in der damaligen

sowjetischen Besatzungszone, zum Teil,

wie geschildert, in Anlehnung an die

„Reichsreform“, neue Länder gegründet,

auch das „Land Brandenburg“ – anstelle

der „Mark Brandenburg“. 1952 schaffte

die inzwischen gegründete DDR die Län-

der wieder ab und errichtete dafür 15 klei-

nere Bezirke. Die DDR-Zentralisierung

und ihre Begründung – die Überwindung

der Folgen der „feudalen“ Epoche – lassen

nicht nur äußerlich mit der NS-Planung

verwandte Züge erkennen. Die DDR-

Bezirke waren kleiner als die Reichsgaue

in der NS-Planung und -Realität. Die Pro-

portionen der Bezirke entsprachen der

Gesamtgröße der DDR und den sich dar-

aus, unter Zentralisierungsprämissen, er-

gebenden Bedürfnissen für die Unterglie-

derung. Die DDR benötigte die Zentrali-

sierung, um als kleinerer deutscher Teil-

staat gegenüber dem größeren West-

deutschland bestehen zu können. Die

identitätsbildenden Energien sollten

nicht auf Regionen aufgeteilt werden,

die, im schlimmsten Fall, über eine ältere,

stabile Tradition und im Vergleich zur

DDR über eine beachtliche Größe verfüg-

ten; die Energien waren vielmehr im

DDR-Patriotismus zu konzentrieren.

Neugliederung und Berlin-Brandenburg-Fusion

1990 gab es verschiedene Optionen zur

Gliederung des DDR-Gebiets im wie-der-

vereinigten Deutschland. Zwei Varianten

waren – nicht in der Diskussion, aber im

praktischen Ergebnis – auszuschließen:

die Beibehaltung der alten Bezirke als

neue Länder und, mit oder ohne Berlin,

die Errichtung der DDR als neues Bundes-

land. Die DDR-Bezirke paßten nicht zur

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Wer sind die Brandenburger?

Föderalismus-Struktur des Westens; die

Bezirksstruktur des Ostens im Westen

einzuführen, hätte in der Konsequenz

Zentralisierung bedeutet – und, ihre ver-

fassungsrechtliche Zulässigkeit einmal

unterstellt, niemals die Zustimmung von

zwei Dritteln der Stimmen im Bundestag

und im Bundesrat erhalten. Die DDR als

Bundesland hätte ebensowenig zur übri-

gen Länderstruktur gepaßt und im übri-

gen eine institutionelle Zementierung

der ost- und westdeutschen Sonderiden-

titäten zur Folge haben können.

Andere Optionen als die tatsächlich

gewählte waren vielleicht denkbar – und

wurden, als Minderheitspositionen, auch

diskutiert. Dazu gehörten die Überle-

gungen, größere Gebietseinheiten zu

schaffen, etwa Berlin und Brandenburg

sofort zu vereinen, oder „gemischte“ Län-

der, nicht nur in Berlin und künftig mit

Berlin-Brandenburg, zu bilden, z.B. zwi-

schen Schleswig-Holstein und Mecklen-

burg-Vorpommern. Vor derartigen Vari-

anten standen jedoch deutlich höhere

politische Hürden als vor der realisierten

Option mit fünf „neuen“ Ländern und

dem vereinigten Berlin, die außerdem

den Vorzug aufwies, auf schon einmal,

wenn auch nur für kurze Zeit Bestehen-

des zurückzugreifen.

Abgesehen von der Fusion zwischen

Berlin und Brandenburg werden künftig

Neuordnungsakte in Ostdeutschland

politisch nur schwer zu verwirklichen

sein. Es ist nicht erkennbar, was die neue

politische Klasse und in der Folge die Be-

völkerung etwa von Mecklenburg-Vor-

pommern jetzt noch dazu bewegen

sollte, eine Verbindung mit Berlin und

Brandenburg einzugehen. Die stärkere

Finanz- und Wirtschaftskraft eines größe-

ren Landes? Im föderativen Finanzaus-

gleichs- und Fördersystem Deutschlands

kann auch ein kleineres Land mit andau-

erndem Zuschußbedarf gut leben, wenn

es, wie etwa Bremen, geschickt operiert –

vielleicht besser als mit dem Status eines

Randgebiets in einem Flächenstaat, der

den wachsenden Bedürfnissen einer

großen Metropole gerecht werden muß.

Für das Verhältnis von Brandenburg

und Berlin gilt dies nicht in gleicher

Weise. Die Situation eines Flächenstaates

mit einem Loch in der Mitte und einem

darum herum angesiedelten Speckgürtel

wird durch besondere Problemkonstella-

tionen geprägt. Zwar gibt es auch

anderswo, z.B. im Verhältnis der öster-

reichischen Bundesländer Wien und Nie-

derösterreich, vergleichbare Territorial-

gliederungen für große Hauptstädte und

ihre Umgebung. Eine nähere Betrach-

tung der Folgen einer derartigen Grenz-

gestaltung muß aber selbstverständlich

die Kompetenzen der betroffenen Glied-

staaten in den Vergleich einbeziehen.

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Klaus Faber

Sind diese Kompetenzen, wie in Deutsch-

land,stark,hat die Grenze größere Bedeu-

tung. Fazit: Für die Vereinigung von Berlin

und Brandenburg spricht mehr als für

den manchmal diskutierten zusätzlichen

Bund mit Mecklenburg-Vorpommern.

Man mag es bedauern oder nicht, über

die Fusion mit Berlin hinaus wird das

Land Brandenburg in der absehbaren Zeit

wohl keine territoriale Neugliederung er-

warten dürfen. Eine Neugliederung ist

nach dem deutschen Entscheidungssy-

stem jetzt nur noch als gesamtdeutsches

und nicht mehr als begrenztes ostdeut-

sches Unternehmen vorstellbar. Voraus-

setzung dafür wäre politisch die Bildung

einer Großen Koalition auf der Bundese-

bene.

Fusion und Identität; WerbeformelnKann oder sollte nach alledem Bran-

denburg mit Leitbildkonzeptionen und –

weitergehend – mit der Identitätsprä-

gung auf die Vereinigung mit Berlin war-

ten? Und welche Rolle spielt bei beiden

Aspekten die preußische Tradition?

Die kollektive Identität wird nur zum

Teil durch staatliche oder sonstige politi-

sche Aktivitäten geprägt, aber staatliche

und politische Interventionen können

durchaus die Identitätsbildung beeinflus-

sen. Das gilt auch für die regionale Iden-

tität. „Leitbilder“ für deutsche Länder zu

schaffen, bedeutet in der politischen Pra-

xis meist,bereits vorhandene oder zu ent-

wickelnde Elemente einer regionalen

Identität mit einigen Grundzügen der

staatlich-politischen Entwicklungspla-

nung zu verbinden. Manchmal werden in

diesem Zusammenhang mehr oder

weniger gelungene Formeln und Werbe-

slogans geprägt. Dazu zählen etwa das

schlichte „Wir in Nordrhein-Westfalen“

oder auch „Wir können alles, nur nicht

hochdeutsch“ (Baden-Württemberg) oder

ebenso Schlagworte und Kurzbeschrei-

bungen, die häufig die Verbindung von

regionalen – personalen, landschaftli-

chen oder sonstigen – Besonderheiten

(„Das grüne Herz Deutschlands“) mit

dem technischen Fortschritt thematisie-

ren. Auch die bekannte Kombination von

Lederhosen und Computern ist in diesem

Zusammenhang zu nennen. Die Absicht

derartiger Aussagen wird meistens hin-

reichend deutlich. In der Sache ist, wie der

Vergleich zeigt, bei diesen Versuchen Ori-

ginalität weniger gefragt als in der Form.

Wissenschaftlich-technische Kompetenz

und die daraus abzuleitende Attraktivität

für die Wirtschaft sind zentrale Botschaf-

ten.

Preußische „Last“Bei realistischer Einschätzung der Aus-

gangsbedingungen für das Land Bran-

denburg im Identitäts- und Leitbildwett-

bewerb kommt man wohl nicht umhin,

zunächst die Prägung durch das

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Wer sind die Brandenburger?

Preußenthema aufzugreifen – was übri-

gens zum Teil das in diesem Zusammen-

hang verbreitete Unbehagen gegenüber

brandenburgischen Identitätsdebatten

erklärt. Der brandenburgische Staat, vor

langer Zeit aus der früheren Altmark-

Grenzregion gegründet, hat viel später,

als Folge und in Verbindung mit der

Reformation, die Ordensstaatsreste in

Ostpreußen durch Erbschaft erworben.

Der brandenburgische Kurfürst Friedrich

III. hat, wie wir jetzt täglich hören, vor

dreihundert Jahren diesen Besitz dazu

benutzt, sich selbst, außerhalb der Gren-

zen des Heiligen Römischen Reichs, wo

dies nicht möglich gewesen wäre, eigen-

mächtig zum König zu krönen. Dadurch

wurde er König Friedrich I. (zunächst nur)

„in“ Preußen. Die Hauptstadt des „preußi-

schen“ Staates blieb dabei die gleiche wie

diejenige Brandenburgs. Es handelte sich

im Kern um eine Umbenennung des

brandenburgischen Staates, die notwen-

dig war, um die neue Königswürde zu

nutzen.

Im 19. Jahrhundert, nach dem Sieg über

die Mehrheit der anderen deutschen

Staaten unter Führung Österreichs, gab

dieser umbenannte und beträchtlich er-

weiterte brandenburgische Staat als

„Preußen“, auf dem Weg zur Verwirkli-

chung seiner inzwischen gefundenen

deutschen Mission, wesentliche Teile sei-

ner Zuständigkeiten zugunsten des

„Norddeutschen Bundes“ auf. Dessen

„Bundeskanzler“ wurde der preußische

Kanzler Bismarck. Nach dem Sieg über

Frankreich wurde aus dem Norddeut-

schen Bund unter Einbeziehung der süd-

deutschen Staaten, wiederum mit dem

„Bundeskanzler“ Bismarck, ein „Deut-

scher Bund“, namensgleich, aber nicht

identisch mit der völkerrechtlichen Kon-

föderation „Deutscher Bund“ des Wiener

Kongresses von 1815. Dieser neue „Deut-

sche Bund“ erhielt den Namen „Deut-

sches Reich“, der Bundeskanzler Bismarck

wurde „Reichskanzler“. Preußen war im

neuen deutschen Reich ein Teilstaat, wie

schon im Norddeutschen Bund.

Eine staatliche Identitätslinie führt

danach von der Markgrafschaft Branden-

burg über das brandenburgische Kurfür-

stentum, den brandenburgisch-preußi-

schen Staat zum Norddeutschen Bund

und zu seiner Erweiterung im Deutschen

Reich. Der Name des Gründerstaates

„Brandenburg“ sank dabei immer tiefer.

1871 bezeichnete er nur noch eine Provinz

des Teilstaates Preußen im Deutschen

Reich. Die Hauptstadt Berlin stieg dage-

gen immer höher bis zur Stufe der

„Reichshauptstadt“, zur Hauptstadt des

neugegründeten, ausgeprägt monar-

chisch-föderativ gegliederten Deutschen

Reiches. Erst 1866 wurde übrigens – in Kö-

niggrätz – entschieden, daß Berlin die

deutsche Hauptstadt und die „norddeut-

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Klaus Faber

sche“ Sprachvariante Berlins, nicht dieje-

nige von Frankfurt am Main, einer Art

Hauptstadt des 1815 gegründeten Deut-

schen Bundes, oder von Wien, das „Hoch-

deutsche“ (ursprünglich das Pendant

zum „Niederdeutschen“) werden sollte.

Erst zu diesem Zeitpunkt wurde klar, daß,

wie die Österreicher es formulierten und

manchmal heute noch die Münchener,

die „Piefkes“ aus Berlin den Ton angeben

und alle anderen Sprachvarianten als

„Dialekt“ bezeichnen können. Jede bran-

denburgische Identität,auch die jetzt neu

zu definierende, muß, ob sie es will oder

nicht, diese Berlin- als Teil der allgemei-

nen Preußen-„Last“ mittragen.

Ein unter verschiedenen Aspekten

denkbarer Versuch, das „Brandenburgi-

sche“ vom „Berlinischen“ und darüber

hinaus vom „Preußischen“ abzusondern,

wird nämlich nicht zum Erfolg führen

können. Auch die DDR-Identitätsbildung

hat sich am Ende den territorialen und

historischen Gegebenheiten angenähert

und gefügt. „Sachsens Glanz“ und

„Preußens Gloria“ waren Filmtitel-Stich-

worte für eine Vereinnahmung durch die

DDR, die Friedrich II. von Preußen, den

„Großen“, bereits einschloß. Goethe und

Schiller (abgesehen von Weimar- und

Jena-Bezügen der Herkunft und der Prä-

gung nach sonst nicht mit dem späteren

DDR-Territorium verbunden), Luther und

die Reformation sowie andere und ande-

res waren schon früher in die selbstver-

ständlich am "Positiven" orientierte DDR-

Ahnen- und Traditionsgalerie eingeglie-

dert worden. Bismarck, sagen einige,

wäre wahrscheinlich, mit Einschränkun-

gen, ebenfalls aufgenommen worden,

falls es die DDR noch für eine längere Zeit

gegeben hätte. In der Darstellung der

DDR-Archäologie war übrigens eine

Schwerpunktbildung bei den westslawi-

schen Stämmen und beim Reich der

Thüringer zu erkennen, eine letztlich kon-

sequente Konzentration angesichts der

unerfreulichen Tatsache, daß andere

denkbare Anknüpfungspunkte noch

weniger zur DDR-Grenzziehung paßten.

Geschichtspolitik und ambivalenteGeschichte

Eine Einbeziehung preußischer Traditi-

onslinien in Leitbild- und Identitätskon-

zeptionen ist für demokratisch gewählte

und verantwortliche Akteure, also etwa

für Parlament und Regierung Branden-

burgs, schwieriger als für die frühere

DDR-Geschichtspolitik. Muß sich der

demokratische Staat oder insgesamt die

Politik nicht jeder geschichtspolitischen

Tätigkeit enthalten? Nicht nur staatliche

Gedenktage oder die aktuelle Debatte

über die „68er“-Bewegung (die in

Deutschland am 2. Juni 1967 begonnen

hat) zeigen, daß dem nicht so ist. Es geht

nicht um die Frage, ob es Geschichtspoli-

tik gibt oder nicht, sondern darum, wer

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Page 15: perspektive21 - Heft 14

Wer sind die Brandenburger?

an der geschichtspolitischen Gestaltung

teilnimmt. Wertepositionen und Werte,

auch diejenigen des Grundgesetzes, sind

immer mit historischen Erfahrungen und

Entwicklungen verbunden. Geschichts-

politische Enthaltsamkeit oder Neutra-

lität der Politik und des Staates sind

daher weder durchsetzbar noch wün-

schenswert, wohl aber Zurückhaltung in

denjenigen Bereichen, in denen die Politik

und noch deutlicher der Staat verschie-

dene Wertungs-und Interpretationsein-

stellungen zu akzeptieren und zu respek-

tieren haben. Auch der Staat sollte unter

bestimmten Umständen geschichtspoli-

tisch wertende Positionen jedenfalls dort

beziehen, wo dies der Wertekonsens der

Verfassung und die historische Erfahrung

erlauben oder verlangen. Relevanz erhält

diese Forderung z.B. bei der Gestaltung

der öffentlichen Gedenkkultur.

Niemand käme wohl auf die Idee, das

Gedenken an die beiden großen Revolu-

tionen der Aufklärungszeit in denjenigen

Ländern, in denen sie stattgefunden

haben, in den USA und in Frankreich, des-

halb einzuschränken oder nur noch in kri-

tischer Form zuzulassen, weil im Namen

der siegreichen Revolutionen auch zwei-

felhafte Maßnahmen durchgeführt oder

Verbrechen begangen wurden – in Frank-

reich sollen dafür als Beipiele die Terreur-

Phase oder die Unterdrückung der Auf-

stände in Lyon und in der Vendée, in den

USA die Behandlung und Vertreibung der

Loyalists angeführt werden. Was für die

Gedenktradition in diesen Fällen gilt, hat

auch für historische Ereignisse Bedeu-

tung, für die eine vielleicht weniger posi-

tive Gesamtbilanz zu ziehen ist. Inner-

halb bestimmter Grenzen haben die poli-

tisch konstituierten Gemeinschaften

durchaus das Recht – das sie in der Praxis

häufig wahrnehmen – , in der Interpreta-

tion oder Vermittlung der eigenen Ver-

gangenheit die positiven Züge und Vor-

bilder besonders hervorzuheben. Dies ist

vor allem dann unbedenklich, wenn

dabei die ins Gewicht fallenden negati-

ven Seiten nicht unterschlagen oder

weginterpretiert werden.

Frankreichs Würdigung der Résistance

ist in diesem Zusammenhang zu nennen,

wenn und soweit, wie dies heute in

Frankreich geschieht, auch die anfangs

vorhandene breite Unterstützung für die

Vichy-Regierung in die historische Schil-

derung einbezogen wird – übrigens kei-

nesfalls mit negativen Folgen für das po-

puläre Bild der Résistance. Ähnliches

könnte für den 20. Juli in Deutschland

gelten, wenn es denn, was nicht der Fall

ist, eine mit der französischen Rési-

stance-Erinnerung annähernd vergleich-

bare öffentliche Wahrnehmung und Be-

wertung des Aufstandsversuchs gäbe ( –

wie überhaupt unsere Erinnerungskul-

tur einige Merkwürdigkeiten aufweist;

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Klaus Faber

man denke nur an die zögernde Anerken-

nung des Holocausts, der seit Hitler die

deutsche Identität mitprägt, als Thema

eines öffentlichen Gedenktages).

Der 20. Juli gehört, wie erwähnt, unter

bestimmten Aspekten auch zur preußi-

schen Geschichte, vielleicht als letzter

bedeutender Akt. Die Ambivalenz des

Vorgangs wird u.a. darin sichtbar, daß

einige der führenden Akteure, auch

Stauffenberg, 1933 zunächst das Hitler-

Regime begrüßt hatten und die Aufstän-

dischen, wie sie wußten, mit ihren Auf-

fassungen keinesfalls die Mehrheit des

Volkes repräsentierten.

Eine ambivalente Bilanz ist im übrigen

für das gesamte historisch-politische Er-

be Preußens zu ziehen ( – was wiederum

für die Brandenburgtradition Bedeutung

hat). Für die oft zitierten preußischen

Sekundärtugenden muß dies vor dem

Hintergrund der NS-Zeit nicht im einzel-

nen belegt werden. Auch die preußische

Toleranz kannte ihre nicht immer akzep-

tablen Grenzen. Die Juden wurden zwar

in der Regel nicht unmittelbar verfolgt;

Friedrich II. sah in ihrer Existenz den einzi-

gen Ansatzpunkt für einen Gottesbeweis.

Als Einwanderer oder Untertanen wur-

den ihnen aber Protestanten, möglichst

der gleichen Orientierung wie derjenigen

der Hohenzollern-Dynastie, oder, in der

zweiten Wahl, Katholiken (z. B. als Solda-

ten) vorgezogen. Antisemitische Positio-

nen konnten auch am Hof vertreten wer-

den. Treitschke bezeichnete in seinen

Schriften die Juden als „unser Unglück“

Nach der Reichsgründung erhielt der

Antisemitismus weiten Zulauf. Wilhelm

II. empfahl, in allen Schulbibliotheken

Preußens das offen antisemitisch-rassi-

stische Buch „Die Grundlagen des 19.

Jahrhunderts“ zu führen. Der Autor war

Richard Wagners Schwiegersohn Hou-

ston Stewart Chamberlain, ein antisemi-

tischer Brite, der den deutschen Nationa-

lismus förderte und nach dem I. Welt-

krieg Hitler unterstützte. In diesen Zu-

sammenhang paßt auch die antipolni-

sche Politik Preußens im 19. und im

frühen 2o. Jahrhundert vor allem in den

Provinzen Posen und Westpreußen.

Die „Peuplierung“ der dünn besiedel-

ten Gebiete von Brandenburg/Preußen

mit vornehmlich protestantischen Ein-

wanderern aus Frankreich, Holland, Salz-

burg oder Böhmen war zwar eine in ihrer

Zeit „moderne“ und gewiß nicht frem-

den-feindliche Tat.Vergleichbares geschah

aber auch anderswo, z.B. in den von den

Türken wiedergewonnenen Gebieten, die

durch Österreichs Heer und die Reich-

struppen erobert worden waren, zu denen

übrigens bis zur Zeit des „Soldatenkönigs“

auch brandenburgisch/preußische Regi-

menter gehörten. Erwünschte Einwande-

rer waren aus österreichischer Sicht aller-

16

Page 17: perspektive21 - Heft 14

Wer sind die Brandenburger?

dings in erster Linie Katholiken, im Notfall

auch orthodoxe Christen, darunter vor

allem Serben.

Und dennoch: Das Toleranz-Edikt Bran-

denburgs war eine Gegenerklärung zum

Edikt von Nantes. Der Name Moses Men-

delssohns – und vieler anderer in der Tra-

ditionslinie der Aufklärung und Toleranz –

hat nicht nur im Berlin-Brandenburg-

Kontext Bedeutung, aber dort eben auch.

Der älteste Sohn Maria Theresias bewun-

derte Friedrich den Großen als Moderni-

sierer und Aufklärer (jedenfalls vor den

Konfliktphasen, in die er später als Kaiser

einbezogen war). Preußen, immer noch

deutlich rückständiger als Frankreich, zog

nach seiner Niederlage gegen Napoleon

viele der deutschen Reformer an.Wilhelm

von Humboldts Universitätsreform prä-

gte für lange Zeit die deutschen Hoch-

schulen. In der Weimarer Republik wurde

Preußen als nach Bevölkerungszahl und

Fläche weitaus größter deutscher Teil-

staat von einer Regierung (unter Leitung

des Sozialdemokraten Otto Braun) ge-

führt, die bis zum Preußenschlag die

demokratische Ordnung der Republik

unterstützte – um einige Beispiele aus

der preußischen Geschichte herauszu-

greifen, denen wir auch heute noch posi-

tiv gegenüberstehen.

Argumente der Gegenbilanz wurden

bereits skizziert; sie könnten ergänzt wer-

den: Dem Staat Preußen wurde im Auflö-

sungsdekret der Alliierten vorgeworfen,

ein Hort des Militarismus gewesen zu

sein. Das kann zwar als einseitige Verkür-

zung, vor dem Hintergrund der Gesell-

schaftsentwicklung in Preußen/Deutsch-

land vor allem zur Bismarckzeit und bis

zum Ende des I. Weltkrieges aber wohl

kaum als völlig unbegreifliche, haltlose

Beschuldigung bezeichnet werden.

Föderale Balance und PreußenFür die Auflösung durch die Alliierten

gab es auch andere, nicht genannte

Gründe. Die zunächst von allen Seiten

gewünschte Schwächung einer künfti-

gen deutschen Zentralmacht wäre durch

ein Weiterleben Preußens als deutscher

Teilstaat gefährdet worden. Auch nach

den Gebietsverlusten im Osten hätte

Preußen unter den deutschen Ländern

dem territorialen Umfang nach eine her-

ausragende Position eingenommen. Jede

föderale Balance wäre dadurch, wie im

Kaiserreich und in der Weimarer Republik,

gestört worden.

Zu Preußen hätten nämlich Berlin,

Brandenburg, Schleswig-Holstein sowie

Nordrhein-Westfalen und das Saarland

(abgesehen von kleinen Ausnahmen in

den zwei zuletzt genannten Ländern),

jeweils der größere Teil von Niedersach-

17

Page 18: perspektive21 - Heft 14

Klaus Faber

sen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz

sowie schließlich Teile der heutigen Län-

der Hessen, Mecklenburg-Vorpommern,

Thüringen, Baden-Württemberg und

Sachsen gehört. Ein derartiger, über-

großer Flächenstaat wäre übrigens auch

schlecht mit der Aufteilung in Besat-

zungszonen zu vereinbaren gewesen.

Das Land Brandenburg und PreußenWas macht man, im Falle Branden-

burgs, mit einem derartigen Erbe? Aus-

schlagen oder verschweigen kann man

es, um es noch einmal zu unterstreichen,

wie andere wichtige Geschichtsphasen

mit negativen Teilen oder mit negativer

Gesamtbilanz nicht. Für die regionale

Identitätsbestimmung Baden-Württem-

bergs oder Sachsens mag dies, was

Preußen anbelangt, anders zu sehen und

zu handhaben sein. Eine Präsentation des

Landes Brandenburg ohne Preußen wäre

demgegenüber kaum vorstellbar.

Der Gestaltungsspielraum ist dabei für

Brandenburg nicht sehr groß. Die akzep-

tablen preußischen Wertepositionen der

Toleranz, der Offenheit für Einwan-

derung und Fremde sowie der Staatsloya-

lität, Sparsamkeit oder Tüchtigkeit (in

neuerem Deutsch: Effizienz) sind Orien-

tierungspunkte, auf die sich Werbung

und Selbstdarstellung konzentrieren

könnten. Die negativen Seiten, u.a. der

mangelnde Bürgersinn oder die Beto-

nung des Gehorsams, des Militärischen

und eines Überlegenheitsanspruchs,

gehören ebenso zum historischen Bild

wie an und für sich „neutrale“ Aspekte,

z.B., für die Zeit nach der Reichsgründung,

die schiere Größe Preußens, die nicht zu

einer ausgewogenen föderativen Kon-

struktion paßte.

Für die historische Forschung wird die

Durchdringung derartiger Ambivalenzen

nicht abzuschließen sein. Für die politi-

sche Debatte und vor allem die politische

Entscheidung, u.a. über die Gedenkkultur

und das brandenburgische Leitbild,

kommt eine grundsätzlich-deutsche, nie-

mals aufhörende Auseinandersetzung

aber wohl nicht in Frage. Brandenburg

und andere müssen mit einem gemisch-

ten Preußenbild leben und sich (soweit

wie möglich) überzeugend die positiven

Seiten seiner Traditionen für die Selbst-

darstellung aneignen.

Die im Lande vorhandenen fremden-

feindlichen und antisemitischen Tenden-

zen sowie die zu erwartende Einwande-

rung aus Ostmittel- und Osteuropa

geben, um aktuelle Beispiele anzuführen,

genügend Anlaß, sich auf die preußische

Toleranz- und Einwanderungsgeschichte,

auf die Traditionen des Rechtsstaats und

der Humanität zu berufen. Da sich an den

historischen Ausgangsvoraussetzungen

durch eine Vereinigung von Brandenburg

18

Page 19: perspektive21 - Heft 14

Wer sind die Brandenburger?

und Berlin oder durch die Verhinderung

einer derartigen Fusion nichts ändern

kann, macht es auch keinen Sinn, auf den

– noch unbestimmten – Zeitpunkt zu

warten, zu dem klar sein wird, was in der

Fusionsfrage geschieht.

Elemente des BrandenburgbildesNicht ganz so eindeutig ist die entspre-

chende Frage für die übrigen Leitbild-

und Identitätselemente zu beantworten.

Auf diesem Gebiet ist eine Differenzie-

rung notwendig. Die Berufung auf das

Vorhandene in der Landschaft, im Kul-

turerbe oder in der Wirtschaft, einschließ-

lich Landwirtschaft und Tourismus, ist

nicht originell, aber naheliegend. Hier

stellt sich auch keine ernsthafte Zeit-

punktfrage. Für die Schwerpunkte in den

Entwicklungsperspektiven des Landes

und zumal für visionäre Ausbaupläne im

vereinigten Land Berlin-Brandenburg

könnte dies anders gesehen werden. Es

gibt ohnedies kein Mittel, das ein künfti-

ges Parlament und eine künftige Regie-

rung für das vereinigte Land daran hin-

dern könnte, dazu eigene Akzente zu set-

zen. Dennoch sprechen auf diesem

Gebiet deutlich mehr Argumente gegen

Abstinenz und für ein eigenes Votum, das

jetzt und nicht erst nach der Fusion abzu-

geben ist.

Nicht nur unter taktischen Gesichts-

punkten ist zu überlegen, ob die Bürge-

rinnen und Bürger einen Anspruch dar-

auf haben, vor der Fusionsabstimmung

Konzeptionen zur künftigen Entwicklung

kennenzulernen. Viele Einzelakte der Re-

gierungs- und Legislativtätigkeit setzen

im übrigen eine Einbettung in eine län-

gerfristige Planung voraus, die nicht erst

nach der Fusion erfolgen und im übrigen

auch vor der Fusion zwischen Berlin und

Brandenburg abgestimmt werden kann –

und wird.

Falls und soweit es richtig sein sollte,

wie manche meinen, daß Brandenburg

mit dem ersten Jahrzehnt nach der

Wende eine Phase des Übergangs abge-

schlossen habe, sich von der Bewahrung

der Verhältnisse oder der Milderung des

Wandels zunehmend abwende und des-

halb neue Ziele zu definieren seien,

könnte dies ein zusätzliches Argument

dafür sein, nicht zu warten. „Übergangs-

phasen“ werden allerdings häufig unter-

schätzt, was ihre Gestaltungsfunktionen,

ihre Bedeutung für die langfristige Wei-

chenstellung oder ihre Dauer anbelangt

Die Entwicklungsplanung in Branden-

burg steht keinesfalls bei Null. Die bereits

beschlossene Leitbildbestimmung ent-

hält Ansätze, die den Zusammenhang

mit Berlin unterstreichen, u.a. unter Tou-

rismus- und Dienstleistungsaspekten so-

wie in bestimmten Komplementärfunk-

tionen z.B. in der Landwirtschaft, im Ener-

19

Page 20: perspektive21 - Heft 14

Klaus Faber

giebereich, bei der Entsorgung oder auf

anderen Gebieten. Die Entwicklungsbe-

schreibung für die „Fläche“, für das Land

Brandenburg vor und nach der Fusion,

muß wie die entsprechende Planung in

nahezu allen anderen Ländern ebenso

die Bereiche von Kultur,Wissenschaft und

Technik einbeziehen; dazu gehören, wie

bereits erwähnt, Tourismus- oder Ener-

gieversorgungsfragen, die Entwicklung

der Autoindustrie oder der Ausbau von

Zukunftstechnologien, z.B. auf dem Ge-

biet der Halbleiterphysik, und vor allem

der Wissenschaftseinrichtungen. In dem

zuletzt genannten Bereich sind im Ver-

gleich zu den anderen ost- und westdeut-

schen Flächenstaaten Rückstände aufzu-

holen.

Kultur, Wissenschaft und Technologie –unverzichtbare Bildfacetten

Die 1991 beschlossenen Neugründun-

gen von Hochschulen und Forschungsin-

stituten geben Brandenburg ein Poten-

tial, das in jeder Hinsicht ausbaufähig ist.

Es ist ein Pfund, mit dem gewuchert wer-

den sollte. Das gilt in gleicher Weise für

die bedeutenden brandenburgischen

Kulturdenkmale. Alle wichtigen Ausbau-

vorhaben im Wissenschaftssektor in Ber-

lin zu konzentrieren, was nach 1990 viel-

leicht einige erwartet hatten, wäre übri-

gens eine in jeder Hinsicht falsche Ent-

scheidung gewesen, wie etwa eine

Gegenüberstellung zur bayerischen

Flächenentwicklung im Verhältnis zu

München zeigt. Der brandenburgische

Wissenschaftsaufbau lag letztlich auch

im wohlverstandenen Interesse Berlins.

Der Bau von Festungen, Garnisonen,

Gefängnissen, Schlössern, Gärten und

Straßen oder die Trockenlegung von

Sumpfgebieten waren einige der sichtba-

ren Zeichen der Inbesitznahme und des

Landausbaus in brandenburgisch-preußi-

scher Zeit. Eine Gründung von Universitä-

ten und anderen Wissenschaftseinrich-

tungen erfolgte nur in Einzelfällen – was

auch etwas mit der zunächst nur lang-

sam wachsenden Größe des Landes zu

tun hatte. In späteren Phasen wurden

derartige Institutionen in größerer An-

zahl errichtet. Ihre Gründung hatte kaum

zu überschätzende positive Fernwirkun-

gen, z. B. für die Integration der verschie-

denen Landesteile sowie die politische,

kulturelle und wissenschaftlich-techno-

logische Entwicklung.

Die Identitätsvorstellungen der Bürge-

rinnen und Bürger, die Identität und das

Leitbild des Landes sind selbstverständ-

lich nicht auf einen Teilbereich, wie be-

deutend er auch immer sein mag, einzu-

grenzen. Sie umfassen alle wichtigen Prä-

gungsaspekte. Für die kurzen Werbebot-

schaften ist allerdings eine – schwierige –

Auswahl zu treffen. Kultur, Wissenschaft

und Technologie, Offen-heit für das Neue

20

Page 21: perspektive21 - Heft 14

Wer sind die Brandenburger?

21

und für die Begegnung sind Bildfacetten

in der Darstellung eines vereinigten Lan-

des Berlin-Brandenburg, für die in Werbe-

texten noch geeignete Formulierungen

zu finden wären, auf die in der Sache, von

der Fläche wie von der Stadt her gesehen,

aber nicht verzichtet werden kann.

Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialde-

mokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Er war von 1994 bis 1999

Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt und von 1990 bis 1994 als

Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums in Brandenburg für Wissenschaft

und Forschung verantwortlich. Er ist Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des Moses-

Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und

des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in

Europa, Genshagen

Page 22: perspektive21 - Heft 14
Page 23: perspektive21 - Heft 14

23

1. EinleitungWir in Brandenburg. SPD – so warb die

brandenburgische Sozialdemokratie um

die Gunst der Wähler. Sie tat dies fast

immer mit dem Willen, Wahlen zu ge-

winnen, oft mit passablen Kandidaten,

manchmal mit guten Ideen, aber selten

mit einer festen Gewissheit darüber, was

das Wir in Brandenburg in seinem Inne-

ren ausmacht. Dieses Wir in Brandenburg

soll hier hinterfragt werden.

Für Fontane und seine Zeit schien diese

Frage einfach zu beantworten. Im Stech-

lin schildert er in einer kurzen, aber ein-

drucksvollen Passage die Begegnung des

Grafen und des alten Tuxen. Dubslav trifft

Tuxen, den alten Süffel von Dietrichs-

Ofen, auf der Heimfahrt am Ende des

Wahltags. Tuxen liegt angetrunken am

Wegesrand. Dubslav hilft ihm und nimmt

ihn ein Stück des Weges mit. Während

der Fahrt will nun der alte Stechlin wis-

sen, wen denn Tuxen gewählt habe. Die-

ser berichtet, dass er für den Sozialdemo-

kraten Torgelow gestimmt habe. Darauf-

hin lacht Dubslav: „Für Torgelow, den

euch die Berliner hergeschickt haben. Hat

der denn schon was für euch getan?“

Tuxen: „Nei, noch nich.“ Dubslav: „Na,

warum denn?“ Tuxen:„Joa, se saggen joa,

he will wat för uns duhn un is so sihr för

de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa’n

Stück Tüffelland.“

Also fragen wir: Was ist denn nun das

„Tüffelland“ der modernen brandenbur-

gischen SPD? Ist die brandenburgische

SPD überhaupt noch in der Lage, einer

ausreichenden Anzahl von Menschen

glaubhaft zu versichern, dass sie ihnen

hilft, ihr Stück „Tüffelland“ zu bekom-

men? Es ist ein durchaus lohendes und

notwendiges Unterfangen, in unserer

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland*Gedanken über Identität und Sozialdemokratie in Brandenburgvon Christian Maaß, unter Mitarbeit von Madeleine Jakob**

* Der Titel wurde von einem Artikel des Autors aus dem „Roten Broiler“, dem ehemaligen Rund-

brief der Jusos Brandenburg, übernommen (Jg. 3 – Nr. 2 – April 1997, S. 6). Die Anregung dazu

gab Robert Leicht mit seinem Beitrag „Ein See spiegelt die Welt“ im ZEIT-Magazin Nr. 14 auf den

Seiten 14 ff am 28. März 1997.

** Für die intensive Unterstützung bei der Endredaktion danken wir Frau Claudia Radünzel.

Page 24: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

24

Zeit erneut Antworten auf diese Frage zu

suchen1. Neben vielen Gründen sei an

dieser Stelle darauf verwiesen, dass sich

„mangelndes Profil nicht dauerhaft

durch populäre Spitzenkandidaten erset-

zen“ lässt, die „eher einen Glücksfall“

(Stöss 2001, S. 31) denn einen Dauerzu-

stand darstellen. Somit stellt sich die

Frage, was denn nun Wir in Brandenburg

bedeutet und wie es die SPD den Wähle-

rinnen und Wählern erfolgreich vermit-

teln kann, trotz Matthias Platzeck für die

Zeit nach Hildebrandt und Stolpe um so

intensiver. In dem folgenden Beitrag wird

die Frage jedoch nicht aus der Sicht der

Wählers, sondern aus der der Partei

behandelt. Was denkt die SPD, dem Land

und seinen Menschen geben zu können

und zu wollen? Hat sie eine Gewissheit

darüber, für wen sie sich einsetzt? Nach-

folgend wird davon ausgegangen,dass es

hierfür keine hinreichenden Antworten

gibt.2

Der Artikel beschäftigt sich dabei ganz

ausdrücklich nicht mit materieller Poli-

tik3, sondern mit der Vermittlung von

Werten, Sinnstiftungen und Gefühlen,

letztendlich einer Identität. Somit soll er

einen Beitrag zur Suche nach einem Halt

in der unruhigen See einer gehetzten und

von Undurchschaubarkeit geprägten Zeit

leisten. Postman spricht in diesem

Zusammenhang von Erzählungen, die

„Ideale aufstellen, Verhaltensregeln vor-

geben, die Quellen von Autorität benen-

nen und durch all dies eine Dimension

von Kontinuität und Sinnhaftigkeit

erzeugen.“ (Postman 1999,S. 127).Von die-

ser Identität wird angenommen, dass sie

eine doppelte Bindungswirkung entfal-

ten soll, sowohl innerhalb der Partei als

1 Damit knüpft der Beitrag an eine Diskussion an, die bereits im letzten Heft der perspektive 21

sowohl in den Beiträgen von Stöss als auch von Dittberner angestoßen wurde. Stöss 2001, S. 17:

„Eine langfristig aussichtsreiche Position im Parteienwettbewerb setzt mithin vor allem ein

klares (und beständiges) politisches Profil voraus, …, das die Integrationskraft der Parteien

stärkt…“

2 Dies bestätigen eher die Aussagen, die sich im Landtagswahlprogramm „Es geht um Branden-

burg“ aus dem Jahr 1999 finden.„Brandenburg ist ein traditionsreiches Kulturland. … Branden-

burg ist geprägt durch den Geist von Sanssouci:Toleranz und Achtung vor der Würde des Men-

schen prägen unser Handeln.“ (SPD-Landesverband Brandenburg 1999, S. 95). Trotz des Wis-

sens um die begrenzte Qualität von Wahlprogrammen ist die sprachliche Nähe zum „Geist von

Potsdam“ zu beachten, und rein vom Ablauf der Geschichte bleibt unklar, inwieweit die spezi-

elle preußische Toleranz,die sich insbesondere nicht mit dem Geist,sondern Edikt von Potsdam

(1685) verbindet, einem „Geist von Sanssouci“ (1745 errichtet) zugeordnet werden kann.

3 Obwohl angesichts einiger Kriterien der Erfolg der materiellen Politik in Brandenburg durchaus

in Frage zu stellen ist. Hier sei u. a. auf die sehr hohe Zahl rechtsextremer Straftaten und das

geringe Wirtschaftswachstum im Land hingewiesen.

Page 25: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

25

auch nach außen. Nach innen vor allem

deshalb, weil auch im nun zweiten Jahr-

zehnt nach Wiedergründung die in

hohem Maße Verantwortung tragende

SPD in Brandenburg mitunter eher dispa-

rat als homogen wirkt. Klare Grundwerte

und ein tragfähiges Grundverständnis

über politische Herkunft, Ziel usw. sind

nur in Umrissen zu erkennen. Eine ein-

deutige sozialdemokratische Verortung

einiger verantwortlicher Akteure in der

SPD scheint schon angesichts ihrer Ent-

wicklungs- und Karrierewege fraglich. Ein

Grund hierfür ist der in der Zeit bis ca.

1993/1994 in vielen Fällen mögliche

schnelle Aufstieg in Spitzenpositionen in

Partei, Landtag und Landesregierung bei

oft gleichzeitigem Fehlen sinnvoller

und funktionierender Auswahlverfahren.

Dass eine Wirkung nach außen erforder-

lich ist, zeigte insbesondere die Fusions-

abstimmung und das Ergebnis der letz-

ten Landtagswahlen. Beide offenbarten

eine begrenzte Bindungskraft der Partei

in die Bevölkerung hinein, trotz der

äußerst populären Spitzenpolitiker Hilde-

brandt und Stolpe.4

Erschwerend kommt die Lage im Land

hinzu. Sie ist gekennzeichnet durch große

Herausforderungen in Form einer Kom-

plexität und Fülle wirtschaftlicher und

gesellschaftlicher Probleme, die immer

wieder die begrenzte Problemlösungs-

kompetenz des politisch-administrativen

Systems aufzeigen. Darüber hinaus ist

auch für Brandenburg von einem Werte-

wandel bzw. dem Verlust alter Werte und

i. F. der Suche nach neuen und zeit-

gemäßen Werten auszugehen. Dies ist

u. a. Teil des generellen Prozesses des

Wertewandels und Werteverlustes, der in

westlichen Staaten zu verzeichnen und

Ergebnis des Transformationsprozesses

ist. Diese Suche endet in Brandenburg

nicht nur für junge Menschen des öfteren

in der Sackgasse von Desorientierung

und/oder rechter Gesinnung. Die sich

hieraus ergebenden Probleme für die

Entwicklung einer Identität mit hoher

Bindungswirkung stellen zugleich eine

große Herausforderung dar und verdeut-

lichen die Notwendigkeit eines solchen

Unterfangens. Gelingt es den demokrati-

schen Kräften nicht, ausreichend Bin-

dungswirkung zu entfalten, droht ein

4 Vielleicht erübrigt sich diese Debatte, wenn über Manfred Stolpe hinaus gedacht wird.Wer ist

dann in der Lage, sich aktiv und glaubwürdig in diese Identitätsarbeit einzubringen und wer

könnte die notwendige gesellschaftliche Bindungswirkung entfalten? Wo sind die bestim-

menden Kräfte in der SPD Brandenburgs (Landräte, Landtagsabgeordnete, Minister usw.), die

dazu in der Lage sind? Überwiegen die Gründungsväter – wie so oft in der Politik gibt es auch

hier wenige Mütter – mit ihrem religiös bestimmten Hintergrund oder die bald nachgerückte

eher technisch orientierte Intelligenz, die in der DDR zumeist in der zweiten Reihe stand und

nur wenig an historischem Kontext mitbringt. Wie kann die SPD nach Stolpe binden?

Page 26: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

26

noch größerer Einfluss rassistischer und

sonstiger antidemokratischer Strömun-

gen.

Angesichts der Beschaffenheit der The-

matik versteht sich der Beitrag ganz

bewusst als Versuch, auch um methodi-

sche und inhaltliche Mängel von vornher-

ein einzugestehen,5 zudem findet die

Objektivität bei diesem Thema ihre Gren-

zen in sicher vorhandenen Geschichtspo-

litischen Prädispositionen des Autors.

Dieses Bild ist darüber hinaus zutreffend,

da aufgrund der Fülle des Materials6

lediglich ein Bruchteil, zudem subjektiven

Auswahlkriterien unterliegend, herange-

zogen werden kann. Folgende „Versuchs-

anordnung“ ist vorgesehen: Nach der

Klärung der Grundlagen (Begriffe) und

möglichen Quellen von Identität7 erfolgt

eine Auseinandersetzung mit diesen

Quellen, um abschließend darauf auf-

bauend die Konturen einer Identität8 der

Brandenburgischen Sozialdemokratie zu

umreißen.

2. Grundlagen – Begriffe,Rahmen- und Randbedingungen

2.1 Begriffe: Identität, Werte,Wertewandel

Für eine weitergehende und intensive

Beschäftigung mit dem Begriff Identität

– da in diesem Text gesellschaftliche Pro-

zesse im Vordergrund stehen, richtet sich

das Augenmerk auf kollektive Identität in

Abgrenzung zu persönlicher Identität –

wird auf die entsprechende soziologi-

sche, psychologische und politikwissen-

schaftliche Literatur verwiesen. Hier

erfolgt nur eine kurze Annäherung an die

zentrale Begrifflichkeit des Textes:

Brauchbar „erscheint ein politikwissen-

schaftliches Verständnis von kollektiver

Identität als Konstanz von Institutionen

und Symbolen staatlicher verfasster

Großgesellschaften, deren prekäre Ver-

mittlung mit den Chancen personeller

Identität jeweils historisch zu analysieren

ist.“ (Gerdes 1989, S. 348). Dieses Konzept

bietet sich insofern an, als aufgrund der

Neugründung des Landes Brandenburg

nach „Preußenschlag“, Gleichschaltung

5 Dies ist um so notwendiger, da den Autoren die ansonsten angebrachte Distanz zum For-

schungsobjekt fehlt und somit immer eine diffizile Balance zwischen empirischen Befunden

und präskriptiven Aussagen herzustellen ist.

6 Dies gilt sowohl für die kaum mehr zu überschauende Literatur zum Thema Preußen als auch

das zunehmend umfangreiche Material zur (ostdeutschen) Identität.

7 Nicht aufgriffen wird im Rahmen dieses Beitrags die speziell über ostdeutsche Identität

geführte Debatte. vgl. dazu u.a. Woderich 1999 und Reißig 1999.

8 Vgl. zum Zusammenhang zwischen beiden Identitäten u.a. Wolff-Poweska 1998, S. 27 f.

Page 27: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

im Nationalsozialismus und demokrati-

schem Zentralismus in der DDR Institu-

tionen zahlreichen Brüchen und Verände-

rungen unterlagen, an Symbolen jedoch

mehr als reichlich vorhanden ist.

Für Hettlage sind kollektive Identitäten

u.a. Antworten auf historisch wechselnde

Umstände, in ihrem Konstruktionsvor-

gang werden bestimmte gemeinsame

Merkmale ausgewählt (vgl. Hettlage

1998, S. 15). Er spricht in diesem Zusam-

menhang auch von einem Selbstkonzept,

vom kollektiven Selbst. „Kollektive Iden-

titäten sind daher ‚imaginierte Gesell-

schaften’ und verweisen als solche auf

einen politisch-gesellschaftlichen Diskurs

zugunsten einer räumlich oder kulturell

definierten Gruppe und deren soziale

Handlungsbedingungen.“ (ebenda).

Für Identität und die Herausbildung

von Identität wird weiterhin davon aus-

gegangen, dass es sich hierbei um einen

Prozess und nicht um etwas Statisches

handelt. Veränderungen im Sinne von

Neugestaltung/Gewinnung von Identitä-

ten – „generationsweise neu erfinden“

(Hettlage 1998, S. 15) – auf der einen und

auch ein Verlust derselben auf der ande-

ren Seite sind möglich. „Das kollektive

Selbst ist kein automatisches Ergebnis

objektiver Lagen und Bedingungen …,

sondern wird erst durch einen Artikula-

tionsprozess zur Wirklichkeit. Es ist ein

Konstruktionsvorgang insofern, als Grup-

pendarstellungen der Formulierung

durch bestimmte (kollektive) Akteure

bedürfen, diese Selbstdefinitionen eine

Gruppenakzeptanz finden müssen (Ver-

innerlichungsprozess) …“ (ebenda). Hier

werden also Chancen und Potentiale für

die Gestaltung von Identitäten gesehen.

Die Brandenburgische Sozialdemokratie

soll unter Beachtung bestimmter Gren-

zen eine aktive Rolle im Formulierungs-

prozess einer Identität übernehmen.

Diese Grenzen ergeben sich zum einen

aufgrund der realen Möglichkeiten der

Beeinflussung durch eine Partei in unse-

rer Mediendemokratie.Zum anderen sind

u.a. mit Hinweis auf die Praxis in der DDR

in einem demokratischen Staat solcher

„Beeinflussung“ enge Grenzen gesetzt.

In welchem Umfang steht einer politi-

schen Partei in einem demokratischen

Staat eine solche Geschichts- und Iden-

titätsarbeit zu? Wo liegen vor allem die

Grenzen zur Manipulation? Nun erreichte

die DDR nicht die von Orwell so düster

beschriebene Qualität in der Umdeutung

von Geschichte, wie sie in totalitären

Systeme anzutreffen ist und in der

Sowjetunion Stalins in der wiederholten

Bearbeitung von Fotos und Umbenen-

nung u.a. von Städten eine groteske

Intensität annahm. Insbesondere der Ver-

such der Vereinnahmung von Luther und

Preußen durch die DDR nach vorheriger

Ablehnung – für Preußen galt sicher auch

27

Page 28: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

28

Bekämpfung – zeigt, welche Beweglich-

keit im Umgang mit der Vergangenheit

erreicht wurde, wenn es nur in das

Machtkalkül der SED passte bzw. von ihr

als wichtig und notwendig zur Herr-

schaftssicherung angesehen wurde.9 10

Es kann hier also nicht darum gehen, ein

soziales Konstrukt ausschließlich zur

Herrschaftssicherung einer Partei zu

schaffen. Dabei sind die Übergänge zwi-

schen unzulässiger parteipolitischer Akti-

vität und aus normativ-demokratischer

Sicht (noch) erlaubter „Bindungsarbeit“

durchaus fließend,zudem bspw. Hettlage

davon ausgeht, dass „erfolgreich ge-

rahmte Identitätsarbeit“ darin besteht,

„den Konstruktcharakter in den Zustand

einer Naturgegebenheit zu verwandeln

und damit zu verhüllen.“ (ebenda).

Im Zusammenhang mit dem Begriff

Identität ist der Begriff Wert(e) kurz zu

beleuchten, zumal „für verbindlich gehal-

tene Werte“ zu den Baumaterialien kol-

lektiver Identitäten gehören (vgl. Hett-

lage 1998, S. 15). Dies vor allem hinsicht-

lich der daran anknüpfenden Beobach-

tung von Wertewandel bzw. Wertever-

lust.11 Wert, darunter versteht man „ins-

besondere dauerhafte Orientierungen

des Individuums in bezug auf das sozial

Wünschenswerte; in diesem Sinne besit-

zen Werte verhaltenssteuernde, aus Ver-

haltensalternativen auswählende Funk-

tion.“ (Kaase 1989, S. 1142). Anders formu-

liert heißt das: „Wert ist vor allem dann

ein Grundbegriff sozialwissenschaftli-

cher Forschung, wenn angenommen

wird, dass die dauerfähige Koordination

und Integration gesellschaftlichen Han-

delns auf der festen Geltung und breiten

Anerkennung generalisierter Präferenz-

kriterien beruhe und dass insbesondere

der Zusammenhalt ganzer Gesellschaf-

ten von einem stabilen Konsens über die

dominanten Werte bzw. das dominante

Wertsystem abhänge.“ (Weiß 1989, S.

1139). Nach Inglehart vollzieht sich in den

westlichen Industriegesellschaften ein

Wertewandel weg von materialistischen

hin zu postmaterialistischen Werten. Kla-

ges geht von einem Wandel von Pflicht-

und Akzeptanz- zu Selbstentfaltungs-

und Engagementwerten aus. Dabei steht

hier nicht zur Debatte, ob sich diese

Trends so auch in Gänze in der DDR voll-

9 Vgl. dazu insbesondere Zimmering 2000, S. 301 ff.

10 Stolpe verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf die Serie „Sachsens Glanz und Preußens

Gloria“ des Fernsehens,die nicht die erhofften Wirkungen zeigte (Stolpe 1997,S. 88).Wenn auch

an dieser Stelle etwas abseitig, doch nicht ohne gewisse Ironie lässt sich nach dem program-

matischen Auftrag des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) fragen, der insbesondere

im Feiertagsprogramm wieder gern auf diese Produktion zurückgreift.

11 Siehe dazu u.a. die einschlägigen Schriften von Inglehart und Klages.

Page 29: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

29

zogen. Für diesen Beitrag ist insbeson-

dere die verhaltenssteuernde Wirkung

der Werte von Bedeutung. Wenn für Teile

der Bevölkerung Brandenburgs von einer

Desorientierung, von einem Wertverlust

ausgegangen wird, besteht ein normativ

betrachtet gefährliches Vakuum. In die-

ses Vakuum scheinen in Brandenburg

rechte Kräfte durchaus „erfolgreich“ vor-

zudringen. Insofern ergibt sich für die

SPD der Auftrag zur Werte- und Identi-

tätsarbeit, um möglichst viele Branden-

burger in eine demokratisch definierte

Identität einzubinden.

2.2 Rahmen- und RandbedingungenZum einen stellt sich die Frage, ob

angesichts der durchaus wahrscheinli-

chen Fusion mit Berlin überhaupt eine

eigene/eigenständige brandenburgische

Identität notwendig ist. Inzwischen gibt

es Prognosen, die davon ausgehen, dass

der Anteil der ehemaligen Berliner an der

Umland-Bevölkerung bis 2015 auf 40 bis

50% ansteigen wird, die Grenzen verwi-

schen sich. Nicht nur aus eher subjektiver

Sicht erscheint ein vorsichtiges Ja ange-

bracht. Im Anschluss an eine Fusion brau-

chen die ehemaligen brandenburgischen

Teile des neuen Bundeslandes ein ausrei-

chendes Selbstbewusstsein, eine starke

Identität, um eine aktive Rolle spielen zu

können, die über die des Versorgungshin-

ter-, Erholungs- und Wohnumlands der

Metropole hinausgeht. Die hier skizzier-

ten Quellen einer brandenburgischen

Identität bieten zudem vielfältige An-

knüpfungspunkte für eine gemeinsame

Identität in einem neuen, gemeinsamen

Bundesland Brandenburg-Berlin.

Bevor im einzelnen auf die zumindest

ambivalente Vergangenheit Preußens

eingegangen wird, im Vorfeld eine allge-

meine, eher landsmannschaftlich be-

gründete Bemerkung: In Bayern würde es

niemand verstehen und hinnehmen,

wenn sich ein der politischen Klasse an-

gehörender Akteur intensiv von der bay-

erischen Geschichte absetzen und diese

als Wurzel für die eigene Identitäts-

findung und -bildung ausschließen wü-

rde.12 Das mag ebenso gelten für die

Baden und Schwaben und die vom Hause

Hannover bestimmten Gebiete im heuti-

gen Niedersachsen. In den neuen Bun-

desländern ist eine Rückbesinnung auf

die Geschichte vor allem in Sachsen13 und

12 Weder die aus gesamtdeutscher Sicht problematische Zusammenarbeit mit dem Frankreich

Napoleons stellt hierfür aus bayerischer Sicht einen Grund dar noch die – und diese wiegt wohl

geschichtlich deutlich schwerer – antidemokratische Haltung während der Weimarer Repu-

blik, die in der Duldung, wenn nicht Unterstützung der NSDAP und Hitlers gipfelte.

13 An dieser Stelle sei der mehr oder weniger ironisch gemeinte Hinweis gestattet, dass insbe-

sondere die sächsische Mundart spätestens seit Walter Ulbricht ganz eindeutig diskreditiert

ist.

Page 30: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

30

in Thüringen zu erkennen.

Warum darf dann nicht Brandenburg

zurückgreifen, auch auf den Teil seiner

preußischen Geschichte?

3. Quellen einer Identität der SPD Bran-denburg

In diesem Artikel wird von drei wesent-

lichen Quellen14 der Erzählung der bran-

denburgischen SPD ausgegangen, die

jedoch auf eine vielfältige Art und Weise

miteinander verwoben sind. Zum einen

ist das die brandenburgisch-preußische

Geschichte allgemein. Zum zweiten ist

es das sozialdemokratisch geprägte

Preußen der Weimarer Republik und drit-

tens der sozialdemokratische Widerstand

in Brandenburg/Preußen, hier exempla-

risch in der Gestalt von Hermann Maaß.

Dass sich ein sozialdemokratischer

Widerstandskämpfer gegen das NS-

Regime als Quell einer Identität anbietet,

ist auf den ersten Blick einsichtig, inwie-

weit dies auch für die beiden erstgenann-

ten gilt, wird im nächsten Abschnitt her-

auszuarbeiten sein.

3.1 Brandenburgisch-preußischeGeschichte als Quell der Identitätder SPD Brandenburg

Brandenburg und PreußenEs gibt kein Preußen mehr. Mit Bran-

denburg und Berlin gibt es (noch?) zwei

Bundesländer auf dem Territorium der

Mark Brandenburg.15 Mit welcher Be-

rechtigung kann sich Brandenburg auf

Preußen beziehen, sich brandenburgi-

sche aus einer preußischen Tugend spei-

sen? In welchem Verhältnis stehen Bran-

denburg und Preußen? Welcher Anteil an

Preußen und an der Erinnerung an

Preußen bleibt für Brandenburg? Bei

Siedler heißt es schlicht:„Brandenburg ist

alles, was von Preußen übrig geblieben

ist“ (Siedler 2000, S. 25). Die Mark, das

Land Brandenburg sind preußisches

Kernland. Siedler schreibt dazu: „… das

Land Brandenburg mit seiner neuen

Hauptstadt Potsdam … ist also sehr alt

und, wenn man es genau betrachtet, viel

älter als das glanzvolle Preußen …“ (Sied-

ler 2000, S. 26). Am Beginn von Preußen,

einer Entwicklung, die Brandenburg/

Preußen bis ins 19. Jahrhundert hinein zur

14 Als Untergliederung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist ein allgemeiner

wesentlicher Bezugspunkt für eine Identität der brandenburgischen SPD die Identität, die

Erzählung, die Werte und Symbole der gesamten Sozialdemokratie. Hierzu sei u. a. auf das

Grundsatzprogramm der SPD verwiesen. In diesem Beitrag geht es jedoch um eine spezielle

Identität der SPD in Brandenburg.

15 Mit der Altmark gehört ein weiterer Teil dieses preußischen Kernlandes heute zum Bundesland

Sachsen-Anhalt.

Page 31: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

31

europäischen Großmacht aufsteigen

ließ, stehen die Aufbauleistungen nach

dem gerade für Brandenburg verheeren-

den Dreißigjährigen Krieg. Der Große

Kurfürst erließ das Edikt von Potsdam

und besiegte die Schweden bei Fehrbel-

lin. Sein Sohn krönte sich als Friedrich III.

Kurfürst von Brandenburg zu Friedrich I.,

König in Preußen. Das Sanssouci Frie-

drichs des Großen steht in Potsdam, Fon-

tane setzte der Mark in seinen Wande-

rungen ein literarisches Denkmal.

Brandenburg hat neben Berlin als ein-

zig übriggebliebenes und zusammen-

hängendes territoriales Gebilde aus dem

preußisches Restbestand legitimen An-

spruch auf die Fortführung der preußi-

schen Traditionslinien. Anders als die

Rheinprovinzen oder ehemals welfischen

Territorien wurde die Mark nicht im Krieg

erobert oder Preußen als Ergebnis diplo-

matischer Händel zugesprochen. Hier

gab es keine widerstreitenden eigenstän-

digen Identitäten und keine Abwehrreak-

tionen gegen preußische Identität. Inso-

fern stehen für Brandenburg auch keine

alternativen Traditionslinien zur Verfü-

gung. Das bedeutet letztendlich nicht,

dass sich eine brandenburgische Iden-

tität nur auf Preußen bezieht. Wenn

jedoch davon ausgegangen wird, dass

Symbole eine zentrale Bedeutung für die

kollektive Identität besitzen, ist für Bran-

denburg wohl zuerst an die von Preußen

übernommenen Symbole zu denken.

Trotz aller schuldhaften Verstrickungen

und vielleicht als Wiedergutmachung für

die durch Preußen ertragenen Verluste

sollte Brandenburg selbstbewusst genug

sein, dieses Erbe in einer aufgeklärten Art

und Weise zu tragen und zu nutzen. „Die

Mark hat alles hervorgebracht … Es ist, als

ob sie sich dabei verzehrt habe. Nun ist

alles von ihr abgefallen, was ihr Bedeu-

tung, Glanz und wohl auch Unheimlich-

keit gab. Nun ist die Mark wieder auf sich

selber zurückgeworfen; Brandenburg ist

alles, was von Preußen geblieben ist.“

(Siedler 2000, S. 31). Somit kann davon

ausgegangen werden, dass eine Betrach-

tung brandenburgischer Geschichte und

Identität untrennbar mit der Preußens

verbunden ist.

Was kann, darf und soll von Preußenbleiben? 16

Was bleibt nun von Preußen und was

16 Ein gutes Spiegelbild für die Ambivalenz ist sicher die Entwicklung Fontanes – obwohl er die

furchtbaren Auswüchse in der NS-Zeit nicht mehr erleben musste –, der ohne Zweifel Preußen

in großer Zuneigung und Verehrung verbunden war und dennoch oder vielleicht gerade des-

halb die Entwicklung Preußens zum Ende des 19. Jh. intensiv kritisierte.

Page 32: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

32

darf aus sozialdemokratischer17 Sicht an-

gesichts der Sozialistenverfolgung unter

Bismarck, des Imperialismus der Wilhel-

minischen Ära, des Tages von Potsdam18,

der langwierigen Unterstützung des

Nationalsozialismuses durch alte preußi-

sche Eliten von und aus Preußen in eine

brandenburgische Identität mitgenom-

men werden? Es wird und kann auf diese

Frage keine einfache und undifferen-

zierte Antwort geben: „Schicksal und

Schuld, Glanz und Versagen, helles Licht

und dunkle Schatten liegen in der

Geschichte dieses Staates näher beiein-

ander, als wohl sonst bei historischen

Entwicklungen zu beobachten ist.“ (Scho-

eps 1997, S. 265). Dies gilt u. a. auch für die

Widerstandskämpfer des 20. Juli, sofern

sie aus preußisch-adligen Familien stam-

mten, von denen nach einem letzten Auf-

bäumen des alten Preußen „ganze Ge-

schlechter des preußischen Adels, die

bekannte Träger des alten Staates waren,

nahezu ausgerottet wurden. Aber auch

ihr Opfer ist wie vieles in der Geschichte

Preußens zu spät gekommen.“ (ebenda).

Insofern kann für die Debatte über Iden-

tität von einer „Doppelgesichtigkeit“

(Schoeps 2000, S. 8) ausgegangen wer-

den.

Große Teile der konservativen Elite

waren Feinde eines demokratischen

Deutschland und haben vor Hitlers

Machtergreifung mehr oder weniger in-

tensiv gegen die Weimarer Republik ge-

arbeitet.

Dies war der negative Höhepunkt einer

Entwicklung, deren Beginn schon viel

früher begann.19 Insofern ist bei der Frage

nach der Verwendung von preußischer

Geschichte und Symbolen immer die

Ambivalenz der Entwicklung zu beach-

ten, die eine allzu einfache Übernahme

des Überkommenen ausschließt. Den-

noch ist Brandenburg/Preußen zumin-

dest eine ambivalente Entwicklung zuzu-

17 Wenn hier der Sichtweise August Bebels („Preußen als Todfeind aller Demokratie“), Wilhelm

Liebknechts (er betrachtete die Auflösung dieses Staates als erstrangige historische Aufgabe)

– vgl. Craig 2001, S. 96 – und Franz Mehrings gefolgt würde, wäre die Frage wohl kurz und bün-

dig mit einem "Nichts" zu beantworten. "Das Hauptanliegen der historischen Darstellung

Preußens durch Mehring bestand zum einen darin, den reaktionären und fortschrittshem-

menden Charakter des preußischen Staates … nachzuweisen …" (Zimmering 2000, S. 310 f).

18 Vgl. dazu u. a. die Tagebucheintragung von Joseph Goebbels (verfertigt am 22.03.1933): „Der

große Tag von Potsdam wird unvergeßlich sein, in seiner historischen Bedeutsamkeit. … Die

Fahrt nach Potsdam geht von Berlin aus durch ewig jubelnde Menschenmassen. … und Gottes

Hand steht unsichtbar segnend über der grauen Stadt preußischer Größe und Pflicht.“

19 Vgl. hierzu die Diskussion über das Ende Preußens, u.a. bei Kroll, der die Jahreszahlen 1867/71,

1918/19 oder 1932 mit gewisser Berechtigung als „Sterbedaten“ Preußens stehen lässt. Ebenso

lesenswert wie nachvollziehbar ist die Argumentation Craigs, der hinsichtlich des Endes von

Preußen von einem Prozess spricht (vgl. Craig 2001, S. 10) und somit die Debatte um ein kon-

kretes Datum auflöst.

Page 33: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

33

billigen – Marion Gräfin Dönhoff spricht

in diesem Zusammenhang von Preußen:

Maß und Maßlosigkeit –, so dass sich hier

positive Elemente finden, die aufgegrif-

fen werden können.

Tugenden 20

Ist die Orientierung an Preußen insge-

samt kritisch zu hinterfragen, so gilt dies

ebenfalls für die preußischen Tugenden,

die nachfolgend jedoch als ein positives

Element verstanden werden,an die ange-

knüpft werden kann und soll.

Teilweise wird die Einschätzung ver-

treten, dass alle „Versuche zur Übertra-

gung „preußischer Tugenden“ auf das

nach gänzlich anderen – eben massen-

demokratischen – Prinzipien rechnende

politische System der Bundesrepublik

Deutschland“ (Kroll 2000, S. 223 f) zum

Scheitern verurteilt seien. Wohingegen

– im Gegensatz zu Zimmering – für die

DDR von einem stabilisierenden Mo-

ment ausgegangen wird. Als Begrün-

dung dafür wird auf die Ausrichtung

der Tugenden auf ein überpersönliches,

„die Einzelinteressen bündelndes Gan-

zes, auf den Staat und auf die Gemein-

schaft“ (Kroll 2000, S. 223) im Gegensatz

zur individuellen Selbstverwirklichung

im gesellschaftlichen Pluralismus mo-

derner Massendemokratien verwiesen.

In diesem Zusammenhang soll auf die

Ausführungen von Manfred Stolpe Be-

zug genommen werden, der sich dezi-

diert mit dem Verhältnis von individuel-

ler Freiheit und Selbstverwirklichung

und solidarischer Gesellschaft und

Chancengleichheit äußert und fordert,

sie auszubalancieren. So zitiert er zwar

Roman Herzog, der die Freiheit als

Schwungrad für Dynamik und Verände-

rung bezeichnet, führt aber fort: „Die

Kunst wird darin bestehen, das

Schwungrad in Bewegung zu bringen

und sich von ihm nicht überrollen zu

lassen.“ (Stolpe 1997, S. 191). Hier deutet

sich durchaus an, dass für Brandenburg

so etwas wie eine Symbiose zwischen

dem Ganzen, dem Staat, Werten wie

Solidarität usw. auf der einen und indi-

vidueller Freiheit auf der anderen Seite

gefunden werden kann und soll.21

20 Vgl. dazu u.a. von Dönhoff und Hirsch (vgl. S. 10):„Freiheit und Ordnung sind die Grundpfeiler,

auf denen sich das neue Preußen aufzubauen hat. Aus dem alten Preußen, das für alle Zeit

dahin ist, wollen wir in die Zukunft das hinübernehmen, was gut an ihm war: den schlichten

Geist ernster Pflichterfüllung und den Geist nüchterner Sachlichkeit. Durch eine schwere Zeit

muß unser Land hindurch. Das neue Preußen wird sich genau wie das alte wieder großhun-

gern müssen.“ (zit. nach Schoeps 1997, S. 256 f)

21 vgl. dazu auch von Dönhoff (1998, S. 50): „Sie alle, die großen Reformer, beschäftigte das Ver-

hältnis von Staat und Individuum. Es ging ihnen darum, den Staat, der bisher die erste Rolle

gespielt hatte, mit dem Individuum zu versöhnen … Sich der Individualität bewusst zu werden,

aber stets eingedenk zu sein, dass man auch Staatsbürger ist, war ihre Devise …“

Page 34: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

Dabei schlägt das Pendel nicht derar-

tig weit in Richtung individueller Frei-

heit, so dass ein Rückgriff auf preußi-

sche Tugenden anders als von Kroll

angenommen als möglich erscheint.

Gegen den Rückgriff spricht jedoch,

dass preußische Tugenden nicht nur im

Dritten Reich pervertiert worden sind –

schon Fontane setzt sich bspw. in Schach

von Wuthenow kritisch mit der Verwen-

dung des Ehrbegriffs auseinander –, den-

noch soll an dieser Stelle über sie nachge-

dacht werden. Entscheidend für den

Bezug auf preußische Tugenden ist ihre

Einbettung in einen Gesamtrahmen von

Werten und Normen. Bietet nicht der

große Wertekanon der deutschen und

auch der internationalen Sozialdemokra-

tie als sicherer Halt der brandenburgi-

schen Sozialdemokratie die Gewähr für

einen aufgeklärten und abgeklärten

Umgang mit preußischen Tugenden? Aus

dieser Verankerung sollte die Gewissheit

erwachsen, dass ein Rückgriff auf preußi-

sche Tugenden durch die SPD nicht in

einer unreflektierten Überhöhung der

Tugenden endet oder gar umschlägt in

eine Pervertierung und Ausnutzung für

aggressive und demokratiefeindliche

Zwecke.

Sachkunde, Strenge, Sparsamkeit,Pflichtethos

Um aus der armen und rückständigen

Mark einen aufstrebenden Staat zu for-

men, gründete sich Brandenburg/

Preußen auf Sachkunde, Strenge und

Sparsamkeit. Vor allem die Strenge

konnte leicht in Grausamkeit umschla-

gen, so im Fall der Hinrichtung des Freun-

des des Kronprinzen Friedrich, doch stel-

len sie an sich betrachtet nicht Maximen

dar, an denen auch heute eine Orientie-

rung möglich ist? Sind hierin nicht Anfor-

derungen zu sehen, die an die Partei und

die Landesregierung noch stärker als bis-

her gestellt werden sollten? Strenge und

Sparsamkeit sind nachgerade unabding-

bare Wertmaßstäbe für politisches Han-

deln in Brandenburg: Strenge in erster

Linie gegenüber den Feinden von Demo-

kratie und Menschlichkeit, Strenge ver-

bunden mit Konsequenz und einem kla-

ren Blick, der nicht durch politisches Kal-

kül und falsch verstandenen Konservati-

vismus verstellt diese Feinde links wie

rechts gleichermaßen sucht, um alte Vor-

urteile zu pflegen. Große Sachkunde

könnte ganz vorzüglich mit der Reform-

freudigkeit verbunden werden, die

Preußen u.a. in der Zeit des großen Kur-

fürsten, Friedrich Wilhelms I. und Frie-

drichs II. auszeichnete und eine Stärke

Preußens auch in Krisenzeiten darstellte.

So wurden neue Wege gesucht und

gegangen, statt ängstlich den Status quo

zu verteidigen. Beides wäre ein Gewinn

für die brandenburgische Sozialdemokra-

tie und ihr Wirken in Landesregierung

und Landtag. Eine Rückbesinnung ließe

34

Page 35: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

hier vielleicht an den Schwung anknüp-

fen, der die SPD in Brandenburg in den

sehr frühen 90er Jahren durchaus kenn-

zeichnete.

Konnte das preußische Pflichtethos

allzu leicht in übergroßen Gehorsam

umschlagen und fand in der Willfährig-

keit von Kriegsverbrechern einen negati-

ven Höhepunkt, so untergräbt das Fehlen

eines Pflichtethos das Funktionieren von

Politik und Verwaltung. Politische Verant-

wortung, politische Ämter verlangen

mehr an Einsatz als an Rücksicht auf die

eigene Person. Wird diese Sicht geteilt,

erweist sich der Fall von fehlender Sach-

kunde in Verbindung mit ebenfalls nur

unzureichend ausgeprägtem Pflichte-

thos als besonders problematisch. In der

politischen Praxis findet dies seine kon-

krete Ausprägung im Besetzthalten von

Ämtern, für die persönliche Eignung und

Anspruch nicht ausreichend vorhanden

sind.

ToleranzEin weiter positiver Ansatzpunkt

könnte die ausländischen Siedlern und

Religionsflüchtlingen gegenüber ge-

zeigte Toleranz sein. Krockow setzt sich

intensiver mit dieser Toleranz auseinan-

der. „Das preußische Problem war wohl

gleich von Anfang an, dass die Toleranz

„von oben“ auferlegt statt „von unten“

erstritten worden ist. Sie kam für die

Menschen von außen statt von innen, als

Sache nicht der Bürger, sondern der

Obrigkeit, der Kurfürsten und Könige; sie

wurde den Untertanen als ein »harter,

beinahe unbegreiflicher Zwang« aufer-

legt, sozusagen zur Probe ihres Gehor-

sams.“ (Krockow 1993,S. 49).Trotz der Ver-

ordnung, der Vernunft und Rationalität,

die ohne Zweifel (mit) konstituierend für

diese Toleranz waren, ist sie deshalb

abzulehnen? Wo gibt es heute so ver-

nünftige und weitsichtige politische Ent-

scheidungen? Wie steht denn die deut-

sche Politik heute zu dieser Frage? Verlief

die Integration nicht erfolgreich? War

nicht die Toleranz doch mehr als eine

„bloße“ Frage von Vernunft und dem Wil-

len, das eigene Land zu entwickeln? Kroll

spricht in diesem Zusammenhang von

der oft übersehenen Tatsache, „dass sich

Preußen niemals als Nationalstaat, son-

dern stets als ein die Ethnien übergreifen-

des, ja sie unter einer »höheren« Idee ziel-

bewusst aufhebendes bzw. integrieren-

des Staatswesen verstanden hat.“ Hieran

kann und sollte angeknüpft werden.

3.2 Sozialdemokratie im Preußen derWeimarer Republik

Zur Beantwortung der Frage, ob und in

welchem Umfang Preußen ein Aus-

gangspunkt für eine sozialdemokratisch

mitbestimmte Identitätsarbeit sein kann,

bietet sich ein Rückblick auf die Weimarer

35

Page 36: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

36

Republik an. Ist die Erinnerung an das Kai-

serreich nach 1871 mit der Bekämpfung

der Sozialdemokratie durch Bismarck ver-

bunden – am augenscheinlichsten durch

das Sozialistengesetz, das Gesetz „wider

die gemeingefährlichen Bestrebungen

der Sozialdemokratie“ –, spielt die SPD in

der Weimarer Republik in Preußen eine

entscheidende Rolle. Der Wandel hin zur

Staatspartei zeichnete sich bereits in den

letzten Monaten des ersten Weltkrieges

und im Übergang zur Weimarer Republik

ab. Schoeps spricht in diesem Zusam-

menhang von den sozialdemokratischen

Arbeitern, die „an die Stelle der alten

Führungsschicht getreten waren und

wegen der in ihr lebenden preußischen

Disziplin dieses Staatserbe weiterzu-

führen vermochten.“ (Schoeps 1997, S.

255).

Gegen die Rückbesinnung auf die

(preußische) SPD in der Weimarer Repu-

blik könnte die insbesondere von poli-

tisch (sehr weit) links stehenden Autoren

geäußerte Kritik sprechen.22 Der SPD

wird u. a. der Verrat an der Novemberre-

volution, eine (völlige) Fehleinschätzung

der politische Lage und Untätigkeit – u. a.

im Zusammenhang mit dem Preußen-

schlag –vorgeworfen.23 Diese Debatte

kann an dieser Stelle nicht weiter nach-

vollzogen werden.

Für den Rückgriff auf diesen Abschnitt

preußisch-deutscher Geschichte und vor

allem das Wirken der SPD und ihrer zen-

tralen Akteure spricht trotz aller Fehler ihr

Wirken in dieser Zeit.„Die Sozialdemokra-

tische Partei übernahm am Ende des

ersten Weltkrieges erstmals nationale

Regierungsverantwortung und begann

mit dem Aufbau des demokratischen

Sozialstaats.“ (SPD, S. 6). Letztendlich rieb

sie sich seit 1918 im Kampf für die Demo-

kratie auf und blieb am Ende die einzige

22 Dabei setzt die Kritik zumeist bereits bei der Haltung der SPD am Beginn des Ersten Weltkrie-

ges an. Im Grundsatzprogramm der SPD heißt es dazu: „Im ersten Weltkrieg enttäuschte die

sozialdemokratische Arbeiterbewegung Europas viele in der Hoffnung, sie könne den Frieden

erzwingen. Sie entzweite sich über das Verhältnis von nationalen und internationalen Aufga-

ben der Arbeiterklasse.“ (SPD, S. 6)

23 Besonders pointiert wurde diese Kritik von Leo Trotzki vorgetragen. Seine Äußerungen aus dem

Jahr 1932 (Leo Trotzki „Der einzige Weg“) werden u. a. deshalb aufgegriffen, da er sich auch

deutlich von der unter starkem Einfluss Stalins stehenden KPD Thälmanns absetzt und die

Argumentation trotz der sehr eindeutigen Sprache differenzierter und weitsichtiger war als

u. a. die in der DDR gegen die SPD vorgebrachte.Trotzki:„Die Sozialdemokraten gaben das pas-

sive Zurückweichen vor dem Faschismus als Kampf gegen den Faschismus aus.Z,„“… sozialde-

mokratische Minister erledigt man mit einem Nasenstüber“,„ … ein beträchtlicher Teil [sozial-

demokratischer Funktionäre, d.Verf.] wird sich in der Stunde der Gefahr unters Bett verkrie-

chen.“

Page 37: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

37

demokratische Kraft der Weimarer Repu-

blik.24 Es war Otto Wels für die SPD, der

als einziger Redner die Stimme gegen das

Ermächtigungsgesetz erhob.25 Die SPD

hatte sich dem Faschismus nicht erfolg-

reich in den Weg stellen können, die

Schuld für den Faschismus tragen jedoch

andere. Waren Bebel und Wilhelm Lieb-

knecht noch dezidiert antipreußisch (vgl.

Fn. 17), so zeichnete sich eine deutliche

Hinwendung zu Preußen bereits beim

ersten von der SPD gestellten Minister-

präsidenten in Preußen, Paul Hirsch, ab. Er

eröffnete die Sitzung des preußischen

Parlaments am 13. März 1919 u.a. mit fol-

genden Äußerungen: „Preußens Aufga-

ben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist

von Freiheit, der Arbeit und der Ordnung

gestützt, soll es noch einmal der deut-

schen Nation und ihrer künftigen friedli-

chen Größe dienen. Preußens beste

Eigenschaften,Arbeitsamkeit und Pflicht-

treue, braucht das neue deutsche Reich

zum Wiederaufbau. Das alte Preußen ist

tot, es lebe das neue Preußen.“ (zit. nach

Schoeps 1997, S. 256).

Im Jahr 1920 wurde Otto Braun preußi-

scher Ministerpräsident und blieb es bis

1932.„Er wurde der stärkste Exponent des

neu erwachten, freilich auch stark mit

parteipolitischen Interessen verbunde-

nen preußischen Selbstbewusstseins

traditionellen Stils. … Der Musterstaat

Preußen war in dieser Zeit die feste

Bastion der demokratischen Republik …“

(Schoeps 1997, S. 257 f). Gegen eine einsei-

tige parteipolitische Ausrichtung zugun-

sten der SPD spricht jedoch schon die

Zusammensetzung der Koalitionsregie-

rung in Preußen (zumeist SPD, Zentrum

und Deutsche Demokratische Partei

[DDP]). Eine Figur wie Otto Braun eignet

sich aufgrund ihrer Persönlichkeit beson-

ders als Identifikationsfigur. Craig be-

schreibt ihn u.a. als einen Preußen „rein-

sten Wassers“ (Craig 2001,S. 98),gradlinig

und mit der Fähigkeit ausgestattet, sich

über „dogmatisches Parteidenken zu er-

heben“ (a. a. O., S.112). Eine weitere inter-

essante Persönlichkeit der SPD der Wei-

marer Republik war der preußische

Innenminister und langjährige Berliner

24 Die SPD stand an der Spitze der demokratischen Kräfte, die – die Einschätzung der besonderen

Ambivalenz Preußens aufgreifend – auf der lichten Seite Preußens standen. Sie kämpften

ebenso konsequent für den Erhalt Preußen, wie sie sich gegen die reaktionären Kräfte – die

dunkle Seite Preußens – wandten. Letztendlich scheiterte das Projekt „demokratisches

Preußen“ unter den permanenten Angriffen reaktionärer und später nationalsozialistischer

Kräfte, in Teilen aber auch an der mangelnden Stärke der SPD, in krisenhaften Situationen

schnell und konsequent auf politische und gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren.

25 u.a.:„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich

zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialis-

mus.“

Page 38: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

38

Polizeipräsident Albert Grzesinski, der

ebenfalls zu den mutigen Verteidigern

der Republik zählte.26 Insbesondere seine

Entschlossenheit und sein politischer

Durchsetzungswille ließen ihn zu einem

der wichtigsten sozialdemokratischen

Politiker dieser Zeit werden. Braun, Grze-

sinski und andere verantwortliche sozial-

demokratische Politiker stellten sich

gegen das Zusammenspiel republikfer-

ner konservativer Eliten mit völkischen

Massen, gegen das Bündnis von Papen

und dem konservativen Bürgertum mit

der zutiefst menschenverachtenden NS-

Bewegung (Albrecht 1999, S. 357, 359). Die

Sozialdemokratie in Preußen hat die Ver-

antwortung dafür übernommen, die

demokratische Republik gegen alle

Widerstände zu gestalten und zu ver-

teidigen. Sie trat dabei an die Stelle eines

nicht mehr existenten parteipolitisch

organisierten fortschrittlich-liberalen

Bürgertums (Albrecht 1999, S. 358). Braun,

Grzesinski und ihre Mitstreiter bieten

sich in besonderer Weise als Vorbilder für

die heutige SPD an. Hierfür scheint der

SPD in Brandenburg jedoch zweierlei zu

fehlen: zum einen das Wissen um die

eigene Geschichte und zum anderen das

notwendige sozialdemokratische Selbst-

bewusstsein oder der Wille, diese sozial-

demokratisch-preußischen Figuren aus-

reichend zu würdigen. Dazu wäre es

erforderlich, sich innerhalb der SPD viel

stärker mit der Sozialdemokratie und

ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.

Hierzu scheint in Teilen jedoch Kraft

und/oder Wille zu fehlen. Überhaupt

lässt sich in Teilen der SPD-Brandenburg

eine merkwürdige Distanziertheit zu den

Wurzeln und der Geschichte der Sozial-

demokratie feststellen.

Ein Rückgriff auf solche Vorbilder ver-

deutlicht zudem, dass Preußen weit

mehr war als nur die Hohenzollern und

die – um die dunkle der beiden preußi-

schen Seiten zu nehmen – reaktionären

ostelbischen Junker, die mit ihrem „Egois-

mus und Materialismus und ihrem

leichtfertigen Taktieren“ (Craig 2001, S.

119) entscheidend zum Untergang

Preußens beitrugen.

26 Vgl. grundlegend zu Grzesinski: Albrecht, Thomas (1999): Für eine wehrhafte Demokratie. Alb-

recht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik. Bonn. Neben seiner

Bedeutung für die uns im Rahmen dieses Artikels vor allem interessierende Frage des „sozial-

demokratischen“ Preußen als Ausgangs- und Ansatzpunkt für eine Identitätsbildung inner-

halb der brandenburgischen SPD ist Grzesinski deshalb wichtig, da er um die besondere

Bedeutung der öffentlichen Verwaltung für den Erfolg sozialdemokratischer Politik nicht nur

wusste, sondern auch dafür kämpfte. Dieses Wissen und Handeln Grzesinskis bietet ein bisher

nur unzureichend erreichtes Vorbild für eine Vielzahl heute in Landtagsfraktion und Landesre-

gierung Verantwortung tragender Akteure.

Page 39: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

39

3.3 Hermann Maaß – Beispiel einesWiderstandskämpfers gegen denNationalsozialismus

Vor allem in den schweren Stunden der

deutschen Geschichte war es die SPD, die

sich zu (ihren) Grundwerten, zu ihren

Erzählungen bekannte. Exemplarisch da-

für steht u. a. die bereits erwähnte Rede

von Otto Wels zur Ablehnung des Er-

mächtigungsgesetzes. Nicht minder

interessant und vor allem wegen des

direkten geographischen Bezugs von

Bedeutung sind das Wirken und die Äuße-

rungen des Widerstandskämpfers Her-

mann Maaß,27 28 der seit 1928 in Babels-

berg wohnte und an den zumindest noch

der Straßenname erinnert.29 Dieser eher

formale Grund stellt jedoch eher den

Anlass als den Grund für den exemplari-

schen Rückgriff auf einige zentrale Ideale

Hermann Maaß’ als weitere Quelle einer

sozialdemokratischen und darüber hin-

aus brandenburgischen Identität dar. Für

diese Ideale stand er ganz, mit seinem

Leben ein. Aus dieser letzten Konsequenz

seines Kampfes gegen nationalsozialisti-

sche Gewaltherrschaft, für Demokratie

und Sozialismus wird er zum Vorbild für

die brandenburgische Sozialdemokratie,

gewinnen seine Ansichten eine beson-

dere Bedeutung.

Hermann Maaß stand für eine politi-

sche Haltung, die nicht die eigene Ver-

wirklichung bzw. den persönlichen Ma-

chtzuwachs in den Mittelpunkt stellte:

„Ich habe zuweilen gezweifelt, ob das

Politische oder Staatsmännische ganz das

treffen könnte, was ich als Erfüllung mei-

nes Wesens suchte. Das Machtmäßige

hat nie magnetisch auf mich gewirkt,

denn ich wusste um seine Vergänglich-

27 Hermann Maaß (23.10.1897 – 20.10.1944), bis 1933 Geschäftsführer im Reichsausschuss der

deutschen Jugendverbände, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalso-

zialismus, ermordet in Plötzensee unmittelbar nach seiner Verurteilung durch den Volksge-

richtshof aufgrund seiner Einbindung in den Kreis der Attentäter des 20. Juli. vgl.

Grabner/Röder (Hrsg.) 1997.

Die Konzentration auf eine Person des Widerstands gegen den Nationalsozialismus stellt eine

völlig unzulässige Verkürzung dar, sie ist jedoch aufgrund des Umfangs des Beitrages und der

Bedeutung, die den Anschauungen von Hermann Maaß zugemessen werden nicht zu vermei-

den.

28 Hermann Maaß steht zudem exemplarisch für das Leben preußischer Tugenden. Er blieb an

seinem Platz, ging trotz zweier Angebote – eines von der Harvard University und eines aus der

Schweiz – nicht ins Ausland, sondern wählte den Weg des Widerstandes in Deutschland. Zu

seinem Wesen gehörte, alles Unwesentliche, Unwahre und Unechte abzulehnen und konse-

quent seinen Weg zu gehen (vgl. Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S. 20).

29 Es scheint, dass es viel mehr an Erinnerung nicht mehr zu geben scheint. Die geringe Resonanz

der Potsdamer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag von Hermann Maaß passte sich

wohl gut in das Gesamtbild ein. So berichtete seine älteste Tochter von der Tatsache, dass die

SPD die Erinnerung an Hermann Maaß „so gut wie gar nicht“ wachhalten würde.

Page 40: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

40

keit.“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 12).

Insofern eignet er sich durchaus als Vor-

bild für die politische Klasse Branden-

burgs. Ohne die Bedeutung persönlichen

Ehrgeizes als Quell für die politische

Arbeit zu verkennen, werden hier doch

Relationen zurechtgerückt: hin zu einem

Mehr an Pflichterfüllung30 – dies bezieht

sich sowohl auf die persönlichen Voraus-

setzungen, d.h. die Qualifikation des Ein-

zelnen für das Amt, das er/sie anstrebt

oder ausfüllt, als auch die Ausübung des

Amtes.

Seine Werthaltungen verdeutlicht Her-

mann Maaß auch in den folgenden Zei-

len: „Seit meiner Jugend waren für mich

allgemein gültige menschliche Liebe,

Gerechtigkeit und Einsatz für die wohlge-

ordnete Gesellschaft, die auch vor Gott

bestehen könne, die treibenden Kräfte,

die mich über Familie und Beruf hinaus

zu Einsatz für Volk, Staat und Gesellschaft

drängten. Die Funktion, die Leistung auf

Grund seiner Gaben zugunsten Dritter

war mir dabei mehr wert als irgendein

Eigennutz. Nie war ich um des Amtes und

Stellung wegen bereit, es zu überneh-

men, sondern um der Leistung wegen.“

(zit. nach Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S.

104 f). Er brachte sich ein und opferte sich

letztendlich auf für die Gesellschaft, für

die Allgemeinheit. Er stand für den kon-

sequenten Kampf für Demokratie und

Gerechtigkeit. Seine Wurzeln hatte er im

Christentum und in praktizierter Näch-

stenliebe. Diese Werte mündeten für ihn

in das übergreifende politische Ziel, die

Wendung zum Sozialismus.

Zur Erreichung seiner Ziele spricht er

sich durchaus für einen aktiven Eingriff in

die Gesellschaft aus, spricht von einem

umfassenden Ethos, das menschliche

Unzulänglichkeiten kennt und „gruppen-

mäßige Egoismen zurückdrängt und üb-

erwindet“ (zit. nach Grabner/Röder 1997,

S. 12). Die Entwicklung des neuen Ethos

sollte u.a. durch die Stärkung der Verant-

wortung des einzelnen erreicht werden,

u.a. deshalb sein Engagement für die

politische Bildungsarbeit und Jugendar-

beit. Insbesondere dieser Ansatz der Stär-

kung lässt sein Anliegen für uns an Be-

deutung gewinnen. Geht es doch um

mehr als eine bloße Beeinflussung der

Gesellschaft, die zudem in Ansätzen auch

autoritäre Züge aufweisen könnte.

30 In einer Zeit der Mediendemokratie, in der die Kraft der Bilder die Inhalte in den Hintergrund

zu drängen scheint, der Schein bestimmt und Politik zuweilen nicht durch Problemlösungs-

kompetenz, sondern durch Spin doctors gekennzeichnet ist, gewinnt der Wert „Wesentlich-

keit“ besondere Bedeutung. Auch hierfür spricht sich Hermann Maaß aus: „Alles Unwesentli-

che, Eitle, Unwahre, Unechte muß abfallen …“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 20).

Page 41: perspektive21 - Heft 14

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

Er setzt hier auf Partizipation und

Emanzipation. Insofern lassen sich hier

Anknüpfungspunkte für unsere Zeit fin-

den, die zumindest partiell ebenfalls von

einer Orientierungslosigkeit gekenn-

zeichnet ist.

4. Identität für BrandenburgNachdem nun einige zentrale Quellen

einer Identität der Sozialdemokratie in

Brandenburg näher ausgeleuchtet wur-

den, versucht der letzte Abschnitt eine

thesenartige Zusammenfassung.

1. Identitätsarbeit/Identitätsmanage-

ment ist möglich und notwendig. Ein

solches Identitätsmanagement ist

eine zentrale strategische Aufgabe

der SPD in Brandenburg. Eine in

wesentlichen Teilen von der Sozialde-

mokratie mitbestimmte brandenbur-

gische Identität könnte zur Herausbil-

dung einer strukturellen Mehrheits-

fähigkeit der SPD beitragen. So könn-

ten Bindungen entstehen, die sich

auch in problematischen Situationen

als tragfähig erweisen. Neben partei-

politischen Erwägungen ergibt sich

die Notwendigkeit einer demokrati-

schen Identitätsvermittlung aus einer

in Teilen der brandenburgischen

Gesellschaft vorzufindenden Orien-

tierungslosigkeit, die bei einem

bestimmten Anteil der Bevölkerung

den Boden für eine stärkere Affinität

zu rechten und menschenverachten-

den Werthaltungen bereitet.

2. Ein langfristig erfolgreiches Iden-

titätsmanagement ist langfristig aus-

gelegt und beruht auf Glaubwürdig-

keit. Bloße Sonntagsreden mit Bezug

auf preußische Tugenden oder

andere Traditionslinien sind eher kon-

traproduktiv. Für die SPD Branden-

burg setzt sie ein stärkere Reflexion

u.a. von Geschichte und sozialdemo-

kratischen Werten, u.a. aufgrund der

heterogenen personellen Struktur

und programmatischer Defizite, als

Grundlage der Schärfung des eigen

Profils voraus.

3. Die brandenburgische SPD verfügt

u.a. mit den sozialdemokratischen

Werten insgesamt, der preußischen

Geschichte allgemein und dem Wir-

ken der Sozialdemokratie im Preußen

der Weimarer Republik speziell sowie

mit dem sozialdemokratischen

Widerstand gegen den Nationalso-

zialismus über ausreichende Quellen

einer gut abgrenzbaren und unver-

wechselbaren Identität, die, da sie auf

in allgemein bekannte und wirksame

Symbole zurückgreifen kann, eine

hohe Anschlussfähigkeit zur Bevölke-

rung aufweist.

4. Die SPD ist in der Lage, auch

geschichtlich belastete bzw. ambiva-

41

Page 42: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

42

lente Quellen und Traditionslinien –

wie preußische Traditionen und

Tugenden – aufzugreifen, da sie diese

von negativen Assoziationen befreien

und in einen demokratischen Rah-

men einbinden kann.Damit erfüllt sie

zugleich das Bedürfnis nach Heimat

und Geschichte und entzieht der Ver-

einnahmung bestimmter Traditions-

linien in antidemokratische Bestre-

bungen den Boden.

5. Zentraler Bestandteil einer eigenstän-

digen sozialdemokratischen Identität

in Brandenburg und damit einer

brandenburgischen Identität insge-

samt ist das besondere Spannungs-

verhältnis zwischen Freiheit und Ord-

nung oder Selbstentfaltung und Ein-

ordnung in die Gesellschaft. Dieses

Spannungsverhältnis ist für die drei

hier beschriebenen Identitätsquellen

ebenso von Bedeutung wie für die

gegenwärtige aktive Politik, insbe-

sondere in Person des Ministerpräsi-

denten Manfred Stolpe.

Die Begegnung von Dubslav und Tuxen

endet mit leicht ironischen Bemerkun-

gen des alten Grafen hinsichtlich der

Rationalität der Wahlentscheidung für

die Sozialdemokratie, keineswegs jedoch

in der Form, die von einem typischen

preußischen Landadligen dieser Tage zu

erwarten gewesen wäre. Er endet mit:

„Und nun macht, dass Ihr zu Bett kommt

und träumt von „Tüffelland“. Es liegt in

der Hand der brandenburgischen SPD, ob

es ein sozialdemokratisches „Tüffelland“

geben wird.

Page 43: perspektive21 - Heft 14

Literatur

Wird der Text insgesamt als Versuch betrachtet, so folgt das Literaturverzeichnis die-sem Verständnis. Es wird nicht nur die im Text verwendete Literatur angeführt, son-dern darüber hinausgehende Quellen angegeben, die eine Vertiefung des Thema,quasi im Sinne eines Selbstversuchs, ermöglichen.

Albrecht, Thomas (1999): Für eine wehrhafte Demokratie. Albrecht Grzesinski

und die preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn.

Bethge, Werner (1993): Widerstand von links. Antifaschismus und Widerstand

von Kommunisten und Sozialdemokraten 1933/34. In: Eichholtz, Dietrich (Hrsg.):

Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Dokumente, Berlin, S. 355 ff.

Craig, Gordon A. (1997): Über Fontane, München.

Craig, Gordon, A. (2001): Das Ende Preußens. Acht Portraits. München.

Dittberner, Jürgen (2001): Brandenburg neu erfinden, in: perspektive 21, Heft 13,

Februar 2001. S. 5 ff.

Dönhoff, Marion Gräfin (1998): Preußen. Maß und Maßlosigkeit, Berlin.

De Bruyn, Günter (1993): Mein Brandenburg, Frankfurt am Main.

De Bruyn, Günter (2001) : Preußens Luise. Vom Entstehen einer Legende, Berlin.

Ehni, Hans-Peter (1975): Bollwerk Preußen? Preußen-Regierung, Reich-Länder-

Problem und Sozialdemokratie 1928 – 1932, Bonn-Bad Godesberg.

Eichholtz, Dietrich (Hrsg.) (1993):Brandenburg in der NS-Zeit. Studien und Doku-

mente, Berlin.

Fontane, Theodor (1883): Schach von Wuthenow. Berlin, hier in der Auflage von

1999 aus dem Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart.

Fontane, Theodor (1897): Der Stechlin. Berlin, hier Insel Taschenbuch von 1997. –

Besonders zu empfehlen ist auch folgende Hörbuch-Ausgabe: T. Fontane. Der

Stechlin, ungekürzte Ausgabe, gelesen von Gert Westphal. 1993 Deutsche Gram-

mophon.

Kämpfen für den Traum vom Tüffelland

43

Page 44: perspektive21 - Heft 14

Gass, Karl (2000): Zielt gut, Brüder: das kurze Leben des Maximilian Dortu, Wil-

helmshorst.

Gerdes, Dirk (1989): Identität. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur

Politik. Band I Politikwissenschaft. München, S. 348.

Grabner, Sigrid/Röder, Hendrik (Hrsg.) (1997): Im Geist bleibe ich bei Euch.Texte

und Dokumente zum 100. Geburtstag von Hermann Maaß, Potsdam.

Hettlage, Robert (1998): Identitätsmanagement. Soziale Konstruktionsvorgänge

zwischen Rahmung und Brechung. In: Koszel, Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.): Län-

der Mittel- und Südosteuropas auf der Suche nach neuer Identität. Identität im

erneuerten Nationalstaat, Potsdam, S. 11 ff.

Identitäten in Europa. Wandel und Inszenierung kollektiver Zugehörigkeiten.

Welttrends. Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien. Num-

mer 15, Sommer 1997.

Kaase, Max (1989):Wertewandel. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur

Politik. Band I Politikwissenschaft, München. S. 1141 f.

Koszel, Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.) (1998): Länder Mittel- und Südosteuro-

pas auf der Suche nach neuer Identität. Identität im erneuerten Nationalstaat,

Potsdam.

Krockow, Christian Graf von (1993): Fahrten durch die Mark Brandenburg.

Wege in unsere Geschichte, München.

Mehring, Franz (1986):Aufsätze zur preußischen und deutschen Geschichte.Ver-

lag Philipp Reclam jun. Leipzig.

Meyers, Peter (1983): Friedrich II. von Preußen im Geschichtsbild der SBZ/DDR. Ein

Beitrag zur Geschichte der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunter-

richts in der SBZ/DDR. Mit einer Methodik zur Analyse von Schulgeschichts-

büchern, Braunschweig.

Nohlen, Dieter (Hrsg.) (1989): Pipers Wörterbuch zur Politik. Band I Politikwissen-

schaft, München.

Christian Maaß und Madeleine Jakob

44

Page 45: perspektive21 - Heft 14

Postman, Neil (1999): Die zweite Aufklärung. Vom 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin.

Reißig, Rolf (1999): Die Ostdeutschen – zehn Jahre nach der Wende. Einstellun-

gen, Wertemuster, Identitätsbildungen, Manuskript, Überarbeiteter Vortrag vor

der Evangelischen Akademie Sachen-Anhalt (17.09.1999) und der Martin-Niemöl-

ler-Stiftung (02.10.1999).

Reuth, Ralf Georg (Hrsg.): Joseph Goebbels. Tagebücher, München.

Schoeps, Julius H. (Hrsg.) (2000): Preußen. Geschichte eines Mythos, Berlin.

Schoeps, Hans-Joachim (1997): Preußen: Geschichte eines Staates, Neuausgabe,

Berlin.

Siedler, Wolf Jobst (2000): Abschied von Preußen, Berlin.

SPD, Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Grundsatzprogramm der Sozial-

demokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Programm-Parteitag der

Sozialdemokratischen Partei Deutschlands am 20. Dezember 1989 in Berlin.

SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (1999): Arbeit-Sicherheit-Gerechtig-

keit …weil wir Brandenburg menschlich gestalten wollen. Landtagswahlpro-

gramm 1999 bis 2004, Potsdam.

SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (o.J.): 10 Jahre SPD in Brandenburg.

Eine Chronik des Wiederanfangs auf dem Brandenburger Weg, Potsdam.

SPD-Landesverband Brandenburg (Hrsg.) (o.J.): 130 Jahre Sozialdemokratie in

Brandenburg 1868-1998, Potsdam.

Stolpe, Manfred (1997):Sieben Jahre, sieben Brücken. Ein Rückblick in die Zukunft,

Berlin

Stöss, Richard (2001): Wahlgeschichte und Wettbewerbssituation der SPD in

Brandenburg, in: perspektive 21, Heft 13, Februar 2001. S. 15 ff.

Theodor Fontane: Schach von Wuthenow. Erzählung aus der Zeit des Regiments

Gendarmes. in der Ausgabe der Reclam Universal-Bibliothek Nr. 7688.

Trotzki, Leo (1932): Der einzige Weg

Kämpfen für denTraum vom Tüffelland

45

Page 46: perspektive21 - Heft 14

Christian Maaß und Madeleine Jakob

46

Weiß, Johannes (1989): Wert. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Pipers Wörterbuch zur

Politik. Band I Politikwissenschaft, München. S. 1137 ff.

Woderich, Rudolf (1999): Ostdeutsche Identität zwischen symbolischer Kon-

struktion und lebensweltlichem Eigensinn. Manuskript, Schriftfassung des Refe-

rates auf der Konferenz "The German Road from Socialism to Capitalism" Centre

for European Studies, June 18-20, 1999).

Wolff-Poweska, Anna (1998): Identität in der Wendezeit. In: Koszel,

Bogdan/Maretzki, Hans (Hrsg.): Länder Mittel- und Südosteuropas auf der Suche

nach neuer Identität. Identität im erneuerten Nationalstaat, Potsdam, S. 27 ff.

Zimmerring, Raina (2000): Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erfor-

schung politischer Mythen, Opladen.

Christian Maaß ist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland, Kreistags-mitglied und Vorsitzender der SPD-Fraktion in der StadtverordnetenversammlungPremnitz. Der Diplom-Politologe arbeit an der WISO-Fakultät der Universität Pots-dam. Der Autor ist nicht mit dem im Artikel erwähnten Hermann Maaß verwandt.Mail: [email protected].

Madeleine Jakob studiert Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Sie istMitglied im Vorstand des SPD-Ortsvereins Babelsberg.

Page 47: perspektive21 - Heft 14

47

Das Fußfassen der Toleranzidee in den

modernen Staaten vollzog sich im 17. und

18. Jahrhundert in einem stufenweisen

Prozeß. Erst in den Niederlanden, wo

Katholiken und Lutheraner, aber auch

Täufer, Sektierer, Spiritualisten und aus

Spanien vertriebene Juden („Marran-

nen“) eine neue Heimat fanden. Dann in

England, wo nach erbitterten konfessio-

nellen Kämpfen 1689 als Krönung der

Glorious Revolution die Toleranzakte

zustande kam,die allen religiösen Dissen-

ters außerhalb der Staatskirche volle Reli-

gionsfreiheit zusicherte, sofern sie dem

englischen König Treue schworen und die

päpstliche Gewalt ableugneten. Schließ-

lich in den Vereinigten Staaten mit ihren

„Bill of Rights“, die für Frankreich und

seine in der Revolution 1789 propagierten

„droits naturelles et inscriptibles“ zum

Vorbild wurden.

Das als Musterland religiöser Freiheit

gefeierte Brandenburg-Preußen hat zwar

tolerante Herrscher besessen wie den

Großen Kurfürsten und den späteren

König Friedrich I., die in das Land Arianer,

Socinianer, Menoniten, Juden und Huge-

notten aufnahmen. Andererseits war es

aber nicht nur der Geist religiöser Duld-

samkeit, der Brandenburg-Preußen zum

Asyl der Religionsverfolgten machte, son-

dern die Politik der Staatsklugheit, der

handfesten Interessen, die diese Einwan-

derungspolitik bestimmte. Bevölkerungs-

politische Ideen („Peuplierung“) spielten

dabei ebenso eine Rolle wie Motive finan-

zieller Natur. Von den Fremden erhoffte

sich der Kurfürst, sie würden nicht nur

loyale Untertanen sein, sondern auch die

notwendigen Gelder mitbringen, um den

gewerblichen und wirtschaftlichen Auf-

schwung des Landes einzuleiten.

In der Regel übersehen wird der Sach-

verhalt, daß die Juden im Unterschied zu

anderen, die in das Land geholt wurden,

mindere Rechte besessen haben. Das

„Edikt wegen aufgenommenen 50 Fami-

lien Schutz-Juden“ vom 21. März 1671, mit

dem der Kurfürst den Juden Niederlas-

sungsrechte mit entsprechenden Aufla-

gen gewährte, enthielt im zweiten Teil

die einschränkende Formulierung „je-

doch daß sie keine Synagogen halten“,

die kenntlich machte, daß der Duldung

der Juden dort Grenzen gesetzt waren,

wo christlicher Glaube und christliche

Zweckmäßigkeit und StaatsräsonDie Herausbildung des Toleranzbegriffs in Brandenburg-Preussenvon Julius H. Schoeps

Page 48: perspektive21 - Heft 14

Julius H. Schoeps

Überzeugung tangiert wurde. Die Nach-

folger des Kurfürsten, der Soldatenkönig

und der Philosoph von Sanssouci, haben

sich nicht anders verhalten. Auch sie ori-

entierten ihre Judenpolitik nicht an der

Toleranzidee und dem Prinzip der christli-

chen Nächstenliebe, sondern an den

steuer- und wirtschaftspolitischen Not-

wendigkeiten des sich herausbildenden

merkantilistischen Industriestaates.

In patriotischen Erbauungsschriften

und Schulgeschichtsbüchern ist über

Jahrzehnte der Preußenkönig Friedrich II.

als ein aufgeklärter Herrscher idealisiert

worden. In Fragen der Religionspolitik, so

heißt es immer wieder, hätte er Toleranz

walten lassen. Dieses Friedrich-Bild, das

bis heute liebevoll gepflegt und gehegt

wird, bedarf auf Grund einer kritischeren

Sicht, die wir uns inzwischen über den

König und seine Epoche angewöhnt

haben, einiger Korrekturen. So wird man

nicht mehr die berühmten Friedrich-

Zitate für sich allein nehmen, sondern

wird bemüht sein, sie an der Politik des

„Roi-Philosophe“ zu messen.

Das Marginal auf einem Eingabeakt

zum Beispiel „Die Religionen müssen alle

toleriert werden, und muß der Fiskal nur

das Auge darauf haben, daß keine der

anderen Abbruch tue; denn hier muß ein

jeder nach seiner Fasson selig werden“

oder die bekannte Replik anläßlich einer

Anfrage des Generaldirektoriums „Alle

Religionen sind gleich gut, wenn nur die

Leute, wo sie professieren, ehrliche Leute

sind“ waren Sätze und Äusserungen, die

dem Aufklärungszeitgeist entsprachen,

aber mit der Realität des preußischen

Staates und seiner Bewohner nur wenig

zu tun hatten.

Toleranz war für Friedrich II. keine Frage

der Gesinnung, sondern der Zweck-

mäßigkeit und der Staatsräson. Letztlich

waren für ihn alle Religionen „un systeme

fabuleux plus ou moins absurde“, was

wohl auch der Grund war, daß er sich

nicht zu einem Toleranzedikt hat durch-

ringen können – anders als der katholi-

sche Kaiser Joseph II., der für die Öster-

reichischen Kronlanden ein solches am 2.

Januar 1782 erließ, das gemäß der Diktion

der Zeit mit der Formel begann: „Wir,

Joseph der Zweite, von Gottes Gnaden

erwählter röm. Kaiser, zu allen Zeiten

Mehrer des Reiches, König in Germanien,

Ungarn, Böhmen usw...“

Mit Toleranz im heutigen Sinne hatte

das alles nicht viel zu tun. Selbst viele

Aufgeklärte waren nur bedingt bereit,

den Gegenüber zu akzeptieren, und zwar

so wie sich dieser selbst verstand oder

definierte. Typisch ist zum Beispiel die

Debatte um die Staatsbürgerrechte der

Juden. Man war zwar im Prinzip bereit,

Juden individuelle Staatsbürgerrechte zu

48

Page 49: perspektive21 - Heft 14

Zweckmäßigkeit und Staatsräson

gewähren, aber mit der Auflage, daß sie

aufhörten, Juden zu sein. In diesem

Zusammenhang wird meist die

berühmte Formulierung zitiert, die Graf

Clermont-Tonnerre in der Emanzipati-

onsdebatte der französischen National-

versammlung im Dezember 1789 äußerte

und die dann zum unumstößlichen

Credo der Gegner der Emanzipation der

Juden europaweit werden sollte: „Den

Juden als Individuen alles, den Juden als

Nation nichts“.

Trotz aller Widerstände begann die

Toleranzidee zunehmend Anhänger zu

finden. Das geschah insbesondere unter

dem Eindruck des Bildes vom „guten

Juden“, das im 18. Jahrhundert zuneh-

mend von Schriftstellern wie Johann

Gottfried Schnabel, Christian Gellert und

dem berühmten Gotthold Ephraim Les-

sing gezeichnet worden ist. Zahlreich

sind die Abhandlungen, Zeitschriftenauf-

sätze, Romane und Dramen, die Toleranz

predigten und bemüht waren, wohl-

tätige und edelmütige Juden darzustel-

len. Der „gute Jude“ war nicht nur eine

literarische Kunstfigur, sondern galt gera-

dezu als Symbol für das eigene aufge-

klärte Verhalten und ist als ein Gleichnis

begriffen worden, und zwar für den

Kampf des der Vernunft sich verpflichtet

fühlenden Bürgertums gegen alle Aus-

drucksformen von Aberglauben,Vorurteil

und Intoleranz. Noch heute ist dieses Bild

in den Köpfen.

Lessings „Nathan der Weise“ hat für

das sich formierende deutsche Judentum

eine nicht zu unterschätzende Rolle

gespielt. Das Schauspiel diente der

Selbstdefinition, war gewissermaßen ein

Orientierungspunkt, an dem nicht nur

der Toleranzbegriff festgemacht, sondern

auch die Formel für das Miteinanderum-

gehen von Juden und Christen definiert

werden konnte. Die Parabel von den drei

vom Vater den Söhnen ausgehändigten

Ringen lehrte, daß Gott-Vater dem Juden,

dem Christen und dem Muselman in

ihrer geschichtlichen Religion jeweils den

echten Ring gegeben habe und jede der

drei monotheistischen Religionen Gottes

Offenbarung gegenwärtig und zu re-

spektieren sei. Das wurde zu einer Bot-

schaft, die von einer Generation auf die

nächste weitergegeben wurde. Die Ver-

ehrung gegenüber dem Autor des „Nat-

han“ führte dazu, daß es im deutsch-jüdi-

schem Bürgertum zu einem Lessing-Kult

kam, der manche seltsame Blüte hervor-

gebracht hat.

Fatalerweise haben die Zeitgenossen

jedoch nicht bemerkt oder es vielleicht

auch nicht bemerken wollen, daß Les-

sings Konzeption in sich brüchig war,

denn letztlich relativierte sie die Wahr-

heit. „Oh so seid ihr alle drei betrogene

Betrüger!“, äußert bekanntlich in Les-

49

Page 50: perspektive21 - Heft 14

Julius H. Schoeps

sings „Nathan“ der Richter. „Eure Ringe“,

so verkündete er weiter, „sind alle drei

nicht echt. Der echte Ring ging vermut-

lich verloren. Den Verlust zu ersetzen, ließ

der Vater diese drei für einen machen“. So

weit, so gut.

Den Juden mit und nach Lessing ging

es aber nicht um die Doppelbödigkeit in

der Lessingschen Ringparabel, die Gene-

rationen von Literaturwissenschaftlern

beschäftigt und manche von ihnen zu

gewagten Interpretationen angeregt hat.

Wichtiger war ihnen die uns Heutigen

vielleicht etwas vordergründig erschei-

nende, aber seit dieser Zeit mit dem

Namen Lessings verbundenen Botschaft,

daß der moderne Mensch vor der Frage

gestellt ist,„ob er den Raum der geistigen

Freiheit festhalten will, den ihm die

Generation von 1800 erkämpft hat, als sie

den Weg vom Dogmenstreit zum Glau-

bensgespräch bahnte und damit eine

neue Einschätzung auch des religiösen

und weltanschaulichen Gegners durch-

setzte“ (Hans-Joachim Schoeps).

An dieser Stelle sei dem tiefverwurzel-

ten Irrglauben entgegengetreten, die

Aufklärung sei per se aufgeklärt gewe-

sen. Davon kann überhaupt keine Rede

gewesen sein. Zahlreiche Aufklärer waren

ausgemachte Judengegner. Männer wie

Montesquieu, Rousseau, Diderot und vor

allem Voltaire sahen in den Juden zwar

nicht mehr die Christusmörder und

Feinde des Menschengeschlechts, wie

das jahrhundertelang geschehen war,

aber dafür waren sie der Ansicht, die

Juden seien gefährliche Vertreter des

Aberglaubens, des mittelalterlichen Den-

kens, das es zu überwinden gelte.

Auch der vielgerühmte Kant, der eine

Reihe jüdischer Schüler hatte, und zuge-

gebenermaßen große Stücke auf den

Berliner Philosophen Moses Mendels-

sohn hielt, war nicht frei von antijüdi-

schen Vorurteilen. Kam er auf Juden und

Judentum zu sprechen, dann sprach er

wie ein Kirchenmann des Mittelalters,

der den Juden jede Daseinsberechtigung

absprach. An verschiedenen Stellen sei-

nes opus empfiehlt Kant sogar eine „Eut-

hanasie des Judentums“, dessen einzige

Chance es sei, sterbend im Christentum

aufzugehen.

In seiner „Anthropologie“, in der Kant

die Juden „Palästiner“ nennt, unterstellt

er ihnen „Wuchergeist“ und bezeichnet

sie als eine "Nation von Betrügern". Es ist

sicher nicht der antisemitischste Text der

Weltliteratur, wie das der Wiener Philo-

soph Otto Weininger meinte, aber er läßt

doch erkennen,daß Kant und andere Auf-

klärer an die Grenzen ihrer Bemühungen

dort stießen, wenn von ihnen gefordert

oder verlangt war, sich von überkomme-

nen Bildern und Vorurteilen zu befreien.

50

Page 51: perspektive21 - Heft 14

Zweckmäßigkeit und Staatsräson

Dazu waren die meisten nicht in der Lage.

An der Einstellung gegenüber den

Juden und gegenüber Judentum läßt sich

im übrigen feststellen, ob diejenigen, die

sich Ende des 18. Jahrhunderts für aufge-

klärt hielten, tatsächlich aufgeklärt

waren oder nicht. Diejenigen, die es

waren, und Aufklärung nicht nur als Lip-

penbekenntnis begriffen, schlossen in

ihre Bemühungen alle Menschen ein,

gleichgültig ob es sich um Christen, Mos-

lems, Heiden oder Juden handelte. Sie

kämpften nicht nur gegen die Fesseln des

Dogmatismus, sondern gegen alle For-

men mittelalterlichen Aberglaubens.

Weder Staat noch Kirche, meinten sie,

hätten das Recht, den einzelnen auf

irgendwelche religiöse, weltanschauliche

oder moralische Überzeugungen festzu-

legen.

Es dürfte eines der bleibenden Verdien-

ste des Berliner „Weltweisen“ Moses

Mendelssohn gewesen sein, gerade die-

sen Sachverhalt in seinem Buch „Jerusa-

lem oder über religiöse Macht und Juden-

tum“ problematisiert zu haben. Bei sei-

nem Ersterscheinen 1783 erregte das

Buch Aufmerksamkeit und wurde

sogleich zum Tagesgespräch in den Berli-

ner Salons. Daß ein rechtloser Jude das

Recht in Anspruch nahm, sich für seine

unterdrückten Glaubensbrüder einzuset-

zen, war schon ein ungewöhnliches

Ereignis. Staunen und Bewunderung

aber erregte es, daß ausgerechnet ein

rechtloser Jude es wagte, freimütig das

Verhältnis von Staat und Kirche zu erör-

tern sowie für die Prinzipien Gewissens-

freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz ein-

zutreten.

Dem Staat gestand Mendelssohn zwar

das Recht zu, in bestimmten Fällen einzu-

schreiten, aber nur dann, wenn die ethi-

schen und sozialen Grundlagen des Staa-

tes gefährdet, die Staatsautorität durch

Atheismus, Epikureismus oder Fanatis-

mus in Frage gestellt sein sollte.

Grundsätzlich war er der Ansicht, der

Staat habe in Fragen der Religion eine

Haltung der Neutralität einzunehmen.

Auch die Kirche dürfe sich nicht der

Staatsgewalt bedienen, meinte Mendels-

sohn. Gesinnungen, Meinungen und

Überzeugungen sollten weder durch den

Staat noch durch die Kirche irgendwelche

Einschränkungen erfahren: „Grundsätze

sind frei, Gesinnungen leiden ihrer Natur

nach keinen Zwang, keine Bestechung.

Weder Kirche noch Staat haben also das

Recht, Grundsätze und Gesinnungen der

Menschen irgend einem Zwang zu unter-

werfen“.

Wenn Mendelssohn für religiöse Dul-

dung und gegenseitige Toleranz warb,

dann hatte er die Lage seiner Glaubens-

brüder im Blick und deren Forderung

nach politischer Emanzipation und ge-

51

Page 52: perspektive21 - Heft 14

Julius H. Schoeps

52

sellschaftlicher Anerkennung. Dem Staat

wollte er bei der Durchsetzung dieser For-

derung keine besondere Rolle zugewie-

sen wissen. Das ist insofern verständlich,

als der Staat zur Zeit Mendelssohns der

Gegner war, der die geforderten Rechte

verweigerte. Drei Generation später sah

das anders aus. Die rechtliche Gleichbe-

rechtigung war jetzt erreicht und seitens

des deutschen Judentums wurde im

Staat nicht mehr der Gegner, sondern der

Beschützer gesehen. Ihm wies man die

Funktion zu, als Garant für Gewissens-

freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz auf-

zutreten.

Hitler und die Nazis haben diese Idee

ad absurdum geführt und das Vertrauen

der deutschen Juden in den deutschen

Staat auf das Gröblichste mißbraucht.

Julius H. Schoeps ist seit 1992 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt: deutsch-

jüdische Geschichte) und Direktor des MMZ an der Universität Potsdam

Page 53: perspektive21 - Heft 14

53

Was ist europäische Identität?Die Entstehung von kollektiven Iden-

titäten ist ein langwieriger Prozeß, der

gewöhnlich durch soziale Praxis und

soziale Beeinflussung (Ideologie) zu-

stande kommt. Im Fall Europas ist dieser

Prozeß besonders kompliziert, wofür sich

drei Gründe anführen lassen. Einerseits

spielen nationale Identitäten in Europa

weiterhin eine wichtige Rolle, was den

Nationalstaat zur primären Solidaritäts-

sphäre macht. Zweitens fallen die iden-

titätsschaffenden Ressourcen der EU, die

auf Solidarität basieren, bescheiden aus.

Diese Bescheidenheit betrifft dabei weni-

ger den Umfang der Solidaritätsleistung

als ihre Form. In der EU dominiert näm-

lich eine instrumentelle Solidarität der

Ausgleichszahlungen und Paketgesch-

äfte. Drittens erzeugt die EU (vor allem

auf der supranationalen Ebene) Diskrimi-

nierungseffekte, welche die asymmetri-

sche Machtverteilung zwischen den jetzi-

gen Mitgliedern und den Beitrittskandi-

daten noch verstärken.

Der Nationalstaat bleibt der primäre

Solidaritätsrahmen der Gesellschaft, weil

die nationalen Verpflichtungen vor allem

politischer Natur sind. Sie ergeben sich

dabei nicht nur aus dem wie auch immer

psychologisch definierten Zusammen-

gehörigkeitsgefühl, sondern vor allem

daraus, daß demokratisch organisierte

Nationalstaaten eine nationale Solida-

rität auf eine legitime Art und Weise

erzwingen können. Die ‘Produktion’ der

kollektiven (politischen) Identität hat

somit viel mit demokratischer Kontrolle

der politischen Entscheidungen zu tun.

Natürlich basiert eine kollektive Identität

auch auf einer Gerechtigkeitsvorstellung,

welche die Form der Solidarität konkreti-

siert.

Die anspruchsvollen Ideale der „Erfah-

rungs-, Erinnerungs-, und Kommunikati-

onsgemeinschaft scheinen sich in der EU

kaum erfüllen zu lassen. Der Erinne-

rungssgemeinschaft EU fehlt heute die

raison d’être der 50er Jahre, sie war

damals mentale Folge des Zweiten Welt-

krieges. Die EU von heute ist kein exklusi-

ves Instrument der Friedenssicherung.

Als friedensfördernd gilt mittlerweile

Chancen des Zusammenwachsens inEuropa: Übergang zu einer EuropäischenIdentität?von Pavel Karolewski

Page 54: perspektive21 - Heft 14

Pavel Karolewski

jedes System von Demokratien, dies auf-

grund der empirisch gestützten These,

daß Demokratien keinen Krieg gegenein-

ander führen. Auch die Erfahrungsge-

meinschaft EU, bezogen auf Wohlfahrt

und niedrige Arbeitslosigkeit, steht

bereits seit länger als zehn Jahren unter

Druck. Am weitesten ist die Kommunika-

tionsgemeinschaft EU entwickelt, ange-

sichts der Tatsache, daß die Institutionen

der EU regelmäßigen und extensiven

Kommunikationsaustausch zwischen

europäischen Akteuren (hauptsächlich

allerdings Eliten) erlauben. Die Kommu-

nikationsgemeinschaft reicht jedoch für

die Herausbildung einer europäischen

Identität nicht aus. Dieses Konzept unter-

stellt nämlich, daß Individuen ‘identisch’

werden, wenn sie intensiv miteinander

kommunizieren, was eine wirklichkeits-

fremde Annahme ist . Darauf hat kürzlich

auch Michael Zürn („Regieren jenseits

des Nationalstaates“) aufmerksam ge-

macht. (Ist damit nicht aber die Ausbil-

dung eines Gruppenbewußtseins ge-

meint? Ist das so unrealistisch?)

Osterweiterung und europäische Identität

In Anbetracht der schwachen Gemein-

schaft in der EU sowie angesichts des

demokratischen Defizits der EU bleibt die

Beachtung bzw. Übernahme des acquis

communautaire durch die EU-Mitglieder

und Kandidaten als einzige identitätsstif-

tende Grundlage der EU übrig. In bezug

auf die Kandidatenländer wird die Über-

nahme des acquis viel strenger beachtet.

Das ergibt sich daraus, daß die Anwen-

dung der europäischen Regelungen in

den Mitgliedstaaten nur stockend voran-

kommt. Die Mitgliedstaaten erfüllen

ihren Verpflichtungen in bezug auf den

Binnenmarkt nicht nur unzureichend,

beispielsweise wurden die Verpflichtun-

gen von Lissabon 2000 bislang nur teil-

weise realisiert. Bis Ende Juni 2001 wer-

den es die EU-Mitglieder allenfalls schaf-

fen, 20 der 36 für diesen Termin verein-

barten Entscheidungen umzusetzen. Der

größte Nachzügler ist Frankreich, das-

selbe EG-Gründungsmitglied, das so

gerne seine Funktion als Integrationsmo-

tor hervorhebt. Ungefähr 12% der

europäischen Regelungen werden durch

ein oder mehrere Mitgliedsländer nicht in

Kraft gesetzt. Dieses Defizit wird nun

sogar als Argument für eine bedingungs-

lose Übernahme des acquis durch die

Kandidatenländer verwendet. Einerseits

werde nämlich damit die Symbolik des

europäischen Besitzstandes entspre-

chend gefördert und andererseits die

Durchsetzung des Europarechts in den

alten Mitgliedstaaten motiviert. Die

damit einhergehende Ungleichbehand-

lung der Mitglieder und der Kandidaten

erscheint, vorsichtig ausgedrückt, proble-

matisch.

54

Page 55: perspektive21 - Heft 14

Chancen des Zusammenwachsens

Identität beinhalte nicht nur gemein-

same Werte und das Gefühl der

Zugehörigkeit (passive Identität), son-

dern auch die Fähigkeit zur nicht-instru-

mentellen Solidarität (aktive Identität?),

das gilt vor allem für Krisen. Instrumen-

telle Solidarität, welche in der EU vor-

herrscht, basiert auf dem Prinzip des Aus-

tausches von Ressourcen und Leistungen.

Einzelne Integrationsschritte in der EU

werden meist mit dem Mechanismus der

Ausgleichszahlung erreicht, hierfür war

Nizza der Gipfel im Wortsinne. Die

europäische Verteilungssolidarität hat

also einen instrumentellen Charakter,

weswegen die heutige EU stark der Durk-

heimschen mechanischen Gemeinschaft

ähnelt, die auf Riten (bedingungslose

Übernahme des acquis communautaire)

sowie einer kostspieligen Initiation (z.B.

Leistungsbilanzdefizite der Kandidaten

zugunsten der alten Mitglieder) begrün-

det ist. Durch die den Kandidaten zusätz-

lich entstehenden Kosten sollte bei die-

sen Loyalität erzeugt werden (Hirsch-

man), nicht zuletzt im Hinblick darauf,

daß machtpolitisch benachteiligte Ak-

teure an einem Projekt mit asymmetri-

scher Machtverteilung teilnehmen sol-

len. Die europäische Union ist ein funk-

tionales Gebilde, durch welches Länder

wie Frankreich und Deutschland ihre

nationalen Interessen besser durchset-

zen können als durch unilaterales Han-

deln. Die EU als Zweckverband bietet

somit keine Grundlage für eine aktive

Identität.

Ähnlich verhält es sich bezüglich der

Übernahme des Besitzstandes der EU.

Dahinter versteckt sich das Projekt der

sozial und ökologisch verträglichen

Erweiterung, welches vor allem die Ent-

stehung und Konsolidierung einer neuen

Peripherie innerhalb der EU fördern wird.

Dies läuft gegen die Idee einer auf Solida-

rität basierenden EU, welche als Grund-

lage einer europäischen Identität dienen

könnte, und ist vielmehr aufs engste mit

dem Projekt des Kerneuropa verbunden,

welches für die Herausbildung einer

europäischen Identität kaum förderlich

ist. Das Konzept des Kerneuropa von

Joschka Fischer läßt sich nur vor dem Hin-

tergrund des Konzeptes der Peripherie

verstehen. Länder, die nicht zum Kern

gehören, sind zwangsläufig Teil der Peri-

pherie. Wenn aber betont wird, daß der

Unterschied zwischen Kern und Periphe-

rie nicht groß sein darf, dann stellt sich

automatisch die Frage: Wozu überhaupt

ein Kern? Das Konzept des Kerneuropas

stellt automatisch, ohne daß dies beab-

sichtigt sein muß, eine Bedrohung für die

europäische Identität dar, weil es die

Spaltung zwischen dem wohlhabenden

Kern und der pauperisierten Peripherie

fortsetzt oder gar vertieft. Ein Kerneuropa

kann sehr leicht zum Ausschluß Osteuro-

pas führen, was den Sinn und Zweck der

Osterweiterung in Frage stellt.

55

Page 56: perspektive21 - Heft 14

Pavel Karolewski

Ähnliche Ausschlußvorschläge wurden

Anfang der 90er Jahre unterbreitet. Vor

dem Hintergrund der Hoffnung integrati-

onsfreudiger westeuropäischer Staaten,

daß die Integration im Club der am wei-

testen fortgeschrittenen Mitglieder ver-

tieft wird, wurden Osteuropa wenig

ambitionierte Angebote europäischer

Integration unterbreitet, unter anderem

die damalige KSZE und die europäische

Konföderation von François Mitterrand.

Das Inkrafttreten der Regelungen der

EU im Bereich des Arbeits- und Umwelt-

schutzes wird zu einer Belastung für die

Unternehmen der Kandidatenländer

werden. Die Durchsetzung der Umwelt-

standards wird die Beitrittsländer mit

ungefähr 150 Milliarden DM belasten,

welche von der EU nur im Bruchteil getra-

gen werden. Dies betrifft vor allem kleine

und mittlere Unternehmen, ihnen wer-

den zusätzliche Ausgaben aufgebürdet,

die ihre Konkurrenzfähigkeit kaum

erhöhen. Bestenfalls wird dies Entlassun-

gen der Arbeitnehmer, schlimmstenfalls

den Bankrott dieser Unternehmen zur

Folge haben. Dies wird vor allem für Polen

zu einem ernsten Problem, wo die

Arbeitslosigkeit heute bereits fast 16%

beträgt, und was die Frage der Konkur-

renzfähigkeit der polnischen Unterneh-

men nicht nur akademisch erscheinen

läßt.

Von den neuen Regelungen für Osteu-

ropa werden vor allem westeuropäische

Unternehmen profitieren, die entspre-

chende Technik für den Umweltschutz

herstellen. Demzufolge ist angesichts der

gewachsenen Importe eine Verschlechte-

rung des Leistungsbilanzdefizites dieser

Länder, insbesondere Polens, zu erwarten.

Dies könnte zu einer Destablisierung

führen, weil die Einnahmen aus der Priva-

tisierung der Staatsbetriebe bald zu Ende

sind. Selbst die Europäische Kommission

konzediert, daß die größte Bedrohung für

die Stabilität der polnischen Volkswirt-

schaft in dem hohen Leistungsbilanzdefi-

zit liegt. 94% des Defizits wurden im letz-

ten Jahr durch die privatisierungsbeding-

ten ausländischen Transfers, darunter

43% durch die Privatisierung der polni-

schen Telekom, gedeckt. Mit den sinken-

den Privatisierungseinnahmen wird es

für Polen allerdings immer schwieriger,

das finanzielle Gleichgewicht des Staates

zu halten. Dies zeigt die Widersprüchlich-

keit (und die Kontraproduktivität - weg-

lassen) der europäischen Erweiterungs-

strategie. Einerseits wurde die Fähigkeit

der Kandidaten, den Wettbewerbskräften

standzuhalten, vorausgesetzt. Anderer-

seits wird gerade durch die Übernahme

vieler Regelungen des acquis commun-

autaire diese Fähigkeit unterminiert.

56

Page 57: perspektive21 - Heft 14

Chancen des Zusammenwachsens

Welche Identität nach der EU-Osterweiterung?

Für eine europäische Identität, die

nichtinstrumentelle Solidarität impli-

ziert, gibt es heute in der EU keine Anzei-

chen. Die Diskussion über die Übergangs-

fristen zeigt dies deutlich. Die Weigerung

Deutschlands und Österreichs in dieser

Frage, trotz eindeutiger Negativgutach-

ten über Massenmigration, relativiert bis

zu einem gefährlich Grad den grundle-

genden Wert der Integrationsidee (Nie-

derlassungsfreiheit). Abgesehen davon

wird hier die fehlende Bereitschaft zur

Solidarität signalisiert. Die Aufnahme

mittelosteuropäischer Arbeitssuchender

wäre dabei ein deutliches Zeiches der

Solidarität. Eine solche Forderung klingt

jedoch im heutigen europäischen Kon-

text fast höhnisch. Insbesondere die Dro-

hungen Österreichs (bei einer sehr niedri-

gen Arbeitslosenquote) mit einer Block-

ade der Osterweiterung zeigen un-

mißverständlich,daß die nichtinstrumen-

telle Vorstellung einer europäischen Soli-

darität bis auf weiteres utopisch bleibt. In

einer solidarischen EU, von der allzu oft

gesprochen und geschrieben wird, hätte

die Hilfe für Regionen und Staaten in Kri-

sen Priorität. Die 16%-ige Arbeitslosigkeit

ist eine immense Belastung für den bei-

trittswilligen Transformationsstaat Po-

len. Die Aufnahme polnischer Arbeitneh-

mer durch Deutschland und Österreich

würde die sozialen Verpflichtungen des

polnischen Staates etwas verringern

sowie möglicherweise auch die Kosten

für die Umschulung reduzieren.

Diese Frage betrifft die Sphären der

Gerechtigkeit und Solidarität. Wenn man

davon ausgeht, daß Europa (und nicht

Amerika oder Asien oder Afrika) die

primäre Solidaritätssphäre der EU sein

soll (und gerade dies versteckt sich in

dem Postulat der europäischen Identität),

dann müßte dies auch praktische Konse-

quenzen haben.

Die gleichzeitige Öffnung Deutsch-

lands und Österreichs bezüglich der

High-Tech-Fachleute wird zur Drainage

der Humanressourcen aus den Kandida-

tenländern führen, was die periphäre

Lage dieser Länder noch vertiefen wird.

Dabei wird das Prinzip der Fairneß ver-

letzt, da die hochqualifizierten Arbeit-

nehmer aus Kandidatenländern unter

Nutzung nationalstaatlicher Ressourcen

ausgebildet wurden. Demnach erinnert

die europäische Politik der Übergangsfri-

sten an eine Form der ‘beggar-thy-

neighbour’-Taktik, durch welche die Kan-

didatenstaaten immer weiter in eine

periphäre Lage gedrängt werden.

Die heutige EU erinnert trotz eines

bestimmten Grades an Supranationalität

in vielerlei Hinsicht an ein System atomi-

sierter Akteure (im Sinne von Hannah

Arendt), in dem Solidarität instrumentali-

57

Page 58: perspektive21 - Heft 14

Pavel Karolewski

siert wird. So spricht sich zwar Spanien

gegen die Übergangsfristen für Kandida-

tenstaaten aus, aber nur, weil es sich

dadurch die Weiterzahlung der Struktur-

fondgelder sichern möchte. Auch

Deutschland gelingt es, die Europäische

Kommission aus wahlpolitischen Überle-

gungen zu instrumentalisieren. Es er-

scheint kaum zufällig, daß die Kommis-

sion die deutschen Forderungen nach

Übergangsfristen für die Freizügigkeit

widerspruchslos übernommen hatte.

Weil atomisierte Staaten aufeinander-

prallen, wird eine Abwehrpolitik der

Nationalstaaten gegen konfligierende

Interessen anderer Staaten wahrscheinli-

cher. In solcher Situation bleibt die Vor-

stellung einer europäischen Identität nur

Wunschdenken.

Wie wenig über die Werte der europäi-

schen Integration reflektiert wird, zeigt

die Argumentation des Erweiterungs-

kommissars bezüglich der Kapitalbewe-

gungsfreiheit. Diese bilde eine Grundlage

der EU und dürfe mit allzu langen Über-

gangsfristen nicht eingeschränkt wer-

den. Diese Sicht ist nicht nur problema-

tisch, sondern auch gefährlich, da sie den

Eindruck des kapitalistischen Elitismus

verstärkt (das Kapital im Gegensatz zur

Arbeit mußte man nie für die Idee der EU

begeistern). Die Kapitalbewegungsfrei-

heit wird überbetont, die Niederlas-

sungsfreiheit ignoriert. Wie bedeutsam

jedoch eine ‘bevölkerungsorientierte`

Europapolitik ist, zeigen die Proteste in

Seattle, Zürich und Quebec. Dies sind

keine Zufälle, sondern Anzeichen des

Phänomens eines sich formierenden

Widerstandes gegen die als ungerecht

begriffene Internationalisierung. Diese

Proteste illustrieren deutlich, daß der Ort

der Demokratie und Verantwortlichkeit

in integrierten und globalisierten Räu-

men unterbestimmt bleibt. Die Antiglo-

balisierungsbewegung ist möglicher-

weise der Anfang einer ähnlichen Ent-

wicklung in Europa. Die Grundlage dafür

stellen atomisierte, ignorierte und verär-

gerte Individuen dar, die auf der Suche

nach Sicherheit (welche in der sogenann-

ten Postmoderne ein Knappgut ist) sind.

Die Tatsache, daß die Sinnhaftigkeit der

EU heute noch nicht ernsthaft in Frage

gestellt wird, ist auf die Nachwirkung des

permissive consensus aus der Zeit des

Kalten Krieges zurückzuführen. Dazu

kommt noch die beschränkte Möglich-

keit der Artikulation der Unionsbürger.

Nur in wenigen Staaten wurden die Bür-

ger über europäische Projekte um Akzep-

tanz gebeten. Mit der Osterweiterung

wird sich das verändern.

Im Augenblick verfügt die EU über

keine belastbare europäische Identität,

die Diskriminierungseffekte erlauben

würde. Die Frage, ob die EU die Osterwei-

terung überdauern wird, und zwar nicht

58

Page 59: perspektive21 - Heft 14

Chancen des Zusammenwachsens

59

wegen der institutionellen Ineffizienzen,

sondern vor allem wegen der fehlenden

europäischen Solidarität, ist keinesfalls

nur akademisch.

Pavel Karolwski studierte an der Universität Potsdam, promovierte bei Prof. Dr. Heinz Kle-

ger zum Thema „Funktionalismus oder Föderalismus“ und ist wissenschaftlicher Mitarbei-

ter am Lehrstuhl für politische Theorie.

Page 60: perspektive21 - Heft 14
Page 61: perspektive21 - Heft 14

Lässt man sich eine Aufstellung über

die wichtigsten Industriestandorte zu

DDR-Zeiten im heutigen Brandenburg

geben, dann kommen einem unmittelbar

die Worte Fontanes in den Sinn: „Ich bin

die Mark durchzogen und habe sie rei-

cher gefunden als ich zu hoffen gewagt

habe.“

Es gab die petrochemische Industrie in

Schwedt, die Braunkohle in der Lausitz

und die Textilindustrie in Cottbus, Forst

oder Spremberg, die auf eine schon lange

Tradition zurückblicken konnte. In ähnli-

cher Tradition standen die Glaskombi-

nate in Döbern. Schwermaschinenbau

gab es in Lauchhammer, die Stahlindu-

strie hatte ihre Standorte in Eisenhütten-

stadt aber auch in Brandenburg an der

Havel und die Halbleiterindustrie in

Frankfurt/Oder. Es ließen sich noch eine

ganze Reihe weiterer Beispiele aufzählen.

So wenig war dies gar nicht, das meiste

ist jedoch während der Wende wegge-

brochen und nur wenig überlebte in stark

reduzierter Form.

Es gab schon früher Beispiele des Zer-

falls einer Region, denkt man an das

Ruhrgebiet oder an das Saarland und den

Wegbruch der Kohle- und Stahlindustrie.

Dort wurde der Umbruch durch den Auf-

bau einer neuen Industrie, einer besseren

und innovativen Wirtschaft geschafft. Als

Initialzündung für diese Entwicklung

wurde eine große Zahl von Hochschulen

gegründet,die High-Tech-Firmen mit auf-

bauten bzw. erst in die Region zogen.

Ähnliches plante – und ich denke damals

sehr gut beraten – nach der Wende die

Brandenburger Regierung.

Es wurde eine Hochschullandschaft

mit neuen Hochschulen, davon 3 Univer-

sitäten, dezentral verteilt über das Land

geschaffen, die als Motor für die Region

und deren Entwicklung wirken sollen.

34.400 flächenbezogene Studien-

plätze wurden geplant, gerade für soviel

Studenten, wie an einer mäßig großen

Universität studieren. Bezogen auf die

Bevölkerungszahlen ist dies zwar die

geringste Studienplatzdichte in ganz

Deutschland, aber die Idee war gut und

die Lehr- und Forschungsschwerpunkte

61

Wissenschaftliche technische Entwicklungund Leitbild für die InfrastrukturpolitikProf. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund

Page 62: perspektive21 - Heft 14

Prof. dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund

wurden auf die Charakteristika der ver-

schiedenen Regionen abgestimmt.

Positive Anschauungsbeispiele gibt es

weltweit zu genüge, das Ruhrgebiet

wurde schon erwähnt, das bekannteste

Beispiel, das in aller Munde ist, ist Kalifor-

nien und das viel gepriesene Silicon Val-

ley, aber genauso muss Holland z. B. mit

der Region Eindhoven und seiner techni-

schen Universität erwähnt werden.

Die Brandenburger Hochschulen

haben ihren Auftrag angenommen und

mit viel Pioniergeist und Enthusiasmus

den Aufbau begonnen. Von der ersten

Minute an wurden Studenten immatri-

kuliert, es wurde gelehrt, geforscht und

es wurde die partnerschaftliche Zusam-

menarbeit mit der Wirtschaft gesucht. Es

gab keine mehrjährige Schonfrist wie es

sonst bei Hochschulgründungen üblich

ist. Jeder, der die klassische Hochschul-

landschaft und deren Zeitskalen kennt,

und der weiß, dass von der Idee eines

Studienganges bis hin zum ersten Absol-

venten etwa 7 Jahre vergehen, der weiß

auch, dass in den 10 Jahren der Existenz

der Brandenburger Hochschulen eine

Erfolgsstory geschrieben wurde.

Das Land Brandenburg ist jedoch nicht

konsequent. Die Hochschulen sind wie in

keinem anderen Bundesland unterfinan-

ziert und die positive Aufwärtsentwick-

lung stagniert in vielen Bereichen. Etwa

20.000 der geplanten Studienplätze sind

erst gebaut und es gibt Stimmen von Per-

sonen, die sogar Wert darauf legen, dass

man sie ernst nimmt,wenn sie sagen,das

Land hätte sich mit seinen Hochschulen

übernommen.

Untersucht man die Wirkung der

Hochschulen in den Regionen, so kommt

man zu ganz beeindruckenden Resulta-

ten, für die man jedoch erst den Blick des

Betrachters öffnen muss. Es sind drei

Bereiche, in denen sich die Wirkung des

Regionaleinflusses der Hochschulen ver-

deutlicht. Dies sind:

• der direkte Kaufkraftzufluss durch die

Mitarbeiter der Hochschule, durch die

Studenten, die vielen Gäste, die Aktivitä-

ten in und um die Hochschule herum

• der Wertzuwachs an Humankapital

durch die Arbeit der Hochschule und

damit die Zunahme der Attraktivität der

Region

• die Sicherung und der Aufbau von

innovativen Arbeitsplätzen durch Bera-

tung und Weitergabe von Wissen und

Erfahrung an Partner in der Wirtschaft,

durch Unterstützung von Firmengrün-

dungen und Firmenansiedlung.

Die Hochschulen haben sich in der Zwi-

schenzeit durch ihre Aktivitäten ein Netz-

werk von Zusammenarbeit und Partner-

62

Page 63: perspektive21 - Heft 14

Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik

schaften aufgebaut, wie es keine andere

Institution besitzt bzw. besitzen kann.

Unter den 9 Hochschulen des Landes

ist die Brandenburgische Technische Uni-

versität in Cottbus (BTU) die einzige tech-

nische Universität in Brandenburg. Sie ist

eine Neugründung und konnte völlig neu

strukturiert aufgebaut werden. So etwas

ist nur bei Neugründungen möglich und

von großem Vorteil, wenn man sieht, wie

schwer und kaum machbar sich die

Hochschulen – und dies sowohl im Osten

als auch im Westen – verändern lassen.

Die BTU hat naturwissenschaftliche

und technische Ausrichtungen mit Lehr-

und Forschungsschwerpunkten, die

einen Bezug zur Region besitzen.

In der Forschung werden zur Zeit etwa

300 Projekte bearbeitet, die von außerhalb

finanziert bzw. mitfinanziert werden und

die ein Gesamtvolumen von über 90 Mio.

DM haben. In den letzten Jahren flossen

durch diese Projekte immer zwischen 20

und 25 Mio.DM pro Jahr in den Hochschul-

haushalt ein. Dies entspricht etwa einem

Viertel des Haushaltes, der bei etwas über

90 Mio.DM liegt.Eine Relation,die die Uni-

versität in die Gruppe der erfolgreichen

Einrichtungen in Deutschland bringt. Und

dies nach nur 10 Jahren der Existenz. Etwa

ein Drittel der Forschungsprojekte kom-

men aus der freien Wirtschaft.

Repräsentativ für alle Brandenburger

Hochschulen sollen hier ein paar Bei-

spiele aufgezeigt werden. Das Energie-

Ressourcen-Institut (ERI) arbeitet mit der

Unterstützung der großen Energieunter-

nehmen wie der VEAG, der LAUBAG und

anderer im Bereich der Energietechnik. Es

werden Verbrennungsverfahren entwick-

elt bzw. weiterentwickelt wie z. B. das

druckaufgeladene Wirbelschichtverfah-

ren, es werden Filtersysteme untersucht,

die Biogasproduktion aus nachwachsen-

den Rohstoffen wird genauso studiert

wie die Solartechnik oder der Einsatz von

Brennstoffzellen.

Auf dem Gebiet der Materialforschung

haben sich in Cottbus zwei Schwer-

punkte etabliert, nämlich einerseits die

Halbleitersysteme und andererseits die

Leichtbauwerkstoffe.

Bei den Halbleitersystemen wird sehr

eng und erfolgreich mit dem IHP, der

Innovations for High Performance/Micro-

electronics GmbH in Frankfurt/Oder, mit

der gemeinsam ein Joint Lab gegründet

wurde, aber auch mit anderen außeruni-

versitären Forschungseinrichtungen und

Firmen zusammengearbeitet.

63

Page 64: perspektive21 - Heft 14

Prof. dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund

In diesem Bereich wurde ein sehr

attraktiver Studiengang über Halbleiter-

technologie entwickelt,um sicher zu sein,

dass für die Industrie die nötigen Nach-

wuchskräfte ausgebildet werden.

Bei den Leichtbauwerkstoffen wird die

Herstellung und Bearbeitung neuer

Materialien, wie z. B. metallische Werk-

stoffe Magnesium und Titanlegierungen

erforscht, aber auch Verbundwerkstoffe

und Kunststoffe, Polymere werden unter-

sucht. Es bestehen hier ganz enge Koope-

rationen mit der Industrie, praktisch der

gesamten Automobilindustrie aber auch

mit Firmen wie Thyssen, Eko-Stahl oder

Rolls Royce bzw. der Firma BASF und

anderen Firmen auf dem Kunststoffsek-

tor. Diese Aktivitäten werden über die

gemeinnützige GmbH Panta Rhei koordi-

niert und erarbeitet.

Die erarbeiteten Projekte und Entwick-

lungsschwerpunkte müssen sehr genau

mit den neuesten technologischen Ent-

wicklungen der Wirtschaft aber auch auf

die Möglichkeit und Bedürfnisse der

Region abgestimmt sein. Es ist ganz

wichtig für eine Hochschule, aber auch

für ein Land, Alleinstellungsmerkmale zu

erhalten. Nur dies gibt langfristig Sicher-

heit und Stabilität. Für die Region Cottbus

ist es jetzt schon abzusehen, dass dies

Konsequenzen bei der Ansiedlungsent-

scheidung großer Firmen haben wird.

Nimmt man an, dass die BTU Cottbus

durch ihre Projekte und Aktivitäten etwa

800 High-Tech-Arbeitsplätze initiiert, und

diese Zahl ist sehr realistisch, dann

fließen durch diese und die Sekundärar-

beitsplätze dem Staat jährlich Steuern in

der Größenordnung des BTU Haushaltes

zu. Rechnen wir hierzu auch noch die

durch unsere Studenten und Mitarbeiter

in die Region gebrachte Kaufkraft, dann

ist dies mindestens noch einmal das 1 1/2

–fache des BTU Haushaltes.

Diese Beispiele ließen sich für die

Hochschule noch beliebig fortsetzen.

Was ist notwendig, was können wir

noch mehr tun?

Für ein Land und seine positiven Stan-

dortfaktoren ist einer der wichtigsten

Punkte die Ausbildung des Nachwuchses,

der Arbeitskräfte. Es müssen attraktive,

zukunftsorientierte Studiengänge und

ein breitgefächertes Weiterbildungsan-

gebot in Absprache mit der Wirtschaft

angeboten werden. Um die Zukunft

bestehen zu können, ist ein wichtiges Ziel

die Internationalisierung der Hochschu-

len.

Internationale Studiengänge mit Eng-

lisch als Unterrichtssprache müssen ver-

stärkt eingerichtet und die Zahl der aus-

ländischen Studierenden muss weiter

64

Page 65: perspektive21 - Heft 14

Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik

65

gesteigert werden, was im übrigen

neben einem faszinierenden, multikultu-

rellen Klima unter anderem auch zu einer

Qualitätssteigerung in den Studiengän-

gen führt.

Unsere Gesellschaft geht in raschen

Schritten von der klassischen Industrie-

gesellschaft in eine Kommunikations-

und Wissensgesellschaft über. Für das

Wissen wird es im Internet-Zeitalter

keine Ländergrenzen mehr geben und

ausländische Partner müssen verstärkt in

die tägliche Arbeit integriert werden.

Dem eigenen Nachwuchs, den Landes-

kindern muss das notwendige Wissen

zur Bewältigung der neuen Herausforde-

rungen der Zukunft vermittelt werden

und das Land muss den übergroßen

Schritt von einer nicht mehr leistungs-

fähig gewesenen Industriekultur in das

neue Zeitalter von Internet und High-

Tech schaffen.

Dies kann nur in enger Kooperation

aller Partner, der Wissenschaft, der Wirt-

schaft und der Politik geschehen. Die wis-

senschaftliche technische Entwicklung

des Landes muss zum Leitbild auch für

die Infrastrukturpolitik werden.

Prof. Dr. Ernst Siegmundist Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus.

Page 66: perspektive21 - Heft 14
Page 67: perspektive21 - Heft 14

67

Die Studie thematisiert drei zentrale

Fragestellungen, die für die künftige Ent-

wicklung in Berlin-Brandenburg von

besonderer Bedeutung sind: Die Konse-

quenzen aus dem starken Geburtenein-

bruch in der Nachwendezeit in Ost-

deutschland, die aus den Migrationsströ-

men in der Region Berlin-Brandenburg

resultierenden demographischen und

ökonomischen Effekte sowie den Stand

der Anpassungsprozesse beim Aufbau

der Infrastruktur.

ÖkonomischeEntwicklung/Arbeitsmarkt

• Das Land Brandenburg ist durch

extreme sozio-ökonomische Disparitäten

zwischen den berlinfernen und berlinna-

hen Räumen gekennzeichnet. Diese

Disparitäten haben in den letzten Jahren

in der Tendenz eher zugenommen.

Während in den peripheren Räumen von

1995 bis 1999 nahezu 14% der Arbeits-

plätze abgebaut wurden, blieb die

Beschäftigung im Berliner Umland weit-

gehend stabil und die wachstumsstärk-

sten Regionen im Berliner Umland konn-

ten sogar Beschäftigungsgewinne von

über 20% verzeichnen.

• Insgesamt gingen in Berlin im Zeit-

raum von 1995 bis 1999 ca. 10,4% und in

Brandenburg ca. 9,3% der Arbeitsplätze

verloren. Während in Brandenburg der

Arbeitsplatzabbau nahezu ausschließlich

auf die Bauwirtschaft und den Bereich

der Gebietskörperschaften begrenzt war,

haben in Berlin alle industriellen Bereiche

Jobs abgebaut. Die aus der Wiederverei-

nigung und dem Zusammenbruch der

Demographischer Wandel undInfrastrukturaufbau in Berlin-Brandenburg bis 2010/15:Herausforderungen für eine strategischeAllianz der Länder Berlin und BrandenburgZusammenfassung der zentralen empirischen Befunde und derwichtigsten Schlussfolgerungen der im Auftrag des Unternehmerverban-des Brandenburg erstellten Studie Vorgelegt im März 2001.

von Prof. Dr. Helmut Seitz

Page 68: perspektive21 - Heft 14

Prof. Dr. Helmut Seitz

Ostwirtschaft in Berlin resultierenden

sektoralen Änderungen mit erheblichem

Beschäftigungsabbau sind aber inzwi-

schen weitgehend abgeschlossen.

• Die sektoralen Entwicklungstenden-

zen in Berlin und im Berliner Umland zei-

gen, dass sich innerhalb der Region

bereits deutliche Tendenzen zu einer res-

sourcenorientierten interregionalen

Arbeitsteilung abzeichnen. Während sich

im Umland insbesondere flächen- und

logistikintensive Industrie- und Handels-

betriebe ansiedeln, entwickeln sich in

Berlin die höherwertigen Dienstleistun-

gen,aber auch zukunftsorientierte Unter-

nehmen im Technologie- und hightech-

Bereich des Verarbeitenden Gewerbes.

• Bereits jetzt pendeln mehr als

120.000 Brandenburger zur Arbeit nach

Berlin und mehr als 53.000 Berliner in das

benachbarte Brandenburg. Vergleiche

mit Stadtregionen in Westdeutschland

lassen erwarten, dass diese Pendlerver-

flechtungen mit zunehmender Integra-

tion des Wirtschaftsraumes in der

Zukunft noch erheblich an Intensität

gewinnen werden.

Bevölkerung/Migration• Während die anderen neuen Länder

in den nächsten 10 Jahren mit einem

Bevölkerungsverlust von ca. 7% rechnen

müssen, wird die Bevölkerungszahl in

Berlin-Brandenburg in diesem Zeitraum

weitgehend auf dem derzeitigen Niveau

stabil bleiben.

• Allerdings wird die weitgehend sta-

bile Gesamtbevölkerungsentwicklung in

der Region von erheblichen regionalen

Verschiebungen der Bevölkerungsvertei-

lung und der Altersstruktur, insbes. im

Land Brandenburg, begleitet. So werden

die berlinfernen Regionen im Land Bran-

denburg bis zum Jahr 2015 weitere ca. 11%

ihrer Bevölkerung verlieren, während die

berlinnahen Regionen durch Zuwande-

rungen aus Berlin ein Bevölkerungs-

wachstum von über 20% erreichen wer-

den.

• Die intensiven Migrationsbewegun-

gen zwischen Berlin und Brandenburg

führen zu einer zunehmenden sozio-öko-

nomischen Integration der Region. Die

auch in Zukunft zu erwartenden Wande-

rungsbewegungen von Berlin in das

Brandenburger Umland werden dazu

führen, dass in den nächsten 10 bis 15 Jah-

ren der Anteil ehemaliger Berliner an der

Bevölkerung im Umland auf 40% bis 50%

ansteigen wird. Dies wird zu einer starken

Zunahme von Berufs-, Ausbildungs- und

Schulpendlern führen,was es erforderlich

macht, gerade in den Berührungsräumen

der beiden Länder die Kapazitäten der

Verkehrssysteme anzupassen.

• In Brandenburg wird besonders der

starke Einbruch der Geburten in den

68

Page 69: perspektive21 - Heft 14

Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15

Nachwendejahren und in etwas schwä-

cherer Form auch in Berlin in den näch-

sten Jahren zu einem dramatischen Rück-

gang der Bevölkerungsanteile und der

absoluten Anzahl junger Menschen

führen. Dieser Rückgang wird sich wel-

lenförmig durch das gesamte Ausbil-

dungssystem, angefangen von den allge-

meinbildenden Schulen über die berufli-

che Ausbildung bis hin in die Hochschu-

len ziehen.

Schulbereich• In Berlin-Brandenburg wird der Rück-

gang der Schulabsolventenzahlen, und

damit auch der Ausbildungs- und Studi-

enplatzbewerberzahlen, deutlich gerin-

ger ausfallen als in den anderen neuen

Ländern. So werden in Brandenburg die

Absolventenzahlen allgemeinbildender

Schulen um ca. 40% und in Berlin um ca.

18% zurückgehen, während in den ande-

ren Ländern ein Rückgang von ca. 50% zu

erwarten ist. Allerdings wird es in Bran-

denburg zu einer erheblich differenzier-

ten Entwicklung zwischen den berlinfer-

nen Regionen und dem Umland kom-

men. Während im berlinnahen Raum die

Schülerzahlen nur um ca. 20% sinken

werden, ist in den peripheren Regionen

von einem Rückgang von mehr als 60%

auszugehen.

• Der Rückgang der Schülerzahlen und

der Umstand, dass sich diese auch bei

einer Normalisierung der Geburtenraten

nicht wieder auf das hohe Niveau der

Vorwendezeit bewegen werden, stellt

insbesondere das Land Brandenburg vor

große Herausforderungen im Bereich der

Schulinfrastruktur.

• Die intensiven Migrationsbewegun-

gen zwischen Berlin und dem stadtna-

hen Umland machen eine zukünftig noch

engere Planung und Abstimmung im

Schulbereich, insbesondere in den

Berührungsräumen der beiden Länder,

erforderlich, die auch zu Kosteneins-

parungen genutzt werden kann.

Ausbildungsmarkt• Der erhebliche Nachwendegeburten-

knick in Brandenburg sowie im Ostteil

Berlins wird in ca. 5 Jahren als Rückgang

von Hauptschulabsolventen und damit

auch Berufsausbildungsbewerbern erst-

mals auf dem Arbeitsmarkt spürbar sein

und sich bis zum Jahr 2010 beschleunigt

fortsetzen.

• Sowohl in Berlin als auch in Branden-

burg ist der Ausbildungsmarkt in erhebli-

chem Umfang durch arbeitsmarktpoliti-

sche Maßnahmen beeinflusst, wobei

davon auszugehen ist, dass nahezu jeder

zweite neu besetzte Ausbildungsplatz

direkt oder indirekt staatlich gefördert

ist.

69

Page 70: perspektive21 - Heft 14

Prof. Dr. Helmut Seitz

• Die demographisch bedingte deutli-

che Entspannung auf dem Ausbildungs-

markt wird angebots- und nachfragesei-

tig zu Anpassungen führen, die in erheb-

lichem Umfang den absehbaren Rück-

gang bei der Ausbildungsplatzbewerber-

zahl kompensieren werden. Zu erwarten

ist eine Rückführung der aktiven Arbeits-

marktpolitik am Ausbildungsmarkt

sowie ein verändertes Ausbildungsver-

halten der Schulabgänger. Auch der

Abwanderungsdruck junger Menschen

aus den neuen Ländern wird nachlassen.

• Allerdings ist davon auszugehen, dass

die zu erwartenden Anpassungen der

Marktteilnehmer auf dem Ausbildungs-

markt nicht ausreichen werden, den

demographisch bedingten Nachfrage-

einbruch vollständig auszugleichen.

Daher besteht durchaus die Gefahr – ins-

besondere bei anziehender Konjunktur –,

dass es in der Region nach den Jahren

2008/2010 in einigen Bereichen einen

Mangel an Nachwuchskräften mit beruf-

licher Ausbildung geben wird, wovon

besonders weniger attraktive Berufsfel-

der und mittelständische Betriebe in der

Region betroffen sein werden.

Hochschulbereich/Jungakademikerar-beitsmarkt

• Mit noch größerer zeitlicher Verzöge-

rung als auf dem Ausbildungsmarkt wer-

den sich auch spürbare Rückgänge bei

den Einschreibungen an den Fachhoch-

schulen und Universitäten und mit wei-

terer Verzögerung bei den Fachhoch-

schul- und Universitätsabsolventen ein-

stellen. So ist in Ostdeutschland nach

dem Jahr 2007 mit einem erheblichen

Rückgang der Anzahl der Studienanfän-

ger zu rechnen, der sich in den Folgejah-

ren bis auf 50% des gegenwärtigen

Niveaus belaufen wird. Auf dem Jungaka-

demikerarbeitsmarkt werden diese

Effekte aber erst gegen Ende des hier

betrachteten Zeitraums, also ab den Jah-

ren 2013 - 2015 spürbar sein.

• In Brandenburg wird der Rückgang

der Studentenzahl aber deutlich geringer

sein als in den anderen Ostflächenlän-

dern. In Berlin, dessen Studienplätze zu

ca. 50% von Studenten aus anderen Bun-

desländern und dem Ausland besetzt

sind, wird die Hochschulabsolventenzahl

weniger von der demographischen Ent-

wicklung in der Stadt, sondern mehr von

der Studienplatzkapazität und damit der

Finanzierung der Berliner Hochschulen

determiniert.

Insgesamt gesehen ist somit zu erwar-

ten, dass der starke Geburtenknick in den

neuen Ländern auf dem Ausbildungs-

markt mit großer Wahrscheinlichkeit nur

in wenigen Bereichen zu einer spürbaren

Verknappung des Arbeitsangebots füh-

ren wird. Effekte auf den Jungakademi-

70

Page 71: perspektive21 - Heft 14

Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15

71

kerarbeitsmarkt werden erst mit noch

größerer zeitlicher Verschiebung wirk-

sam, wobei in Berlin durchaus die

Befürchtung besteht, dass ein mangel-

haftes Angebot von Hochschulabsolven-

ten mehr durch die Finanzlage der Hoch-

schulen, als durch demographische Ent-

wicklungen bestimmt wird.

Infrastruktur• Im Hinblick auf die Verbesserung der

Anbindung der Region an das nationale

und internationale Verkehrsnetz (Auto-

bahnen, Schienenfernverkehr) wurden in

den vergangenen 10 Jahren große Ver-

besserungen erreicht.

• Immer noch große Defizite sowohl in

Berlin als auch Brandenburg gibt es noch

in den Infrastrukturbereichen die in der

unmittelbaren Verantwortung der bei-

den Länder liegen. Schätzungen nach der

Wende gingen davon aus, dass das Infra-

strukturanlagevermögen der Ostflächen-

länder nur bei ca. 40% des Westdurch-

schnitts lag, während für Gesamtberlin

mit einer Ausstattung von ca. 60% des

westdeutschen Vergleichswertes (Durch-

schnitt von Bremen und Hamburg)

gerechnet wurde.

•Wie in allen anderen neuen Ländern

ist auch in Brandenburg der Infrastruk-

turaufbauprozess bereits erheblich abge-

schwächt. Untersuchungen des DIW

kommen zum Ergebnis, dass Branden-

burg bis zum Ende des Jahres 1999 ein

Infrastrukturanlagevermögen hatte, das

bei lediglich ca. 60% des westdeutschen

Vergleichswertes lag. In Berlin ist der

Angleichungsprozess bzgl. der in der

Finanzierungsverantwortung des Landes

liegenden Infrastruktur sogar nahezu

gänzlich zum Stillstand gekommen.

• Es gibt aber nicht nur im Hinblick auf

das Niveau der Infrastrukturausstattung,

sondern auch bei der Struktur des Infra-

strukturanlagevermögens Defizite, da

gerade in Bereichen, die für die Fortent-

wicklung der Wirtschaft von zentraler

Bedeutung sind, wie z.B. im Verkehrsbe-

reich, nur unterdurchschnittliche Anpas-

sungserfolge zu verzeichnen sind.

• Das erheblich gestiegene und auch in

Zukunft weiterhin ansteigende Flugga-

staufkommen ist mit den vorhandenen

Kapazitäten nicht mehr zu bewältigen, so

dass dem Ausbau des Flughafens Berlin-

Schönefeld zum Flughafen Berlin-Bran-

denburg International eine hohe Priorität

einzuräumen ist und der Fertigstellungs-

zeitpunkt 2007 eingehalten werden

muss.

Strategische Ausrichtung der Politik inBerlin-Brandenburg

• Die größten Herausforderungen, die

aus dem Nachwendegeburtenknick und

Page 72: perspektive21 - Heft 14

Prof. Dr. Helmut Seitz

auch aus der regionalen Umverteilung

von Bevölkerung und Jobs in der Region

Berlin-Brandenburg resultieren, sind die

notwendigen Anpassungen infrastruktu-

reller und personeller Art in den betroffe-

nen öffentlichen Aufgabenbereichen, wie

allgemeinbildende Schulen, berufliche

Schulen und Hochschulen.

• Die erheblichen regionalen Disparitä-

ten im Land Brandenburg und der weiter-

hin von Berlin ausgehende Siedlungs-

druck auf das Umland werden insbeson-

dere in den Berührungsräumen der bei-

den Länder längerfristige Wirkungen hin-

terlassen, die beide Länder vor schwierige

Aufgaben stellen. Die Langfristigkeit der

Wirkungen und die Konzentration der

Effekte auf die Berührungsräume erfor-

dern eine intensivere länderübergrei-

fende Koordination und Planung im

Bereich der allgemeinbildenden und

beruflichen Schulen. Dies ist auch vor

dem Hintergrund knapper öffentlicher

Kassen eine Notwendigkeit, da sich durch

gemeinsame Aufgabenwahrnehmung

Kosten sparen lassen.

• Die regionalen Disparitäten in der

demographischen und ökonomischen

Entwicklung im Land Brandenburg stel-

len die Gesamtregion vor große Heraus-

forderungen. Eine langfristige und insbe-

sondere nachhaltige Verbesserung der

Standortgunst und damit der Entwick-

lungschancen der peripheren Regionen

ist nur erreichbar, wenn sie durch eine

massive Offensive im Bereich der Ver-

kehrsinfrastruktur aus den Schattenräu-

men des Verkehrs herausgeführt und

besser an das überregionale und natio-

nale Verkehrsnetz angebunden werden.

• Berlin und sein Umland stehen weni-

ger in einer Konkurrenzsituation zueinan-

der sondern vielmehr in einer Komple-

mentaritätsbeziehung, die es erforderlich

macht, die Politik in beiden Ländern noch

intensiver als bisher miteinander abzu-

stimmen und zu verzahnen.

• Völlig losgelöst von der geplanten

Fusion der beiden Länder müssen sich

Berlin und Brandenburg als einen

gemeinsamen Wirtschaftsraum begrei-

fen,der in seiner Gesamtheit mit anderen

deutschen und west- aber auch osteu-

ropäischen Regionen konkurriert. Die

ökonomische Integration der beiden Teil-

räume setzt Synergieeffekte frei, die dazu

führen,dass die Region insgesamt stärker

und wettbewerbsfähiger als die Summe

der Stärke und Wettbewerbsfähigkeit der

beiden isoliert betrachteten Teilregionen

ist. Um diese Effekte zum Vorteil der

Menschen in der Region zu entwickeln

und zu stärken, müssen die beiden Län-

der eine strategische Allianz eingehen

und die Gesamtregion im Standortwett-

bewerb bestmöglichst positionieren.

72

Page 73: perspektive21 - Heft 14

Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15

73

• Die zunehmende Bedeutung von

Wissen und Humankapital als Standort-

und Wettbewerbsfaktor und die Entwick-

lungsdefizite im Bereich der Infrastruktur

müssen von der Politik zum Anlass

genommen werden, Qualifikation und

Infrastruktur als die zentralen strategi-

schen Einflussvariablen der Zukunftsent-

wicklung der Region zu betrachten. Dies

macht es erforderlich, im Bereich der

Schulen und Hochschulen ein ausrei-

chendes Angebot zu sichern und zu

finanzieren und die öffentlichen Haus-

halte stärker in Richtung investiver Mit-

telverwendung umzustrukturieren.

• Im Hinblick auf die noch immer

großen Defizite beim Infrastrukturauf-

bau muss die Region weitere Hilfe des

Bundes (in Sachen Soli II) und der finanz-

starken Westländer (in Sachen Länderfi-

nanzausgleich) einfordern, um den Infra-

strukturaufbauprozess auch in Zukunft

fortsetzen und die Infrastrukturdefizite

abbauen zu können. Weder Berlin noch

Brandenburg oder ein anderes der neuen

Länder kann die hierzu notwendigen Mit-

tel aus eigener Kraft aufbringen

Die Studie kann gegenKostenerstattung (25,- DM) beiProf. Dr. Helmut Seitz angefordertwerden unter:

Tel.: 0335-5534 611Fax: 0335-5534 610

Prof. Dr. Helmut Seitz ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere

Wirtschaftstheorie (Makroökonomie) an der Europauniversität Viadrina Frankfurt/Oder

Page 74: perspektive21 - Heft 14
Page 75: perspektive21 - Heft 14

75

Unter der Leitung des ehemaligen Leip-

ziger Oberbürgermeisters Hinrich Leh-

mann-Grube hat eine vom Bundesbau-

minister eingesetzte Kommission einen

Bericht erarbeitet, der zu den wohnungs-

wirtschaftlichen Strukturproblemen in

Ostdeutschland analystisch Stellung ni-

mmt und Vorschläge zur Lösung dersel-

ben unterbreitet.

Die Analyse ist interessant, da sie von

einigen Vorurteilen Abschied nehmen

muß. Der Leerstand von gegenwärtig 1

Million Wohnungen in Ostdeutschland

wurde im wesentlichen nicht durch den

Wegzug von Menschen von Ost- nach

Westdeutschland verursacht. Vielmehr

ist eine Ursache der Wegzug aus den

Kernstädten in die Umlandgemeinden.

Die großen brandenburgischen Städte

kennen den Zustand. Hier wird ein Erbe

der DDR sichtbar, da innerhalb von zehn

Jahren ein Aufholprozeß der Ostdeut-

schen stattgefunden hat, für den sich die

Westdeutschen vierzig Jahre Zeit lassen

mußten. So ist zu erklären,der z. B. die Alt-

stadt von Brandenburg a. d. Havel immer

noch massiv mit Leerstand zu kämpfen

hat, während in den Gemeinden um

Brandenburg herum die Siedlungen mit

Einfamilienhäusern gewachsen sind.

Ein weitere Feststellung ist, daß ein

Drittel des Wohnungsleerstandes in der

Altbausubstanz, die in der Zeit bis 1918

gebaut wurden, zu finden ist. Diese Häu-

ser wiesen schon zu DDR-Zeiten einen

mangelhaften Zustand auf. Weitere zehn

Jahre sind nunmehr vergangen,ohne daß

an ihnen werterhaltende Maßnahmen

vorgenommen wurden. Insofern ist es

zwangsläufig so, daß der Zustand sich

derart verschlechtert hat, daß ein Groß-

teil dieser Wohnungen nicht am Woh-

nungsmarkt angeboten werden kann. Im

Gegensatz dazu steht die Feststellung,

daß die zwischen 1949 und 1990 gebau-

ten Wohnungen einen Leerstand von 8 %,

der in diesem Zusammenhang als mode-

rat einzustufen ist, aufweisen.

Exemplarisch für den wohnungswirt-

schaftlichen Strukturwandel in Ost-

deutschland ist die „Platte“. Der Leer-

stand in industriell gefertigten Wohnun-

gen kann regional bis zu 30 % liegen,

Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandelin Ostdeutschlandvon Benjamin Ehlers

Page 76: perspektive21 - Heft 14

Benjamin Ehlers

weist aber im Gegensatz zu den Altbau-

substanzen, die vor 1918 errichtet wur-

den, erhebliche regionale Unterschiede

auf. Während der Abriß von industriell

gefertigten Wohnungen in Schwedt bun-

desweit die Nachrichtensendungen fül-

lte, verfügt das im Nachbarkreis gelegte

Eberswalde über ein Neubaugebiet, das

von den Bewohnern angenommen wird.

Das Vorurteil, daß die „Platte“ flächen-

deckend Leerstandsprobleme mit sich

bringt, ist somit – im Gegensatz zur bis

1918 geschaffenen Altbausubstanz –

nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Das Ergebnis der Analyse stellt sich für

die Kommission wie folgt dar: „Viele

Städte drohen (…) auseinander zu bre-

chen. Sie zerfallen in Fragmente aus lee-

ren Altbaugebieten, konsolidierten, in

neuer Pracht wieder erstandenen Kern-

bereichen, halbleeren durch Abriß schru-

mpfenden Plattenbausiedlungen – vor

allem dort, wo die DDR-Industrien zu-

sammengebrochen sind – und in große,

neue Einfamilienhaussiedlungen. Ein

Ende ist nicht abzusehen, denn er aus

DDR-Zeit überkommene Wohnungsbe-

stand ist zu einseitig zusammengesetzt.“

Für die Zukunft heißt dies, daß die Poli-

tik auf drei Vorgänge reagieren muß. Die

Altbausubstanz wird sich bei der gegen-

wärtigen Lage eher verschlechern. Dies

insbesondere deshalb, da der Wohnungs-

leerstand innerhalb der nächsten 15 Jahre

auf schätzungsweise 2 Millionen Woh-

nungen ansteigen wird. Bauwerke, die

schon über zehn Jahre leerstehen, wer-

den dem Konkurrenzdruck von Neubau-

ten, die weniger Bau- und damit Finan-

zierungsrisiken aufweisen, kaum stand-

halten. Neben dem Kostennachteil der

über Jahre leerstehenden Altbausub-

stanz, der sich nur auf die Baukosten

bezieht, kommt noch verschärfend hinzu,

daß der Bau des Eigenheims auf der „grü-

nen Wiese“ durch die öffentliche Hand

bevorzugt gefördert wird. Die Kommis-

sion schlägt deshalb vor, die staatliche

Förderung für den Neubau zu vermin-

dern und für die Investition in vorhan-

dene Bausubstanz zu erhöhen. Somit

könnten durchaus noch Häuser mit Alt-

bausubstanz zur Wohnungsnutzung her-

angezogen werden.

Dies wird allein aber nicht das Leer-

standsproblem lösen. Die Kommission

spricht für alle Wohnungstypen – also

nicht vorrangig für industriell gefertigte

Wohnungen – den Vorschlag aus, daß

Abrißprogramme aufgestellt werden

müssen. Diese Programme müssen staat-

lich gefördert werden, da die Wohnungs-

baugesellschaften sie finanziell nicht tra-

gen werden können. Der Abriß ist durch-

aus im öffentlichen Interesse, da Wohn-

gebiete mit gehäuft leerstehenden Woh-

nungen weitere soziale Probleme an sich

76

Page 77: perspektive21 - Heft 14

Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland

77

ziehen. Zudem stellt sich auch die Frage

nach der baulichen Sicherheit der zerfal-

lenden Häuser.

Die Kommission redet nicht einem

planlosen Abriß das Wort. Vielmehr regt

die Kommission dazu an, die Abrißpro-

gramme mit städtebaulichen Zielstellun-

gen zu verbinden, um der Stadtentwick-

lung neue Impulse zu geben. Letzteres ist

insbesondere für brandenburgisch Stä-

dte wie Schwedt und Eisenhüttenstadt

von Belang, da sie durch die industriell

gefertigten Wohnungsbau stark geprägt

sind.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß

die Kommission unter ihrem Vorsitzen-

den Lehmann-Grube eine wichtige Arbeit

geleistet hat. Insbesondere die Analyse

ist lesenswert, da sie den politischen

Handlungsbedarf für die nächsten zehn

Jahre festlegt. Die Vorschläge bedürfen

einer intensiven Prüfung. Sie konnten

auch nicht alle hier dargestellt werden.

Teilweise greifen sie in detaillierte gesetz-

liche Regelungen ein. Diskutiert werden

muß die politische Frage, wie dem Woh-

nungsleerstand begegnet werden kann.

In diesem Zusammenhang muß sich die

Politik eine Meinung zu der Abrißproble-

matik und der Änderung der Förderpro-

gramme zur Erlangung von Wohnungsei-

gentum bilden, da beide Fragenkomplexe

die Möglichkeit zur politischen Steue-

rung geben.

Den Bericht der Kommission „Woh-

nungswirtschaftlicher Strukturwandel in

den neuen Bundesländern“ gibt es in

einer Kurz- und einer Langfassung. Sie

können jeweils über das Bundesministe-

rium für Wohnen und Verkehr abgerufen

werden.

Benjamin Ehlersist Rechtsanwalt und Mitglied im Beirat des Forum Ostdeutschland.

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Zeit

gesc

hic

hte

Gabriele Schnell

Ende und Anfang

Chronik der PotsdamerSozialdemokratie 1945/46 – 1989/90200 Seiten, Paperback, 19,80 DMISBN 3-933909-05-8

Gabriele Schnell schreibt diespannungsvolle Geschichte der Pots-damer Sozialdemokratie in den Jahren

des Umbruchs: Der Kampf gegen die Zwangsvereinigung1945/46 und der mutige Neubeginn 1989/90. Eine umfangrei-che Material- und Dokumentensammlung ergänzt ihre Darstel-lung.

Benjamin EhlersWer, wenn nicht wir!

10 JahreJunge Sozialdemokraten in der DDRmit einem Vorwort von Manfred Stolpe208 Seiten, Paperback, 19,80 DMISBN 3-933909-07-4

»Die ostdeutsche SPD kann es sichlangfristig nicht erlauben, junge Men-schen ausschließlich fürHandlangerdienste zu verwenden. Sie müssen Freiräume fürihre eigenen politischen Themen erhalten. Nicht zuletzt mußihnen auch institutionell eine Chance eingeräumt werden. ...Insofern können es sich junge Menschen erlauben, etliche Jahreauf ihre Chance in der Politik zu warten; ob sich die SPD die-ses Abwarten leisten kann, ist mehr als fraglich.«

BENJAMIN EHLERS

10 JAHRE

JUNGE SOZIALDEMOKRATEN

IN DER DDR

mit einem Vorwort von Manfred Stolpe

Wer, wenn nicht wir!

k a i w e b e r m e d i e n p r o d u k t i o n e ns c h l a a t z s t r a s s e 6 · 1 4 4 7 3 p o t s d a m

f o n 0 3 31 - 2 8 0 0 5 0 9 · f a x 2 8 0 0 5 1 7e - m a i l : i n f o @ w e b e r - m e d i e n . d e

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Bislang erschienen:

1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*

2. Sozialer Rechtsstaat*

3. Informationsgesellschaft*

4. Verwaltungsreform*

5. Arbeit und Wirtschaft*

6. Rechtsextremismus*

7. Brandenburg – die neue Mitte Europas

8. Was ist soziale Gerechtigkeit?

9. Bildungs- und Wissensoffensive

10. Zukunftsregion Brandenburg

11. Wirtschaft und Umwelt

12. Frauenbilder

13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem

SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam

PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550

* leider vergriffen