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perspektive21 - Heft 09

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Bildungs- und Wissensoffensive

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INHALT

INTERVIEW

mit Steffen Reiche, Minister für Bildung,Jugend und Sportdes Landes Brandenburg ..................... Seite 4

BEITRÄGE

Chancengleichheit, Qualität undSelbstverantwortungvon Gerhard Schröder ......................... Seite 9

Bildung entscheidet über unsere Zukunft- für eine neue Bildungsinitativevon Wolfgang Clement, EdelgardBulmahn, Manfred Stolpe, GabrieleBehler, Jürgen Zöllner, Willi Lemke Seite 16

Potsdamer ErklärungChancengleichheit - Leitbegriff fürPolitik und Gesellschaft im21. Jahrhundert .................................. Seite 30

BILDUNGS- UND

WISSENSOFFENSIVE

Weiterentwicklung der Qualitätschulischer Arbeitvon Bodo Richard ............................. Seite 42

Positionspapiere derSPD-Zukunftskomissionen- Soziale Gerechtigkeit im 21. Jahrundert ............................ Seite 49- Zukunftsregion Brandenburg ......... Seite 55- Bildungsoffensive Brandenburg ..... Seite 63

Definitionsfragen, Standortproblemeund die Gerechtigkeitslückevon Dr. Hans Misselwitz ................... Seite 71

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INTRO

Liebe Leserinnen und Leser,

über Bildungspolitik wird nicht nur in Bran-denburg intensiv diskutiert. Die veränderte Ar-beitswelt des digitalen Kapitalismus erfordertandere Ausbildungsinhalte und -strukturen. Obwir uns wirklich auf eine Wissensgesellschaftzu bewegen, ist umstritten. Klar ist aber, dassder Umgang mit den Neuen Medien und einhohes Maß an Flexibilität in Zukunft unabding-bar ist, um unter veränderten Bedingungen undAnforderungen bestehen zu können.

Politik hat die Aufgabe, die Zukunft zu gestal-ten und Menschen darauf vorzubereiten, dasssie einen angemessenen Platz in der Gesell-schaft f inden. Staatlicher Bildungspolitikkommt dabei einer herausragende Aufgabe undVerantwortung zu. Gerade in Brandenburg mußzehn Jahre nach Umgestaltung des Bildungs-wesens eine Bilanz gezogen werden und - dortwo es sich als nötig erweist - zu Korrekturenkommen. Brandenburgs neuer Bildungsmini-ster Steffen Reiche gibt in seinem Interviewmit der Perspektive 21 erste Antworten.

In der Öffentlichkeit entsteht häufig der Ein-druck, die aktuelle Bildungsdebatte ist nur eineDiskussion über kürzere Schul- und Studien-zeiten und effektivere Strukturen. Es ist aberauch eine Debatte um Werte. Wenn Bildungund Wissen in Zukunft noch stärker den Zu-gang zu Lebenschancen bestimmen, ist dieAusrichtung der Bildungspolitik eine sehrschnell ideologisierte Frage. Die Auseinander-setzung um die Begriffe Chancengleichheit undChancengerechtigkeit sind dafür nur ein Bei-

spiel. In dem in dieser Ausgabe dokumentier-ten Aufruf prominenter Sozialdemokraten füreine Bildungsinitiative und der „PotsdamerErklärung“ engagierter Bildungspolitiker wirdauch diese Debatte aufgegriffen.

Konkrete Reformschritte für die Brandenbur-ger Bildungspolitik schlägt die Zukunfts-kommission 3 des SPD Landesvorstandes inihrem Positionspapier vor. Die Debatte darüberauf dem außerordentlichen Landesparteitag derBrandenburger Sozialdemokraten am 18. März2000 in Mittenwalde wird sicherlich sehr span-nend. Dies gilt natürlich auch für die Positions-papiere zu den Themen „Soziale Gerechtigkeitim 21. Jahrhundert“ und „ZukunftsregionBrandenburg“.

Heftige und kontroverse Diskussionen habendie Beiträge von Klaus Ness und Klaus JürgenScheerer zum Schwerpunktthema „Soziale Ge-rechtigkeit“ in Heft 8 ausgelöst. Grund für uns,Dr. Hans-Jürgen Misselwitz zu bitten, die Dis-kussion in dieser Ausgabe fortzusetzen.

Die nächste Ausgabe wird sich der Hauptstadt-region Berlin-Brandenburg widmen. Auchwenn die Redaktion nur aus Fusionsbefür-wortern besteht, werden wir das Thema nichtauf diese Frage verengen. Beiträge sind wieimmer herzlich willkommen.

P.S. Sollten Sie noch kein kostenlos Abonnenthaben, nutzen Sie die beigefügte Postkarte odersenden sie uns eine Mail.

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Ein Interview mit Steffen Reiche, Minister für Bildung, Jugendund Sport des Landes Brandenburg

INTERVIEW

„NEUE HERAUSFORDERUNGEN

PRAGMATISCH ANGEHEN!“

Alle Parteien sprechen von der Notwendigkeiteiner Bildungsoffensive. Gibt es eine spezielleHerangehensweise der Sozialdemokraten andiese Bildungsoffensive?

Ja! Arbeits- und Lebenswelt der Menschenwerden sich in den nächsten Jahren und Jahr-zehnten radikal verändern. Die Stichworte sindGlobalisierung, Digitalisierung und Indi-vidualisierung. Wir wollen, dass möglichst vie-le die sich neu ergebenden Chancen nutzenund die Veränderungen mitgestalten können.Wichtigste Voraussetzungen dafür müssendurch die Bildungspolitik geschaffen werden.Wir brauchen ebenso Spitzenleistungen wieQualif ikation in der Breite. Die moderneDienstleistungsgesellschaft wird insgesamthöhere Qualifi-kationsanforderungen stellen.Wer mit der Internationalisierung Schritt hal-ten will, muss Englisch als Zweitsprache be-herrschen. Die moderne Arbeitswelt wird inviel höherem Maße Teamfähigkeit verlangen,es geht um Methodenkompetenzen wie bei-spielsweise Umgang mit den Informations- undKommunikationstechnologien und es geht umdie Fähigkeit und Motivation ein Leben langlernen zu wollen. Das Bildungssystem stehtalso vor Riesenherausforderungen und sozial-

demokratisches Ziel ist es, dass möglichst nie-mand aus der modernen Gesellschaft heraus-gedrängt wird und deshalb ist Bildung für alleein ganz aktuelles Postulat.

Bei vielem, was Sie jetzt in der Landesregie-rung machen, wie beispielsweise Schnell-läuferklassen, Einführung Abschlussprüfungenoder Bewertung von Arbeits- und Sozial-verhalten stellt sich doch die Frage, ist dieseigentlich eine linke sozialdemokratische Po-litik?

Wie in fast allen Politikfeldern müssen die neu-en Herausforderungen pragmatisch angegan-gen werden. Da geht es im die richtigen Lö-sungen und die richtigen Entscheidungen undda verschwimmt oft die Bewertung links oderrechts. Aber ich sage noch einmal, während dieCDU immer stärker den Schwerpunkt auf dieInteressen des Bildungsbürgertums legt und dieBildungselite fördern will, so ist es ein wichti-ges Ziel der Sozialdemokraten, dass niemandim Bildungssystem abgehängt wird, weil dasdie Chancen für das ganze Leben verbaut.Chancengleichheit bleibt auf der Tagesord-nung. Für mich ist wichtig das eine zu tun -Spitzenleistungen ermöglichen - ohne das an-

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Interview mit Minister Steffen ReicheNEUE HERAUSFORDERUNGEN PRAGMATISCH ANGEHEN

dere zu lassen, nämlich auch Lernschwache zufördern.

In dem Papier Bildungsoffensive der Zukunfts-kommission des SPD-Landesvorstandes ist dieRede von mehr Selbständigkeit für die Schu-len. Auf der anderen Seite werden aber zentra-le Abschlussprüfungen sowohl nach der 10.Klasse als auch das Zentralabitur verlangt. Wiepasst das zusammen?

Selbständigkeit von Schule ist eine meinerwichtigsten Ziele. Das Schulgesetz schafftschon heute die Voraussetzungen für dasBudgetrecht der einzelnen Schule. Die Schul-träger, also die Landkreise und Gemeinden,müssen die Schulen endlich in dieser Hinsichtin die Selbständigkeit entlassen. Aber es gehtnicht nur um Budgetrecht, sondern wir wer-den auch konkret überlegen, wie die Bildungs-einrichtungen mehr Freiheiten bekommen auchbei personellen und inhaltlichen Gestaltungenihres Angebotes. Selbständigkeit der Schule istdie eine Seite der Medaille, die andere Seiteist die daraus folgende Rechenschaftslegungund Evaluation der Schulen und der Leistun-gen der Schüler. Durch zentrale Prüfungen wirdein Leistungsvergleich herbeigeführt, der durchlaufende Evaluationsuntersuchungen untersetztwird. Notwendig ist, dass es dann auch offeneDiskussionen über die Ergebnisse dieserLeistungserhebung gibt und Schwächen undStärken analysiert werden und Veränderungenvorgenommen werden. Selbständigkeit schafftSpielraum, im Wettbewerb muss sich dann aberjede Schule beweisen. Ich stelle mir vor allenDingen vor, dass eine ganz wichtige Rolle dieSchulleiter dabei spielen, wenn es darum geht,die Leistungsfähigkeit der Schulen zu stärken.Deshalb wieder auf der anderen Seite die Über-

legung im SPD-Papier Bildungsoffensive, dieSchulleiter nur für einen begrenzten Zeitraumzu bestellen. Qualitätsmanagement fängt un-ten an. Deshalb will ich es noch in dieser Le-gislaturperiode schaffen, dass deutlich Kom-petenzen vom Ministerium auf die staatlichenSchulämter delegiert werden und von den staat-lichen Schulämtern wiederum auf die Schulen.

Sind die Schulleiter und Lehrer auf diese grö-ßere Selbständigkeit vorbereitet?

Ich habe mich ja daran gewöhnt, dass Politikereinen schlechten Ruf in der Gesellschaft ha-ben.Ich werde mich aber nicht daran gewöhnen,dass das auch für die Lehrer gilt. Diesemschlechten Image entspricht auch die Selbst-einschätzung der Lehrer, die - wie ich finde -über ihre Situation viel zu sehr klagen. Ich willdeshalb durch eine Kommunikationsoffensiveauch deutlich machen, welchen zentralen Stel-lenwert Lehrer in unserer Gesellschaft habenund welche wichtige Rolle sie für die Zukunftunserer Jugend spielen. Deshalb brauchen sieunserer aller Unterstützung. Eltern, Schülerund Lehrer müssen zusammen ihre Schule ge-stalten, das heißt anpacken statt jammern. Unddas Image unserer Lehrer ist völlig zu Unrechtso schlecht. Über 8.000 Lehrerinnen und Leh-rer haben in Brandenburg in den letzten Jah-ren einen neuen Abschluss gemacht, sich alsonicht nur fortgebildet in ihrem Fach, sondernfür ein neues Fach qualifiziert. Ganz zu schwei-gen von der Fortbildung, die fast jeder Lehrerdurchlaufen hat. Also die Lernbereitschaft, sichneu auf die Schule einzulassen ist riesengroß.Diese Motivation kann man gar nicht genugloben und herausstellen. Nur kann jetzt nichtmit der Fort- und Weiterbildung Schluss sein,

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Interview mit Minister Steffen ReicheNEUE HERAUSFORDERUNGEN PRAGMATISCH ANGEHEN

sondern sie muss jetzt weitergehen, beispiels-weise für den Bereich neue Medien oder auchfür zweisprachigen Unterricht.

Sie wollen zurück zu Kopfnoten. Ist dies nichteine sehr konservative Schulpolitik?

Genau das Gegenteil. Es wird keine Wieder-einführung der Kopfnoten geben, sondern einedifferenzierte Einschätzung von Arbeits- undSozialverhalten, wie Lerneinstellung, Team-fähigkeit, Selbständigkeit oder Kritikfähigkeit.In der modernen Arbeitswelt ist Arbeits- undSozialverhalten fast wichtiger als Fachwissen.Deshalb dient die Bewertung, die wir als An-lage zum Zeugnis einführen wollen zur Orien-tierung der Schüler und Eltern und entsprichtden zukünftigen Berufsanforderungen.

Sie wollen Schnellläuferklassen einführen. Aufder anderen Seite betont das SPD-Papier ins-besondere die Schulzeitverkürzung nach dem6+6-Modell, also 6 Jahre Grundschule, 6 Jah-re weiterführende Schule. Ist das nicht ein Wi-derspruch?

Die Schule der Zukunft wird auch sehr viel-fältig sein. Für besonders Begabte wollen wirdie Möglichkeit eröffnen, schon ab dem 5.Schuljahr auf das Gymnasium zu wechseln.Das betrifft Gymnasien mit besonderer Prä-gung - also musisch-sprachlich oder naturwis-senschaftlich oder sportbetonten. Es geht da-bei sowohl um die spezielle Förderung vonbesonders leistungsstarken Schülern, als auchum die vertiefte Bildung in speziellen Berei-chen. Und in Deutschland muss die Erstaus-bildungszeit kürzer werden. Zum Teil werdendie Kinder zu spät eingeschult. Deshalb set-zen wir uns für eine flexible Eingangsphase in

der Grundschule ein, das heißt, begabte Kin-der müssen auch deutlich früher schon einge-schult werden können. Wir wollen dazu auchden Bildungsauftrag der Kindertagesstättenstärken. Dann wollen wir die Möglichkeitschaffen, auch schon nach 12 Jahren das Ab-itur abzulegen und darauf aufbauend muss auchdas Studium verkürzt werden, wie es ja mit derEinführung des Abschlusses des Bachelormöglich wird. Die Hoch-schulabsolventen inDeutschland sind 26, 27 oder gar 28, haben sehrviel Wissen, aber wenig Erfahrung. Und dieneuen Qualifikationsanforderungen in der Ge-sellschaft und im Arbeitsleben erfordern le-benslanges Lernen, auf der anderen Seite mussdann aber die Erstausbildung verkürzt absol-viert werden können.

Ist das 6+6-Modell eigentlich realistisch? Wiewollten Sie denn die KMK-Vorschriften für dieStundentafel einhalten?

Es wird nicht ohne eine Erhöhung der Stun-denzahl in den Klassenstufen 5 und 6, dannaber auch in der Sekundarstufe I, gehen kön-nen. Aber ich bin sicher, auch nachdem wasdie SPD auf ihrem Bildungskongress in Bonngesagt hat, die Schulzeitverkürzung wird sichbundesweit durchsetzen und dann werden sichauch die KMK-Vereinbarungen anpassen.

Sie haben am Anfang von der Sprachen- undMedienkompetenz geredet, die besonders wich-tig wird. Wie wollen Sie das in Brandenburgerreichen bei dem hohen Fachlehrermangel beimodernen Sprachen und mit der miserablenAusstattung der Schulen mit Computern?

Erstens: Es ist richtig, dass insbesondere in derGrundschule in Englisch in hohem Maße fach-

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fremder Unterricht gegeben wird. Aber durchdie Weiterbildung für die Lehrer, durch denEinstellungskorridor von 250 Vollzeitlehrernpro Jahr und den gleichzeitigen Rückgang derSchülerzahlen wird sich dieses Problem in dreibis vier Jahren in Brandenburg, so hoffe ich,nicht mehr stellen. Die Ausstattung mit Com-putern an Schulen in Brandenburg ist gar nichtso schlecht. Das hat eine gerade abgeschlosse-ne Erhebung durch das Bildungsministeriumergeben. Trotzdem, wir müssen noch eine gan-ze Menge tun und dazu gehört, dass wir jetzteine umfassende Medienoffensive starten, zuder die Ausstattung mit Computern, die Fort-bildung der Lehrerinnen und Lehrer und auchdie Einrichtung eines Bildungsservers zählen.Durch das im Landtag schon im Januar be-schlossene Gemeindefinanzierungsgesetz ste-hen uns 6 Millionen DM in diesem Jahr zurVerfügung, ich hoffe auch, dass dies in dennächsten Jahren fortgeschrieben wird. Wenndie Schulträger noch einmal mit derselbenSumme kofi-nanzieren, haben wir in den näch-sten 5 Jahren 60 Millionen DM zur Verfügung.Mit diesem Geld kann eine hervorragendeGrundausstattung für die Schulen finanziertwerden.

Sind aber die Lehrer überhaupt qualifiziert ge-nug für diesen Unterricht?

Erst einmal wird ja eine umfassende Fortbil-dung angeboten, zum anderen finde ich, müs-sen Lehrer damit ganz souverän umgehen, dassder eine oder andere Schüler sich an einemComputer besser auskennt als der Lehrer selbst.Das finde ich nicht tragisch und kann ein sehrbelebendes Element für den Unterricht sein.Was mir ganz wichtig ist, dass nicht nur sturder Computer und seine Software gelernt wird,

sondern im normalen Fachunterricht der Com-puter und spezielle Programme als Hilfsmittelbenutzt werden und damit der Unterricht le-bendiger, vielgestaltiger wird und die Schülerselber Informationen abrufen können.

Die Schülerzahlen werden sich insbesonderein den von Berlin entfernten Räumen drastischreduzieren.Bis jetzt liegt vom Bildungsministerium nochkein Konzept vor, wie Sie damit umgehen wol-len!

Wir werden die Ergebnisse der Struktur-kommission, die unter Leitung von DieterWunder steht, dem ehemaligen GEW-Bundes-vorsitzenden, abwarten und dann eine Diskus-sion darüber führen. Letztendlich muss jeweilsvor Ort entschieden werden, welche Schulenmöglicherweise geschlossen werden und wel-che Schulformen dabei ausgewählt werden.Möglicherweise werden wir in der Novelle desSchulgesetzes eine Schulform neu zulassen, dieentweder durch Kooperation oder durch Inte-gration mehrere Schulformen unter einemDach zulässt. Es ist ganz wichtig, dass wir nichtwieder große Bildungsdifferenzen entstehenlassen zwischen den Ballungsräumen und demländlichen Raum, wie es früher schon einmalwar. Deshalb halte ich nichts davon, außerhalbder Grundschule Kleinstschulen zuzulassen.Das führt zu keinem qualif izierten Fach-unterricht. Wir stehen erst am Anfang dieserDiskussion und ich bin sicher, dass die Ergeb-nisse der Schulstrukturkommission für denländlichen Raum tragfähige Grundlagen fürdiese Diskussion legen.

Zum Teil sind die Schulgebäude noch in einerkatastrophalen Situation. Dies gilt insbeson-

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dere für Sporthallen. Wie wollen Sie da Abhil-fe schaffen?

Wir können da leider keine ganz großen Sprün-ge machen, da das Geld in allen Haushaltenknapp ist und wir weiter konsolidieren müs-sen, um die Neuverschuldung in 2002 auf Nullherunterzubringen. Das Schuldendiensthilfe-programm für die Schulträger werden wir aberweiterführen und ich hoffe auch, dass wir dasOSZ-Bauprogramm mit Hilfe des Wirtschafts-ministeriums fortsetzen können. Durch dieÖffnung der IFG-Mittel (Investitionsförder-gesetz des Bundes) sowohl für Schulsanierungals auch für Ersatzbauten erhöht sich der kom-munale Finanzierungsspielraum noch einmal.Aber leider, da haben Sie Recht, werden dieVerbesserungen nur sukzessive vorangehen.Trotzdem sollte man auch dort nicht nurschwarz in schwarz malen, viele Schulen imLand sind in den letzten Jahren grundsaniertworden und verfügen über attraktive Bauten.

Im Papier Bildungsoffensive ist von der Stär-kung der regionalen Bindung der Schulen dieRede. Wie wollen Sie die erreichen?

Es muss vielmehr Praxis in die Schulen, dasheißt insbesondere eine verstärkte Kooperati-on zwischen Unternehmen und Schule. Ich willdazu Rahmenvereinbarungen mit den Indu-strie- und Handelskammern und den Hand-werkskammern abschließen und konkrete Ko-operationsverträge können da auch weiterhel-fen, siehe den kürzlich abgeschlossenen Ver-trag zwischen Schulen in Ludwigsfelde undUmgebung mit Rolls Royce, Daimler Chrys-ler und MTU. Es geht um Betriebspraktika fürLehrer und Schüler, um ständigen Praxisbezugfür bestimmte Lernprozesse, aber auch um den

Einsatz von Praktikern im Unterricht und auchdie Teilnahme an Innovationsprozessen für dieRegion. Im Rahmen des Innoregiowettbewerbsdes Bundesforschungsministeriums hat sicheine Innoregioinitiative in Märkisch-Oderlandin der Grenzregion gebildet, die diesen Praxis-bezug modellhaft erproben will. Es gibt sowie-so in Brandenburg eine große Landschaft vonSelbstinitiative, die man gar nicht genug her-ausstellen kann.

Der Punkt berufliche Bildung scheint mir eineder schwächsten in dem SPD-Papier„Bildungsoffensive“ zu sein. Welches ist die Ur-sache?

Das sehe ich nicht so, weil alles, was zur Ent-wicklung der Schulen gesagt wurde, natürlichauch für die Oberstufenzentren gilt. Nichtsde-stotrotz muss die duale Ausbildung in Bran-denburg einen viel höheren Stellenwert bekom-men als sie es hat. Das liegt natürlich auch ander Situation der Betriebe und an dem zu ge-ringen Industriebesatz in Brandenburg. Aberauf der anderen Seite muss auch die Bereit-schaft der Unternehmen und der vielen klei-nen und mittleren und auch größeren Betriebegrößer werden, Ausbildungsplätze zu schaffen.Das von uns praktizierte kooperative Ausbil-dungsmodell ist ein geeigneter Ansatz, die aku-ten Probleme am Ausbildungsstellenmarkt zulösen, aber die umfassende betriebliche Praxiskann dies nicht ersetzen. Und wir müssen da-für sorgen, dass jeder Jugendliche einen be-trieblichen Ausbildungsabschluss erhaltenkann. Auch in Brandenburg sind fast 8 % derSchüler ohne Schulabschluss und über 10 %der Jugendlichen ohne Ausbildungsabschluss.Das kann und darf nicht so bleiben, da die

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Qualifikationsstruktur der Arbeitswelt der Zu-kunft Arbeitskräften ohne Berufsabschlusskaum noch eine Chance lässt. Studien zeigen,dass vor allen Dingen mittlere Schulabschlüsseund eine Berufsausbildung beste Chancen aufdem Arbeitsmarkt bieten.

Das letzte Kapitel Ihres Papiers beschäftigt sichmit der Zusammenarbeit der Länder Berlin undBrandenburg. Wäre es nicht besser, wir brin-gen erst einmal unsere Bildungslandschaft inBrandenburg in Ordnung?

Nein, die Herausforderungen in der Zukunfterfordern immer, über Grenzen hinwegzuden-ken. Und Berlin und Brandenburg bilden eineRegion und das wird sich ganz besonders imBildungsbereich zeigen. Ich habe den Ehrgeiz,zusammen mit meinem Kollegen Schulsenatorin Berlin Klaus Böger eine vorbildliche Ko-operation in den nächsten Jahren zu schaffen.Dies bezieht sich auf die weitere Kooperationim Bereich der Lehrerausbildung, die Zusam-menarbeit der Einrichtungen, wie z. B. das Päd-agogische Landesinstitut in Ludwigsfelde unddas Berliner Lehrerinstitut, das bezieht sich auf

die Abstimmung der Entwicklung der Rahmen-lehrpläne und auch auf eine gemeinsameSchulentwicklungsplanung. Es ist doch einfachabsurd, dass es in den Verflechtungsbereichenkeine freie Schulwahl zwischen Brandenbur-ger und Berliner Schulen gibt, sondern stattdessen durch ein bürokratisches Gastschüler-abkommen so etwas fast unmöglich gemachtwird. Wir brauchen solche Freizügigkeit auch,um des Wettbewerbs zwischen den SchulenWillen. Aber wahrscheinlich ist das Illusion,solange es nicht ein gemeinsames Land gibt.Denn solange das nicht der Fall ist, wird jedesLand darauf achten, ob es nicht vom anderenLand Geld verlangen kann für die Schüler, dieauf seine Schulen gehen, da ja insbesonderedie Lehrer vom jeweiligen Land bezahlt wer-den und die Hauptkostenlast darstellen. Wennwir, wie es mein Wille ist, bis 2009 zu einemgemeinsamen Land kommen, müssen wir inden ersten Jahren zeigen, welche praktischenVorteile die Zusammenarbeit hat und dass sieauch funktioniert. Das habe ich vor, für denBildungsbereich zu beweisen.

Herr Reiche, wir danken für das Gespräch.

Steffen Reiche ist Minister für Bildung,Jugend und Sport des Landes Brandenburgund SPD-Landesvorsitzender.

Weiter Informationen zur Bildungspolitik inLand Brandenburg finden Sie unter:

www.brandenburg.de/land/mbjs/index.htm

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Rede von Gerhard Schröder auf dem Bildungsforum der SPD

Jedes Jahrhundert hat seine zentralen Fragen.Das 19. Jahrhundert wird uns als das Jahrhun-dert der sozialen Frage in Erinnerung bleiben.Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert ex-tremer Gegensätze: von Krieg, Terror und Dik-tatur auf der einen Seite, von Demokratie, Men-schenrechten und technischen Revolutionenauf der anderen Seite.

Was das 21. Jahrhundert betrifft, bedarf eswenig Prophetie: Zu den zentralen Zukunfts-fragen wird die Bildung gehören – nicht nur inDeutschland, sondern in allen Industrie-nationen Europas und in der ganzen Welt. Bil-dung wird wesentlich über unsere Zukunft ent-scheiden – über unsere Zukunft als Individuenund als Gemeinschaft. Sie ist der Schlüssel zueiner sozial gerechten, wirtschaftlich erfolgrei-chen und kulturell vielfältigen Zukunfts-gesellschaft.

Immer schon hat sozialdemokratische Politikdas Ziel verfolgt, die Teilhabe möglichst vie-ler Menschen an den sozialen und wirtschaft-lichen Errungenschaften der Gesellschaft zu si-chern. Unser Ziel war es und muss es bleiben,prinzipiell niemanden auszuschließen oder aus-zugrenzen. Nicht Exklusion, sondern Inklusionist das leitende Prinzip von uns Sozialdemo-

kraten. Materielle und soziale Sicherung sinddabei untrennbar mit einer guten Bildung undAusbildung verbunden.

Eine bestmögliche Bildung und Ausbildunggibt jungen Menschen das nötige Rüstzeug mit,um die Chancen in einer sich radikal wandeln-den Arbeits- und Wissensgesellschaft über-haupt nutzen zu können. Nicht mehr Hungerund Armut sind die Probleme unserer zivili-sierten und entwickelten Gesellschaft, sonderndie Gefahr mangelnder Bildungschancen undfehlender Perspektiven für den Einzelnen.

Soziale Gerechtigkeit heißt heute auch, unserBildungssystem so einzurichten, dass der Ein-zelne unabhängig von seiner sozialen Herkunftdie Chance hat, seine Fähigkeiten zu entwik-keln, die Zukunft mitzugestalten und Verant-wortung zu übernehmen. Von Bildung und Er-ziehung hängt es ab, ob die heranwachsendenGenerationen den Herausforderungen gewach-sen sein werden, mit denen sie die Welt vonmorgen konfrontieren wird. Eine Welt, die -wie der Präsident der Max-Planck-Gesell-schaft, Hubert Markl, sagt - „noch keiner kennt,weil es sie noch nicht gibt, und die es auch nochniemals gegeben hat, weshalb über sie auchwenig genug in den Büchern zu finden ist“.

CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT

UND SELBSTVERANTWORTUNG

THEMA

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Die Herausforderungen sind vielfältig: Dertechnologische und soziale Wandel, dieGlobalisierung und Internationalisierung derwirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Be-ziehungen zwischen den Ländern und derenGesellschaften führt zu dramatischen Verände-rungen. Die Entwicklung neuer Technologienund der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaftstellen immer höhere Anforderungen an jedeneinzelnen. Wer in Zukunft auf dem Arbeits-markt mithalten will, muss sein Wissen immerwieder überprüfen und den sich veränderndenBedingungen anpassen. Wissen wird so zurEintrittskarte in die Welt von morgen.

Was muss nun unser schulisches Bil-dungssystem für die Zukunft praktischleisten?

1. Die sichere Beherrschung der Mutterspracheoder mit einem anderen Begriff: der Verkehrs-sprache der Nation in Wort und Schrift. DieseGrundfertigkeit – leider schon lange nicht mehrselbstverständlich - ist die notwendige Bedin-gung zum Anschluss an die Gedanken- undWissenswelt anderer. Ohne diese Fähigkeit istein sicheres Weiterlernen des Einzelnen - letzt-lich sein Leben lang - nicht möglich. Hier mussunser Augenmerk liegen.

2.Die Schule muss Mehrsprachigkeit fördern:Muttersprache – Englisch - eine weitere euro-päische Kultursprache. Englisch ist längst nichtmehr eine Fremdsprache, sondern eine Zweit-sprache. Die Anstrengung Nordrhein-West-falens mit seinen vielen bi-lingualen Schulensind beispielhaft. Neue Methoden des Fremd-

sprachenlernens, wie sie durch das europäischeSprachensiegel vermittelt werden, sollten inDeutschland, ja in Europa, Schule machen. Undwir können in einem zusammenwachsendenEuropa nicht mehr nur unsere eigenen Ab-schlüsse für den Nabel der Welt halten: ich be-grüße daher ausdrücklich, wenn es Schulengibt, die gleichzeitig einen deutschen und ei-nen französischen oder internationalen engli-schen Abschluss vergeben. Ich sage auch, Eu-ropa muss durch Lehrer aus europäischen Län-dern bei uns präsent sein. Der Austausch vonSchülern, Auszubildenden und natürlich Lehr-kräften muss so selbstverständlich werden, wiees der Warenaustausch heute schon ist. Dannkönnen wir die Chancen, die Europa bietet,auch wahrnehmen.

3.Sichere mathematische und naturwissenschaft-liche Kenntnisse. Beide Kenntnisbereiche sindauf jeder Schule bis zum Abschluss wichtig.Es muss auch und gerade für die jungen Men-schen, die die Naturwissenschaften nicht zuihrem Beruf machen – wie Journalisten, Poli-tiker, Banker, Geschichtslehrer oder Verwal-tungsrichter - ein breit gefächertes Grundwis-sen der Naturwissenschaften geben. Es gehthier auch um Aufklärung und gesichertes Ur-teilsvermögen über industrielle Innovationen,zum Beispiel in der Biotechnologie. Aus Un-kenntnis wird schnell Bilderstürmerei. Hiermuss die Schule Fakten liefern und kritischenVerstand und souveränen Umgang mit Zu-kunftschancen vermitteln. Ich begrüße daher,die Landesinitiative „Stärkung des mathema-tisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“, inder schulformübergreifend neue Lern- undLehrmethoden und zeitgemäße Inhalte erprobtwerden.

CHANCENGLEICHHEIT, QUALITÄT UND SELBSTVERANTWORTUNG

Rede von Gerhard Schröder

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4.Wir müssen die Lernfelder der Zukunft in dieAusbildung von heute holen: Recht, Medizinund Gesundheit, Technologie und Medien,Ökologie und Ökonomie. Wenn wir die jun-gen Menschen lebenstüchtig machen wollen,müssen wir auf diesen Feldern viel tun. Ich willdas am bislang in der Schule unterbelichtetenBereich der Ökonomie verdeutlichen. Wirt-schaftliche Sachverhalte werden auf langeSicht ihre Bedeutung für die Biographien derjungen Menschen wie für die gesellschaftlichenVerhältnisse behalten. Das Wissen über dieWirtschaft der eigenen wie der Welt-Gesell-schaft ist jedoch ausgesprochen kontrovers, he-terogen und ungleich verteilt. Ergibt sich dar-aus keine „zwingende“ Aufgabe der Schule?Ich meine ja. Denn ökonomisches Grundwis-sen und das Wissen um moderne Unter-nehmensorganisationen sowie die häufig un-terschätzte Komplexität ökonomischer Ent-scheidungen fördert die Zukunftsfähigkeit jun-ger Menschen. Auch hier muss ich - und ichtue es gern - NRW wieder loben. Die Koope-rationsabkommen zwischen Schulen und Wirt-schaftsunternehmen weisen den richtigen Weg.

5.Innovationen von morgen fangen in den Köp-fen der jungen Menschen von heute an. Eineder bedeutsamsten Veränderungen unserer glo-balen Welt liegt in der Entwicklung und demrasanten Einsatz der neuen elektronischen Me-dien, der Informations- und Kommunikations-technologien begründet. Der Zeitpunkt ist ab-sehbar, in der jede Schule in Deutschland mitdem Internet und den lokalen wie regionalenBildungsnetzen verbunden ist. Wir wissen - undwir wollen diese Chance nutzen -, dass zu die-

sem Zeitpunkt das gesamte über Netze verfüg-bare Wissen für den Unterricht und die Aus-bildung nutzbar gemacht werden kann. Daswird völlig neue Möglichkeiten für effektivesund kooperatives Lernen schaffen. Die NeuenMedien führen zu veränderten Anforderungenan die Schule, die Schüler wie die Lehrkräftegleichermaßen. Die jungen Menschen brau-chen neue Kompetenzen: sie müssen Such-strategien entwickeln, Daten zielgenau abru-fen, abspeichern und bearbeiten. Ich denke, wirkönnen hier von einer vierten Kulturtechniksprechen, die alle jungen Menschen erwerbenmüssen. Ich sage alle jungen Menschen, weilsich die neuen Medien nicht zu einer neuensozialen Frage entwickeln dürfen, wo ein TeilZugang hat und das gesamte Lernpotenzialentfaltet, der andere Teil draußen bleibt undabgehängt wird. Wolfgang Clement hat mit sei-ner Initiative auch hier den richtigen Akzentgesetzt. Wir werden die Chance nutzen und dieGefahren bannen können, wenn wir die heuteaktive Lehrerschaft systematisch qualifizieren,um mit ihren Schülern überhaupt mithalten zukönnen. Und wir müssen diese neue vierteKulturtechnik in die Lehrerausbildung bringen.

6.Und natürlich gehören zur Entwicklung vonLebenstüchtigkeit und Zukunftsfähigkeit hin-reichende Grundlagen der politischen, histori-schen, technischen und ideologischen Entwick-lungsgeschichte der eigenen wie fremder Kul-turen.

7.Last but not least gehören zu einer guten Schul-bildung der Zukunft auch Kunst, Musik, Sport- und selbstverständlich Religion/Philosophie,

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damit die jungen Menschen die im sozialenZusammenleben erworbenen und begründetenWertempfindungen auch begrifflich fest ver-ankern können. Es gibt kaum eine neueBildungsschrift, in der nicht ein deutliches undpositives Bekenntnis für eine grundlegendeWertorientierung der Jugend abgelegt würde.Hier ist es immer leicht, Beifall zu bekommen.Werteerziehung ist für die Schule allerdingsTagesgeschäft. Daneben aber bleibt auch dieVermittlung des besonderen kulturellen Erbesund der kulturellen Gegenwart unverzichtbar.Gerade in Zeiten der Globaliserung und Inter-nationalisierung hat die regionale Kultur im-mer auch eine identitätsstiftende Bedeutung.

Junge Menschen beziehen ihr Wissen, aberauch Lebensstilangebote, ihre politischen undmoralischen Orientierungen aus den Medienvon außerhalb der Schule. Wo aber kann dasNachdenken über diese Außenwelt, das Abwä-gen von Lebenshaltungen, die Deutung derFernsehbilder besser möglich sein, als in derSchule, dem gemeinsamen Ort einer Genera-tion? Dennoch wird in aller Regel nicht mit-bedacht, weshalb - wie Klaus Klemm zutref-fend formuliert hat - „eine bis auf die Kno-chen unerzogene Erwachsenenwelt“ für dieJugend eine ethische Orientierung verlangt, wosie doch selbst den geforderten Maßstäben oftgar nicht oder nur unzureichend gerecht wird.

Lassen Sie mich an dieser Stelle zusammen-fassen: Sichere Beherrschung grundlegenderKulturtechniken, zu denen auch der Umgangmit neuen Informations- und Kulturtechnikengehört, breites gesichertes Grundwissen, Of-fenheit für unterschiedliche Arbeits- und Le-benssituationen, Sicherheit in der Urteilsfähig-

keit und Werteorientierung, aber auch An-strengungs- und Leistungsbereitschaft sindzentrale Qualifikationen für die jungen Men-schen, gleichsam ihr Schlüssel für die Zukunft.Diese Qualifikationen werden am besten in ei-nem Klima der Mündigkeit und Selbstverant-wortung wachsen, das die Schule selbstvorleben muss. Die Selbständigkeit und Eigen-verantwortung jeder einzelnen Schule für ihreLernorganisation, ihre Personalauswahl undihre Finanzen ist eine Aufgabe, die wir schnelllösen sollten.

Ich verstehe das nordrhein-westfälische Mo-dell der 50 autonomen Schulen als Versuch, dieoptimalen Bedingungen herauszufinden undden letzten Feinschliff für diesen neuen Typ derselbstverantwortlichen Schule anzulegen. Ge-nauso wichtig ist es - und auch hier geht Nord-rhein-Westfalen einen mutigen Weg -, die Schu-le zu einer professionellen Qualitätssicherungzu verpflichten. Es geht nicht ohne Rechen-schaft. Für mich ist die Rechenschaftslegungjeder Schule über ihre Leistungen eine Bring-schuld gegenüber der Gesellschaft, die sie fi-nanziert und auf ihre Leistungen angewiesenist. Ein System, das nicht in der Lage ist,Qualitätsunterschiede festzustellen und folgen-reich zu beurteilen, entwertet sich professio-nell und verspielt Glaubwürdigkeit. Deshalb istes der richtige Weg, die Schulen in stärkeremMaße für ihre Leistungen verantwortlich zumachen, von ihnen Rechenschaft abzuverlan-gen und seitens der Bildungsverwaltung auchgenau hinzusehen. Dieser Qualitäts-TÜV istalso der Zwilling oder die Kehrseite der Mün-digkeit und Eigenkontrolle der Schulen überdie eigenen sachlichen und personellen Res-sourcen.

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Wir müssen uns noch in einer weiteren wichti-gen Frage verständigen, wenn wir das gemein-same Ziel einer Modernisierung der Schule ver-folgen. Ich halte es für ein falsches Verständ-nis von Egalität, wenn wir von allen jungenMenschen das Gleiche verlangen. Wir könnendem Einzelnen nur durch seine differenzierteEntwicklung gerecht werden. Wir sollten ak-zeptieren, dass es viele junge Menschen gibt,die schneller lernen als andere und daher auchin kürzerer Zeit die Ziele der Schule erreichen.Ich halte es daher für überfällig, die Frage derSchulzeit pragmatisch anzugehen: Neben derbestehenden Form sollte es selbstverständlichmöglich sein, das Abitur in höchstens zwölfSchuljahren zu erlangen.

Die Sozialdemokratie hat in der Bildungspoli-tik der letzten 30 Jahre viel erreicht. Die schu-lische Qualität ist gestiegen, mehr Arbeiter-kinder machen heute Abitur, neue Unterrichts-inhalte haben zur Demokratisierung der Ge-sellschaft beigetragen. Die höhere Bildung istfür Mädchen längst so selbstverständlich wiefür Jungen. Das Leitbild sozialdemokratischerBildung, der Gleichklang von Chancengleich-heit und Leistungsforderung ist nach wie voraktuell.

Noch immer ist Chancengleichheit in der Aus-bildung nicht überall gegeben. Vielen Jugend-lichen fehlen einlösbare Chancen für eine qua-lifizierte berufliche Ausbildung und damit denEinstieg in das Beschäftigungssystem. Zu Be-ginn unserer Regierungsarbeit haben wir einefatale Situation auf dem Lehrstellenmarkt vor-gefunden. Zwischen Angebot und Nachfrageklaffte eine große Lücke. Die alte Bundesre-gierung hatte diesen Zustand zwar ständig be-

klagt, aber nicht gehandelt. Wir dagegen ha-ben unmittelbar nach Übernahme der Regie-rungsverantwortung das Sofortprogramm zurBeseitigung der Jugendarbeitslosigkeit undQualifizierung von 100.000 Jugendlichen ge-startet. Rund 165.000 Jugendliche haben bis-her von den Maßnahmen des Sofortprogrammsprof itiert. Damit haben wir unser selbst-gestecktes Ziel, 100.000 Jugendliche zu errei-chen, bei weitem übertroffen. Ich weiß: Unse-re Jugendlichen wollen arbeiten und sich qua-lifizieren. Wir müssen ihnen nur die Möglich-keit dazu geben. Im Bündnis für Arbeit,Ausbildungs- und Wettbewerbsfähigkeit habenwir uns auf einen bundesweiten Ausbildungs-konsens verständigt. Wir sind hier der beispiel-haften Initiative von Nordrhein-Westfalen ge-folgt.

Große Fortschritte haben wir bereits im IT-Bereich vorzuweisen. Dort werden wir die bis2002 verabredeten 40.000 neuen Ausbildungs-plätze schon in diesem Jahr und damit zweiJahre früher erreichen. Das Gesamtangebot anbetrieblichen Ausbildungsplätzen ist allerdingsnoch nicht befriedigend. Und ich sage deut-lich: Die damit verbundene Verschiebung vonAusbildungslasten auf die öffentliche Hand istnicht akzeptabel und schon gar nicht auf Dau-er finanzierbar. Sie gefährdet auch das dualeSystem beruflicher Ausbildung, an dem ich mitNachdruck festhalte.

Das deutsche Berufsbildungssystem genießtweltweit einen guten Ruf. Und das zu Recht,vor allem wegen seiner Praxisnähe. Aber wirwissen, dass in der Altersgruppe der 20- bis29-Jährigen noch immer 11,6 Prozent oder 1,3Millionen junge Erwachsene ohne abgeschlos-

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Rede von Gerhard Schröder

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sene Berufsausbildung bleiben. Dabei spielendie Defizite, die schon in den allgemeinbilden-den Schulen entstehen, eine besonders wichti-ge Rolle. Dass jeder 10. Schüler keinen Haupt-schulabschluss erreicht, ist für mich unerträg-lich. Junge Menschen dürfen nicht zu Zu-kunftsverlierern werden. Jugendliche ohneSchulabschluss schaffen kaum den Übergangin Ausbildung und Beruf. Wir wissen auch,dass unter den berufslosen jungen Menschendie Gruppe der Ausländer überrepräsentiert ist.Im Bündnis für Arbeit haben wir uns einge-hend mit der Lage der benachteiligten Jugend-lichen befasst. Wir haben einvernehmlich mitden Ländern Leitlinien zur Benachteiligten-förderung beschlossen, die neue Chancen er-öffnen.

Neue Chancen für künftige Studierende eröff-net auch die neue Haushalt- und Konsoli-dierungspolitik der Bundesregierung. Gewis-sermaßen als Reformdividende unserer Regie-rungsarbeit können wir eine BAföG-Reformvorlegen. Das entspricht unserer Grundüber-zeugung, dass jeder junge Mensch, der zu ei-nem Studium willens und fähig ist, unabhän-gig von seiner sozialen Situation ein Studiuman einer Hochschule aufnehmen kann. Wir wer-den mehr junge Menschen als bisher währendihres Studiums finanziell fördern können, weilwir das Kindergeld beim BAföG nicht mehranrechnen, die Freibeträge, die für anrechen-bare Beiträge maßgebend sind, anheben unddie Bedarfssätze erhöhen. Der neue BAföG-Satz entspricht jetzt den wirklichen Lebenshal-tungskosten. Wichtig ist für mich, dass Studie-rende aus Ost und West endlich in der Ausbil-dungsförderung gleichgestellt werden.

Wenn wir eine Europaorientierung der Schu-len fordern, dann ist es für uns Sozialdemo-kraten ganz selbstverständlich, dass die Aus-bildungsförderung im Hochschulbereich inter-nationalisiert wird. Statt wie bisher nur weni-ge Auslandssemester wird nunmehr ein Studi-um bis zum Abschluss innerhalb der EU ge-fördert. Wir ermöglichen damit, dass Studen-tinnen und Studenten intensive Auslandserfah-rungen während ihres Studiums machen. Fürdie Reform der Ausbildungsförderung wird dieBundesregierung zusätzlich 500 MillionenMark an Zuschüssen zum BAföG zur Verfü-gung stellen. Mit dieser Reform sorgen wir fürmehr soziale Gerechtigkeit und ermöglichenmehr jungen Menschen ein Studium.

Darüber hinaus wollen wir die Möglichkeitenund Konditionen zur Einführung eines zeitlichbefristeten Bildungskredits für Studierendeprüfen. Ich halte die Kreditfinanzierung, diees bislang nicht gab, für ein interessantes undintelligentes Modell. Die neue Ausbildungsför-derung fördert die Interdisziplinarität. Master-Studiengänge, die auf Bachelorabschlüssenaufbauen, müssen künftig nicht mehr strengfachidentisch sein, sondern werden auch danngefördert, wenn sie für den späteren Beruf ge-eignet sind. Die Attraktivität dieser neuen Stu-diengänge wird gerade auch im internationa-len Wettbewerb auf diese Weise zusätzlich ge-steigert. Die Zeiten, dass die Hochschulpolitikdes Bundes wie in den letzten zehn Jahren ver-nachlässigt wird, sind endgültig vorbei. 1999haben wir die Ausgaben für Wissenschaft undForschung um eine Milliarde D-Mark gestei-gert.

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Ausgaben für Bildung und Forschung habenunter der neuen Bundesregierung einen neuenStellenwert erhalten und damit Chancen eröff-net. Damit befindet sich die Bundesregierungin Übereinstimmung mit Nordrhein-Westfalen,dass seit 30 Jahren ein beeindruckendes Bei-spiel gibt, wie der Strukturwandel zu meisternist. Eine großartige Hochschul- und For-schungslandschaft ist entstanden, ein reichhal-tiges Angebot an unterschiedlichen Schulenbietet jeder Begabung eine Chance. Und nochetwas: Auch die Lehrenden an den Hochschu-len müssen sich den neuen Herausforderungenanpassen: Warum müssen Professoren Beam-te auf Lebenszeit sein? Auch Hochschullehrermüssen sich künftig ständig bewähren, prüfenund bewerten lassen.

Ich fasse zusammen: Die Ansprüche an unserBildungssystem wachsen, und wir stehen vorgroßen Herausforderungen. Die Bildung derjungen Generation hat sich im öffentlichen Be-wusstsein wieder zu einer zentralen gesell-schaftlichen Aufgabe entwickelt. Wir sind ge-

zwungen, inhaltliche und strukturelle Moder-nisierungen in vielen Punkten des Systems vor-zunehmen. Landes- und Bundespolitik sind inverschiedenen Zuständigkeiten, aber insgesamtgemeinsam aufgerufen, einen hohen qualitati-ven Standard der Bildung in unserer Industrie-nation zu sichern. Gleichzeitig müssen wir einBildungssystem wahren, in dem es für den Ein-zelnen keine Sackgassen gibt. Für dieses zu-kunftsfähige Bildungssystem sehe ich daher diedrei Leitlinien: Chancengleichheit, Qualitätund Selbstverantwortung.

In aller Bescheidenheit kann ich sagen, dasses die sozialdemokratische Politik auf Landes-und Bundesebene ist, die dieses zentraleZukunftsthema wieder in den Mittelpunkt derDebatte zurückgebracht hat. Und ich füge hin-zu, dass es in den nächsten Jahren gerade die-ser Leidenschaft bedarf, wenn diese große Re-form gelingen soll. Daher danke ich allen, diediesen Weg mit uns gemeinsam gehen und sichfür die Zukunft der jungen Generation enga-gieren.

Gerhard Schröder ist Bundeskanzler derBundesrepublik Deutschland. Davor war esMinisterpräsident des Landes Niedersachsen.

Weitere Informationen zu dem Thema findensie unter:

http://www.spd.de

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Rede von Gerhard Schröder

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THEMA

PRÄAMBEL

In der Gesellschaft von morgen entscheidetWissen über die Chancen des Einzelnen, un-serer Gesellschaft und der Wirtschaft. Der Bil-dungspolitik kommt daher eine Schlüsselrollezu für die Gestaltung unserer Zukunft, in en-ger Verzahnung mit Arbeitsmarkt- und Wirt-schaftspolitik.

Technologischer und sozialer Wandel führenzu – teilweise dramatischen – Veränderungenin nahezu allen Bereichen unseres Lebens:

■ Wissen erneuert und vermehrt sich immerschneller und ist dank neuer Informations-und Kommunikationstechnologien globalverfügbar.

■ Das alte Prinzip lebenslanger Ausübung ei-nes einmal gelernten Berufs ist überholt.

■ Neue Technologien, neue Arbeitsorganisa-tion und ein wachsender Dienstleistungs-sektor verlangen höhere und neue Qualifi-kationen, Flexibilität und Mobilität.

■ Zunehmende Migration und Mobilität, Eu-ropäische Einigung und Internationalisie-rung setzen das Verstehen anderer Kultu-

ren und das Sprechen anderer Sprachenvoraus.

■ Die fortgeschrittene Gefährdung unsererLebensgrundlagen erfordert einen konse-quenten Wechsel zu nachhaltiger Entwick-lung, die wirtschaftliche, ökologische undsoziale Verantwortung verbindet.

■ Ständiger Wandel in allen Bereichen führtzu einem hohen Bedarf an Orientierungund Gestaltung.

Eine Gesellschaft, die vor den globalen Her-ausforderungen nicht kapitulieren will, die sichden Zwängen von außen nicht nur passiv an-passen will, sondern auch künftig in Wohlstandund sozialer Gerechtigkeit leben und die Zu-kunft mit gestalten will, braucht Innovationen.Die positive Antwort auf die vielfältigen Her-ausforderungen der Globalisierung heißt also

■ Mut zur Zukunft,■ Mut zur Innovation,■ Mut zum Lernen und Studieren,■ Mut zur Kreativität,■ Mut zur Verantwortung,■ Mut zu Visionen und neuen Utopien.

von Wolfgang Clement, Edelgard Bulmahn, Manfred Stolpe,Gabriele Behler, Jürgen Zöllner und Willi Lemke

BILDUNG ENTSCHEIDET

ÜBER UNSERE ZUKUNFTFür eine neue Bildungsinitiative

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Für eine neue BildungsinitiativeBILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT

Angesichts dieser Entwicklung entscheidet Bil-dung immer mehr über die Entwicklung indi-vidueller Persönlichkeit, Teilhabe an der Ge-sellschaft und Beschäftigung, aber auch überdie Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit un-serer Gesellschaft und Wirtschaft. Bildung istmehr als Qualifikationsvermittlung. Dies er-fordert nicht nur mehr Investitionen in Bildung,sondern stellt gleichzeitig neue inhaltliche An-forderungen an Bildung. Um das Wissen fürmorgen zu erwerben, müssen wir nicht nurmehr, sondern auch andere Kompetenzen er-werben:

■ instrumentelle und methodische Kompe-tenzen, um Wissen zu erschließen und an-zuwenden, dazu gehören heute vor allemauch Medien-, Kommunikations- undSprachkompetenzen als neue Kultur-techniken,

■ personelle Kompetenzen, die Selbstbe-wußtsein, Identität und Moral vermittelnund Kreativität und Innovationsfähigkeitentfalten,

■ soziale Kompetenzen wie Eigenverantwor-tung, Gemeinschaftsfähigkeit, Verantwor-tung für nachhaltige Entwicklung,

■ Basiswissen im herkömmlichen Sinne so-wie Orientierungsfähigkeit auf der Grund-lage von Philosophie, Geschichte, Politikund Kultur,

■ Fähigkeiten zu kritischem Überdenken undEntwickeln von Perspektiven, um Orien-tierung und Gestaltung in einer sich stän-dig wandelnden Umgebung zu ermögli-chen,

■ Lernen des Lernens, möglichst früh und einLeben lang.

Bildungspolitik steht angesichts dieser An-forderungen vor einer doppelten Aufgabe:

■ Das Wissen und die Kompetenzen zu ver-mitteln, die morgen über gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Fortschritt entschei-den, und gleichzeitig

■ soziale Ausgrenzung angesichts steigenderund neuer Qualifikationsanforderungen zuverhindern.

Die wachsende Bedeutung von Bildung mussauch bei der Verteilung der gesellschaftlichenRessourcen ihren Ausdruck finden. Deshalbwird die neue Bundesregierung die Absenkungdes Anteils von Bildung am Bruttoinlands-produkt korrigieren. In der Zeit der Kohl-regierung war der Anteil auf 4,5 Prozent imJahre 1997 gefallen, während dieser 1980 nochbei 5,0 Prozent lag. Schon 1999 hat die neueBundesregierung 1 Milliarde Mark zusätzlichinvestiert und die Finanzplanung bis 2003 siehtweitere Steigerungen vor. Bildung und Wissen-schaft schaffen Lebens- und Berufschancen für15 Millionen junge Menschen. Die lernendeGesellschaft setzt auf 1,2 Millionen engagier-te und qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer,Ausbilderinnen und Ausbilder, Professorinnenund Professoren.Stand das 20. Jahrhundert in Deutschland imZeichen einer Öffnung und kontinuierlichenAusweitung staatlich verantworteter Bildungund Wissenschaft, so wird das 21. Jahrhundertvon einer Vielzahl unterschiedlicher Bildungs-angebote geprägt sein. Dabei gehen zentrali-sierte und dezentrale, theorieorientierte undpraxisnahe, staatlich finanzierte, aber auch pri-vat finanzierte Organisationsformen neue Ko-operationen ein.

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Alle Bildungseinrichtungen müssen bereit sein,entsprechend dem Leitbild des ‚lebenslangenLernens‘ immer wieder neue Bildungschancenzu eröffnen, Bildungswege durchlässig zu ma-chen und Übergänge zwischen Beruf und Bil-dung zu schaffen. Weiterbildung wird ein wich-tiger Bestandteil des kontinuierlichen Innova-tions- und Wissenstransfers sein.

Die vielfältigen Anforderungen an Bildung undan die Bildungsangebote sind mit einer an Er-lassen ausgerichteten Bildungsverwaltung undbürokratischen Detailregulierungen nicht mehrzu steuern. Wir brauchen ein neues Leitbild inder Bildungspolitik, in dem staatlich festgeleg-te Ziele und Standards über Rahmensetzungenund Globalsteuerung von selbstverantwortli-chen Bildungseinrichtungen auf vielfältigeWeise erfüllt werden. Bildungseinrichtungenmüssen selbst zu lernfähigen Organisations-einheiten werden.

Weil Bildung immer wichtiger für die Zutei-lung von Lebenschancen und damit zu einemzentralen Element sozialer Gerechtigkeit wird,bleibt für uns die gerechte Teilhabe an Bil-dungschancen und damit an Arbeit und Be-schäftigung, an Fortschritt und Wohlstand einezentrale Aufgabenstellung künftiger Bildungs-politik. Diese Herausforderungen an Bildungs-institutionen und Bildungsinhalte sind in dennächsten Jahren zu bewältigen und stehen imSpannungsfeld von

■ Chancengleichheit für alle und differen-zierter Leistungsförderung

■ Individueller Entfaltung und sozialem Zu-sammenhalt

■ Sicherung von Standards und Aufbruch zuInnovationen

■ Lokaler Einbindung und globaler Vernet-zung

■ Öffentlicher und privater Verantwortung fürdie Bildungsfinanzierung.

1. Chancengleichheit für alle unddifferenzierte Leistungsförderung

Die erste große Bildungsreform in der Bun-desrepublik in den 60er und 70er Jahren hatteunter anderem das Ziel, die sozialen Chancenzu verbessern und die Begabungsreserven inden bis dahin bildungsfernen Schichten der Be-völkerung zu aktivieren. Sie führte nicht zu-letzt während der sozialliberalen Koalition zueiner Ausdehnung der weiterführenden Bildungund erhöhte den Anteil der Hochschulberech-tigten auf annähernd ein Drittel eines Alters-jahrgangs. Sie hat damit vielen Jugendlichenaus den bildungsfernen Schichten den Weg zugesellschaftlichem Aufstieg ermöglicht und dieBasis für wirtschaftlichen Wohlstand gelegt.

Chancengleichheit und Leistung sind keine Ge-gensätze, sie gehören zusammen. Die Zu-kunftschancen des Einzelnen, der Gesellschaftund der Wirtschaft hängen gleichermaßen abvon der Verwirklichung von Chancengleichheitund der Ermöglichung der Leistung, die zu-künftig gebraucht wird. Stärkung und bestmög-liche Förderung des Einzelnen und seiner Fä-higkeit zur Zusammenarbeit sind die besteGrundlage für die Verwirklichung der indivi-duellen Lebenschancen und die verantwortli-che Mitwirkung bei der Gestaltung unsererGesellschaft.

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Wir müssen heute feststellen, dass Chancen-gleichheit längst nicht überall in unserem Bil-dungssystem gegeben ist, und zwar mit schwer-wiegenden Folgen:

■ Trotz aller Fortschritte gibt es immer nochzu viele Schulabgänger ohne Abschluss, zuviele Jugendliche ohne Ausbildung und zuviele Erwachsene ohne volle beruflicheQualifikation,

■ nach wie vor sind Kinder aus Familien mitgeringem Einkommen im Gymnasium undan den Hochschulen unterrepräsentiert,

■ noch immer haben es Kinder und Jugend-liche, die in Armut oder prekären Lebens-lagen aufwachsen, sehr viel schwerer alsihre Altersgenossen,

■ besonders schwer haben es Ausländer undMigrantenkinder, insbesondere wenn sieüber geringe Einkünfte verfügen,

■ trotz großer Fortschritte gibt es immer nochDefizite bei der Verwirklichung von Chan-cengleichheit von Frauen in der Bildung,vor allem in der beruflichen Bildung undan Hochschulen, aber auch im Umgehenmit Rollenverhalten in Kindertagesstättenund in der Schule,

■ noch immer haben wir erhebliche regiona-le Unterschiede bei der Verteilung vonschulischen Chancen,

■ allen Bemühungen um Chancengleichheitzum Trotz ist das gegliederte Schulsystemhoch selektiv: bereits nach dem 6. Schul-jahr sind die individuelle Schulkarriere, derspätere Berufsweg und das künftige Ein-kommen für viele weitgehend festgelegt,

■ ein unterschiedlicher Zugang zu neuen Me-dien darf nicht zu neuen sozialen Spaltun-gen und Ungerechtigkeiten führen.,

■ noch immer gibt es im Bildungswesen zuwenig internationale Zusammenarbeit undzu viele Hemmnisse für die grenzüber-schreitende Mobilität.

Der Begriff der Chancengleichheit bekommtheute einen sehr viel fundamentaleren Sinn alszur Zeit der ersten Bildungsreform. Unter denBedingungen einer Informations- und Wissens-gesellschaft garantieren erst Bildung und diemit ihr verbundenen Schlüsselkompetenzenwie Lern-, Konzentrations- oder Teamfähigkeitden Zugang und die Sicherung von Beschäfti-gung. Sie schaffen die Möglichkeit, ein selbst-bestimmtes Leben zu führen. Ohne Schulab-schluss und Berufsausbildung wird es für Ju-gendliche in Zukunft immer schwerer, sich ei-nen Platz im Erwerbsleben zu sichern und ak-tiv an der Entwicklung von Wirtschaft undGesellschaft teilzunehmen. Die Frage, ob un-sere Gesellschaft alle Mitglieder integrierenkann oder Teile ausgrenzt, stellt sich besondersin den Schulen. Führende Bildungsexperten ha-ben zu Recht festgestellt: „Bildung ist die so-ziale Frage des 21. Jahrhunderts“ (Experten-befragung zur Zukunft der Wissensgesellschaftim Auftrag des BMBF).

Die konservative Bildungspolitik hat nicht ver-hindert, dass in der Gruppe der 20- bis 29-Jäh-rigen noch immer fast 12% oder rd. 1,3 Mil-lionen ohne Berufsabschluss bleiben, darun-ter überproportional viele junge Ausländer.„Ausbildung für alle“ bleibt das Leitziel unse-rer Berufsbildungspolitik.

Der Gleichklang von Chancengleichheit undLeistungsförderung ist das zentrale Projekt so-zialdemokratischer Bildungspolitik. An diesem

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Anspruch halten wir trotz und gerade wegender veränderten Rahmenbedingungen fest, indenen Bildung heute stattfindet.

Gerade wenn wir feststellen, dass Geld undmehr Stellen häufig nicht zum erwünschtenErfolg geführt haben, müssen wir wieder stär-ker aus Erfolgsgeschichten lernen. In den ver-gangenen Jahren hat das Wissen um notwen-dige Entscheidungen erheblich zugenommen.Überzeugende Konzepte für Teilbereiche un-seres Bildungswesens liegen auf dem Tisch.

Die konservative Bildungspolitik will stattdes-sen, die staatlichen Ressourcen umsteuern zurFörderung von Hochqualifizierten und Spit-zenbegabungen (Bayerisch-Sächsische Zu-kunftskommission). Im Gegensatz zu einer ein-seitigen Fixierung auf Spitzenbegabungen sa-gen wir: Qualifizierungen werden in der ge-samten Gesellschaft benötigt, um innovativeProzesse nachhaltig zu fördern und um dieBeschäftigungsfähigkeit zu sichern. DenGleichklang von Chancengleichheit und Spit-zenleistung aufzukündigen, würde eine Kapi-tulation vor der eigentlichen bildungspoliti-schen Aufgabe im 21. Jahrhundert bedeutenund würde zu weiteren Spaltungen auf demArbeitsmarkt führen.

Besondere Talente können auch ohne starreRegelungen gefördert werden. Wir setzten des-halb auf die Individualisierung von Bildungs-gängen, auch was die Dauer angeht. Dazu ge-hört zum Beispiel auch das Angebot von 12-und 13-jährigen Bildungsgängen bis zum Ab-itur.

Es bleibt das Ziel sozialdemokratischer Bil-

dungspolitik, auf allen Schul- und Ausbil-dungsstufen eine Lernkultur zu schaffen undweiterzuentwickeln, die Kindern und Jugend-lichen die Basiskompetenzen und -moti-vationen des selbsttätigen Lernens und ständi-gen Lernen-Wollens vermittelt, die die Quali-tät von Bildung sichert, die das Leistungsni-veau anhebt und lernschwache Kinder und Ju-gendliche fördert. So ist zum Beispiel derUmgang mit Computern unverzichtbare Vor-aussetzung für die Teilhabe in der Informati-onsgesellschaft. Dazu müssen die Vorausset-zungen in den Schulen geschaffen werden. Zielmuss es sein, mittelfristig alle Klassenzimmermit Rechnern zum täglichen Gebrauch auszu-statten.

Wir brauchen offene Räume für Kinder undJugendliche in ihren Stadtteilen. Das könnenInternetcafés sein und Computer in Stadtbü-chereien und Jugendeinrichtungen. Alle Kin-der und Jugendlichen müssen unabhängig vomEinkommen der Eltern den Zugang zum Com-puter und zum Internet haben. Wir wollen dieneuen Medien zu einem Instrument machen,mit dem soziale Unterschiede bei den Bil-dungschancen ausgeglichen werden können.Zur Verbesserung der Medienversorgung hatdie neue Bundesregierung gemeinsam mit derWirtschaft die Initiative „D21“ ins Leben ge-rufen, die die vielfältigen Anstrengungen derLänder in diesem Feld ergänzt.

Wir setzen auf ein qualitativ hochwertiges unddurchlässiges Bildungsangebot, das den unter-schiedlichen Bildungsvoraussetzungen undBildungsansprüchen gerecht wird. Dies bedeu-tet für die unterschiedlichen Institutionen desBildungssystems:

Für eine neue BildungsinitiativeBILDUNG ENTSCHEIDET ÜBER UNSERE ZUKUNFT

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■ Die allgemeinbildenden Schulen sollendurch eine Verbesserung der organisatori-schen Rahmenbedingungen und eine wei-tere Verstärkung der personellen und säch-lichen Ressourcen gestärkt werden, so dasssie in der Lage sind, alle Kinder mit ihrenunterschiedlichen Voraussetzungen undMöglichkeiten möglichst umfassend zufördern. Die Sicherung von Qualität undLeistungsniveau in den allgemeinbildendenSchulen ist ein zentrales Ziel. Es umfasstsowohl die gezielte Förderung von lern-schwachen, sozial schwachen Schülerinnenund Schülern und solchen mit fremderMuttersprache als auch die Förderung vonSpitzenbegabungen durch Differenzierungund erweiterte Angebote. Vielfalt statt bil-dungspolitischer Monokulturen muss dasZiel sein.

■ Die Berufsausbildung soll im Interesse derJugend konsequent und unter Berücksich-tigung des zukünftigen Bedarfs moderni-siert werden. Wir wollen eine institutionelleFörderung für benachteiligte Jugendliche,die schulische und sozialpädagogische Zu-satzangebote und Hilfen für die (zumeistkleinen) Betriebe umfasst wie (Zwischen-) Zertifikate unterhalb des Niveaus einerdreijährigen Ausbildung. Im Rahmen desBündnisses für Arbeit und des ProgrammesJUMP werden konsequent die Möglichkei-ten für benachteiligte Jugendliche verbes-sert. Auf der anderen Seite wollen wir eineVerbesserung der Durchlässigkeit zu Fach-hochschulen und Hochschulen für alleAusbildungsgänge. Verbesserung derDurchlässigkeit heißt, durch flexiblere undoffenere Berufsbilder als bisher für dieAuszubildenden Raum für zusätzliche

Qualifizierungsangebote zu schaffen undihnen diese zugänglich zu machen. Auf-stiegsfortbildung und Meisterfortbildungmüssen ausgebaut werden. Wir setzten unsim Bund und in den Ländern dafür ein, dassder Bedarf von Informatik-Fachkräftendurch umfassende und schnellgreifendeMaßnahmen zur Fort- und Weiterbildungwie auch durch langfristige Strukturmaß-nahmen gedeckt wird.

■ Der Zugang zu den Hochschulen muss of-fen bleiben. Wir brauchen anders ausgebil-dete, aber keinesfalls weniger Hochschul-absolventen. Qualität und Leistung derstaatlichen Hochschulen sollen durch eineModernisierung der internen Organisationvon Forschung und Lehre, durch Profilbil-dung und Kooperation angehoben werdenund damit gegenüber privaten nationalenwie internationalen Bildungsangebotenkonkurrenzfähig bleiben. Für uns hat aberauch die Förderung besonders begabterStudierender und Nachwuchswissen-schaftler einen hohen gesellschafts- undbildungspolitischen Stellenwert. Für einezukunftsweisende Entwicklung ist Deut-schland zwingend auf die Kreativität undInnovationskraft seiner besonders begab-ten Studierenden und jungen Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler angewiesen.Eine wesentliche Steigerung des Anteilsweiblicher Nachwuchs- und Führungskräf-te ist dringend erforderlich. Das Potentialder Wissenschaftlerinnen darf der Gesell-schaft nicht länger verloren gehen. Wirbegrüßen und unterstützen privates Enga-gement auch im tertiären Bildungsbereich.Es kann das öffentliche Ausbildungs-angebot ergänzen und über den Wettbewerb

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positive Ausstrahlung auch auf das staatli-che Hochschulsystem haben. Wir brauchenvielfältigere Studienangebote mit unter-schiedlichen Abschlussgraden, damitHochschulen die große Mehrheit der Stu-dierenden auf wissensbasierte und wissen-schaftsintensive Berufe vorbereiten undweniger auf eine wissenschaftliche Lauf-bahn. Dies verlangt eine Erhöhung der At-traktivität der Fachhochschulen und dieVermehrung von berufsbefähigenden ab-gestuften Abschlüssen an den Universitä-ten. Wir unterstützen Modellversuche füreine integrierte Berufs- und Fachhoch-schulausbildung. Mit solchen Modellen er-halten Jugendliche und Unternehmen dieMöglichkeit, praktische und wissenschaft-liche Ausbildung sinnvoll miteinander zuverbinden.

■ Wir brauchen darüber hinaus eine Interna-tionalisierung des Studienstandorts und derStudienangebote. Wir wollen gleichzeitigdeutsche Studierende für den internationa-len Arbeitsmarkt fit machen und ausländi-sche Studierende als Handels-’Botschafter’von morgen an den Standort Deutschlandbinden. Durch international kompatibleStudiengänge sollen möglichst alle Studie-renden einen Teil ihres Studiums im Aus-land absolvieren können. Das verlangt stär-kere Kooperation und umfassende Aus-tauschprogramme zumindest zwischen deneuropäischen Hochschulen.

Voraussetzung für Chancengleichheit ist ein so-zial gerechtes Konzept zur Bildungsfinanzie-rung. Die neue Bundesregierung hat zunächstden kontinuierlichen Rückgang der BAföG-Berechtigten von 42% im Jahre 1982 auf 21%

im Jahre 1998 gestoppt und den Trend umge-kehrt. Wir brauchen jedoch eine umfassendeReform der Ausbildungsförderung, die sicher-stellt, dass niemand aus finanziellen Gründenvon einer seinen Neigungen und Fähigkeitenentsprechenden Ausbildung ausgeschlossenbleibt. Es gehört zu den Kernpunkten sozial-demokratischer Bildungspolitik, dass ein Stu-dium nicht vom Einkommen der Eltern abhän-gen darf. Es muss auch zukünftig möglich sein,ein grundständiges Studium gebührenfrei zuabsolvieren. Dies wollen wir – gegebenenfallsauch durch neue Modelle der staatlichen Bil-dungsfinanzierung – dauerhaft gewährleisten.

2. Individuelle Entfaltung undsozialer Zusammenhalt

Die wesentlichen Entwicklungstendenzen inWirtschaft und Gesellschaft verstärken denTrend zur Individualisierung: die Ausweitungvon Lernphasen in der Biographie, die wach-sende Konkurrenz und Mobilität auf dem Ar-beitsmarkt, die zunehmende Flexibilisierungder Beschäftigungsverhältnisse, die sich aus-dehnende Nutzung elektronischer Medien. Die-se Entwicklung bietet für die junge Generati-on viele positive Aspekte in Form erweiterterLebensgestaltungsoptionen, größerer Hand-lungsspielräume und eines gestärkten Selbst-bewusstseins. Auf der anderen Seite können dieIndividualisierungsprozesse auch Verlust mitsich bringen.

Die Schulen stehen vor der Aufgabe, einen Wegzu finden, beide für die Persönlichkeitsent-wicklung wichtigen Seiten, individuelle Ent-faltung und sozialen Zusammenhalt, zu verbin-

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den. Die Erfüllung dieser Aufgaben ist nichtimmer einfach, weil ein Teil der Schülerinnenund Schüler Probleme aus dem familiären undsonstigen Umfeld mitbringt. Hier muss Schu-le helfen.

Um die hiermit angesprochenen Probleme zulösen, brauchen wir eine Veränderung desBildungsbegriffs. Kinder, Jugendliche und jun-ge Erwachsene, die heute zur Schule gehenoder eine Ausbildung in Betrieb oder Hoch-schule erwerben, müssen morgen in einer ver-änderten Welt bestehen. Nicht allein nachprüf-bares Wissen und technische Fähigkeiten, nichtein geschlossener Leistungs- und Wertekanonwerden den Bildungsbegriff der Zukunft be-stimmen. Vielmehr muss Schule über Offen-heit und Flexibilität ihre Fähigkeit weiterent-wickeln, jungen Menschen eine verlässlicheOrientierung zu geben und sie zu aktiver Ge-staltung einer zunächst noch ungewissen Zu-kunft anzuleiten. Die Kompetenz zu lebenslan-gem Lernen wird deshalb zu einem zentralenBildungsziel. Sichere Beherrschung grundle-gender Kulturtechniken, zu denen auch derUmgang mit den neuen Informations- undKommunikationstechnologien gehört, Offen-heit für unterschiedliche Lebens- und Arbeits-situationen, Sicherheit im Durchschauen vonZusammenhängen, in der Urteilsbildung undin der Werteorientierung sind zentrale Schlüs-sel-qualifikationen für die jungen Menschen.

Veränderungen in der traditionellen Halbtags-schule sind notwendig. Schule muss verlässlichsein. Neue Formen flexibler Betreuungsan-gebote nach Schulschluss sind in den nächstenJahren zu entwickeln. Dies bedeutet eine er-hebliche Ausweitung der Angebote in Koope-

ration mit dem sozialen Umfeld von Schulen(Vereine, Jugendmusikschulen, Betriebe, Me-dien, Kirchen u.a.). Es bedeutet auch, die Lern-formen zu verändern in Richtung auf Lernenin kleinen Gruppen und an Projekten, um dieSelbstständigkeit und den sozialen Zusammen-halt der Schüler zu fördern.

Wichtigste Voraussetzung für eine Lehr- undLernkultur ist eine entsprechende Aus- undWeiterbildung der Lehrenden und Ausbilden-den. Der Beruf des Lehrers ist mit dem immerschnelleren Wandel und dem daraus folgendenOrientierungsbedarf, mit dem Rückgang derErziehungskraft der Familie und mit der sichwandelnden Funktionalität von Wissen immerverantwortungsvoller, aber auch immer schwie-riger geworden. Die Lehrerbildung ist einSchlüssel zur Bildungsreform.

Ein neues Schulkonzept ist ohne eine intensi-vere Kooperation mit den Eltern und, ohne eineAufwertung des Lehrerberufs in der Öffentlich-keit und ohne eine veränderte Zusammenset-zung der Kollegien nicht umsetzbar. Zur Auf-wertung des Lehrberufs gehört auch ein ver-ändertes Professionalisierungskonzept, in demneben dem fachwissenschaftlichen Kern ver-stärkt psychologische und sozialwissenschaft-liche Kompetenzen treten müssen. Wir brau-chen Lehrer, die intensiv mit Eltern und demsozialen Umfeld der Schulen kooperieren.Schule muss geöffnet werden zum außerschuli-schen Feld, zu Kooperationen in die regiona-len Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen hin-ein. Schule braucht Partner!

Eine solche Reorganisation der Schule ist über-fällig, um den Anforderungen einer Bildungs-

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landschaft des 21. Jahrhunderts gerecht zuwerden.

Die Vermittlung sozialer Kompetenzen, dasErlernen von Methoden-, Orientierungs- undProblemlösungskompetenzen, aber auch dieÜberwindung von Passivität, Desinteresse undGewalt setzt eine neue Lehr- und Lernkulturan Bildungseinrichtungen voraus:

■ Neue Lernsituationen, in denen Teamarbeitstatt „Einzelkämpfertum“ gefördert wird,

■ Einbeziehung von Lernorten der berufli-chen Praxis und des sozialen Umfelds, umsoziale Interessen und Kompetenzen zu er-fahren,

■ neue Formen des Lernens, bei denen Kin-der Umwege beschreiten und Fehler ma-chen dürfen, bei denen sie in der GruppeProbleme lösen und durch Erklären undHandeln lernen,

■ neue didaktische Konzepte, die fächerüber-greifendes und vernetztes Denken fördern,

■ neue Medien unterstützen eine neue Qua-lität des gemeinsamen Gestaltens von Ler-nen, bei der der Lehrer die Rolle des Lern-beraters übernimmt.

3. Sicherung von Standards undAufbruch zu Innovationen

Qualität und Innovationsfähigkeit der Bil-dungseinrichtungen stehen zu Recht im Mit-telpunkt des öffentlichen Interesses. Die Ent-wicklung in nahezu allen Bereichen von Pro-duktion und Dienstleistung hat bereits in derVergangenheit dazu geführt, dass sich im

Beschäftigungssystem die Nachfrage nach hö-her und hoch qualifizierten Beschäftigten kon-tinuierlich vergrößert hat.

Die weiter wachsende Einbindung Deutsch-lands in die europäische Staatengemeinschaftund in die weltweiten wirtschaftlichen Ver-flechtungen stärkt die Aufmerksamkeit, die inder Öffentlichkeit der wirtschaftlichen Bedeu-tung guter Bildung und Ausbildung für die Ein-zelnen und für die Gesellschaft insgesamt bei-gemessen wird.

Die Rolle des Staates in der Bildung befindetsich im Prozess der Neudefinition. Bund undLänder müssen sich mehr und mehr auf dieRegelungen der politischen und rechtlichenRahmenbedingungen konzentrieren, insbeson-dere zur Sicherung von Qualität und Vergleich-barkeit, Regelung des gleichen Zugangs für allesowie zur Förderung von besonderen Zielgrup-pen.

Dabei müssen wir zwei Ziele gleichzeitig ver-folgen: zum einen müssen wir die Strukturenunserer Bildungseinrichtungen, ihre personel-len und finanziellen Ressourcen überprüfen;zum anderen wollen wir zu mehr Selbstbe-wusstsein, Selbständigkeit, Kreativität undTeamfähigkeit ermutigen und anregen.

Wir wollen den Schulen, Hochschulen und Ein-richtungen der Berufsbildung mehr Selbstän-digkeit geben und mehr Eigenverantwortungabverlangen. Ihre Kreativität muss – auch durchdie Mitwirkung aller darin Tätigen - gestärktwerden, da die Gesellschaft von ihnen innova-tives Denken und Handeln erwartet. Wir wol-

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len die Bildungseinrichtungen animieren, imWettbewerb untereinander nach optimalenWegen zur Steigerung der Qualität von Bildungzu suchen.

Selbstständigkeit darf sich dabei nicht auf fi-nanzielle Belange beschränken, sondern mussdie Freiheit zur inhaltlichen - und personellen- Gestaltung und Weiterentwicklung der päd-agogischen Angebote einschließen. Gefordertwird auch im Interesse der Qualitätssicherungmehr kreativer Wettbewerb um die besten Ide-en. Auch hier gewinnen Forderungen nach ei-ner stärkeren regionalen Kooperation und Ver-netzung der Hauptakteure der unterschiedli-chen Bildungssektoren an Bedeutung.

Mehr Selbstständigkeit und Eigenverantwor-tung der Bildungseinrichtungen umfassen not-wendigerweise auch die Bereitschaft zu Re-chenschaft und Evaluation sowie zum Lei-stungsvergleich mit anderen. Dies ist auch dieVoraussetzung für Transparenz. Wir braucheneine intensive Debatte über solche Instrumen-te der Qualitätssicherung. Dabei werden wirauch erfolgreiche Beispiele aus dem Auslandeinbeziehen.

Selbstständigkeit und stärkere Eigenverantwor-tung der Bildungseinrichtungen erfordern auchneue Kompetenzen für die Leiter von Bildungs-einrichtungen sowie für die Mitarbeiter derstaatlichen Aufsicht. Entsprechende Weiterbil-dungsangebote sind ein wichtiger Beitrag zurQualitätssteigerung und Innovation.

Der in Deutschland fest verankerte Kultur-föderalismus hat in den sechzehn Ländern z.B.

hinsichtlich der Schulstruktur, der Bildungs-zeiten und auch der Lehrpläne zu einer Fülleunterschiedlicher Ausgestaltungen des Schul-wesens geführt. Der im Grundgesetz nieder-gelegte Auftrag, die Einheitlichkeit der Lebens-verhältnisse in Deutschland und die Freizügig-keit zwischen den Ländern auch faktisch ab-zusichern, macht es erforderlich, trotz allerlandesspezifischen Ausprägungen für ver-gleichbare qualitative Standards Sorge zu tra-gen. Aber auch hier gilt: Wir müssen dies nichtzwischen den Ländern über Detailregelungenorganisieren, sondern im Wettbewerb um diebesten Konzepte.

Die Hochschulen müssen jetzt eine Reformauch zur Internationalisierung ihrer Studien-gänge (z.B. BA/MA-Abschlüsse) voranbrin-gen. Wir Sozialdemokraten sind gewillt undbereit, unsere Hochschulen bei diesem teilwei-se bereits eingeleiteten Reformprozess zu un-terstützen. Wir setzen hierbei auf größtmögli-che Selbstständigkeit, auf Wettbewerb und ei-genständige Profilbildung. Wir halten es imGegenzug für unerlässlich, dass sich die Hoch-schulen dann einer ständigen Evaluierung ih-res Lehrangebotes und einer Akkreditierungihrer neuen Studiengänge unterwerfen.

Erst eine Kombination von Qualitätsstandards,von vielfältigen Bildungsangeboten, von Chan-cengleichheit und Leistungsfähigkeit, von er-höhter Selbstständigkeit der Bildungseinrich-tungen und neuen Kooperationsformen zwi-schen Bildungseinrichtungen schafft die Inno-vationsfähigkeit, die die Gesellschaft des 21.Jahrhunderts so dringend benötigt.

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4. Lokale Einbindung undglobale Vernetzung

Die lokale Kooperation der Bildungsinstitu-tionen ist gerade für Kinder und Jugendlichein den ersten Bildungsjahren von großer Be-deutung. Deshalb ist es unser Ziel, die Schu-len untereinander zu vernetzen, um Zusam-menarbeit, Arbeitsteilung und Erfahrungsaus-tausch von Schülern und Lehrern zu verbes-sern.

Auch im beruflichen Bereich werden Zusam-menarbeit, Erfahrungsaustausch und Arbeits-teilung über die einzelne Institution hinwegimmer wichtiger. Zur lokalen Einbindung ge-hört ein regelmäßiger Erfahrungsaustauschzwischen beruflichen Schulen und Betrieben,auch mit den zuliefernden allgemeinbildendenSchulen, mit den Kammern und den lehrer-bildenden Institutionen.

Wir wollen die berufliche Erstausbildung unddie Weiterbildung verzahnen. Die beruflichenSchulen können zu Qualifizierungszentren derRegion werden. Dabei kann das gut ausgebau-te Berufsschulwesen seine Fachkompetenzunter Marktbedingungen auch für Angebote derberuflichen Weiterbildung nutzen.

Wir wollen, dass sich die Schulen den Eltern,Betrieben, Vereinen, Berufstätigen, Kirchen,der Jugend- und Sozialarbeit und den Umwelt-schutzeinrichtungen noch stärker öffnen undzu lebendigen Zentren für Lehren und Lernenin Gemeinschaft werden (community learningcenters). Praxisorientierter Unterricht in Zu-sammenarbeit mit Betrieben und Berufstätigenunterstützt die Wissensvermittlung, fördert

Motivation und Konzentration und hilft bei derOrientierung der Schülerinnen und Schüler. Indieser regionalen und lokalen Einbindung sindsoziales Lernen und interkulturelle Lernpro-zesse wesentlich erleichtert.

Im Hochschulbereich haben sich Hochschulenlängst zu Zentren regionaler Entwicklung her-ausgebildet. Die regionale Einbindung der mo-dernen Hochschule in ihre Standortregion wirdnicht nur in dem hohen Anteil von Studieren-den ihrer Region deutlich, sondern in wach-sendem Maße durch Verbundprojekte zwischenHochschule - und Unternehmen, praxisorien-tierte und duale Studiengänge (insbesondere anFachhochschulen), Starterzentren der Hoch-schule, Strukturhilfe-Institute, Technologie-transferstellen, Innovations-Kontaktbörsen,science parcs, Gründerzentren und Beratungs-stellen für junge Unternehmensgründer. Wirwollen diese Entwicklung in Zukunft systema-tisch fördern. Technologietransfer ist ein Kern-element regionaler Wirtschaftsförderung.

Der wissenschaftlich-technische Wandel undder Wettbewerb um Innovation erzwingt eineraschere Umsetzung von Wissen in innovativeProdukte und Verfahren. Deshalb muss dieschon begonnene Öffnung der Hochschulfor-schung für externe Partner - nicht nur der Wirt-schaft - vorangetrieben werden. So wichtig dieGrundlagenforschung zweifellos bleiben wird,es genügt nicht, und es ist aus gesellschaftspo-litischer Sicht auch nicht wünschenswert, dieVerwertung wissenschaftlicher Erkenntnisseallein den außeruniversitären ‚Wissensnach-fragern‘ oder auch nur dem hauptamtlichenTransferpersonal zu überlassen. Die Zusam-menarbeit mit außeruniversitären Instituten und

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der privatwirtschaftlichen Forschung muss vonden Wissenschaftlern selbst gesucht und ge-pflegt werden - auch und gerade zum Nutzender Forschung. Die Öffnung von Lehre undForschung für exzellente ‚Praktiker‘ aus denEntwicklungsabteilungen der Betriebe ist da-bei ein genau so nahe liegendes Instrument wiedas Forschungsfreisemester für den Forscherin der Praxis. Problemsicht der Forscher undder Anwender gegenseitig zu verstehen und an-zuerkennen ist eine der wichtigsten Vorausset-zungen einer für beide ‚Systeme‘ fruchtbrin-genden Kooperation.

Stark in die örtliche Region eingebunden undan dem Bedarf der örtlichen Zielgruppen ori-entiert sind auch die Einrichtungen der Fort-und Weiterbildung. Sie müssen und werden inder Gesellschaft der Zukunft wachsende Be-deutung erlangen. Ihr Wirkungsgrad sollte da-durch gefördert und erhöht werden, dass re-gionale Netzwerke der Weiterbildung geschaf-fen werden, die Kompetenzen und Potentialeder Weiterbildung bündeln und Transparenz derAngebote und Beratung fördern.

Aus der weltweiten Verflechtung von Wirt-schaftssystemen und Unternehmen und derzunehmend intensiveren internationalen undeuropäischen Zusammenarbeit ergeben sichneue Aufgaben und Anforderungen an das Bil-dungssystem. Prozesse und Inhalte der Quali-fizierung auf allen Ebenen müssen der neuenSituation Rechnung tragen. Wer künftig seineBerufs- und Lebenschancen optimal nutzenund an Arbeit und Wohlstand teilhaben will,muss neben seiner fachlichen KompetenzFremdsprachen und Grundlagen interkul-tureller Kommunikation beherrschen. Aus-

landserfahrung sowie international anerkann-te Qualifikationsabschlüsse sind zudem immerwichtiger, auch für die berufliche Bildung.

Fremdsprachenerwerb hat schon jetzt im deut-schen Bildungswesen einen relativ hohen Stel-lenwert. Wir wollen dies auf allen Ebenen, zumBeispiel durch noch mehr bilingualen Schul-unterricht und fremdsprachige Hochschul-studiengänge ausbauen.

Wir halten es für dringend erforderlich, dasserheblich mehr junge Leute die Chance einesAuslandsaufenthalts erhalten. Dies soll ihnenermöglichen, eine andere Alltagskultur zu ver-stehen, eine andere Sprache zu lernen und neueberufliche Anregungen zu erhalten. Nur so kön-nen wir Grundlagen für ein Europa der Bürgerschaffen.

Internationale Zusammenarbeit ohne Mobili-tät und Flexibilität ist nicht möglich. Dienst-und aufenthaltsrechtliche Erleichterungen beider Beschäftigung von Fachkräften mit frem-der Muttersprache und der Entsendung deut-scher Fachkräfte ins Ausland müssen ebensoangestrebt werden, wie Erleichterungen fürausländische Studierende an deutschen Hoch-schulen zu lernen. Insbesondere sollen soge-nannte ‚centers of excellence‘ an Hochschu-len verstärkt Kooperationen mit hervorragen-den ausländischen Universitäten eingehen.

Um den europäischen Einigungsprozess aktivauf breiter Basis mitzugestalten und um glo-bal die europäische Wettbewerbsfähigkeit zusichern, müssen wir die Voraussetzungen ver-bessern, einen europäischen Bildungs- undKulturraum zu entwickeln.

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5. Öffentliche und private Verant-wortung für die Bildungsfinanzierung

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich inDeutschland ein Bildungssystem entwickelt,das inhaltlich und strukturell hoch ausdifferen-ziert ist und allen Heranwachsenden offensteht. Diese Entwicklung vollzog sich unteröffentlicher Aufsicht und unter öffentlicherMitwirkung. Der Rolle, die dem Staat dabeizukam und auch weiterhin zukommt, entsprichtsein überragender Anteil bei der Finanzierungdes Bildungswesens. Der Rückgang des An-teils von Bildung und Wissenschaft amGesamtbruttoinlandsprodukt von 5,0% 1980auf 4,5% 1997 muss korrigiert werden. Mit den200 Milliarden Mark, die die öffentlichenHaushalte derzeit jährlich für Bildung ausge-ben, unterhalten die Kommunen, die Länderund der Bund nahezu allein das Schul- undHochschulsystem. Sie leisten zusätzlich be-achtliche Beiträge zu den Ausgaben der Kin-dergärten, der außerschulischen beruflichenErstausbildung und zur Weiterbildung sowieder individuellen Förderung.

Bildung und Forschung haben in Deutschlandwieder Priorität. Die sozialdemokratisch ge-führte Bundesregierung hat die Zukunftsinves-titionen in Bildung und Forschung im Haus-halt 1999 um fast 1 Mrd. DM erhöht und bis2003 einen kontinuierlichen Zuwachs der Aus-gaben vorgesehen.

Bereits heute werden in beachtlichem Umfangauch private Mittel für das Bildungssystemausgegeben. Die Eltern leisten Beiträge zu denKindertagesstättenkosten. Eltern tragen zuneh-mend Kosten für Lehrmaterialien und in jüng-

ster Zeit auch für Personalcomputer und derenAusstattung. Sie tragen den Unterhalt für ihreKinder in Schule und Ausbildung. Die neueBundesregierung unterstützt die Eltern durchdie Erhöhung des Kindergeldes und die Anhe-bung der Kinderfreibeträge. Teilnehmer tragenzum Teil einen erheblichen Teil der Kosten vonWeiterbildung. Die Wirtschaft leistet einen ho-hen Beitrag für die berufliche Erstausbildungund für die Weiterbildung. Diese Verantwor-tung muss sie auch wahrnehmen.

Trotzdem haben die überall wachsenden An-forderungen an die Leistungen des Bildungs-system die bisherigen Finanzierungswege anihre Grenzen geführt. Die Sicherung einer be-ruflichen Erstausbildung bedarf zusätzlicherAnstrengungen.

Bildung ist immer weniger auf eine Lebens-phase zu reduzieren. Die steigende Nachfrageim Bereich der allgemeinen und beruflichenWeiterbildung stellt den Grundgedanken deröffentlich verantworteten und finanzierten Bil-dung vor eine große Herausforderung. Nebeneiner Ausweitung der öffentlich bereitgestell-ten Ressourcen müssen die im Bildungsweseneingesetzten Mittel effektiver genutzt werden.Dabei ist eine verstärkte Selbstständigkeit dereinzelnen Institutionen auch bei ihrer Mittelbe-wirtschaftung (Budgetierung) in Verbindungmit entsprechenden Anreizsystemen für eineneffektiven Mitteleinsatz ebenso notwendig wiedie Reduzierung der öffentlichen Aufsicht aufdas Maß der Zielerreichung durch die einzel-nen Einrichtungen des Bildungswesens (Re-chenschaftslegung und Evaluation).

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Die Steigerung der Ausgaben, eine effektivereMittelbewirtschaftung und eine gerechtereMittelverteilung werden aber nicht ausreichen,um das deutsche Bildungssystem überall in derWelt konkurrenzfähig und im Inneren offen zuhalten. Deshalb sollen verstärkt private Mittelmobilisiert werden. Wir haben deshalb begon-nen, das Stiftungsrecht zu reformieren. Wer inZukunft in Deutschland privates Kapital inBildung investiert, soll dabei steuerlich begün-stigt werden. Die zunehmende Mobilisierungprivater Mittel darf allerdings nicht dazu füh-ren, dass ökonomische Barrieren den Zugangzur Bildung verstellen. Auch sollte eine weite-re Belastung von Familien angesichts der be-reits erbrachten Leistungen vermieden werden.Die Unternehmen müssen im wohlverstande-nen Eigeninteresse für eine ständige Erneue-rung der Qualifikation der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer sorgen, denn dies bleibt eine

der zentralen Voraussetzungen für die bundes-deutsche Wettbewerbsfähigkeit.

Zukunft braucht Mut.Bildung entscheidet über unsere Zukunft. Mitdiesem Memorandum wollen wir eine breitegesellschaftliche Diskussion über die Zukunftunserer Bildung anregen. Die Diskussion überdie Zukunft der Bildung ist eine Diskussionüber die Zukunftschancen unserer Jugend undunserer Gesellschaft insgesamt. Gerade derBildungsbereich muss Vorreiter sein für neueAntworten, um Chancengleichheit und Lei-stungsfähigkeit unter veränderten ökonomi-schen und gesellschaftspolitischen Vorausset-zungen realisieren zu können. Eine neue Bil-dungsinitiative ist notwendig, um die Zukunftzu bewältigen.

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Wolfgang Clement ist Ministerpräsident desLandes Nordrhein-WestfalenEdelgard Buhlmahn ist Bundesministerinfür Bildung und ForschungManfred Stolpe ist Ministerpräsident desLandes BrandenburgGabriele Behler ist Bildungsministerin desLandes Nordrhein-WestfalenJürgen Zöllner ist Staatsminister für Bil-dung, Wissenschaft und Weiterbildung des Lan-des Rheinland-PfalzWilli Lemke ist Senator für Bildung und Wis-senschaft der freien Hansestadt Bremen

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Chancengleicheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im21. Jahrhundert

POTSDAMER ERKLÄRUNG

Zur Entstehung der Potsdamer Erklärung

Die GESELLSCHAFT CHANCENGLEICHHEIT e.V., eine gemeinnützige Vereinigung von Per-sönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Publizistik, hat vom 11. bis 13. November 1999 inPotsdam einen bundesweiten Kongress zur Bildungs- und Geschlechterpolitik unter dem Motto„Chancengleichheit – Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21.Jahrhundert“ veranstaltet.Daran haben rund 200 Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland teilgenommen. Als Er-gebnis dieses Kongresses ist die nachstehende Erklärung entstanden. Sie richtet sich vor alleman die politisch Verantwortlichen und Beschäftigten in Bildung und Wissenschaft, Kultur undMedien, ebenso an die Verantwortlichen für Frauen- und Gleichstellungspolitik, Familien- undSozialpolitik.

Die Verfasserinnen und Verfasser

Die Potsdamer Erklärung ist von der Vorbereitungsgruppe des Kongresses „Chancengleichheit -Leitbegriff für Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert“ unter Einbeziehung vieler Vorschlä-ge und Anregungen von Expertinnen und Experten aus der Bildungs- und Frauenpolitik erarbei-tet worden. Zum engeren Kreis gehörten Tilo Braune, Christa Cremer-Renz, Peter Döge, Chri-stoph Ehmann, Klaus Faber, Hannelore Faulstich-Wieland, Peter Faulstich, Monika Ganseforth,Maria-Eleonora Karsten, Holger H. Lührig, Marion Lührig, Sigrid Metz-Göckel, Barbara Stiegler,Barbara Stolterfoth, Rolf Wernstedt, Dieter Wunder.Für Beiträge und wichtige Anregungen danken wir den Teilnehmerinnen und Teilnehmern desKongresses, speziell Christine Färber, Elke Plöger, Anne Ratzki, Jürgen Theis und Gabriele Win-ker, für ihre schriftlichen Anmerkungen zum Entwurf des Manifestes. Der Dank gilt ferner denReferentinnen und Referenten des Kongresses, deren Reden im Rahmen der Kongress-Dokumen-tation im Frühjahr veröffentlicht werden.Die Schlussredaktion der Potsdamer Erklärung lag bei Holger H. Lührig, Marion Lührig undDieter Wunder.

THEMA

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Chancengleichheit - Leitbegriff für Poli-tik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Zum Beginn eines neuen Jahrhunderts - 50 Jah-re nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, 10Jahre nach Herstellung der deutschen Einheit- gilt es eine Zwischenbilanz zu ziehen: Wie-weit ist das Ziel Chancengleichheit für dieMenschen in Deutschland verwirklicht? Wiesteht es um die Einlösung des Gleichheits-gebotes von Artikel 3 des Grundgesetzes unddes Sozialstaatsprinzips nach Artikel 20 alsGrundlage für die Forderung nach Chancen-gleichheit?Ein Vergleich zwischen Verfassungsanspruchund Verfassungswirklichkeit fällt sehr zwie-spältig aus: Zwar hat die Politik seit den 60-erJahren - oder gerade wieder seit 1999 - Chan-cengleichheit zum leitenden Prinzip deklariert.Und Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichtes haben die Gleichstellung der Ge-schlechter und z.B. den freien Zugang zu denHochschulen gefördert. Doch trotz beachtlicherAnstrengungen ist der Anspruch auf Chancen-gleichheit in Deutschland bisher vielfach nochnicht eingelöst.Zugleich ergeben sich neue Chancen und Ge-fährdungen für Chancengleichheit aufgrundtiefgreifender Veränderungen aller Lebensbe-reiche, die insbesondere vom Zusammenwach-sen Europas, von der sich beschleunigendenGloba-lisierung und von der technologischenUmwälzung durch die neuen Informations- undKommunikationstechnologien bestimmt wer-den. Angesichts jetzt schon teilweise absehba-rer, auch unerwünschter Folgen sind Antwor-ten auf die Frage gefordert, wie in Zukunft derAnspruch auf chancengleiche Teilhabe an derWirtschafts- und Arbeitswelt, am kulturellen

Leben und demokratischen Gemeinwesen füralle Menschen gewährleistet werden kann.Die Potsdamer Erklärung der GESELL-SCHAFT CHANCENGLEICHHEIT soll dieöffentliche Debatte über Ziele und Wege zumehr Chancengleichheit forcieren.

Chancengleichheit als Aufgabeder Politik

Die Verknüpfung von Innovation und sozialerGerechtigkeit, Leitvorstellungen für die anste-hende Modernisierung von Staat und Gesell-schaft, ist die vordringliche Aufgabe der deut-schen und europäischen Politik. Chancen-gleichheit ist nach wie vor eine der wichtig-sten Konkretisierungen sozialer Gerechtigkeitund ein Impuls für gesellschaftliche Innova-tionen.In modernen demokratischen Gesellschaftenlegitimieren Bildungsabschlüsse den Zugangzu Beruf und Einkommen, Einfluss und sozia-ler Anerkennung, nicht mehr Privilegien derHerkunft. Chancengleichheit beim Zugang zuBildung - sowie während der Bildungszeit - istdemnach ein Maß sozialer Gerechtigkeit in ei-ner demokratischen Gesellschaft. Eine Politikder Chancengleichheit bemüht sich systema-tisch um den Abbau aller Benachteiligungen,die Menschen aufgrund von Geschlecht, sozia-ler, kultureller und regionaler Herkunft oderkörperlicher Behinderung erfahren. Gender-Mainstreaming ist gegenwärtig der wichtigstePolitikansatz zur Überwindung der Geschlech-terungleichheit.Chancengleichheit setzt die Anerkennung derVerschiedenheit von Menschen, ihrer unter-schiedlichen Biografien, Lebensweisen sowieBefähigungen voraus und fördert die Entfal-

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tung ihrer jeweiligen Lebensperspektiven. DieDominanz männlich oder eurozentrisch ge-prägter Sichtweisen in Bildung, Wissenschaft,Kultur und Medien ist zu überwinden. Aucheine nur ökonomisch orientierte Ausrichtungwiderspricht einer umfassenden Bildung.Bildungspolitik nimmt eine Schlüsselstellungein im erfolgreichen Bemühen um Chancen-gleichheit; andere Politikbereiche wie Arbeits-markt-, Familien-, Innen- und Sozialpolitikmüssen unterstützend tätig werden, unabhän-gig von ihrer eigenständigen Verantwortung fürmehr Chancengleichheit in der Gesellschaft.Eine breite Debatte über Chancengleichheitwird die wissenschaftlichen und intellektuel-len Diskurse in unserer Gesellschaft neu bele-ben und zugleich soziale bzw. technologischeVer-änderungsprozesse stimulieren.

Chancengleichheit ist in vielen Feldernnur ansatzweise erreicht

Eine Bestandsaufnahme des Bildungswesenszeigt unbestreitbare Erfolge im Abbau von Un-gleichheit. Geschlecht, soziale Lage, Kultur,Herkunft oder Behinderung stellen jedoch nachwie vor Diskri–minierungsmerkmale dar: Die-se verstärken sich gegenseitig vielfach, wie sichinsbesondere bei Kindern der meisten Zuwan-derinnen und Zuwanderer (Arbeitsmigration,Aussiedlung, Flucht), aber auch für Kinder ausanderen sozial benachteiligten Gruppen bele-gen lässt. Das Prinzip des lebensbegleitendenLernens - vom vorschulischen Kindesalter überschulische und berufliche Bildung bis zu un-terschiedlichen Formen der Weiterbildung fürErwachsene und nicht zuletzt Seniorinnen undSenioren - muss Merkmal moderner Gesell-schaften sein, hat aber in Deutschland noch

nicht den ihm gebührenden Stellenwert erlangt.Im Einzelnen erbringt eine Analyse durchausunterschiedliche Tendenzen:1. Die Bildungsexpansion seit den 60er Jahrenhat zu einer Ausweitung der Bildungschancengeführt. In der Bundesrepublik Deutschlandbesuchen immer mehr Jugendliche aus allengesellschaftlichen Gruppen weiterführendeSchulen. Bei Realschul- und Gymnasial-abschlüssen sowie vergleichbaren Abschlüssensind junge Frauen inzwischen in der Mehrheit.2. Die soziale Ungleichheit im Bildungssystembesteht fort, der Abstand zwischen ”ganz oben”und ”ganz unten” ist geblieben. Kinder aus densozial schwachen Schichten, unter ihnen zu-gewanderte Jugendliche, sind an Gymnasienund Hochschulen unterrepräsentiert; Jungen,besonders deutlich in Ostdeutschland, stelleneinen großen Teil der Schüler mit Hauptschul-, mit einem vergleichbaren oder ohne jeden Ab-schluss. Kinder von Zuwanderinnen und Zu-wanderern der Unterschichten erfahren zusätz-lich Nachteile, weil Multikulturalität vielfachmehr als Problem denn als Chance gesehenwird; ihr Anteil an Sonderschulen ist überpro-portional. Bei Mädchen aus solchen Gruppensozial Benachteiligter kumulieren diese Pro-bleme.Ganztägige Bildungsangebote fehlen weitge-hend. Dabei würden sie für die Erziehung undBildung von Kindern und jungen Heranwach-senden Chancengleichheit fördern und auchangesichts der Veränderungen in den Familien-strukturen einen ausgleichenden pädagogi-schen Stellenwert haben.3. Ungeachtet aller Erfolge bei der Gleichstel-lung von Frauen ist die geschlechtshierar-chische Strukturierung der Bildungsinhaltenoch nicht beseitigt; auch die Verteilung der

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Lehrenden auf die Bildungsbereiche findet bis-her nach geschlechtshierarchischen Musternstatt. Im Erziehungsbereich (Kindergarten) undin den Grundschulen dominieren Frauen, Män-ner dagegen immer noch in den technisch-na-turwissenschaftlichen Fächern und vielfachnoch an den Gymnasien und Berufsschulen,vor allem in Leitungspositionen.Der Anteil von Frauen an den Lehrenden undForschenden in den Hochschulen ist aufgrundder herrschenden Auswahlverfahren eklatantgering und beträgt etwa bei der Gruppe derProfessoren und Professorinnen gerade neunProzent - auch im internationalen Vergleich istdies ein auffallend geringer Anteil. Zu Studien-beginn liegt er hingegen derzeit bei über 50Prozent.4. Berufliche Bildung vermittelt weniger Le-benschancen als die akademische Bildung. DieBenachteiligung ihrer Absolventinnen und Ab-solventen zeigt sich in Karriereverläufen so-wie am Grad ihrer Beteiligung an der Hoch-schul- und Weiterbildung. Die Unterschiedebeim Zugang zum Beruf, im Hinblick auf Lern-orte, Lernorganisation und Angebotsstruktursowie hinsichtlich der Finanzierung führen zuspezifischen Nachteilen, generell aufgrund desGeschlechts, speziell bei Behinderten, Zuwan-derinnen und Zuwanderern und sozial benach-teiligten Jugendlichen.Junge Männer aus den sozial schwachenSchichten sind besonders häufig in Übergangs-maßnahmen ohne Zukunftsperspektive anzu-treffen; Zuwanderinnen und Zuwanderer habenvielfach mangelhafte Sprachkenntnisse imDeutschen; ostdeutsche Jugendliche sind vonden Folgen der noch schwach ausgeprägtenWirtschaftsstruktur betroffen.Frauen finden sich vielfach in wenigen, gering

bezahlten bzw. gering bewerteten Berufen; diesgilt insbesondere für Zuwanderinnen der Un-terschicht und andere sozial benachteiligteGruppen. Vollzeitschulische Berufsausbildun-gen - fast ausschließlich Ausbildungen fürFrauen - vermitteln eine anspruchsvolle Aus-bildung; ihnen fehlt allerdings die hinreichen-de Anerkennung, so dass sie eher als andereAusbildungen in die Arbeitslosigkeit führenund in vielen Bundesländern bei Reform-diskussionen nicht hinreichend berücksichtigtwerden.Die Chancen junger Menschen in struktur-schwachen Regionen, einen Ausbildungsplatzzu bekommen, sind schlechter geworden. Diestrifft besonders junge Frauen, die zunehmendauf weiterführende allgemeinbildende oder ge-bührenpflichtige berufliche Schulen verwiesenwerden.5. Eine Ungleichheit kennzeichnet nach wie vordas gesamte ”Arbeitsleben”, unter dem jedeForm bezahlter wie unbezahlter Arbeit zu ver-stehen ist: Frauen leisten den überwiegendenTeil der gesellschaftlich lebensnotwendigen,aber unbezahlten Arbeit. Betreuungsangebotein Schulen und Ganztagsschulen fehlen, siekönnten qualifizierte Dienstleistungs- und Bil-dungsaufgaben erfüllen, zudem viele Eltern,insbesondere allein stehende Mütter oder Vä-ter, entlasten.Auf dem Arbeitsmarkt haben Frauen - trotzbesserer Bildung - aufgrund latenter und ma-nifester Ungleichheiten in der Berufsausbil-dung sowie im Hochschulbereich schlechtereChancen als Männer, insbesondere in wichti-gen Bereichen, Funktionen und Positionen.6. Ungleichheiten kennzeichnen auch dengrößten Bildungsbereich, die Weiterbildung.Zwar sind die Unterschiede in der Weiter-

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bildungsbeteiligung zwischen Männern undFrauen nur noch gering, in zukunftsträchtigenberuflichen Weiterbildungsangeboten findensich jedoch mehr Männer. Weil Frauen in lei-tenden Stellungen seltener anzutreffen sind,nehmen Männer als leitende Mitarbeiter über-proportional betrieblich finanzierte Weiter-bildungsangebote wahr.Bildungsstand und beruflicher Status entschei-den maßgeblich über die Teilnahme an Weiter-bildung: Allgemein dominieren einerseits jun-ge Menschen mit Abitur bzw. Hochschul-abschluss, andererseits Beamtinnen und Beam-te. Wer nur über einen Hauptschul-, einen ver-gleichbaren oder gar keinen Abschluss verfügt,bleibt in der Bildungsgesellschaft fast chancen-los.Weiterbildung verschärft so die Auslese undverstärkt die Ungleichheit zwischen den Ge-schlechtern.7. Den neuen Informations- und Kommunika-tionstechnologien kommt beim Übergang derIndustrie- in die Bildungsgesell–schaft einezentrale Bedeutung zu. Der Zugang zu den ent-scheidenden Ressourcen ist ungleich verteilt:Der typische Online-Nutzer ist jung, wohl-gebildet, berufstätig, und männlich. Kinder ausUnterschichten haben vielfach keinen aktivenZugang zu den neuen Medien und laufen da-her Gefahr, aus der Bildungsgesellschaft her-auszufallen. Frauen werden beim Zugang zuden neuen Medien strukturell behindert; ihnenfehlen neben den Möglichkeiten, Erfahrungenmit der technischen Struktur zu sammeln vorallem bedarfsgerechte Angebote im Netz. DieOrganisation von Arbeit auf Netzbasis ist ge-schlechtshierarchisch geprägt. Themen undArbeitsfelder, die gesellschaftlich Frauen zu-

geordnet werden, finden bisher kaum Berück-sichtigung. Es fehlt an Systemspezialistinnenund Software-Entwicklerinnen.8. Die erheblichen ökonomischen Unterschie-de zwischen Ost- und Westdeutschland schaf-fen spezifische Bildungsbenachteiligungen inden neuen Bundesländern. Unzureichendewirtschaftliche Struktur und deren geringe Ent-wicklungsmöglichkeit, das weitgehende Feh-len der dualen betrieblichen Berufsausbildungwie auch die problematische Arbeitsmarktla-ge erschweren den Zugang zu beruflicher Aus-bildung und zu Arbeitsmöglichkeiten. Seit1990 ist die industrienahe Forschung in Ost-deutschland auf unter 20 % der ursprünglichenKapazitäten zurückgegangen; der ostdeutscheAnteil an der deutschen Industrieforschungbeträgt nur noch 2 %. Auch der ostdeutscheAnteil der Hochschulzugangsberechtigten, be-sonders aber der Studierenden liegt unter demwestdeutschen.Die Bestandsaufnahme zeigt: Trotz aller Fort-schritte ist es noch ein weiter Weg zu einemMehr an Chancengleichheit. Mit den ökono-mischen und sozialen Veränderungen im Zugedes Ausbaus und der Erweiterung der Europäi-schen Union, vor allem aber angesichts derweltweiten Globalisierung sind nicht nur Chan-cen, sondern auch Gefahren verbunden, die diegeschlechtsspezifischen, sozialen und kulturel-len Spaltungen der Gesellschaft zu verstärkendrohen. Politische Regelungen zur Sicherungvon Chancengleichheit und deren konsequen-te Umsetzung sind daher unerlässlich. Für einesozialverträgliche Gestaltung der Gesellschaftbrauchen wir eine neue Philosophie der Chan-cengleichheit.

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Eine neue Philosophie

Die neue Diskussion um Chancengleichheitverbindet Geschlechterdemokratie, soziale Ge-rechtigkeit und Interkulturalität. Sie lenkt denBlick gezielt auf Bildung als wichtigste Grund-lage für den Wohlstand moderner Gesellschaf-ten. Denn die Sicherung und Entwicklung derZukunft ist längst nicht mehr primär an tech-nische Produktionssysteme und -instrumentegekoppelt, sondern fußt mehr und mehr aufdem Wissensstand der Menschen und ihrerKommunikationsfähigkeit. In der Bildungs-gesellschaft ist es entscheidend, wie und waswann gelernt werden soll und wer Zugang zumWissen hat.Lernorganisation und Themenauswahl der Bil-dung müssen die Teilhabe aller Menschen ander Entwicklung der Bildungsgesellschaft si-chern; zu vermitteln sind:■ Grundlagenwissen, bezogen auf die

Schlüsselfragen der gegenwärtigen Gesell-schaft,

■ methodische Kompetenzen hinsichtlich derinstrumentellen Bewältigung von Techni-ken - auch der Informationstechniken,

■ soziale und personale Kompetenzen desUmgangs mit sich, mit anderen Menschensowie zur aktiven Beteiligung an der De-mokratie.

Diese Kompetenzen sind Grundlage einer Bil-dung für alle Menschen, die sie befähigt, selbst-bestimmt Verantwortung für sich und die Ge-sellschaft zu übernehmen.Eine moderne Politik der Chancengleichheitmuss sich hierbei am Grundsatz der Demokra-tisierung orientieren: In allen gesellschaftlichenBereichen müssen die Partizipations- und Ge-staltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und

Bürger erweitert werden. Diesem Ziel dienendie folgenden Leitlinien:

■ GeschlechterdemokratieFrauen und Männer müssen die gleichen Le-bensbedingungen haben und in allen gesell-schaftlichen Bereichen über die gleichenTeilhabemöglichkeiten verfügen. Eine demo-kratische Gesellschaft darf nicht unter demSchein der rechtlichen Gleichheit die traditio-nellen Ausgrenzungen aufgrund des Ge-schlechts faktisch fortführen.

■ Soziale Gerechtigkeit und SolidaritätModerne Gesellschaften werden sich nur dannals Zivilgesellschaften erhalten und weiterent-wickeln, wenn jeder Mensch über ein existenz-sicherndes und eigenständiges Einkommenverfügt. Die Überwindung von Armut und Notmuss eine von allen politischen Kräften gewoll-te Aufgabe sein. Jeder Mensch muss am mate-riellen, sozialen und kulturellen Leben wie amErwerbsleben teilhaben können; das gesell-schaftspolitische Leitbild des Mannes als al-leiniger Familienernährer widerspricht der ge-sellschaftlichen Realität und dem Ziel derChancengleichheit aller Menschen.Auf der Grundlage eines solchen Verständnis-ses sozialer Gerechtigkeit können Menschensich solidarisch gegenüber den Menschen deseigenen Landes und anderer Länder verhalten.

■ Heterogenität und InterkulturalitätModerne Gesellschaften sind heterogen; siesollen die Verschiedenheit ihrer Menschen undGruppen achten und auf der Grundlage deruniversalen Menschenrechte im täglichen Zu-sammenleben Raum für die Differenz gewäh-ren.

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Die Herausforderungen der kommenden Jahr-zehnte - demografische Veränderungen, die Le-bens- und Arbeitsverhältnisse umwälzendeEntwicklung der Informations- und Kommu-nikationstechniken, die Internationalisierungder Gesellschaft, aber auch die Herausbildungneuer politischer Gestaltungsformen - könnennicht nur mit kurzfristigen Maßnahmen beant-wortet werden. Bedürfnisse der Gegenwartdürfen zudem nicht auf Kosten künftiger Ge-nerationen befriedigt werden; notwendig isteine Politik der Nachhaltigkeit (SustainableDevelopment), die langfristig ökologisch an-gelegt ist und eine Gesellschaft mit gerechte-rer Verteilung von Lebens- und Arbeitschancenanstrebt. Bildung muss hierzu beitragen.Eine moderne Politik der Chancengleichheitbraucht berechenbare, d.h. über Wahlperiodenhinausgehende stabile Rahmenbedingungen.Junge Menschen, vor allem Frauen, müssenSicherheit für eine selbstbestimmte Existenzhaben, also auf die nachhaltige Förderung vonChancengleichheit bauen können.

Anforderungen an die Politik

1. Generell ist die Sensibilisierung fürGeschlechterfragen als durchgängiges Bil-dungsziel zu verankern. Das Konzept desGender-Mainstreaming ist eine maßgebli-che Strategie zur Wahrnehmung ge-schlechtsspezifischer Wirkungen politi-scher Maßnahmen und muss als notwen-dige Veränderung von Organisationen undihrer Politik auf allen gesellschaftlichenEbenen Eingang in die Köpfe derer finden,die Entscheidungen treffen; den Medienfällt hierbei eine unersetzbare Aufgabe zu.Die öffentliche Verwaltung muss die Rolle

einer Vorreiterin übernehmen und den Er-fahrungsaustausch mit allen gesellschaft-lichen Einrichtungen und Gruppen fördern.Regional sind Kompetenzzentren fürGeschlechterfragen zu schaffen, in denenExpertinnen und Experten für Beratungund Fortbildung tätig werden.Sämtliche politischen Maßnahmen undKonzepte müssen einer Geschlechter-verträglichkeitsprüfung unterzogen wer-den. Sowohl die inhaltlichen Konzeptionender Bildungseinrichtungen als auch derUnterricht und die Lehrveranstaltungensind nach dem Gender-Mainstreaming-Prinzip zu gestalten.Die Geschlechterverhältnisse müssen sy-stematisch mit öffentlicher Förderung er-forscht, ihre Ergebnisse veröffentlicht undin praktische Politik umgesetzt werden.Hierzu bedarf es der Einrichtung einesdeutschen und eines europäischen Gender-Instituts. Die Entwicklung vergleichbarerIndikatoren über den erreichten Stand vonChancengleichheit in EU-Mitgliedsstaatenund Gemeinschaftsinstitutionen muss vor-angetrieben und die regelmäßige differen-zierte Aufbereitung EU-weiter geschlechts-spezifischer Daten auf nationaler wie eu-ropäischer Ebene sichergestellt werden.

2. Alle Menschen der Gesellschaft sind fürdie Multikulturalität und ihre Probleme zusensibilisieren. Die Integration von Zu-wandererinnen und Zuwanderern, verstan-den als deren gleichberechtigte Teilhabe anden Lebensmög–lichkeiten in einer demo-kratischen Gesellschaft, muss ein durchge-hendes Prinzip der Bildungspolitik werden.Dafür ist der Erwerb der deutschen Spra-che wie auch die Pflege der Muttersprachefür jede und jeden unerlässlich. Ebenso ist

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die Herkunft der Schülerinnen und Schü-ler aus unterschiedlichen Ländern, Kultu-ren und Religionen zu beachten, beispiels-weise in den Lehrplänen und in der Ge-staltung der Bildungseinrichtungen. Beider Auswahl des Lehrpersonals sind Zu-wanderinnen und Zuwanderer zu berück-sichtigen.

3. Alle Kinder müssen im vorschulischen Al-ter die Möglichkeit haben, die eigenen Fä-higkeiten spielerisch zu entwickeln undinsbesondere auch ihre Sprachfähigkeit zuentfalten. Die systematische Förderung derKinder in diesem Alter verlangt die Ein-führung einer Bildungspflicht für Kinderab dem 4. Lebensjahr. Zweisprachigkeit so-wie das spielerische Erlernen einer erstenFremdsprache sind zu erproben. Kinderta-gesstätten und Kindergärten sind so aus-zustatten, dass sie diese Bildungsaufgabenfür alle Kinder erfüllen können. Die Aus-bildung der Pädagoginnen und Pädagogenist qualitativ zu verändern und eng mit derAusbildung für den Grundschulbereich zuverbinden.Insbesondere der Staat mit seiner Gesetz-gebung, aber auch die gesellschaftlichenGruppen und Einrichtungen haben dafürSorge zu tragen, dass private Erziehungs-und Betreuungseinrichtungen staatlicheGrundregeln für das Zusammenleben, wiez. B. das Toleranzgebot, den Gleichheits-grundsatz und die Gleichstellung von Män-nern und Frauen beachten.

4. Die Schule hat ihre Aufgabe, auf die Zivil-gesellschaft vorzubereiten, aktiv wahrzu-nehmen. Chancengleichheit muss Bestand-teil von Schulprogrammen werden.Die gemeinsame Erziehung aller jungen

Menschen einschließlich der Behindertenund die Anerkennung ihrer Verschiedenheitmuss das Prinzip jeder pädagogischen Ar-beit sein. Gute Schulen sind solche, derenSchülerinnen und Schüler hohe Leistungenerbringen, möglichst unabhängig von ih-rer sozialen und kulturellen Herkunft. DieOffenheit der Schullaufbahn muss für diegesamte Schulzeit Geltung haben. Deshalbist die Gesamtschule die angemessene Fort-setzung der Grundschule und das Herz-stück von Chancengleichheit im Schulsy-stem. Schulen in sozialen Brennpunktenbedürfen einer besonders guten Ausstat-tung; sie sind zudem in die integrierteStadtteilarbeit einzubeziehen.Die Ganztagsschule bzw. die Schule mitganztägigen Angeboten muss endlich einefür alle Eltern wahrnehmbare Möglichkeitwerden. Neue Lernformen (z.B. soziale,ökologische Praktika), die Öffnung derSchule zur kommunalen Umwelt sowieverstärkte Berufsorientierung und Bio-grafieplanung bewirken eine Veränderungder Schule insgesamt.Multilingualität und die Vermittlung vonEnglisch als lingua franca (schon imGrundschulalter) sind wesentliche Beiträ-ge zur Realisierung von Interkulturalität inder Schule.

5. Die berufliche Bildung kann umso erfolg-reicher sein, je besser und frühzeitiger dieallgemein bildenden Schulen darauf vor-bereiten. Die Gleichwertigkeit beruflicherBildung mit dem Ausbildungsweg Gymna-siale Oberstufe/Hochschule ist durch einSystem vielfältiger Maßnahmen herzustel-len. Hochschulen müssen auch für Berufs-tätige sowie Bewerberinnen und Bewerber

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Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft ...

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mit qualifizierter Berufsausbildung ohneformelle Hochschulzugangsberechtigungoffen sein.Mit der Gleichwertigkeit vollzeitschu-lischer und dualer betrieblicher Aus-bildungswege sowie der engeren Verknüp-fung berufstheoretischer und berufs-praktischer Anteile können heute bestehen-de Benachteiligungen, insbesondere fürFrauen, abgebaut werden. Die Kompeten-zen, die in den personenbezogenen Dienst-leistungsberufen erworben werden, sind alsSchlüsselqualifikationen der Zukunft auf-zuwerten. Dies ist besonders bei der Aus-bildung der Ausbilderinnen und Ausbilderzu sichern.Junge Menschen müssen über Beratungund Praktika bzw. Hospitationsangebotefür zukunftsfähige Berufe gewonnen wer-den. Insbesondere ist der Zugang von Frau-en zu technischen und informations-technischen Berufen, der von Männern zuSozial- und Pflegeberufen zu fördern.

6. Die Ausbildungs- und Studienförderungmuss neu geordnet und verbessert werden,so dass der Hochschulbesuch für Angehö-rige benachteiligter Gruppen mehr als bis-her ermöglicht wird: Die Gesamtzahl derGeförderten sowie die Anteile der ostdeut-schen Studienbewerber und -bewerberin-nen sind zu erhöhen. Durch bundesweiteRegelungen ist sicherzustellen, dass keineStudiengebühren für das Erststudium erho-ben werden.Die zu starre Abgrenzung zwischen Uni-versitäten und Fachhochschulen ist durchKooperationsmodelle und -verfahrenschrittweise zu überwinden. Das Laufbahn-recht des öffentlichen Dienstes muss für

alle Hochschulabschlüsse die gleiche Aus-gangsbasis bieten.Die Studienbedingungen müssen behin-dertengerecht sein; für ausländische Stu-dierende ist eine spezifische Unterstützunganzubieten. Die Personalstruktur an denHochschulen und anderen Wissenschafts-einrichtungen ist mit dem Ziel zu reformie-ren, die Selbständigkeit der Arbeit des wis-senschaftlichen Nachwuchses zu sichern,die Positionen sowie Arbeitsbedingungenfür alle Gruppen des wissenschaftlichenPersonals zu verbessern, die Zahl der un-befristeten Stellen zu vermehren und denFrauenanteil auf allen Qualifikationsstufenzu erhöhen. Im internationalen Vergleichnicht übliche Qualifikationselemente wiedie Habilitation müssen entfallen. Notwen-dig ist eine begleitende Förderung durchein Bund-Länder-Programm, das die Ein-führung der Assistenz- oder Junior(innen)-Professur unterstützt und dabei insbeson-dere einen Beitrag zur Gleichstellung derGeschlechter leistet.Im Verhältnis zwischen Ost- und West-deutschland ist ein Chancenausgleich fürdie ostdeutschen Wissenschaftsregionendurch den verstärkten Ausbau der Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen inbenachteiligten ostdeutschen Regionennotwendig.Die Gründung privater Hochschulen undeine Beteiligung Privater an der Hoch-schulfinanzierung entheben den Staat nichtseiner Gesamtverantwortung dafür, einemwachsenden Anteil von jungen Menschenein überregional ausgeglichenes Hoch-schulangebot zur Verfügung zu stellen.Hochschulen in privater Trägerschaft sind

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Chancengleichheit - Leitbegriff für Politik und Gesellschaft ...

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deshalb in das regionale und überregiona-le Studienangebot einzufügen; sie müssengrundsätzlich den Hochschul-Zugangs-berechtigten offen stehen.Die jetzt eingeführten, international übli-chen Hochschulabschlüsse (Bachelor undMaster) dürfen nicht zu einer Hierarchi-sierung der Hochschulen und des Studien-angebots führen; im Rahmen von Akk-reditierungsverfahren für Studiengänge mitneuen Abschlüssen ist einer weiteren Tren-nung und Abgrenzung zwischen Universi-täts- und Fachhochschulangeboten entge-genzuwirken.

7. In der Weiterbildung sind neue Formen deröffentlich geförderten Finanzierung erfor-derlich. Das System der Weiterbildung ist,unterstützt durch bundesrahmenrechtlicheVorgaben, auszubauen; dabei sind Quali-tätsstandards und die Kooperation der In-stitutionen in Weiterbildungsverbünden zusichern. Die personellen Kapazitäten imöffentlichen Weiterbildungsbereich müssengestärkt werden. Durchlässigkeit von Er-stausbildung und Weiterbildung ist durchModularisierung herzustellen. Lernzeitan-sprüche müssen durchgesetzt werden.Jeder Mensch hat das Recht auf Weiterbil-dung; die dafür erforderlichen Instrumen-tarien (Bildungsurlaub, Sabbatical etc.)sind zu verbessern und gesetzlich oder ta-rifvertraglich abzusichern. Die Möglich-keit, die erworbenen Qualifikationen undKenntnisse aufzufrischen und zu erweitern,muss allen im Erwerbsleben Stehenden inregelmäßigen Zeitabständen eröffnet wer-den.

8. Alle Menschen, unabhängig von Ge-schlecht, sozialer, kultureller und regiona-

ler Herkunft oder körperlicher Behinde-rung, müssen die modernen Informations-und Kommunikationstechnologien umfas-send nutzen können. Eine Voraussetzungdafür bildet die Vermittlung von Medien-kompetenz, d.h. die Fähigkeit, sich mit ei-ner geschickten Navigation in der Fülle derInternet-Angebote zurechtfinden und In-formationen gezielt suchen, finden und be-werten zu können.Informationstechnische Ausbildungsgängesind zu erneuern. Sie müssen ökologische,betriebs- und sozialwissenschaftliche Ele-mente umfassen und in neuen kooperati-ven und kommunikativen Lernformen ver-mittelt werden.Informationstechnische Inhalte sind vorallem in die Ausbildung für jene Berufe zuintegrieren, in denen heute noch vorwie-gend Frauen tätig sind.Internet-Anbieter haben die ZielgruppeFrauen und Mädchen angemessen zu be-rücksichtigen; dies erfordert frauen-bezogene Angebote mit persönlichem undberuflichem Nutzen; bundesweite und de-zentrale Frauenserver sind einzurichten.Mädchenpraktika zur technischen Berufs-felderkundung sollen zum Regelangebotder allgemeinbildenden Schule gehören.Zum Recht auf Bildung gehört heute dasRecht auf ungehinderten Zugang zu denKommunikationsnetzen. Der Staat hat da-für Sorge zu tragen, dass ein umfassendesöffentliches Internet-Angebot allgemein er-reichbar ist und kostenlos zur Verfügungsteht.Die laufenden Kosten des Internetzugangsfür Bildungseinrichtungen und Bibliothe-ken sind öffentlich zu tragen.

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Alle Schulen und Schulformen, beginnendin der Grundschule, müssen nicht nur überInternet-Zugänge, sondern über ein ausrei-chendes Hard- und Software-Angebot zurNutzung in jedem Klassenraum verfügen.Mittelfristig muss jede Schülerin und je-der Schüler mit einem eigenen Notebooklernen können. Der Einsatz der neuen Me-dien in allen Fächern verlangt eine umfas-sende Neuorientierung in der Aus- undFortbildung von Lehrerinnen- und Lehrern.Medienkompetenz erhält den Charaktereiner Schlüsselqualifikation und damit ei-nen zentralen Stellenwert in der Vermitt-lung für Lehrende und Lernende.Die Hochschulen haben dafür zu sorgen,dass Multimedia-Angebote für Studieren-de allgemein zugänglich sind und inhaltli-chen Mindeststandards entsprechen.Die öffentlichen Weiterbildungseinrich-tungen müssen umfassende Angebots-strukturen zur informations- und kommu-nikationstechnischen Nachqualifi–zierungErwachsener bereitstellen.Informationstechnische Anwendungenmüssen sich nutzungsgerecht, qualitäts-orientiert und effizient in bestehende Ar-beitsabläufe einpassen.

Zur Potsdamer Erklärung1949 – 1969 – 1989 – 1999 …

Die Maßstäbe für die Beurteilung der Herstel-lung von Chancengleichheit knüpfen an dieGrundrechte des Grundgesetzes an, das 1949für Westdeutschland, mit der Herstellung derdeutschen Einheit 1990 für ganz Deutschlandunmittelbar geltendes Recht wurde. Die fried-

liche Revolution der DDR-Bevölkerung von1989 und 1990 hat dafür die Voraussetzungengeschaffen.Die ersten zwanzig Jahre der Nachkriegszeitwurden im westdeutschen Bildungswesen über-wiegend durch eine Restauration der Weima-rer Verhältnisse geprägt. Beispiele sind hier-für der Wiederaufbau des herkömmlichendreigliedrigen Schulwesens mit Volksschule,Realschule und Gymnasium oder der altenOrdinarienuni-versität. Nur in einzelnen Län-dern gab es Ansätze für Reformen, etwa dieacht-, dann die sechsjährige Grundschule oderdie Mitbestimmung an der Freien Universitätin Berlin.1969 hatte die Bildungsreformbewegung der60-er Jahre in Westdeutschland breite Anerken-nung erreicht. Ein umfassender Reformansatzund Chancengleichheit als Leitziel warenGrundlagen der Regierungspolitik für das Bil-dungswesen auf der Bundes- und überwiegendebenso auf der Landesebene. Bereits in der er-sten Hälfte der 60-er Jahre ist der Anteil derAbiturientinnen und Abiturienten am jeweili-gen Altersjahrgang in Westdeutschland schritt-weise erhöht worden. Die Bildungseinrichtun-gen wurden ausgebaut. Neue Modelle, wie dieFachhochschule, die Gesamtschule oder dieGesamthochschule, gaben wegweisende Re-formanstöße. Auf der Bundesebene schufendafür, auf der Grundlage einer 1969 erfolgtenVerfassungsänderung, neue BundesgesetzeRahmenvoraussetzungen. Dazu gehören u.a.das Bundesausbildungs–för–derungsgesetz,das Hochschulrahmengesetz oder das Hoch-schulbauförderungsgesetz des Bundes.Entscheidende Neuregelungen zur tatsächli-chen Gleichstellung von Frauen und Männernwurden nach 1969 auf den Weg gebracht. Das

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Erste Eherechtsreformgesetz von 1977 hob inWestdeutschland beispielsweise die Regelungdes Bürgerlichen Gesetzbuches auf, wonach dieFrau nur dann erwerbstätig sein durfte, wenndies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie ver-einbar war. Seitdem sind nach § 1356 des Bür-gerlichen Gesetzbuches beide Ehegatten be-rechtigt, erwerbstätig zu sein.Die Gleichberechtigung der Frauen und dieTeilhabe junger Mädchen an einer qualifizier-ten Bildung wurden in den siebziger Jahren zuwesentlichen Politikzielen in Westdeutschland.Der Europäische Gerichtshof und das Europäi-sche Parlament gaben wichtige Anstöße zurWeiterentwicklung der Gleichstellungspolitik.Mit der Erweiterung des Gleichberechtigungs-artikels des Grundgesetzes im Jahre 1994 wur-de der Staat in die Pflicht genommen, die tat-sächliche Durchsetzung der Gleichberechti-gung von Frauen und Männern zu fördern undauf die Beseitigung bestehender Nachteile hin-zuwirken.Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Ver-trages ist durch die Europäische Union ein neu-es Kapitel im Bemühen um die Herstellung vonChancengleichheit zwischen Frauen und Män-nern aufgeschlagen worden. Die Mitglied-staaten sind durch den Vertrag zu einer akti-ven Gleichstellungspolitik nach dem Prinzipdes Gender-Mainstreaming verpflichtet wor-den.Die Reformansätze in Westdeutschland wur-den nicht auf allen Gebieten erfolgreich abge-

schlossen. Fehlentwicklungen sowie politischeund gesellschaftliche Widerstände führten zumScheitern wichtiger Erneuerungsprojekte.Nach wie vor bestehen beträchtliche Defizitebei der Verwirklichung von Chancengleichheit.Geschlecht und soziale Herkunft sind z.B. im-mer noch Diskriminierungsmerkmale im Bil-dungswesen.Die Bilanz zeigt aber ebenso unbestreitbareErfolge. Die Bildungsexpansion, die Öffnungdes Hochschulzugangs sowie Strukturreformenin Schulen und Hochschulen stehen dafür alsBeispiele.Seit 1989, dem Jahr der Wende, hat der An-spruch auf Chancengleichheit eine weitere,neue Dimension im innerdeutschen Ausgleicherhalten. In Bildung und Wissenschaft beste-hen über zehn Jahre nach der Wende noch im-mer große Unterschiede zwischen Ost undWest. Die Möglichkeiten zur Förderung undErneuerung der ostdeutschen Bildungs- undWissenschaftseinrichtungen und zur Reformdes Bildungs- und Wissenschaftssystems inganz Deutschland wurden bis 1999 nicht inausreichendem Umfang genutzt.Die Politik wird sich in den kommenden Jah-ren auf allen Ebenen den eingangs beschriebe-nen und zugleich weiteren neuen Herausfor-derungen stellen müssen. Sie wird daran ge-messen werden, ob und inwieweit es ihr ge-lingt, mehr Chancengleichheit in Deutschlandzu verwirklichen und dafür auch eine Perspek-tive in der Europäischen Union zu eröffnen.

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Weitere Informationen zu dem Thema findensie unter:

http://www.zweiwochendienst.de

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WEITERENTWICKLUNG DER

QAULITÄT SCHULISCHER ARBEIT

von Bodo Richard, Abteilungsleiter im Ministerium fürBildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg

In den letzten Jahren hat das Thema „Qualitätschulischer Arbeit“ zusätzlich an Bedeutungund Aufmerksamkeit gewonnen. Dafür gibt esvielfältige Ursachen:Die nach wie vor ungünstigen wirtschaftlichenRahmenbedingungen in Brandenburg und dieursächlich damit zusammenhängende katastro-phale Situation am Ausbildungsstellenmarkthaben dazu geführt, dass seitens der Wirtschaftdie Ausbildungsfähigkeit der Schulabgängerin-nen und Schulabgänger in den Blickpunkt öf-fentlichen Interesses gerückt ist. Die Landes-regierung hat zwar durch Sondermaßnahmensicherstellen können, dass für alle Jugendlicheneine qualif izierte Ausbildung auch unterschwierigen Bedingungen gesichert werdenkonnte. Zugleich erhöhte sich aber der Stel-lenwert der individuellen Leistungen der Ab-solventen des Bildungssystems im Bereich dergesellschaftlich und wirtschaftlich nachgefrag-ten Qualifikationen. Es entwickelt sich zuneh-mend ein Ausleseprozess unter den Schulab-gängerinnen und Schulabgängern, der zwarnicht durch die tatsächlichen Anforderungender jeweiligen besonders nachgefragten Be-rufsausbildung gerechtfertigt ist, jedoch imSinne von greifenden Marktmechanismen auchnicht verhindert werden kann. Während in Zei-ten des Arbeitskräftemangels Qualifikations-

defizite der Auszubildenden im Rahmen derAusbildung aufgefangen wurden, besteht jetztdie Tendenz, diese Jugendlichen als nicht aus-bildungsreif zu kennzeichnen und der Schuleeine unzureichende Vorbereitung auf das Ar-beitsleben anzulasten.

Mit der Neuordnung von Berufen und entspre-chend neu gefassten Ausbildungsordnungensind zudem die Anforderungen in vielenBerufsbereichen gestiegen. Weiter haben andiesen Anforderungen orientierte systemati-sche Auswahlverfahren eine größere Bedeu-tung in der betrieblichen Praxis gewonnen unddie von den Schulabgängerinnen und Schul-abgängern mitgebrachten oder fehlenden Lei-stungen deutlicher werden lassen.Aber auch veränderte gesellschaftliche Rah-menbedingungen für das Aufwachsen von Kin-dern und Jugendlichen und eine dadurch not-wendig werdende Prüfung des Selbstverständ-nisses und der Arbeitsformen von Schule spie-len zunehmend eine Rolle bei der Beurteilungschulischer Leistung.Beispiele für die sich verändernden gesell-schaftlichen Rahmenbedingungen sind z.B. diePluralisierung der Lebensformen und der so-zialen Beziehungen, die mehr Chancen für einselbstbestimmtes Leben und gleichzeitig neue

THEMA

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Anforderungen und Risiken mit sich bringen,zum Teil eine Erosion traditioneller Werte imBereich von Arbeit und Leistung und eine Prä-gung der Lebenswelt der Kinder und Jugendli-chen durch neue Technologien und Medien. Siestellen ein traditionelles Selbstverständnis vonSchule als einer vorrangig Wissen vermitteln-den Institution in Frage und verlangen Schul-qualität im Sinne des sozialen Lernens, derFörderung von Identitätsentwicklung und dersozialen Integration.Die Verstärkung der internationalen, insbeson-dere der europäischen Vernetzung und desWettbewerbs zwischen den Bildungssystemenführen zu einem Bedeutungsgewinn der Ergeb-nisse vergleichender empirischer Studien überSchulleistungen. Die methodische Anlage sol-cher Studien führt, das zeigt das Beispiel derTIMS-Studie (dritte internationale Studie zumVergleich der Leistungen in Mathematik undden Naturwissenschaften der OECD), zu einerFokussierung auf kognitive Kenntnisse undFertigkeiten innerhalb bestimmter fachlicherZusammenhänge. Eine primäre Orientierungan solchen Studien und ihren Ergebnissen führtzu einer Ausrichtung an testempirisch fassba-ren fachlichen Schülerleistungen als den zen-tralen Ergebnissen schulischer Arbeit. Weitergewinnt im Sinne einer Wettbewerbsorien-tierung die Bildung von Rangfolgen z.B. zwi-schen Ländern oder Schulformen nach fachli-chen Schülerleistungen an Bedeutung.Schließlich sind die Nachwirkungen des ge-sellschaftlichen Umbruchs von 1989 eine nichtzu unterschätzende Einflussgröße auf die ge-sellschaftliche Diskussion schulischer Quali-tätsentwicklung und Qualitätssicherung. DerPhase der Euphorie über die neu gewonnenFreiheiten und die erweiterten Gestaltungs-

möglichkeiten des Einzelnen in der Gesell-schaft und damit auch in der Schule folgt seiteiniger Zeit die Phase der Ernüchterung, in derman feststellt, dass trotz aller positiven Seitendes Wandels viele Hoffnungen auf Fortschrittsich nicht in kurzer Zeit erfüllen lassen. Unterdiesem Blickwinkel wird auch das Schulsystemin seiner veränderten Struktur gesehen. Dabeiist festzustellen, dass der veränderte Bildungs-und Erziehungsauftrag, wie er im Schulgesetzvon 1996 definiert wurde, offensichtlich nochnicht in dem Maße Eingang in das Unterrichts-geschehen gefunden hat, wie das wünschens-wert wäre.

Bedeutung von Evaluation im Kontextschulischer Qualitätsentwicklung undQualitätssicherung

Evaluation wird verstanden als die Sammlung,Verarbeitung und Interpretation von Informa-tionen über schulische Arbeit. Sie hat das Ziel,zu gesicherten Beschreibungen zu kommen,Bewertung nach klaren Kriterien durchzufüh-ren und Entscheidungen über die weitere Ent-wicklung der Arbeit zu treffen. Sie ist damitzusammen mit verabredeten pädagogischenZielen ein zentrales Element von Schul-entwicklung und damit der Qualitätsent-wicklung und Qualitätssicherung. Evaluationmuss, wenn sie wirksam sein soll, ein alltägli-ches Element der schulischen Arbeit werden.Ziel ist die Entwicklung einer reflektiertenEvaluationskultur in den Schulen und ihre Ab-sicherung durch externe Evaluationsmaß-nah-men im Sinne einer Feed-Back-Kultur. DieseEvaluationskultur umfasst die Schulentwick-lung in der Klasse und die Schulentwicklungals Entwicklung des Systems.

WEITERENTWICKLUNG DER QUALITÄT SCHULISCHER ARBEIT

Bodo Richard

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Schulische Qualitätsentwicklung undQualitätssicherung - Erwartungen undVerständnis

Alle Initiativen und Maßnahmen zur Entwick-lung und Sicherung der Qualität schulischerArbeit orientieren sich an dem bildungspoliti-schen Leitziel einer umfassenden Bildung füralle Schülerinnen und Schüler, die sowohl dieVorbereitung der Schülerinnen und Schüler aufdie Anforderungen der Berufsausbildung unddes Studiums als auch auf das Leben in einerdemokratischen Gesellschaft und eine persön-lich zufriedenstellende Lebensgestaltung ein-schließt. „Die Schule trägt als Stätte des Ler-nens, des Lebens und der Tätigkeit von Kin-dern und Jugendlichen bei zur Achtung undVerwirklichung der Werteordnung des Grund-gesetzes und der Verfassung des Landes Bran-denburg und erfüllt die in Artikel 28 der Ver-fassung des Landes Brandenburg niedergeleg-ten Aufgaben von Erziehung und Bildung.“ (§4BbgSchulG)Eine besondere, immer wieder neu anzuneh-mende Herausforderung ist dabei die umfas-sende Förderung von Schülerinnen und Schü-lern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit unddamit die Förderung von Chancengleichheitund sozialer Integration.Es geht in Unterricht, Erziehung und Schul-leben sowohl um die Vermittlung grundlegen-der fachlicher und überfachlicher Kenntnisse,Fertigkeiten, Fähigkeiten, Werthaltungen unddie Förderung lebenslangen Lernens als auchum die Entwicklung einer mündigen und sozi-al verantwortlichen Persönlichkeit.Schulorganisatorisch geht es um eine Gestal-tung der schulischen Arbeitsprozesse bedeut-sam, die sich gleichermaßen an den Zielen ei-

ner hohen Effizienz, einer wirksamen Leitung,der Förderung einer umfassenden Teilhabe al-ler am Schulleben Beteiligten und einem Ver-ständnis von Lehrerprofessionalität ausrichtet,das eine wirksame Kooperation und ein abge-stimmtes Handeln im Sinne der gemeinsamenErarbeitung und Abstimmung pädagogischerZiele oder auch Schulprogramme mit der päd-agogischen Freiheit und Verantwortung derLehrkräfte verbindet.Die Stärkung der Schule im Sinne einer Er-weiterung der Gestaltungsspielräume und derSelbstverantwortung der einzelnen Schule hateine bessere Verwirklichung des Bildungs- undErziehungsauftrags zum Ziel. Die aktive Um-setzung dieser Zielsetzung in der Verabredungpädagogischer Ziele oder durch die Entwick-lung von Schulprogrammen, durch Evaluati-on, Weiterentwicklung des Unterrichts und derUnterrichtsorganisation dient zugleich der kon-kreten Verbesserung der schulischen Arbeit wiedem Erwerb von Entwicklungs- und Gestal-tungskompetenz und damit der Entwicklungder Schule zu einer lernenden Organisation.Die Stärkung der Selbständigkeit der Schuleist Mittel zur Beförderung von Schulqualität,die Umsetzung der damit verbundenen Ziel-setzungen ist zugleich ein Merkmal vonSchulqualität.Die Erkenntnis über die Bedeutung der einzel-nen Schule als pädagogischer Handlungs-einheit hat den Blick auf vielfältige Faktorender inneren Gestaltung der Schule wie pädago-gischer Grundkonsens, klare Leistungsorien-tierung und herausfordernder Unterricht, effek-tive Zeitnutzung, Zielklarheit, wirksame Füh-rung durch die Schulleitung usw. gerichtet. Aufdiese Weise kommen eine Vielzahl von inner-schulischen Gestaltungselementen und damit

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eine Vielzahl von Qualitätsmerkmalen im Be-reich der Strukturen, Prozesse und Ergebnisseschulischer Arbeit in ihrer entscheidenden Be-deutung für schulische Qualitätsentwicklungund Qualitätssicherung in den Blick.Das entspricht der Erkenntnis, dass über dieQualität der schulischen Arbeit letztlich auf derEbene der einzelnen Schule entschieden wirdund dass sie dazu Gestaltungsspielräume undHandlungsmöglichkeiten benötigt.Der Zusammenhang von größerer Selbständig-keit der einzelnen Schule und eigenverantwort-licher Ausgestaltung vor Ort mit der Gesamt-verantwortung des Staates für die Schule er-fordert, die Inhalte und Lernziele deutlicher alsbisher herauszustellen, die im Hinblick auf dieAbschlüsse der Sekundarstufen I und II undein zwischen den Schulen vergleichbares Aus-bildungsniveau unverzichtbar sind. Dies ist alszentrales Ziel bei der Weiterentwicklung derRahmenpläne zu Rahmenlehrplänen zu berück-sichtigen.In der ersten Stufe werden die neuen Rahmen-lehrpläne für die Sekundarstufe I bis zum Som-mer 2000 erarbeitet und damit eine der wesent-lichen Voraussetzungen für kontinuierliche in-terne Evaluation geschaffen. Zugleich werdendamit die Konsequenzen aus der Erfahrung mitder ersten Generation brandenburgischer Rah-menpläne gezogen, die in diesem Punkt offen-sichtlich nicht genügen Orientierung für dieGestaltung von Lernprozessen enthielten.

Qualitätsentwicklung und Qualitätssiche-rung als gemeinsame Aufgabe von Schu-len, Schulaufsicht, Schulträgern undschulischem Umfeld

Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherungschulischer Arbeit verbindet die Erfassung,Beschreibung und Bewertung eines erreichtenQualitätsstandes mit dessen Bewahrung unddynamischer Weiterentwicklung. Erfassungund Bewertung, Bewahrung und weiterführen-de Gestaltung von Schulqualität sind als Ein-heit zu betrachten. Dabei helfen systematischeVerfahren der Sicherung und Entwicklung derQualität schulischer Arbeit (Qualitätsmana-gement).Wie in allen deutschsprachigen Ländern gibtes bereits eine differenzierte Steuerung überdie Gestaltung des Inputs von schulischer Ar-beit (Qualifizierung der Lehrkräfte, Normie-rung der Ressourcenverwendung, Richtlinienund Rahmenpläne u.a.). Die staatliche Schul-aufsicht hat in starkem Maße Funktionen beider Umsetzung, Unterstützung und Gewährlei-stung dieser staatlichen Input-Steuerung. Hin-zu kommt eine Steuerung und Qualitätssiche-rung des Prozesses schulischer Arbeit im we-sentlichen durch eine Begleitung schulischerArbeit durch die Schulaufsicht in ihrer Doppel-funktion von Beratung und Kontrolle (Anlei-tung der Arbeit der Schulleitungen, Beurtei-lungen von Lehrkräften, Kontrolle und Geneh-migung der Aufgaben von Abschlussprüfungenu.a.). Schwächer ausgeprägt ist demgegenübereine über die individuelle Bewertung derSchülerleistungen hinausgehende systemati-sche Erfassung und Bewertung des Outputsschulischer Arbeit (vor allem der Leistungender Schülerinnen und Schüler).

WEITERENTWICKLUNG DER QUALITÄT SCHULISCHER ARBEIT

Bodo Richard

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Die Schulaufsicht bleibt entsprechend ihrer bis-herigen Funktion Ausdruck der umfassendenstaatlichen Verantwortung für das gesamteSchulwesen. Im Zusammenhang mit der Selb-ständigkeit der Schulen und sich weiterentwik-kelnden gesellschaftlichen Ansprüchen an dieQualität schulischer Arbeit erhält ihr Auftrageine Neuakzentuierung. Zu ihrem Aufgaben-bereich gehört es zukünftig verstärkt, sichdurch Beratung und Unterstützung der Quali-tätsentwicklung und -sicherung an den einzel-nen Schulen anzunehmen. Ihr obliegt es, dar-über hinaus die Vergleichbarkeit der Anforde-rungen und der Arbeitsergebnisse in selbstän-digeren Schulen landesweit auf einem hohenQualitätsniveau zu gewährleisten.Es gab und gibt noch kaum Erfahrungen mitsystematischen Qualitätsüberprüfungen undErgebnismessungen durch standardisierteTests. Hier gilt es Entwicklungsarbeit zu lei-sten, die durch Projekte wie QuaSUM (Quali-tätsuntersuchung an Schulen zum Unterrichtin Mathematik) in Brandenburg und PISA (In-ternationales Programm zur Schulbewertung)und andere nationale und internationale Stu-dien verstärkt in Angriff genommen wurde.Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern sindunmittelbar von den Wirkungen schulischerArbeit betroffen. Sie sind in besonderer Weisegeeignet, zuverlässige Rückmeldungen an dieSchule zu geben. Ihre stärkere Einbindung indie schulischen Prozesse der Qualitäts-entwicklung und Qualitätssicherung ist deshalbvon großer Bedeutung. Es ist ein zentrales An-liegen schulischer Qualitätsentwicklung undQualitätssicherung, die vorhandenen Möglich-keiten der Mitwirkung von Eltern und Schüle-rinnen und Schülern aktiv auszugestalten. Dar-

auf muss durch die schulaufsichtliche Beratungsystematisch hingewirkt werden.Schulen sind als Einrichtungen der SchulträgerTeil der kommunalen Strukturen. Sie nehmenihre Aufgaben in vielfältiger Vernetzung zu ih-rem regionalen Umfeld, gesellschaftlichenGruppen und anderen Einrichtungen derSchulträger wahr. Die Schulträger sind in ho-hem Maße an der Qualität der schulischen Ar-beit und der Mitgestaltung des pädagogischenProfils ihrer Schulen interessiert. Künftig sol-len neben der Schulaufsicht auch die Schul-träger in die Berichterstattung der Schulen überdie Ergebnisse der Arbeit einbezogen werden.Das soll sie und das regionale Umfeld in denStand versetzen, aktiver Partner der Schulenbei ihrer Entwicklung zu werden. Eine beson-dere Bedeutung als Dialogpartner kommt da-bei Ausbildungsbetrieben als Abnehmern schu-lischer Leistungen in regionalen Gesprächs-kreisen zu.

Weiterentwicklung des Auftrags und derAufgabenwahrnehmung von Schulleitung

Eine der wesentlichen Bedingungen einer wirk-samen Qualitätsentwicklung und Qualitätssi-cherung auf schulischer Ebene ist eine funkti-onsfähige und wirksame Schulleitung. Nebender Effizienz ihrer Arbeit in ihren verschiede-nen Handlungsfeldern ist die Vorbildwirkungder Schulleitung von großer Bedeutung für dieEntwicklung eines Qualitätsbewusstseins inden Schulen.Die Schulleiterinnen und Schulleiter sollendeshalb in ihren Kompetenzen gestärkt werden,z.B. durch Übertragung einer Reihe bisher vonder Schulaufsicht wahrgenommener Aufgaben.

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Innerschulischer Diskurs über Leistungsanfor-derungen und ErgebnisseEs ist erforderlich, in allen Schulen zu einemverstärkten innerschulischen Diskurs über Lei-stungsanforderungen, Beurteilungsmaßstäbeund die Weiterentwicklung des Unterrichts zukommen. Dieser professionelle Diskursbraucht Anlässe und Maßstäbe.Lehrerinnen und Lehrer sollen auf der Grund-lage entsprechender inhaltlicher Absprachen inbestimmten Abständen gemeinsame Arbeitenfür mehrere Parallelklassen schreiben. Sie sol-len außerdem über wechselseitige Korrekturenund den Austausch von Klassenarbeitssätzenin eine Erörterung ihrer Beurteilungsmaßstä-be eintreten, wie sie an einzelnen Schulen be-reits jetzt praktiziert wird.Die Schulaufsicht hat den Auftrag, diesenProzess in den einzelnen Schulen anzustoßenund zu diesen Fragen einen Austausch zwi-schen den Schulen zu organisieren. Gemein-same Arbeiten für mehrere Klassen verschie-dener Schulen, die auf entsprechenden inhalt-lichen Absprachen basieren, können ein Ele-ment des zwischenschulischen Diskurses überLeistungsanforderungen und die Weiterent-wicklung des Unterrichts sein.

Verdeutlichung der Anspruchshöhe und sach-gerechter Beurteilungskriterien durch Auf-gabenbeispieleUm die Vergleichbarkeit der Abschlüsse bes-ser zu sichern, werden zukünftig zunächst inden Kernfächern Deutsch, Mathematik undFremdsprache Aufgabenbeispiele entwickelt,die die jeweils erforderliche Anspruchshöheund sachgerechte Beurteilungskriterien ver-deutlichen.

Dies geschieht in einem gestuften Verfahren.In einem ersten Schritt werden Aufgaben-beispiele für die Fächer Deutsch, Englisch undMathematik in Klasse 10 im Hinblick auf dieVergabe der Fachoberschulreife erarbeitet.Grundlage dafür sind die bundesweit verabre-deten inhaltlichen Anforderungen, wie sie sichin den Rahmenplänen des Landes spiegeln.In nachfolgenden Arbeitsschritten werden bei-spielhafte Aufgaben für die Anforderungen amEnde der Klasse 6 der Grundschule sowie fürweitere Fächer erarbeitet werden. Mit den ent-sprechenden Arbeiten wird 2001 begonnen.Die herauszugebenden Aufgabenbeispiele sol-len ein weiterer Ausgangspunkt des professio-nellen Diskurses in der einzelnen Schule undzwischen den Schulen über Leistungsanforde-rungen, Beurteilungsmaßstäbe und die Weiter-entwicklung des Unterrichts sein. Sie sollen zurVerwendung in Klassenarbeiten sowie inParallelarbeiten im Rahmen der Leistungs-bewertung dienen. Sie sind aber ebenfalls ge-eignet für umfassendere Lernstandserhebungenund Unterrichtsdiagnosen außerhalb derLeistungsbewertung.Schließlich werden die Abschlussprüfungen amEnde der Sekundarstufe I und die Abitur-prüfung zukünftig den äußeren Rahmen für dieAbsicherung vergleichbarer Standards der un-terschiedlichen Bildungsgänge abgeben.

Externe Evaluation durch Schulaufsicht oderDritteExterne Evaluation bedeutet die Sammlung,Verarbeitung und Interpretation von Informa-tionen über schulische Arbeit durch nicht di-rekt zur Schule gehörende Personen und Insti-tutionen (Schulaufsicht, andere Schulen, exter-ne Dritte, Wissenschaftler u.a.m.).

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Dabei ist entsprechend dem Grundsatz derOrientierung an der Stärkung von Qualitäts-entwicklung und Qualitätssicherung durch dieeinzelne Schule selbst vorrangig und regelmä-ßig die mit den Schulen abgesprochene Über-prüfung schulinterner Evaluation im Hinblickauf Konzepte, Verfahren und Ergebnisse not-wendig. Eine solche mit den Schulen abgespro-chene regelmäßige Überprüfung der schulin-ternen Evaluation wird als Instrument schul-aufsichtlicher Beratung entwickelt, erprobt undsoll bis zum Schuljahr 2001/2002 systematischeingeführt werden.Ergänzt wird eine solche Überprüfung durchgelegentlich vereinbarte themenbezogene, d.h.auf eingegrenzte Fragestellungen bezogeneEvaluationen, die sowohl der Förderung schu-lischer Entwicklung als auch der Gewinnungvon Steuerungswissen dienen.Schließlich können bei besonderen Anlässen(z.B. Kriseninterventionen) als Ausnahme um-fassendere Schulinspektionen hinzukommen.

Regelmäßige Auswertung vorhandener Schul-daten im Hinblick auf Indikatoren für Schul-qualitätEs fallen regelmäßig eine Vielzahl von schuli-schen Daten insbesondere im Bereich der Amt-lichen Schuldaten an, die als Qualitäts-indikatoren herangezogen werden können(Abschlussquoten, Schülerverbleib, externeAbschlussprüfung im berufsbildenden Be-reich). Es ist beabsichtigt, auch diesen Aspektin die Entwicklung eines Gesamtkonzepts kon-kretisierten und systematisierten schulauf-sichtlichen Handelns einzubeziehen, diese Da-ten zunächst zu identifizieren und dann einAuswertungsverfahren zu entwickeln. Auf derGrundlage einer zentralen Auswertung durchdas MBJS soll die Schulaufsicht Auswertun-gen im Hinblick auf einzelne Schulen vorneh-men und zum Ausgangspunkt von Gesprächenmit den Schulen auf dem Hintergrund regio-naler und lokaler Trends machen.Mit dieser Maßnahme wird zunächst eine grö-ßere Transparenz über zentrale Schuldaten er-reicht und eine Grundlage für Gespräche derSchulaufsicht mit den Schulen über die schu-lische Arbeit geschaffen, die Ausgangspunktvon Vereinbarungen und schulinternen Arbeits-prozessen sein können.

WEITERENTWICKLUNG DER QUALITÄT SCHULISCHER ARBEIT

Bodo Richard

Bodo Richard ist Abteilungsleiter „Schul-aufsicht“ im Ministerium für Bildung,Jugend und Sport des Landes Brandenburg.

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SOZIALE GERECHTIGKEIT

IM 21. JAHRHUNDERTPositionspapier der Zukunftskommission I

DOKUMENTATION

Die Kommission „Soziale Gerechtigkeit undModerne“ hat den Auftrag erhalten, ein Thesen-papier zur „sozialen Gerechtigkeit in einer sichglobalisierenden Wirtschaft“ zu erarbeiten. ImZentrum der Diskussion standen Ansätze füreine aktivierende Sozial- und Arbeitsmarkt-politik sowie die Auseinandersetzung über zu-künftige Finanzierungsmodelle sozialer Siche-rungssysteme. Aber auch Anforderungen anbürgerschaftliches Engagement und zivil-gesellschaftliche Strukturen sind Gegenstandder Erörterung.

Aus dem Auftrag an die Kommission ergibtsich, dass unter Berücksichtigung des vorge-gebenen Umfangs (etwa fünf Seiten) spezifi-sche und detaillierte Aussagen zu Brandenburgkaum möglich sind. Die Kommission ist jedochder Auffassung, dass viele der anstehenden Pro-bleme den ostdeutschen Bundesländern ge-meinsam sind und dass Lösungen in vielen Fäl-len ohnehin auf Bundesebene zu finden sind.

Zentrale Forderungender brandenburgischen SPD sind:

1. Die Einkommensangleichungbis zum Jahr 2009

Die fehlende Angleichung der Einkommen inOstdeutschland wird von der Bevölkerung alsbesondere Benachteiligung empfunden. Spä-testens bis zum Jahr 2009 muss die Anglei-

chung an das westdeutsche Niveau schrittwei-se erreicht sein.

2. Schaffung von ArbeitDurch gezielte Bildungs- und Qualifizierungs-offensiven, die Ausweitung von Teilzeit-beschäftigung und die Förderung von Exis-tenzgründungen sollen die individuellen Zu-gangsvoraussetzungen für den ersten Arbeits-markt erhöht und neue Arbeitsplätze geschaf-fen werden.Zwischen den Einkommen von regulär Be-schäftigten und den Empfängern von Transfer-zahlungen muss ein hinreichender Ein-kommensabstand bestehen, um die Aufnahmevon Beschäftigung attraktiv zu machen.

3. Die armutsfeste und auf Dauerangelegte Reformierungdes Rentensystems

Dieses sollte auf den drei Säulen GesetzlicheRentenversicherung, betrieblicher Alterssiche-rung und privater Vorsorge basieren.

4. Die Förderung von Vermögens-bildung speziell für Ostdeutschland

Private Vermögen helfen, soziale Unsicherhei-ten abzufedern. Die Bildung von privaten Ver-mögen – insbesondere Wohneigentum - mussgezielt gefördert werden. Hierzu sind eigen-ständige Programme für Ostdeutschland zu ent-wickeln.

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Positionspapier der Zukunftskommission I

5. GesundheitspolitikEine Gesundheitspolitik, die den Patienten dienotwendige medizinische Versorgung sichert,ohne die Beitragszahler zu stark zu belasten.Die Sozialmauer Ost-West muss fallen.

6. Politik für Kinder.Eine kinderfreundliche Politik muss so ausge-richtet sein, dass Kinder eine gesicherte Zu-kunft haben.

Soziale Gerechtigkeit in einer sichglobalisierenden Gesellschaft

1. Freiheit, Gleichheit und Solidarität sindzeitlose sozialdemokratische Grundwerte. Frei-heit ist nicht die neoliberal verkürzte Wahlfrei-heit des Konsumenten, sondern die Chance zurEntfaltung der individuellen Fähigkeiten einesjeden einzelnen und zur Gestaltung der Gesell-schaft. Freiheit ist aber auch das Freisein vonentwürdigenden Abhängigkeiten und von Not.In Not Geratene bedürfen der Solidarität, desgemeinsamen Handelns anderer, um ihre Not-lage zu überwinden. Erst dann wird gesell-schaftliche Teilhabe möglich. Die Wahrneh-mung individueller Chancen setzt aber auch einMindestmaß an Gleichheit der Lebensbedin-gungen voraus. Ohne wohlverstandene Frei-heit, Gleichheit und Solidarität ist Gerechtig-keit nicht denkbar. Soziale Gerechtigkeit in ei-ner sich globalisierenden Wirtschaft bedeutetnach wie vor Chancengleichheit, sozialer Aus-gleich und Hilfe für diejenigen, die sich nichtselbst helfen können.

2. Die Lebensbedingungen in Ostdeut-schland sind von den Folgen der Wirtschafts-,Währungs- und Sozialunion geprägt, deren Ziel

die zügige Schaffung gleicher Lebensverhält-nisse in Ost- und Westdeutschland war. Gera-de im Vergleich zu anderen östlichen Transfor-mationsgesellschaften sind die Erfolge dieserPolitik unübersehbar. Allerdings ist eine um-fassende Angleichung der Lebensverhältnisseauch zehn Jahre nach der deutsch-deutschenVereinigung nicht gelungen; die erstrebte An-gleichung blieb unvollständig:

■ Die Arbeitslosenquote in den neuen Bun-desländern ist doppelt so hoch wie in denalten,

■ Das durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkom-men beträgt nur gut 70% der westdeut-schen,

■ Das durchschnittliche Pro-Kopf-Vermögenin Ostdeutschland beläuft sich auf etwa 1/

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der westdeutschen,■ Nur 6% des Produktivvermögens in den

neuen Bundesländern gehört ostdeutschenEigentümern,

■ Die Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschlandzeichnet sich vor allem durch das Fehleneiner tragfähigen industriellen Basis aus,

■ Ostdeutschland ist und bleibt auch in dennächsten Jahren von westdeutschen Trans-fers abhängig.

3. Vor diesem Hintergrund beteiligen sichBrandenburgs Sozialdemokratinnen und Sozi-aldemokraten am Diskurs der europäischen So-zialdemokratie über soziale Gerechtigkeit inder sich globalisierenden Gesellschaft des 21.Jahrhunderts. Der Prozess der Globalisierungvon Information, Ökonomie, Handel undKapitalverkehr bietet große Chancen für Fort-schritt und Entwicklung. Er birgt aber auchRisiken: Teile der internationalen Wirtschafts-

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und Finanzbeziehungen sind nationalstaatli-chen Einflussmöglichkeiten entzogen, wodurchsich die Machtverhältnisse zwischen Staat undÖkonomie verschieben. Es entsteht z.B. dieMöglichkeit eines Steuersenkungswettlaufs,der die nationalstaatliche Finanzbasis bedroht.Die Liberalisierung der Finanzmärkte begün-stigt Spekulationen in großem Stil, die zu Kri-sen ganzer Regionen führen können. Hier giltes das Primat der Politik durch internationalabgestimmte Regulierungen sicherzustellen.Die Europäische Union spielt in diesem Zu-sammenhang eine bedeutende Rolle, vor allem,wenn sie sich zukünftig stärker als bisher anden Grundsätzen der Bürgernähe, Subsidiari-tät, Demokratie und des sozialen Ausgleichsorientiert. Dazu ist das Europäische Parlamentzu stärken, und die unverzügliche Verwirkli-chung der europäischen Sozialunion ist dasGebot der Stunde. Der Ruf nach immer mehrMarkt bei Tendenz zum Minimalstaat ist einIrrweg. Aber auch ein allzuständiger Staat wirdden Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht.Für Sozialdemokraten ist eine gerechte Gesell-schaft eine, die allen Menschen die Teilhabean den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaftgewährleistet. Dazu gehört ein ausgewogenesVerhältnis öffentlicher und privater Daseins-vorsorge. Soziale Gerechtigkeit hat auch einepersönliche Komponente. Aktive Sozialpolitikist darauf angewiesen, die Leistungen bedarfs-gerecht und zielgenau zu erbringen. Ansprü-che auf Sozialtransfers beinhalten auch Pflich-ten. An die Gewährung der Leistungen sinddaher entsprechende Anforderungen zu knüp-fen (Bereitschaft zur Arbeit und Qualifizie-rung), denn Solidarität ist keine Einbahnstra-ße.

4. Die Beschäftigungs- und Wirtschafts-entwicklung ist innerhalb Ostdeutschlands re-gional unterschiedlich. Um die industriellenZentren ist in Ostdeutschland eine hochmoder-ne Dienstleistungsstruktur entstanden, die einqualifiziertes Arbeitskräfteangebot benötigt. Inden entfernten Bereichen ist die (agro-) indu-strielle Basis zusammengebrochen und neueBeschäftigungsfelder konnten unter Marktbe-dingungen nur ansatzweise geschaffen werden.Staatliche und staatlich finanzierte Versor-gungs- und Dienstleistungseinrichtungen sindhier die wesentlichen Beschäftigungsträger.Das hat direkt Auswirkung auf die Lebensver-hältnisse in den einzelnen Regionen. Gibt esin wirtschaftlich starken Regionen ein mitWestdeutschland vergleichbares Wohlstands-niveau, so bieten strukturschwache Gebiete wieauch in Brandenburg nur eingeschränkteBeschäftigungs- und Lebensperspektiven. Ge-rade hier ist der Staat zur Kriseninterventionbeim Erhalt grundlegender Wirtschaftsstruk-turen verpflichtet.

5. Sozialdemokratische Politik hat in Ost-deutschland die wesentliche Aufgabe, die in-frastrukturellen Voraussetzungen für ein gleich-mäßiges und territorial umfassendes Arbeits-plätzeangebot zu schaffen und dort, wo diesauf absehbare Zeit nicht realisierbar ist, denMenschen staatliche Hilfsangebote bei der Ar-beitsplatzsuche und Qualifizierung zu unter-breiten.

6. Auch wenn die Angleichung der Le-bensverhältnisse an das westdeutsche Niveauin Ostdeutschland weit fortgeschritten ist, soist sie doch in noch zu hohem Maße unvoll-ständig geblieben. Dies betrifft insbesondere

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die Beteiligung am Erwerbsleben. Daher sindfür das Zustandekommen sozialer Gerechtig-keit in den neuen Bundesländern die Bekämp-fung der Massenarbeitslosigkeit, die Schaffungneuer Arbeitsplätze, die Verbesserung der Zu-gänge in das Erwerbsleben und eine umfassen-de soziale Sicherung wesentlich. Soziale Ge-rechtigkeit stellt derzeit vor allem eine Heraus-forderung für die Arbeitsmarkt-, Beschäfti-gungs-, Bildungs- und Sozialpolitik dar.

Die zukünftige Finanzierung dersozialen Gerechtigkeit

7. Bereits vor der Wiedervereinigungwurde in Westdeutschland deutlich, dass diebestehenden Systeme zur Gewährleistung vonsozialer Gerechtigkeit grundlegend reformbe-dürftig waren, weil sie den zukünftigen Her-ausforderungen in unveränderter Form nichtmehr gerecht wurden. Die inzwischen vielfäl-tig veränderten Rahmenbedingungen habendiese Notwendigkeit noch massiv verstärkt.Der notwendige Umbau des Sozialstaats mussdavon ausgehen, dass nur ein Sozialstaat, derbreite Bevölkerungskreise umfasst, die notwen-dige Legitimations- und Finanzierungsbasis er-hält, um sozialen Sicherungsbedarf wirklichentsprechen zu können. Die Reduktion von So-zialpolitik auf Armenhilfe ist kein sozialdemo-kratisches Rezept; sozialdemokratische Sozi-alpolitik wirkt präventiv. Das gilt im besonde-ren Maße für eine Politik, die verhindern muss,dass Kinder zum Armutsrisiko werden.

8. Beschäftigungspolitik ist die beste So-zialpolitik.

8.1 Gerade in Ostdeutschland ist eineWirtschaftspolitik, die durch sinnvolle Kom-

bination von nachfrage- und angebotsorien-tierten Maßnahmen auf nachhaltiges Wachs-tum zielt, unverzichtbar. Neben der Entwick-lung der industriellen Kerne kommt der För-derung innovativer Technologien hier eine be-sondere Bedeutung zu. Kleine und mittlereUnternehmen sowie Existenzgründungen sol-len insbesondere auch wegen ihres Beitrags zurStabilisierung von Beschäftigung besondersunterstützt werden.

8.2 Da Automatisierung und Rationa-lisierung auch weiterhin zu einer Reduzierungdes Arbeitsvolumens führen werden, ist eineumfassende Politik der Arbeitsumverteilungnötig, die alle zur Verfügung stehenden Instru-mente berücksichtigt: Arbeitszeitverkürzung(der Lebens-, Jahres-, Wochenarbeitszeit), Teil-zeitarbeit einschließlich Altersteilzeit und Teil-zeit statt Entlassung, Umwandlung vonSchicht-, Nachtarbeits- und Wochenendzu-schlägen in Freizeit, Abbau von Überstunden,Möglichkeit von erwerbsarbeitsfreien Fami-lienphasen und Sabbatjahre, Verknüpfung vonArbeit und Weiterbildung (z. B. Job-Rotation).Bei der Ausgestaltung der verschiedenen For-men der Arbeitsumverteilung kommt es jeweilsdarauf an, dass eine nicht diskriminierendearbeits- und sozialrechtliche Regulierung er-folgt.

8.3 Absehbar bleibt aber auch eine ak-tive Arbeitsmarktpolitik unabdingbar. Zum ei-nen geht es um Angebote zur Integration amArbeitsmarkt benachteiligter Zielgruppen wieJugendliche, Langzeitarbeitslose, Alleinerzie-hende, Behinderte und gesundheitlich beein-trächtigte Arbeitnehmer, Berufsrückkehrer/-innen sowie ältere Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer. Zum anderen sollen entsprechend

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der Devise, Arbeit statt Arbeitslosigkeit finan-zieren, auch zukünftig alle Möglichkeiten zurSchaffung zusätzlicher Arbeit genutzt werden(ABM, SAM, Arbeit statt Sozialhilfe, Existenz-gründungen aus Arbeitslosigkeit). Die Siche-rung der beruflichen Erstausbildung genießtabsolute Priorität. Die Chancengleichheit vonFrauen ist verbindlich zu wahren.

8.4 Eine Frage der Gerechtigkeit ist esauch, die Lasten dieses Prozesses entsprechendder jeweiligen Leistungsmöglichkeit von Bür-gern und Unternehmen zu verteilen. Privateund betriebliche Vermögen sollten durch ge-eignete steuerliche Vorschriften in eine aufmehr Beschäftigung zielende Politik einbezo-gen werden.Im Hinblick auf die Unternehmensbesteuerungmuss Steuerpolitik darauf gerichtet sein, gün-stige Bedingungen für arbeitsplatzschaffendeInvestitionen im Inland zu schaffen. Ziel mussauch sein, die nur von wenigen nutzbaren Aus-nahmetatbestände des Steuerrechts zurückzu-führen und die so frei werdenden Mittel zurErhöhung von Freibeträgen und zur Senkungvon Steuersätzen insbesondere im Eingangs-bereich der Besteuerung einzusetzen. Diesschafft mehr Steuergerechtigkeit und ist zu-gleich wesentliche Voraussetzung dafür, dassdie gesellschaftliche Akzeptanz des Steuersy-stems erhalten bleiben und gestärkt werdenkann.

Reformen für eine aktivierendeSozial- und Arbeitsmarktpolitik

9. Soziale Sicherung wird künftig stärkerals heute auf mehreren Säulen aufbauen. Ne-ben den Sozialversicherungen, die die wich-tigste Säule des Systems sozialer Sicherung

bleiben, müssen die Unternehmen ihrer Ver-antwortung für eine betriebliche Vorsorge ge-recht werden. Schließlich muss auch die pri-vate Vorsorge zu einer eigenständigen Säule dersozialen Sicherung entwickelt werden. DieBezieher niedriger Einkommen sind durchstaatliche Förderung in die Lage zu versetzen,entsprechende Vorsorgemaßnahmen ergreifenzu können.

10. Das Alterssicherungssystem mussunter Einbeziehung einer sozialen Grund-sicherung armutsfest weiter entwickelt werden.Die ausschließliche Anknüpfung an dasNormalarbeitsverhältnis erscheint angesichtsdes Wandels in der Arbeits- und Wirtschafts-welt nicht mehr zukunftsfähig. Die Rentenver-sicherung sollte daher zu einer Versicherungfür alle ausgeweitet werden, die ein angemes-senes Grundversorgungsniveau für alle ge-währleistet. Sie ist durch betriebliche und pri-vate Altersvorsorge zu ergänzen.

11. Die gesetzliche Krankenversiche-rung ist so zu reformieren, dass sie ihren soli-darischen Charakter nicht verliert. Die Auf-rechterhaltung und der Ausbau der medizini-schen Versorgung in Ostdeutschland erfordertdarüber hinaus die schrittweise Einführung ei-nes gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs,die Aufhebung der getrennten Rechtskreisezwischen Ost- und Westdeutschland und dieEntschuldung der ostdeutschen Krankenkas-sen.

12. Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu fi-nanzieren ist die Leitmaxime einer modernenArbeitsmarktpolitik. Lohnersatzleistungen derBundesanstalt für Arbeit bzw. Leistungen zumLebensunterhalt der Sozialämter sollen so um-

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fänglich wie möglich für die Finanzierung vonArbeit aktiviert werden.Die Reglungen zur Arbeitslosenhilfe und So-zialhilfe sollen überprüft werden, um ein auf-einander abgestimmtes System der steuerfinan-zierten Leistungen zum Lebensunterhalt zuschaffen.

13. Angesichts der erheblichen Un-gleichverteilung des Vermögens bedarf es ta-rifpolitischer Initiativen und verbesserter ge-setzlicher Rahmenbedingungen, um die Mög-lichkeiten zur Vermögensbildung breiter Be-völkerungskreise zu erhöhen. Das gilt insbe-sondere hinsichtlich der Beteiligung der Arbeit-nehmer am Produktivvermögen. Dessen unge-heure Konzentration verlangt aber auch eineReform der Arbeitnehmermitbestimmung, diedie Verfügungsmacht der Unternehmer wir-kungsvoll kontrolliert und beschränkt. ZurÜberwindung des Rückstandes der Ostdeut-schen bei der Beteiligung am Haus- und Grund-vermögen schlagen wir eine spezielle Förde-rung des privaten und genossenschaftlichenWohneigentums in Ostdeutschland vor.

14. Angesichts der bestehenden Mög-lichkeiten der privaten Ansammlung von Geldund der daraus resultierenden Vererbung gro-ßer Vermögen müssen Anreize dafür geschaf-fen werden, dieses private Geld sozialen undkulturellen Strukturen zur Verfügung zu stel-len. Dies sollte unter anderem steuerlich privi-legiert werden. Die bestehenden Möglichkei-ten zur Schaffung und Weiterentwicklung vonentsprechenden Stiftungen sind daher zu ver-bessern.

Zivilgesellschaftliche Strukturen

15. Bürgerschaftliches Engagementsetzt die aktive Einbindung der Bürger in poli-tisches Handeln voraus. Diese muss organisiertwerden. Zivilgesellschaftliche Strukturen sindhierfür eine notwendige Voraussetzung. DerStaat ist darauf angewiesen, Strukturen gesell-schaftlichen Engagements anzuregen und zuunterstützen. Zivilgesellschaftliche Strukturenerfordern eine ausreichende Absicherung, hier-für ist die Entwicklung eines eigenständigenBeschäftigungssektors nachdrücklich zu unter-stützen. Dabei geht es um die Entstehung ei-nes dritten Sektors selbstorganisierter, gemein-nütziger Beschäftigung jenseits von Markt undStaat. Bürgerschaftliches Engagement, zivil-gesellschaftliche Strukturen und der hiermiteinhergehende neue Beschäftigungssektor ste-hen deshalb in einem engen Zusammenhang.Es ist anzustreben, dass sich dieser Bereich aufDauer selbst trägt. Die Inanspruchnahme so-zialer Dienstleistungen benötigt ein angemes-senes Entgelt, das es ermöglicht, Arbeitnehmerin diesem Segment zu entlohnen. Das entspre-chende politische Bewusstsein dazu muss er-zeugt werden.

16. Kommunalpolitik muss dies aktivfördern durch politische Ermutigung, durchModeration und durch die Bereitstellung vonSachmitteln sowie finanzieller Ressourcen. ZurFörderung des kommunalen Interesses an ei-ner zielorientierten Beschäftigungspolitik istdie Verantwortung für die Beschäftigung im so-zialen und kulturellen Bereich bei den Kom-

munen zu bündeln.

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ZUKUNFTSREGION

BRANDENBURG

DOKUMENTATION

1. Die Funktion der Hauptstadtregionoffensiv annehmen

Das Land Brandenburg ist durch die Verlage-rung der Hauptstadtfunktion nach Berlin voneiner geographischen Randlage in das Zentrumder bundesdeutschen Politik und des größerwerdenden Europa gerückt. Brandenburg istzur Hauptstadtregion geworden. Dies wird inden kommenden Jahren zu einer größeren, auchinternationaleren Aufmerksamkeit für unserBundesland führen. Die wachsende Aufmerk-samkeit bietet große Chancen, die wir nur nut-zen können, wenn wir unsere Rolle als Haupt-stadtregion annehmen. Insbesondere müssenwir unsere Möglichkeiten nutzen, auf die Bun-despolitik stärkeren Einfluss zu nehmen.

Die Nähe zu Berlin ist für Brandenburg auchökonomisch von Bedeutung, da Berlin ein at-traktives und räumlich gut erreichbares Absatz-potential für landwirtschaftliche und andereProdukte aus Brandenburg bietet. Brandenburgmuss die Chancen der Umlandfunktion konse-quent ergreifen.

Mit dem anstehenden Beitritt Polens und wei-terer osteuropäischer Länder zur EU wird sichauch die gegenwärtige Randlage Brandenburgs

innerhalb Europas ändern. Brandenburg hat dieChance, eine Scharnierfunktion zwischen denwest- und osteuropäischen Märkten zu über-nehmen.

Hauptstadtregion bedeutet auch, dass zuneh-mend mehr Menschen aus der Metropole undanderen Bundesländern vornehmlich in den en-geren Verflechtungsraum ziehen werden. An-dere Berlinerinnen und Berliner suchen inBrandenburg Erholung. Brandenburg wird aberauch für viele deutsche und ausländische Un-ternehmen, die aus unterschiedlichen Gründeneinen Produktionsstandort oder eine Repräsen-tanz in der Nähe der Bundeshauptstadt suchen,attraktiv.

Brandenburg hat die Chance, ein Tourismus-land zu werden. Mit seinem Reichtum an Was-ser und Wald, mit weithin intakten Dorfstruk-turen, mit einer kulturellen Vielfalt in Muse-en, Schlössern und Herrensitzen sowie derNähe zur Bundeshauptstadt besitzt es sehr guteVoraussetzungen für ein qualitatives und quan-titatives Tourismuswachstum. Um die bei wei-tem noch nicht ausgeschöpften Potenziale desTourismus in Brandenburg zu nutzen, muss anden Schwachstellen angesetzt werden. So istBrandenburg als Reiseland weniger bekannt als

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andere Länder, es fehlen Jahreszeit-unabhän-gige touristische Angebote und das äußerlichwahrnehmbare Bild der touristischen Infra-struktur entspricht noch nicht den Standardsin anderen Regionen Deutschlands. Auch In-toleranz gegenüber Fremden und die zum Teilnoch nicht genug ausgeprägte Servicementa-lität halten potenzielle Gäste von einem Be-such in Brandenburg ab.

2. Wanderungsbewegungen unddemographische Veränderungen

Brandenburg wird in den kommenden Jahrenund Jahrzehnten einen dramatischen Wandelseiner Bevölkerungsstruktur erleben. Nach denBevölkerungsprognosen werden im Jahre 20052671.000 Menschen in Brandenburg leben, dassind 78.000 Einwohner mehr als noch 1998.Diese Zahl wird bis zum Jahr 2015 wieder auf2.625.300 Einwohner sinken. Richtig drama-tisch werden diese Prognosen aber erst dadurch,dass die Veränderung der Einwohnerzahl re-gional sehr unterschiedlich verläuft und miteiner ebenfalls deutlich veränderten demogra-phischen Struktur der Bevölkerung einhergeht.Während etwa für den Kreis Potsdam-Mittel-mark ein Bevölkerungswachstum von 199.100(1998) über 230.500 (2005) auf 246.100 (2015)prognostiziert wird, verringert sich die Einwoh-nerzahl im Kreis Uckermark von 156.200(1998) über 145.600 (2005) auf 129.300(2015). Alleine die Einwohnerzahl der StadtSchwedt wird sich im Prognosezeitraum von44.500 (1998) über 37.000 (2005) auf 30.400(2015) verringern. Die demographische Ent-wicklung in Brandenburg im Prognosezeitraumspiegelt den allgemeinen angenommenen„Alterungsprozess“ der deutschen Bevölke-

rung, der aber wiederum regional unterschied-lich verläuft: Der Anteil der Brandenburger, dieälter als 65 Jahre sind, steigt von 14,3% (1998)über 18,5% (2005) auf 20,6% (2015). Die re-gionalen Unterschiede lassen sich wieder imVergleich der Kreise Potsdam-Mittelmark undUckermark zeigen: Während in Potsdam-Mittelmark die Zahl der 65 Jahre und älterenBürger von 13,8% (1998) über 16,2% (2005)auf 18% (2015) steigt, wächst er in der Ucker-mark von 13,8% (1998) über 19,3% (2005) auf22% (2015) an. Besonders dramatisch ist dieEntwicklung wiederum in der Stadt Schwedt:Der Anteil der 65 Jahre und älteren Bürgersteigt von 10% (1998) über 18,1% (2005) auf26,6% (2015).

Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass die Be-völkerungszahl im engeren Verflechtungsraumentsprechend der Bevölkerungsprognosen biszum Jahr 2005 deutlich ansteigen wird. DieserAnstieg wird auch bis zum Jahr 2015 - wennauch verlangsamt - anhalten. In den Regionendes äußeren Entwicklungsraumes - mit Aus-nahme des Kreises Spree-Neiße - und denkreisfreien Städten - mit Ausnahme der Lan-deshauptstadt Potsdam - wird im selben Zeit-raum ein drastischer Bevölkerungsrückgang zuverzeichnen sein. Im Prognosezeitraum wirdsich die brandenburgische Alterspyramide dra-matisch verändern. Der „Alterungsprozess“wird in den Regionen, die durch starken Be-völkerungsrückgang gekennzeichnet sind,schneller verlaufen als im engeren Verflech-tungsraum. Gleichzeitig wird die Zahl derschulpflichtigen Kinder drastisch zurückgehen.

Diese Veränderungen in der regionalen Bevöl-kerungsstruktur und der demographischen Zu-

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sammensetzung werden unmittelbar erheblicheKonsequenzen haben:

■ In den Regionen, die in den kommendenJahren massiv vom Zuzug aus Berlin undanderen Bundesländern profitieren, wird eseinen erheblichen Investitionsbedarf imBereich öffentlicher Infrastruktur geben.

■ Im ganzen Land werden viele Schulen undKindereinrichtungen geschlossen werdenmüssen. Insbesondere im ländlichen Raumwerden den schulpflichtigen Kindern län-gere Anfahrtswege zu den Schulen zuge-mutet werden müssen. In vielen kleinerenDörfern wird es nicht mehr möglich sein,Kindertagesstätten aufrecht zu erhalten.

■ Der Bevölkerungsrückgang in vielen Re-gionen wird die finanzielle Selbständigkeitder betroffenen Kommunen und Kreise ge-fährden.

■ Die deutliche Zunahme der über 65 Jahrealten Bürgerinnen und Bürger wird dazuführen, dass die nachgefragten Sozial- undBetreuungsdienste für diesen Personen-kreis stark zunehmen werden. Gleichzei-tig wird auch der Bedarf an altersgerechtemWohnraum deutlich steigen.

Schwieriger zu prognostizieren ist, welche ge-sellschaftlichen und mentalen Folgen die un-terschiedlichen gesellschaftlichen und wirt-schaftlichen Entwicklungen der einzelnen Re-gionen Brandenburgs haben werden. Es istdenkbar, dass in den Wachstumsregionen desengeren Verflechtungsraumes eine Bevölke-rungsschicht bestimmend wird, die – materiellrelativ gut abgesichert – in ihrer Erwerbs-,

Wert-, Freizeit- und Kulturorientierung starkauf Berlin fixiert ist. Eine denkbare Gefahr ist,dass diese Bevölkerungsschicht die Branden-burger in den Regionen des äußeren Ent-wicklungsraumes Verflechtungsraumes als„Kostgänger“ betrachtet. In den Regionen desäußeren Verflechtungsraumes besteht die Ge-fahr, dass sich ein Gefühl des „Abgehängt-seins“ herausbildet, das zur Lähmung bzw.Schwächung der vorhanden Potenziale beitra-gen kann. Denkbar ist aber auch, dass ein „Ei-gensinn“ gestärkt wird, der die Unterschiedeakzeptieren und die vorhandenen Potenzialekonsequent ausnutzen lässt.

3. Den Wandel der Region gestalten

Prognosen zeigen Entwicklungstrends unternicht veränderten Bedingungen auf. Sie sollenEntscheidungshilfen für Politik sein. Aufgabevon Politik ist es, Rahmenbedingungen so zusetzen, dass gewollte Veränderungen herbeige-führt werden bzw. nicht gewollte Veränderun-gen verhindert werden. Angesichts der progno-stizierten demographischen und wanderungs-bedingten Veränderungen ist die Frage zu stel-len, ob die brandenburgische Politik diese Ver-änderung will. Wenn nicht, ist die Frage zu stel-len, ob sie die Möglichkeiten hat, die progno-stizierte Entwicklung in eine andere Richtungzu lenken. Wenn sie keine oder nur unzurei-chende Möglichkeiten hat, die Entwicklung zubeeinflussen, ist die Frage zu beantworten,welche Möglichkeiten sie hat, negative Begleit-erscheinungen der Entwicklung zu verhindernbzw. zu mildern.

Politik in Brandenburg muss unter den Bedin-gungen knapper werdender finanzieller Mittel

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die Voraussetzungen dafür schaffen, dass dieChancen der Region genutzt werden und derWandel gestaltet wird:

■ Der Zuzug nach Brandenburg ist eine gro-ße Chance für unsere Region und erfordertbesondere Anstrengungen bei der Verbes-serung der Infrastruktur.

■ Das gemeinsam mit Berlin umgesetzteRegionalbahnkonzept schafft erfolgreichMobilitätsalternativen zum Individualver-kehr. Dieses Netz ist auch vor dem Hinter-grund des Zuzuges nach Brandenburg wei-ter zu qualifizieren.

■ Der Ausbau der Infrastruktur ist entschei-dende Voraussetzung für wirtschaftlicheEntwicklung. Von besonderer Bedeutungist ein schneller Anschluss an das Branden-burger Autobahnnetz.

■ Die Verkehrsverbindungen zwischen denMittel- und Oberzentren müssen verbessertwerden.

■ Stabilisierung und Entwicklung der indu-striellen Kerne und der nach der Wende neuentstandenen Wirtschaftsstandorte. Bran-denburg muss insbesondere sein Profil alsMedienstandort und als Zentrum der Ver-kehrs-, Komunikations- und Biotechnolo-gie und der Mikroelektronik schärfen. ZurReindustrialisierung auch als Vorausset-zung für die Entwicklung von Dienstlei-stungen gibt es keine Alternative, da inBrandenburg insbesondere unternehmens-bezogene Dienstleistung fehlen.

■ Unterstützung beim Wandel von der Indu-strie- zur Dienstleistungsstruktur. Dazu ge-

hört u.a. die genaue Definition der spezi-fischen Entwicklungschancen einzelnerRegionen und eine gezielte Unterstützungbei der Fort- und Weiterbildung und demRegionalmarketing. Ziel ist die Entwick-lung einer Dienstleistungskultur, die ins-besondere dem wachsenden Bedarf bei per-sonenbezogenen Dienstleistungen Rech-nung trägt.

■ Weitere rasche Professionalisierung undEntbürokratisierung aller Entscheidungs-abläufe, die im Zusammenhang mitAnsiedlungsbegehren und Standort-marketing stehen.

■ Der Ausbau der grenz- und länderüber-greifenden Kooperation und Infrastruktur.Insbesondere für einen erfolgreichenStrukturwandel der Lausitz ist es notwen-dig, die Zusammenarbeit mit Sachsen zuverstärken.

3.1 Politik der Dezentralen Konzentra-tion fortsetzen, bessere Verkehrs-verbindungen schaffen

Der für den Zeitraum bis zum Jahre 2015 pro-gnostizierte Zuzug, die Wanderungsbewegun-gen innerhalb des Landes und die gleichzeiti-gen demographischen Veränderungen sinddurch die Politik des Landes Brandenburg nurnoch sehr begrenzt beeinflussbar.

Der Zuzug Zehntausender von Berliner undBürger anderer Bundesländer vornehmlich inden engeren Verflechtungsraum ist für Bran-denburg eine große Chance. Die Abwanderungjüngerer Bürger aus den Regionen des äuße-

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ren Entwicklungsraumes kann durch eine ak-tive und erfolgreiche Ansiedelungs- und Wirt-schaftspolitik gedämpft werden. Die Politik derDezentralen Konzentration, also die Stabilisie-rung der regionalen Entwicklungszentren, istdazu ohne Alternative. Die Förderinstrumen-tarien für die Ansiedelungspolitik und dieUnternehmenssicherung müssen im Rahmender vorhandenen Finanzmittel aufrecht erhal-ten werden. Die Abwanderung von Bürgern ausdem äußeren in den engeren Entwicklungsraumaus Erwerbsgründen kann aber auch dadurchverlangsamt werden, dass bessere und schnel-lere Verkehrsverbindungen geschaffen werden.

3.2 Gemeindegebietsreform voran-treiben, kommunalen Finanzaus-gleich schaffen, Zentren stärken

Um die Leistungsfähigkeit der Kommunen inden Regionen zu stärken, die von einem star-ken Bevölkerungsrückgang betroffen sind,muss zügig eine Gemeindegebietsreform um-gesetzt werden, die dauerhaft leistungsstarkekommunale Gebietskörperschaften schafft.

Für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnis-se in den einzelnen Regionen des Landes ist esunabdingbar – analog zum Länderfinanzaus-gleich – ein kommunales Finanzausgleichsge-setz zu schaffen.

Um die Leistungsfähigkeit der kreisfreien Städ-te, aber auch einiger weiterer Zentren aufrechtzu erhalten, ist eine Entscheidung notwendig,ob umliegende Kommunen in diese Städte ein-gemeindet werden oder die umliegende Krei-se im Rahmen eines speziellen Finanzaus-

gleiches an der Aufrechterhaltung der sozia-len, kulturellen und verkehrlichen Infrastruk-tur beteiligt werden, die auch von ihren Bür-gern in Anspruch genommen werden.

3.3 Den Willen für ein gemeinsamesBundesland wachsen lassen

Die Gesamtregion wird sich am besten in ei-nem gemeinsamen Bundesland gestalten las-sen. Die Politik hat die Aufgabe, den Willenzu einem gemeinsamen Bundesland wachsenzu lassen. Eine wichtige Voraussetzung ist diefinanzielle Konsolidierung der beiden Länder.In der laufenden Legislaturperiode bis zumJahre 2004 werden sich die Veränderungen inder Bundeshauptstadt und deren Auswirkun-gen im engeren Verflechtungsraum, die sich imGefolge des Hauptstadtumzuges jetzt noch ein-mal beschleunigt haben, stabilisieren. Deshalbist es sinnvoll, in der kommenden Legislatur-periode erneut Verhandlungen über einenStaatsvertrag zur Bildung eines gemeinsamenBundeslandes aufzunehmen. Die SPD setztsich dafür ein, dass das AbgeordnetenhausBerlin und der Landtag Brandenburg eine ge-meinsame Enquetekommission Berlin-Bran-denburg berufen, in der Abgeordnete, Vertre-ter von Gewerkschaften, Unternehmerverbän-den, Kirchen, der kommunalen Spitzenverbän-de und andere Sachverständige Mitglied sind.Die Entscheidung über die Bildung des Bun-deslandes Berlin-Brandenburg sollte dann ineiner Volksabstimmung im Jahr 2007 getrof-fen und im Jahr 2009 durch die Wahl einesgemeinsamen Landesparlamentes vollzogenwerden.

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG

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Bevölkerungsprognose(Ausgewählte Kennziffern des Landes Brandenburg;

Angaben in Prozent des jeweiligen Gebietes)

Jahr unter 15 15-65 65 und älter

Land Brandenburg 1998 14,8 71,0 14,32005 10,8 70,7 18,52015 11,7 67,8 20,6

Stadt Brandenburg an der Havel 1998 13,4 71,0 15,62005 9,0 68,5 22,52015 11,2 63,9 24,9

Stadt Cottbus 1998 14,2 72,7 13,12005 9,6 71,6 18,82015 12,5 66,8 20,7

Stadt Frankfurt/Oder 1998 14,7 73,0 12,32005 10,2 72,2 17,62015 13,0 67,8 19,2

Stadt Potsdam 1998 13,5 72,0 14,52005 9,8 70,5 19,72015 12,5 67,2 20,3

Landkreis Barnim 1998 14,7 72,0 13,32005 10,4 71,8 17,82015 11,0 68,0 21,0

Landkreis Dahme-Spreewald 1998 14,4 71,1 14,52005 11,1 70,3 18,52015 11,7 67,4 20,9

Landkreis Elbe-Elster 1998 14,5 69,3 16,22005 10,5 69,2 20,42015 11,0 67,1 21,9

Landkreis Havelland 1998 15,7 70,6 13,62005 13,3 69,9 16,82015 13,5 68,0 18,5

Landkreis Märkisch-Oderland 1998 15,0 71,1 13,92005 10,5 71,6 17,92015 11,0 68,9 20,1

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG

Positionspapier der Zukunftskommission II

Jahr unter 15 15-65 65 und älter

Oberhavel 1998 14,9 71,1 14,02005 11,8 70,0 18,32015 11,7 67,2 21,1

Landkreis Oberspreewald-Lausitz 1998 14,1 70,3 15,62005 9,7 69,6 20,72015 11,3 66,5 22,2

Landkreis Oder-Spree 1998 14,7 71,2 14,22005 10,6 70,4 19,02015 10,9 66,9 22,2

Landkreis Ostprignitz-Ruppin 1998 15,6 70,1 14,32005 10,8 70,6 18,62015 11,8 67,2 21,0

Landkreis Potsdam-Mittelmark 1998 15,3 70,9 13,82005 11,8 72,0 16,22015 11,8 70,2 18,0

Landkreis Prignitz 1998 14,7 68,8 16,52005 9,6 68,7 21,82015 10,5 65,6 23,9

Landkreis Spree-Neiße 1998 14,5 70,8 14,72005 9,8 72,4 17,82015 10,8 70,1 19,1

Landkreis Teltow-Fläming 1998 15,3 70,8 13,82005 12,1 70,9 17,02015 12,7 68,5 18,8

Landkreis Uckermark 1998 15,5 70,7 13,82005 10,6 70,2 19,32015 11,4 66,6 22,0

Page 64: perspektive21 - Heft 09

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ZUKUNFTSREGION BRANDENBURG

Positionspapier der Zukunftskommission II

Bevölkerungsprognose

1998 2005 2015

Land Brandenburg ............................. 2 593 100 .......... 2 671 000 ........ 2 625 300

Stadt Brandenburg an der Havel ............ 80 800 ............... 72 500 ............. 64 700

Stadt Cottbus ........................................ 115 300 ............. 104 500 ............. 99 500

Stadt Frankfurt/Oder ............................... 76 400 ............... 71 100 ............. 68 500

Stadt Potsdam ...................................... 129 400 ............. 124 400 ........... 125 900

Landkreis Barnim .................................. 164 000 ............. 181 300 ........... 184 900

Landkreis Dahme-Spreewald ................ 154 300 ............. 169 800 ........... 175 300

Landkreis Elbe-Elster ............................ 135 100 ............. 129 500 ........... 118 000

Landkreis Havelland .............................. 140 600 ............. 158 600 ........... 167 200

Landkreis Märkisch-Oderland ............... 182 900 ............. 197 000 ........... 196 300

Landkreis Oberhavel ............................. 182 700 ............. 200 400 ........... 201 300

Landkreis Oberspreewald-Lausitz ........ 151 600 ............. 141 300 ........... 127 600

Landkreis Oder-Spree ........................... 196 900 ............. 206 200 ........... 197 300

Landkreis Ostprignitz-Ruppin ............... 115 800 ............. 115 600 ........... 110 400

Landkreis Potsdam-Mittelmark ............. 199 100 ............. 230 500 ........... 246 100

Landkreis Prignitz .................................... 97 700 ............... 89 400 ............. 77 500

Landkreis Spree-Neiße .......................... 157 800 ............. 162 700 ........... 161 500

Landkreis Teltow-Fläming ..................... 156 400 ............. 170 600 ........... 174 000

Landkreis Uckermark ............................ 156 200 ............. 145 600 ........... 129 300

Page 65: perspektive21 - Heft 09

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DOKUMENTATION

BILDUNG FÜR ZUKUNFT -ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

Thesen zu den Themen:

1. Notwendigkeit einer Bildungsoffensive

2. Selbständigkeit und Qualitätsmanagementder Schule

3. Motivation und Qualifikation der Lehrkräfte

4. Zukunft der Schule in Brandenburgdurch differenzierte Förderungund Chancengleichheit

5. Stärkung der regionalen Bindungder Schulen

6. Weiterentwicklung der beruflichen Bildungund der Weiterbildung

7. Zusammenarbeit der Länder Berlinund Brandenburg

1. Notwendigkeit einerBildungsoffensive

Der Wandel von der Industriegesellschaft zurInformationsgesellschaft, Globalisierung undwirtschaftliche Konzentration verändern füralle Menschen im Land erlebbar die sozialen

Strukturen, Arbeit und Wirtschaft, Privatlebenund Freizeit. Wertorientierungen, Qualifika-tionsprozesse und -profile verändern sichgrundlegend. Die Erwartungen an die Qualitätder allgemeinen Schulbildung, der Ausbildungund beruflichen Qualifizierung und die Nach-frage nach hoch qualifizierten Beschäftigtensteigen. Die Herausforderungen für die Bil-dungspolitik sind vergleichbar mit den Heraus-forderungen der sozialen Frage im 19. und 20.Jahrhundert.

Die Erwartungen, die Schüler und Eltern, Wirt-schaft und Gesellschaft zurecht an ein moder-nes Qualifizierungs- und Bildungswesen rich-ten, greift die SPD erneut auf. Bildung beglei-tet die ganze Lebenszeit. Die Organisation ih-rer Aneignung darf nicht nur auf die Schulzeitbegrenzt bleiben. Der Weiterbildung wird grö-ßere Bedeutung zukommen.

Persönliches Engagement, Eigeninitiative undWettbewerb werden gegenüber staatlichen Vor-gaben größere Freiräume beanspruchen, ohnedass es zu einer Zurücknahme staatlicher Ver-antwortung im Bildungsbereich kommen darf.Die Festlegung von Standards und Handlungs-rahmen, die Vorsorge für Innovationen und dersoziale Ausgleich werden stärker als bisher diestaatlichen Aufgaben bestimmen.

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64

2. Selbständigkeit und Qualitäts-management der Schule

2.1 Qualität im Bildungswesen brauchtu.a. Kreativität, Selbstbestimmung und Verant-wortung. Die Stärkung der Selbständigkeit derSchule durch die Erweiterung der Gestaltungs-spielräume und der Selbstverantwortung der ein-zelnen Schule dient der besseren Erfüllung desBildungs- und Erziehungsauftrags, im Rahmender gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.Dieses Steuerungskonzept zielt darauf ab, Ei-geninitiative, Flexibilität und die Entwicklungsinnvoller Lösungen vor Ort zu stärken, päd-agogisch wirksamer und wirtschaftlich effizi-enter zu gestalten.Die erweiterte Selbständigkeit der einzelnenSchule und eigenverantwortlicher Ausgestal-tung vor Ort unter der Gesamtverantwortungdes Staates für die Qualität der Schule erfor-dert eine verbindliche Überprüfung und Set-zung der Bildungs- und Erziehungsziele.

2.2 Künftig soll der Schulleiter für einenbegrenzten Zeitraum (Vorschlag 8 Jahre) bestelltwerden. Die Bestellung der Schulleiter soll mög-lichst im Einvernehmen und muss unter angemes-sener Beteiligung der Schul-konferenz (Eltern,Lehrer, Schüler), des Schulträgers und der Schul-aufsicht (Land) entschieden werden. Die Schul-konferenz, der Schulträger und die Schulaufsichthaben ein Vorschlagsrecht.

2.3 Qualitätsmanagement verbindetdie Erfassung, Beschreibung und Bewertungeines erreichten Qualitätsstandes mit dessenBewahrung und dynamischer Weiterentwick-lung im Sinne einer ganzheitlichen Schul-entwicklung. Dabei helfen Verfahren der sy-stematischen Sicherung und Entwicklung der

Qualität schulischer Arbeit z.B. durch regel-mäßige Vergleichsarbeiten, Vorgabe von Stan-dards für den Unterricht, zentrale Abschluss-prüfungen etc. Die Bildungsgänge der Se-kundarstufe I werden künftig durch Prüfungenauf der Basis von zentralen Vorgaben in derJahrgangsstufe 10 und die gymnasiale Ober-stufe durch ein zentrales Abitur in derJahrgangsstufe 12 bzw. 13 abgeschlossen.Die Ergebnisse der Qualität schulischer Arbeitbedürfen der öffentlichen Diskussion und ent-sprechende Schlussfolgerungen.

2.4 Die verstärkte Internationalisierungsowie die wirtschaftliche und politische Vernet-zung insbesondere innerhalb Europas schließenauch die Bildungssysteme ein und drücken sichauch in deren zunehmender Bedeutung für deninternationalen Wettbewerb aus. Zum Zweckeinterkultureller Bildung und zur Stärkung derfremdsprachlichen Kompetenz soll die Teilnah-me von Schulen an europäischen Bildungspro-grammen wie SOKRATES und LEONARDODA VINCI gezielt gefördert werden. Durch be-sondere, mit Kreditinstituten zu entwickelnde An-gebote des Bildungssparens sollen möglichst vieleEltern angeregt werden und in die Lage gesetztwerden, Schulauslandsaufenthalte ihrer Kinder zufinanzieren.

2.5 Zu den Aufgaben der Schulaufsichtgehört es zukünftig verstärkt, sich in dialogi-scher Weise - durch Visitation, Beratung undUnterstützung - der Qualitätsentwicklung und-sicherung an den einzelnen Schulen anzuneh-men. Dieser Schulberatung obliegt es darüberhinaus, die Vergleichbarkeit der Anforderun-gen und der Arbeitsergebnisse in selbständi-geren Schulen landesweit auf einem hohenQualitätsniveau zu gewährleisten.

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

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65

2.6 Es ist erforderlich, in allen Schu-len zu einem verstärkten innerschulischen Dis-kurs über Leistungsanforderungen, Beurtei-lungsmaßstäbe und die Weiterentwicklung desUnterrichts zu kommen. Dieser professionelleDiskurs braucht Anlässe und Maßstäbe z.B.durch Abschlussprüfungen, vorgegebeneVergleichsarbeiten in definierten zeitlichenAbständen in den Kernfächern etc.Eine Präsentation der Ergebnisse und Leistun-gen von Schulen im Rahmen der Qualitätsent-wicklung soll die öffentliche Auseinanderset-zung, regional und landesweit, mit der Arbeitder Schule und ihre Würdigung fördern.

2.7 Die Stärkung von Eigeninitiative,Flexibilität und die Entwicklung sinnvoller Lö-sungen vor Ort durch Eltern und Lehrer be-deutet, dass sich das öffentliche Schulwesenstärker als bisher dem Wettstreit mit Schulenin freier Trägerschaft stellt.

3. Stärkung der Motivation undQualifikation der Lehrkräfte

3.1 Die innere Schulreform im LandBrandenburg ist mit einer Reform der Rahmen-bedingungen für die Bildungs- und Erziehungs-arbeit in Schulen und für das Berufsbild desLehrers zu verknüpfen. Ziel muss es sein, diegesellschaftliche Anerkennung und den Stel-lenwert der pädagogischen Berufe zu erhöhenund gleichzeitig deren Aufgabenprofil in Ein-heit von Bildung und Erziehung weiter zu ent-wickeln. Der dazu notwendige Diskurs setztvoraus, dass alle am Prozess der Bildung undErziehung Beteiligten aktiv einbezogen wer-den.

3.2 Die Rahmenbedingungen für dieBildungs- und Erziehungsarbeit sind zur Er-höhung der beruflichen Zufriedenheit und Leis-tungsgerechtigkeit schrittweise den Anforde-rungen der inneren Schulreform anzupassen.Als besonderer Erfolg der SPD ist in dieserHinsicht die mit den Gewerkschaften geschlos-sene Vereinbarung zur Beschäftigungs-sicherung im Schulbereich zu werten. Nebender dauerhaften Sicherung der Beschäftigungs-verhältnisse und der Sicherung eines Ein-stellungskorridors für junge Lehrer gewährlei-stet dieses Abkommen mittelfristig die konti-nuierliche Verbesserung der Lehr- und Lern-bedingungen.Es sind neue Arbeitszeitmodelle für Lehrkräf-te zu entwickeln und vertraglich zu vereinba-ren, die die Komplexität der Anforderungenvon Bildung und Erziehung berücksichtigen.Wir werden uns einsetzen für eine breite öf-fentliche Würdigung der besonderen Leistun-gen engagierter und verdienter Lehrkräfte.

3.3 Dies schließt mittelfristig eine Re-form des bestehenden zugunsten eines lei-stungsbezogenen Besoldungs- bzw. Vergü-tungssystems für Lehrkräfte ein. Auf derGrundlage von internen und externen Formender Evaluierung muss ein transparentes Systemder Vergütung und Anerkennung geschaffenwerden, das besondere Leistungen und beson-deres Engagement von Lehrkräften würdigt.Dabei sind unterschiedliche Formen der ideel-len und materiellen Anerkennung zu entwik-keln. In die Evaluation und Bewertung derLeistungen der Lehrkräfte sind in geeigneterWeise die Schülerinnen und Schüler und El-tern einzubeziehen.

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

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66

3.4 Es ist ein System der kontinuierli-chen, zielgerichteten und bedarfsorientiertenFortbildung von Lehrkräften zu entwickeln.Die verbindliche Fortbildung der Lehrkräftemuss über das bestehende Volumen hinaus aus-gebaut werden.Der Nachweis medienpädagogischer und com-putertechnischer Kompetenz wird künftig u.a.Voraussetzung für die Anerkennung der Bewäh-rung und Beförderung von Lehrkräften sein.

3.5 Die wissenschaftliche Ausbildungvon Lehrerinnen und Lehrern an der Universi-tät muss in Umsetzung des Lehrerbildungs-gesetzes die pädagogische Aufgabe der Schu-le stärker berücksichtigen. Der Anteil derSchulpraktika im Studium ist konsequent aus-zubauen. Neben der fachwissenschaftlichenAusbildung sind Kompetenzen u.a. in Kommu-nikation, Beratung, Konfliktbewältigungs-strategien, Kooperation und pädagogischemwie schulorganisatorischem Management wieauch Medienkompetenz zu entwickeln und zueinem verbindlichen Bestandteil der Qualifi-zierungsnachweise und der Prüfungen zu er-klären. Entsprechende Maßstäbe sind an dieWeiterbildung der Lehrkräfte anzulegen.

4. Zukunft der Schule in Brandenburgdurch differenzierte Förderung undChancengleichheit

4.1 Die zentrale Aufgabe ist die um-fassende Förderung aller Schülerinnen undSchüler entsprechend ihrer individuellen Lei-stungsfähigkeit und Begabungen und damit dieWahrung und Förderung von Chancengleich-heit und sozialem Zusammenhalt.

4.2 Die Organisation des Schulwesenshat erheblichen Einfluss auf die Bildungschan-cen und Bildungsmöglichkeiten von Kindernund Jugendlichen. Organisationsformen desSchulwesens sind historisch gewachsen undändern sich in Folge des gesellschaftlichenWandels. Deshalb muss die Weiterentwicklungder Schulorganisation als kontinuierlicherProzess gestaltet werden.Die Durchlässigkeit der Bildungsgänge undzeitliche Flexibilität beim Erwerb der Ab-schlüsse ist zu sichern.

4.3 Weiterhin werden im Land Bran-denburg Kinder und Jugendliche mit sonder-pädagogischem Förderbedarf integrativ inRegelschulen oder in Förderschulen ihre so-zialen und kommunikativen Kompetenzen undihre Leistungspotenziale zu entfalten lernen.

4.4 Die Bildung und Erziehung im vor-schulischen, schulischen und berufsbildenden Be-reich folgt einer Gesamtkonzeption, deren ein-zelne Bestandteile aufeinander abgestimmt unddurch konkrete Bildungs- und Erziehungs-auf-träge bestimmt sind. Besonderer Augenmerk wirdder inhaltlichen Gestaltung und der Flexibilitätder einzelnen Übergänge geschenkt.

4.5 Im Zusammenhang mit der Schul-zeitverkürzung erhält die inhaltliche Ausgestal-tung des Bildungsauftrages der Kindertages-stätten besondere Priorität. Die Erhöhung derVerbindlichkeit des Bildungsauftrages der Kin-dertagesstätten und die flexible Gestaltung derEingangsphase der Grundschule leisten einenkonkreten Beitrag zur Verbesserung desSchuleingangsvoraussetzungen und die indivi-duellen Entwicklungsbedingungen für die Kin-der in der Schule.

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

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67

4.6 Am Grundsatz mehr Chancen-gleichheit durch Integration wird festgehalten.Eine längere gemeinsame Schulzeit ist anzu-streben. Deshalb bleibt die 6-jährige Grund-schule zur Stärkung der Entwicklungsmöglich-keiten der Kinder und der Erziehungs- undSozialfunktion der Grundschule erhalten.Es wird für alle Schülerinnen und Schüler imBildungsgang Allgemeine Hochschulreife dieMöglichkeit geschaffen, das Abitur nach 12Jahren abzulegen (6 Jahre Grundschule, 6 Jahreweiterführende Schule).Dazu ist die Stundenzahl in den Klassenstufen5 und 6 der Grundschule zu erhöhen und ne-ben der Binnendifferenzierung eine äußereLeistungsdifferenzierung einzuführen.Der Bildungsgang zum Abitur nach 12 Jahrenwird an Gymnasien und an Gesamtschulen mitgymnasialer Oberstufe angeboten.Die Einführungsphase der Abiturstufe wird indie Klasse 10 vorverlegt.Die Möglichkeit das Abitur nach 13 Jahren ab-zulegen bleibt als Angebot und für die berufli-che Orientierung an Oberstufenzentren erhal-ten.

4.7 Schulen mit besonderer Prägungerhalten die Möglichkeit, im musischen, ma-thematisch-naturwissenschaftlichen, sprachli-chen und sportlichen Bereich Klassen für be-sonders leistungsstarke Schüler ab der Jahr-gangsstufe 5 zu eröffnen.

4.8 Unter dem Aspekt der Durchlässig-keit der Bildungsgänge wird die SekundarstufeI ebenfalls durch eine Stundenerhöhung ge-stärkt. Dazu können die Lernbereiche aufge-löst und Fachunterricht durchgängig angebo-ten werden.

4.9 Die Möglichkeiten individuellerSchulzeitverkürzung durch Überspringen vonJahrgangsstufen an geeigneten Schnittstellensind unter dem Aspekt der Durchlässigkeit zusehen und werden gefördert.

4.10 Im Mittelpunkt der Ausbildung mussdie ausgewogene Entwicklung und Förderungvon Fachkompetenz, Methodenkompetenz,personaler, sozialer und ökologischer Kompe-tenz stehen. Brandenburg wird das Angebotgemeinsamer Lehrplanentwicklung an Berlinund andere Bundesländer insbesondere in Ost-deutschland unterbreiten.

4.11 Die Voraussetzungen zur Stärkung derMedienkompetenz sowie der Fremdsprachen-kompetenz der Schülerinnen und Schüler sindzu schaffen bzw. zu verbessern durch die sach-gerechte Ausstattung der Schulen mit Medien,gezielte Lehreraus-, -fort- und -weiterbildungund die Aufnahme medienpädagogischer Be-standteile in die Studienpläne der Lehreraus-bildung.

4.12 Die Voraussetzungen zur Stärkung derFremdsprachenkompetenz der Schülerinnenund Schüler sind zu schaffen bzw. zu verbes-sern durch den Beginn des Fremdsprachen-unterrichts in Klassenstufe 3, die sachgerech-te Ausstattung der Schulen und gezielte Lehrer-aus-, -fort- und -weiterbildung

4.13 Der Sicherung der Schulversorgung beizurückgehenden Schülerzahlen muss auchschulorganisatorisch Rechnung getragen wer-den. Die zur Prüfung der insbesondere für denäußeren Entwicklungsraum geeigneten Varian-ten künftiger Schulstrukturen berufene Kom-

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

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mission wird dazu Empfehlungen unterbreiten.Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werdenneue Formen der Schulorganisation in Bran-denburg zu entwickeln und unter den Aspek-ten öffentlicher Akzeptanz zu prüfen sein.

5. Stärkung der regionalen Bindungder Schulen

5.1 Die Bildungsoffensive ist durch dasLand und durch die kommunalen Schulträgerausreichend und langfristig verlässlich abzu-sichern. Zur Sicherung der nötigen Entschei-dungsfreiräume und Gleichbehandlung derkommunalen Schulträger sind die entsprechen-den Mittel über das Gemeindefinanzierungs-gesetz (GFG) überwiegend pauschal und ohneZweckbindung bereitzustellen.

5.2 Das bestehende Zinssubventions-programm der Landesregierung zur Förderungdes Schulbaus hat sich bereits als wirksamesInstrument der Investitionsförderung bewährt;mit der Aufstockung des Programms über dasGFG 2000 trägt die SPD der großen Nachfra-ge der Schulträger Rechnung und erweitertdamit das für Sanierungs-, Erweiterungs- oderNeubaumaßnahmen bereitstehende Finanz-volumen. Eine Erhöhung der Zuweisunginvestiver Mittel an die kommunalen Schul-trä-ger für den Schulbau und die Schulsanierungwird durch Öffnung des Investitionsförde-rungsgesetzes (IFG) und Förderprogramme derEuropäischen Union (EFRE) erreicht.

5.3 Die Schulträger sind in hohemMaße an der Qualität der schulischen Arbeit

und der Mitgestaltung des pädagogischen Pro-fils ihrer Schulen interessiert. Künftig sollenneben der Schulaufsicht auch die Schulträgerin die Berichterstattung der Schulen über dieErgebnisse der Arbeit einbezogen werden. Dassoll sie und das regionale Umfeld in den Standversetzen, aktiver Partner der Schulen bei ih-rer Entwicklung zu werden.

5.4 Der Kontakt zwischen den einzel-nen Schulen und der örtlichen Wirtschaft undden jeweiligen Ausbildungsbetrieben ist einwichtiger Bestandteil der Öffnung von Schuleund der Auseinandersetzung mit gesellschaft-lichen Anforderungen an die Schule. Er mussinstitutionalisiert und ausgebaut werden, z.B.durch Rahmenvereinbarungen der Landesre-gierung mit den Kammern und Verbänden.

6. Weiterentwicklung der beruflichenBildung und der Weiterbildung

6.1 Die Oberstufenzentren werdenlangfristig zu regionalen Kompetenzzentrender beruflichen Aus- und Weiterbildung ent-wickelt, die damit auch Aufgabe des Techno-logietransfers für kleinere und mittlere Unter-nehmen in der Region übernehmen. Das erfolg-reiche OSZ-Bauprogramm ist im geplantenVolumen von 250 Mio. DM fortzusetzen.

6.2 In den neuen Bundesländern stehtdie berufliche Erstausbildung bei den Jugend-lichen an erster Stelle. Ein deutlich geringererProzentsatz als in Westdeutschland durchläufteine berufliche Erstausbildung im Rahmen desdualen Systems. Trotz der vorhandenen wirt-

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Positionspapier der Zukunftskommission III

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schaftlichen und finanziellen Probleme ist auchfür die Zukunft sicherzustellen, dass jeder Ju-gendliche, die Chance einer beruflichen Er-stausbildung erhält.

6.3 Angesichts des Übergangs von derIndustriegesellschaft in die Dienstleistungsge-sellschaft muss eine zukunftsorientierte Bil-dungsoffensive für das Land Brandenburg dieallgemeine und die berufliche Bildung, sowiedie Weiterbildung in einem alle Bildungs-bereiche umfassenden Ansatz erfassen undwürdigen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen,die Gleichwertigkeit beruflicher und allgemei-ner Bildung zu realisieren.

6.4 Zur Sicherung und Weiterentwick-lung der Qualität beruflicher Bildung ist eineenge Verzahnung von schulischer und betrieb-licher Aus- und Weiterbildung erforderlich.

6.5 Folgende grundlegenden Verände-rungen sind zur Weiterentwicklung der beruf-lichen Bildung erforderlich:1. Politik und Gesellschaft müssen Wissen als

Produktionsfaktor, Information als Res-source, Innovation als Motor der Produkt-entwicklung verstehen, akzeptieren undfördern.

2. Die Selbstverantwortung des Einzelnen istinsbesondere im Bereich der Fort- und Wei-terbildung deutlich zu stärken, die Fähig-keit des Selbstmanagements zu entwickelnund zu fördern. Dazu muss die Befähigungzum selbstgesteuerten Lernen und Einsichtin die Notwendigkeit lebenslangen Lernensals Auftrag jeder schulischen Bildung aus-gestaltet werden.

3. Analog zur Koalitionsvereinbarung derBundesregierung gilt es auch in Branden-burg, die berufliche, allgemeine und kul-turelle Weiterbildung als vierte Säule desBildungssystems zu stärken und auszubau-en.

4. Die Bildungsfinanzierung der Aus- undWeiterbildung bedarf der Anpassung an dieveränderten Rahmenbedingungen.

6.6 Eine Stärkung des Wettbewerbs,des Vergleichs und der öffentlichen Anerken-nung von Leistungen können auch im Bereichder beruflichen Bildung und der Weiterbildungneue Impulse geben. Zur Förderung der Ent-wicklung und Qualifizierung der Weiterbil-dung sollen künftig die besonderen Leistun-gen der Weiterbildungsregionen durch Aus-zeichnungen honoriert und die Bedeutung die-ses Qualifi-zierungssystems stärker öffentlichgewürdigt werden. Das besondere Engagementund die Innovationskraft von Oberstufen-zentren und Weiterbildungseinrichtungen kannin gemeinsam von den Kammern und der Lan-desregierung zu verleihenden AuszeichnungenAnerkennung finden.

7. Zusammenarbeit der LänderBerlin und Brandenburg

Die Zusammenarbeit der Länder Berlin und Bran-denburg ist zum gegenseitigen Nutzen vor demHintergrund zunehmender Mobilität, der Not-wendigkeit eines intensiveren Austausches zwi-schen Metropole und Umland und nicht zuletztvor dem Hintergrund einer möglichen Fusion derLänder auszubauen und zu verbessern.

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

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Dazu ist insbesondere zu leisten:■ die Weiterentwicklung der bereits beste-

henden Kooperation der Hochschulen derLänder im Bereich der didaktischen For-schung und Lehrerausbildung

■ eine stärkere Verzahnung und Abstimmungder Arbeit der pädagogischen Landesinsti-tute

BILDUNG FÜR ZUKUNFT - ZUKUNFT FÜR BILDUNG

Positionspapier der Zukunftskommission III

■ der Lehrerfort- und Lehrerweiterbildungdurch PLIB und BIL

■ die Abstimmung der schulischen Curricula/Rahmenpläne

■ die Abstimmung der Schulentwicklungs-planung

■ die Entwicklung und Ausgestaltung desGastschülerabkommens

Eine Dokumentation der Positionspapiereder SPD-Zukunftkommissionen und weitereInformationen finden Sie auf der Hompagedes SPD-Landesverbandes Brandenburg:

http://www.spd-brandenburg.de

Anmerkungen und Anregungen richten Siebitte an:

[email protected]

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DEFINITIONSFRAGEN, STANDORT-PROBLEME UND DIE

GERECHTIGKEITSLÜCKEAnmerkungen zu Klaus Ness „Soziale Gerechtigkeit als Kern-punkt der Parteienkonkurrenz zwischen SPD und PDS in Ost-

deutschland“.

von Dr. Hans Misselwitz

RETRO

„Für die SPD in Ostdeutschland wird es zu ei-ner Überlebensfrage, ob sie in der Lage ist, inihrer Kernkompetenz Vertrauen zurückzuge-winnen.“ Das ist die schlechte Nachricht derAnalyse, aus der Klaus Ness, programmatischzugespitzt, die gute Nachricht auf dem Fußefolgen läßt: „Sozialdemokratische Politik inOstdeutschland kann nur erfolgreich sein, wennsie die Deutungsmacht zurück erlangt, wie so-ziale Gerechtigkeit in einer modernen Gesell-schaft definiert wird und durch konkrete Poli-tik zu erreichen ist.“

Es macht sich immer gut, wenn man kompli-zierte Sachverhalte auf den Punkt bringenkann. Allerdings ist man auch schnell durchBertolt Brecht gewarnt, der wusste, was er zum„Lob des Kommunismus“ sagte: Es ist das Ein-fache, das schwer zu machen ist. Miss-verständnisse sind folglich nicht auszuschlie-ßen. Deshalb einige Fragen an den Beitrag amAnfang:

Haben wir da mal eben nur ein Definitions-problem, einen Mangel an Deutungsmacht?Haben wir das Thema - machttechnisch gespro-chen - nicht hinreichend „besetzt“? Liegt es amrückständigen oder falschen Bewußtsein derOstdeutschen, am Mief der „sozialistischenWärmestuben“? Wenn Klaus Ness weiter fragt„Was ist gerecht in Ostdeutschland?“, möchteman doch wetten, dass die Frage eigentlich aufeine andere zielt: Was gilt statt dessen in derBundesrepublik? Sie wird nicht gestellt, abersie ist gemeint und sie steht auf der Tagesord-nung. Hat also der Osten die Gerechtigkeits-lücke im Kopf? Oder hat er viel mehr Standort-probleme vor den Füßen? Oder sind das allesnur Definitionsfragen?

Mit anderen Worten: Klaus Ness hat eine mu-tige, ehrliche Diskussion begonnen. SeineProblemanzeige ist richtig, wenn auch nichtvollständig. Sie könnte eine wichtige Debatteprovozieren, wenn sie nicht eilig mit Formel-kompromissen zugedeckt wird. Sie könnte uns

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DEFINITIONSFRAGEN, STANDORTPROBLEME ...Dr. Hans Misselwitz

in der Tat ein entscheidendes Stück voran brin-gen. Gerade in der Auseinandersetzung mit derPDS interessiert nämlich kaum einen mehr, werwas sagt, sondern was man will. Wir müssenuns also der überfälligen Diskussion um dievorrangigen gesellschaftlichen Ziele sozialde-mokratischer Politik stellen. Und zwar heißt dasnach Lage der Dinge vor allem im Osten: Al-ternativen aufzeigen und vertreten. Notfallsgegen den Einwand der Macher, dass sie dafürweder Blaupausen noch Finanzierungsplänehaben. Ohne einen wirklichen Zielvorrat, dasheißt ohne Veränderungswillen, weiter nachdem Motto „Keine Experimente!“ angeblichideologiefreier Praktiker geht uns das Geldvielleicht später, früher aber die Luft aus. EineProgramm- und Strategiedebatte der SPD, an-geführt vom Osten, das wäre nun wirklich neu!Und für die Ost-SPD bitter nötig, weil unsmerklich nicht nur der Vorrat an Mitteln, son-dern auch der Glauben an eine konventionelleBewältigung der Probleme im Osten auszuge-hen droht.

Der Fall des „Monuments Kohl” wird auch dievorherrrschende, lähmende Tabuisierung vonAlternativen zur Praxis des Einigungsprozessesaufbrechen. Wie am Beispiel Leuna/Elf-Aqui-taine als Spitze des Eisbergs sichtbar, wird derSchein des Unvermeidlichen von der Geschich-te fallen, werden die heutigen Probleme desOstens deutlicher im Lichte interessengeleiteterEntscheidungen gesehen werden. Nach derErblast Honecker, mit der sich die PDS in dieSchranken weisen ließ, wird nun das Erbe Kohlneu zu bewerten sein. Das ist vor dem Hinter-grund einer sich abzeichnenden westdeutschenDistanzierung von der Mitverantwortung fürdie ostdeutsche Lage - das reicht vom Streit

um den Länderfinanz-ausgleich bis zum Bilddes Ostdeutschen als Frühkindlichsystem-geschädigten - von außerordentlicher und nichtnur psychologischer Bedeutung.

Bei den Standortproblemen des Ostens geht esnicht mehr um den Beweis der Unfähigkeit derPlanwirtschaft, sondern nun um den Nachweisder Fähigkeit der Marktwirtschaft, bessere undzugleich gerechte Lebensbedingungen herzu-stellen. Der Kredit dafür ist bei vielen im Ostennahezu aufgebraucht. Der Aufholprozeß derostdeutschen Wirtschaft stagniert spätestensseit 1997. Das Zurückbleiben der Ost-Wirt-schaft - bislang mit dem Zurückfahren des Bau-sektors erklärt und beschönigt - hat ernstereGründe. Seit 1996 sinken die privaten Anla-gen- und Ausrüstungsinvestitionen im Ostenund lagen 1998 nur noch bei 90 Prozent derwestdeutschen Pro-Kopf-Rate. Im Westen stei-gen sie seitdem weiter, so daß von Aufholenkeine Rede mehr sein kann. Zusätzlich bedeu-tet der Haushalt-Konsolidierungskurs der Bun-desregierung, dass dieses Zurückbleiben auchnicht durch ein höheres Niveau öffentlicher In-vestitionen kompensiert werden wird. Was be-deutet es aber, wenn auf lange Sicht gilt: KeinAnschluß unter dieser Nummer? Was also müs-sen wir neu definieren? Die Kriterien, die Re-geln oder die Erwartungen der Menschen?

Die ostdeutsche Wählerschaft hat 1998 dieSPD auf Bundesebene ins Spiel gebracht. Kurzdanach stand sie schon wieder distanziert amSpielfeldrand, während wir in der Furche ak-kerten und weiter um den Anschluß kämpften.Sollten wir nicht einmal innehalten und denBlick über die Furche aufs ganze Feld richten?Gleichzuziehen mit dem alten Igel hat schon

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der Hase im Kohl nicht geschafft. Das ist tra-gisch, aber komisch wird es erst, wenn der Hasenicht merkt, dass der Igel gar nicht mehr derist, der er vorgibt zu sein. Schon deshalb lohntes sich, über die Spielregeln des Wettlaufs neunachdenken, ehe wir die Erwartungen der Men-schen für falsch erklären.

1. Definitionsfragen sind Machtfragen

Mein zentraler Einwand gegenüber Klaus NessPosition betrifft eine Unklarheit von großerReichweite: Wollen wir die Spielregeln neu de-finieren oder die Erwartungen der Menschen?In seiner Argumentation für eine „neue Offen-sive sozialdemokratischer Reformpolitik“scheint beides durch und kann wohl nach Lageder Dinge nicht anders sein. Wenn das so ist,dann müssen wir allerdings die Prioritäten klä-ren, weil erst dann glaubhaft wird, wofür oderfür wen wir stehen. Meiner Meinung nach istDefinitionsstreit zuerst Ideologiekritik unddann kommt erst der Kampf um Deutungs-hoheit.

Definitionsfragen sind eben nicht nur Streit umBegriffe und Deutungshoheit ist mehr als blo-ße Kosmetik, Sprachregelung von Werbe-strategen oder Sonntagsrednern. Politisch gehtes um Machtfragen. Wer in der DDR gelebthat, kennt das noch genau: „Die Lehre vonMarx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ DieErkenntnis daraus war: Das Bündnis von Machtund Ideologie kann noch jedes bisschen Wahr-heit zuschanden machen. Deshalb neigen wirbesonders im Osten zum Bekenntnis derIdeologiefreiheit und überlassen die Definitio-nen den anderen. Die betreiben allerdings

Begriffsmanagement als einen immer wichti-geren Teil der Technik der Macht.

Politische Auseinandersetzungen, sofern siegewalt- oder korruptionsfrei und demokratischvor sich gehen, spielen sich im Streit der Ar-gumente, der Worte und deren Bedeutung ab.Der Kampf um die Besetzung, Bedeutung oderUmdeutung politischer Begriffe geht umPositionsvorteile bei den sich daraus ableiten-den Optionen politischen Handelns. Wem esgar gelingt, die Begriffe des politischen Geg-ners auszuhöhlen, zu unterwandern oder um-zuprägen, nimmt dem Gegner nicht nur einStück seiner politischen Identität, sondern vorallem seine Mobilisierungs- und schließlichHandlungsfähigkeit. Wer die eigene Sicht aufsoziale oder andere Probleme in Begriffe gie-ßen kann und diese erfolgreich in Umlaufbringt, bestimmt auch die Art ihrer Lösung unddie Wahl der Instrumente. Die Spielregelneben.

Als Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, diebeiden Lichter in der CDU, in den siebzigerJahren als Generalsekretäre erkannt hatten, daßder Generationswechsel in der Bundesrepublikder Partei die Basis entzog, taten sie genau dies.Der von der CDU zuvor geprägte wert-konservative Mehrheitskonsens der Kriegs-generation wurde unvermeidlich abgelöst vonWertvorstellungen einer sich gegen die Elternabgrenzenden Nachkriegsgeneration. DieWiedererringung der Mehrheit hing für dieUnion davon ab, ob es ihr gelingen würde,Schlüsselbegriffe der 68iger Generation, diesich links und liberal mit Begriffen wie „Frei-heit“, „Gleichheit“ und „Solidarität“ identifi-zierte, neu zu definieren und zu besetzen. Also

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durfte zum Beispiel „Solidarität“ kein linkerBegriff bleiben, sondern mußte - angereichertmit dem Begriff der „Subsidiarität“ - in die kon-servative Argumentation integriert und zu-gleich umgedeutet werden. Noch deutlicherwird das am Beispiel des „Reform“-Begriffs,der Losung der sozialliberalen Ära schlecht-hin. Dieser war zunächst alles andere als linkeTradition, aber erfolgreich, weil er im Gegen-satz zum damals noch kommunistisch-besetz-ten „Revolution“-Begriff eine mehrheitsfähigeZieldefinition in der antikommunistisch ge-prägten Bundesrepublik erlaubte. Umso auf-regender ist es zu sehen, wie dessen erfolgrei-che Umdeutung wiederum kaum eine Genera-tion später den Konservativen gelang. In den90iger Jahren verbindet man mit „Reform“ dasGegenteil seiner vorherigen politischen Prä-gung, nämlich Staatsverschlankung, Sozialab-bau und neoliberale Wirtschaftspolitik. Daskann man unter erfolgreichem Begriffs-management verstehen.

Den Erfolg sieht man auch daran, dass es bisin die Sozialdemokratie hinein die Vorstellunggab und gibt, es gäbe dazu keine Alternativenmehr. Weil der Reform-Begriff auch für dieSPD keinen Kompetenzvorteil mehr signali-sierte, entschied sie sich im Wahlkampf1998für den Begriff „Innovation“. Erfolgreich wardieser Ansatz allerdings erst in Verbindung miteinem entscheidenden Zusatz, nämlich: „undsoziale Gerechtigkeit“. Es bedurfte also mehrals nur eines geschickten Schachzuges zurUmgehung einer Vermittlungs-Blockade. Esbrauchte für die Mehrheit schon das Angeboteiner substantiellen Position.

2. SozialdemokratischeStandortprobleme inOstdeutschland

Die sind unübersehbar, aber nicht länger aufOstdeutschland beschränkt. Wir sind im Som-mer und Herbst 1999 in den Verdacht geraten,vom Kurs für mehr soziale Gerechtigkeit imLand abzuweichen. Die Einbrüche bei denLandtagswahlen und bei der NRW-Kommunal-wahl zeigen das. Vor allem die Stimmenthal-tung in der eigenen Wählerklientel, war ein-deutig so motiviert. Zwar ist inzwischen durcheinige politische Signale und die CDU-Affä-ren annähernder Gleichstand der drei großenParteien im Osten wieder erreicht, die Schwan-kungen bei der SPD seit der Bundestagswahlbelegen aber, dass wir bei doppelt so großerStreuung bei den Parteipräferenzen in der Be-völkerung eigentlich eine nur zur Hälfte stabi-le Wählerbasis haben (R. STÖSS). Das kann,je nach politischer Lage und Kurs der SPDnicht für eine absolute Mehrheit, aber trotzdemfür eine dominante Rolle reichen.

Was ist nun der Schlüssel dazu? WirklicheMehrheitsfähigkeit verlangt von einer Parteidie Vermittlung sozialer und politischer Identi-fikationsangebote und die Verankerung in po-litisch-kulturellen Milieus mit Meinungs-führerschaft bei zentralen Wertvorstellungen.Der von Klaus-Jürgen Scherer in seinem Bei-trag „Kann die Politik ostdeutsche Erwartungs-haltungen erfüllen?“ schon zitierte SoziologeThomas Koch (Deutschland Archiv 3/99) dia-gnostiziert drei einander überlappende, poli-tisch-kulturelle Milieus, die nach dem vorwie-genden Identifikationstypus im deutsch-deut-schen Kraftfeld hier verkürzt als das „Ostdeut-

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sche“, das „Bundesdeutsche“ und das „Völki-sche“ bezeichnet werden sollen. Der Stärkenach verhalten sich diese Milieus schätzungs-weise wie 60:30:10. Die jeweiligen Partei-identifikationen sind natürlich nicht mit die-sen Milieus identisch. Die PDS ist erwartungs-gemäß ausschließlich im „ostdeutschen“ Mi-lieu zu Hause, die sogenannten „Völkischen“sind bisher nur ansatzweise parteipolitischeingrenzbar, jedenfalls nicht auf rechtsextre-me Parteien beschränkt.

Für die SPD trifft wie für die CDU zu, dass siebeide übergreifend und vorwiegend mit sowohl„ostdeutschem“, als auch „bundesdeutschem“Profil agieren. Die Chance der SPD bestand nundarin, einerseits durch gesamtdeutsche Kom-petenz, andererseits als „Partei des sozialenAusgleichs“ im „ostdeutschen“ und zugleichgleichheitsorientierten Wertemilieu eine dop-pelte Verankerung herauszubilden. Daraus ließsich ableiten, dass - nach dem unaufhaltsamenVertrauensverlust der CDU - nur sie sich alsPartei der deutschen Einheit profilieren kann.Seit Mitte der 90-iger Jahre konnten wir in die-ser Vermittlungsposition durch Identifi-kations-träger wie Manfred Stolpe, Regine Hildebrandtund Reinhard Höppner wachsen. Nun ist jedochabsehbar, daß sich das Pendel wieder zurückbewegt, und zwar mit einer notwendigen inne-ren Akzentverschiebung der zentralen Identifi-kationsthemen hin zum jeweiligen sozialen Sta-tus und dessen Interessenlage.

Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit glei-chen Parteiidentifikationen wie im Westen. DieVerarbeitung gesellschaftlicher Erfahrungen istkomplizierter. Dafür spricht trotz wachsenderAnnäherung von individuellen Einstellungen

und Werten bei Ost- und Westdeutschen dassich eher verstärkende soziale Selbstverständ-nis der ostdeutschen Mehrheit als Unterschicht.Ostdeutsche ordnen sich selbst zu fast zweiDritteln der gesellschaftlichen Unterschicht zu,im Westen knapp ein Drittel. Zur Mittelschichtrechnen sich nur ein gutes Drittel Ostdeutscher,im Westen fast zwei Drittel der Bevölkerung.Eine Oberschicht gibt es im Osten praktischnicht (3 Prozent), im Westen verstehen sichimmerhin 12 Prozent als Oberschicht (Vgl.Wohlfahrtssurvey 1998). Die Selbstwahr-nehmung der Ostmehrheit ist - stärker als durchEinkommensunterschiede belegbar - ein Reflexauf eine vermeintliche oder wirkliche Status-differenz verglichen mit dem Westen. Also kei-ne „Neue Mitte“-Identität, sondern, wie dasBeispiel Berlin, die sprichwörtliche „Werkstattder Einheit“ und die Region der am weitestenfortgeschrittenen Annäherung von Lebenswei-sen und Lebensverhältnissen zeigt. Übrigens,wie man in Ostberlin sah, ein für die Sozialde-mokratie höchst problematisches Szenario. Soparadox es ist: die Verringerung des innerstäd-tischen Abstandes scheint sogar eine Vergrö-ßerung der Unzufriedenheit, eine Tendenz derAbschottung, allerdings von beiden Seiten, zufördern. Das folgt einem durchaus bekanntenPhänomen: Die Sensibilität für Ungleichhei-ten wächst in dem Maße, je höher der Gradder Gleichheit ist.

Welche Konsequenzen hat das für die SPD imOsten? Die Mittellage zwischen CDU und PDSwar in der Zeit der von der CDU-geführtenBundesregierung geeignet, unerfüllte gesamt-deutsche Erwartungen und ostdeutsche Unter-scheidungen zu binden, also die wichtigstenpolitischen Identifikationsmomente in der Be-

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völkerung am besten zu integrieren. Diese Mit-tellage erweist sich aber als Falle, sobald wirzur Projektionsfläche allgemeiner Unzufrie-denheit mit der eigenen Bundesregierung wer-den und die CDU als gesamtdeutsche oder diePDS als ostdeutsche Alternative Punkte ma-chen können. Die Erosion des sozialdemokra-tisch-geprägten Mehrheitsmilieus nach beidenRichtungen kann also nur aufgehalten werden,wenn es gelingt, Vertrauen im Kernbereich so-ziale Gerechtigkeit wiederherzustellen unddurch Erfolge auf dem wirtschafts- bzw.arbeitsmarktpolitischen Feld zu überzeugen.

Beides hängt natürlich miteinander zusammen.Wegen der für den Osten mittelfristig nochungünstig(er)en wirtschafts- und arbeitsmarkt-politischen Prognose spricht aber alles für dieNotwendigkeit, wenigstens in Glaubwürdigkeitund Perspektiven zu investieren. Dies bedeu-tet nicht zuerst die Verteilung von mehr Mit-teln, sondern vor allem die Verbesserung beiden Chancen. Hierzu gehört der psychologischwichtige Bereich des Abbaus ostdeutscher An-erkennungsdefizite, wie zum Beispiel im Hin-blick auf die Tarifpolitik eine verbindliche An-gleichungsperspektive im öffentlichen Dienst.

Die Position politischer Meinungsführerschaftim Osten wird für die SPD davon abhängen,ob sie sich

erstens der Thematisierung der vorhandenenOst-West-Differenzen nicht verschließt, son-dern diese in einem begrenzten Konflikt auchmit der eigenen Partei offen legt und zugleichnachweist, wie sie diese Differenzen in Aner-kennung der ostdeutschen Erfahrungen undInteressenlagen gesamtdeutsch lösen will;

zweitens ihrer Stärke gegenüber der PDS be-wusst ist, dass nur sie die Ostprobleme lösenkann, die die Ostdeutschen selbst - im Gegen-satz zur PDS - aufheben möchten. Das verlangtvor allem stärkere Öffnung gegenüber jenem„ostdeutschen Milieu“, dessen langfristige In-teressen die PDS nicht verwirklichen kann, sieaber bislang definiert und vertritt. Und es heißtauch Verzicht auf jene immer kontraprodukti-ver verlaufenden, ideologisch aufgeladenen,pflichtgemäßen Abgrenzungsritualen gegen-über der Vergangenheit von Menschen, die maneigentlich gewinnen will;

drittens, dass wir uns inhaltlich deutlich zu Fra-gen der sozialen Gerechtigkeit positionieren,weil wir die ostdeutschen Erfahrungen, inso-fern sie schon Ergebnis jener „modernisierten“ökonomisch-sozialen Realität sind, kritischoder selbstbewusst zur Debatte stellen müssenund können.

3. Die Gerechtigkeitslücke

Für die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokra-tie ist die entscheidende Frage, ob wir den imletzten Jahr aufgekommenen Verdacht aus derWelt räumen können, es handele sich bei demnach „Innovation“ zweiten Versprechen „sozia-le Gerechtigkeit“ schließlich doch um nichtmehr als eine Begriffs-Operation. Jedenfallssollte eines klar sein: Ein Holzmann erspartnicht die Axt im Haus! Die gesellschaftlichenVeränderungen verlangen nach neuen Spielre-geln und die Mehrheit hat deutlich durchblik-ken lassen, wie sie diese Reformen verstandenwissen will: Sozial gerecht.

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Soziale Gerechtigkeit ist das Schlüsselmandatder Sozialdemokratie. Entsprechend muss siebeides, Regieren und Motivieren. Und sie mussihr Mandat so begreifen, dass in dieser Gesell-schaft etwas geändert werden muss, nachdemsich die vorangegangenen Begriffsverschie-bungen neoliberaler Deutung als nicht mehr-heits- und nicht tragfähig erwiesen haben. Manmuss der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehrerzählen, was es heißt, flexibel zu sein und sichaus der Hängematte zu bewegen. Sie erwarten,dass sie mit ihrem Leistungswillen und ihrerLeistungsfähigkeit unter stabilen Rahmenbe-dingungen für sich selbst sorgen können. Dar-an werden wir gemessen, und nicht, weil es soaussieht, als seien wir manchmal die besserenMenschen und weniger korrupten Politker.

Wie wollen wir nun den Begriff „soziale Gerech-tigkeit“ neu definieren, ohne in die aufgestell-ten Fallen seiner neoliberalen Entleerung („So-ziale Hängematte“, „Deutschland als Freizeit-park“, „Sozialstaatsmafia“, „Versorgungsstaat“,„Anspruchsdenken“) hineinzutreten und besten-falls defensive Klientelpolitik zu betreiben?

Eine besondere Falle steht für Ostdeutschland:Das gegeneinander Ausspielen von „Gleichheit“und „Gerechtigkeit“. Dem postmate-rialistisch-neoliberalen Zeitgeist ist es gelungen, „Gleich-heit“ mit „Gleichmacherei“ zu denunzieren unddie Debatte mit der klassischen konservativenPosition von der quasi natürlichen Ungleichheitder Menschen individualistisch zu versöhnen.Für die davon unberührten Ostdeutschen habenjedoch mit der Gleichheitsforderung anderes imSinn: Die Forderung nach Veränderung vonPositions- und Anerkennungsdefiziten, die sichaus der Geschichte vor und nach 1990 ergeben

haben. Die Sensibilität gegenüber Privilegien,Vorrechten, hat das Gerechtigkeitsbewusstseinder Ostdeutschen geprägt und nicht nur, wie oftpolemisch behauptet wird, ihr Denken inversorgungsstaatlichen Anrechten. Den Gegen-beweis tritt seit Jahren die Mehrheit der Ost-deutschen selbst an, indem sie, verglichen mitder westdeutschen Mehrheit, flexibler auf be-rufliche, lebensweltliche und lebensplanerischeVeränderungen eingeht, also eigene Rechtedurchaus zurückstellt, aber ein solches Verhal-ten entweder honoriert oder von anderen auchabverlangt haben will.

Die Ost-SPD kann sich keinen größeren Scha-den zufügen, als diese Haltung in der aktivenMehrheit der ostdeutschen Bevölkerung eilfer-tig zu ignorieren. Vielmehr muss sie konstruk-tiv darauf eingehen, will sie nicht letztlich doch- f ixiert auf den Wettlauf beim materiellenWohlstandsvergleich - den kürzeren ziehen. DieVersuchung, sich stattdessen gleich als Anwaltder „Gewinner“ zu profilieren, würde übrigensnichts nützen. Denn jene aufstiegsorientiertenArbeitnehmer und Selbständigen sind zwarmateriell erfolgsorientiert, gleichwohl ideell undempirisch sensibel für Gerech-tigkeitsfragen,nämlich in Gestalt der Gleich-heitsoption, fürRechtsgleichheit in einem durchaus nichtchancengleichen Wettbewerb auf dem Markt.

Also: Trotz eines sicherlich vorhandenenversorgungsstaatsfixierten Rechtsgefühls beiTeilen der Bevölkerung, die sich im übrigeneher autoritär-konservativ und durch die Hin-tertür in einer latent fremdenfeindlichen „Deut-sche zuerst“-Position äußert, liegt der Kern derGerechtigkeitsfrage für - ich nenne sie dienichtresignierte Mehrheit - nicht bei der

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Verteilungsfrage, sondern der nach der Gleich-heit der Chancen und vor dem Gesetz. Hier sto-ßen sie sich an allerhand Ungewohntem, altenBesitzrechten und einem Privilegienkatalogsondergleichen, von Steuerprivilegien, Bil-dungsprivilegien, Status- und Herkunfts-privilegien bis zu unerwarteten Zugangs-privilegien in die bessere Gesellschaft. Solan-ge diese Erfahrung mit der Ankunftsgesell-schaft dominiert, wirkt das Postulat, man müssenur seine Chance nutzen, wie Hohn.

Politisch liegt an dieser Stelle die Schwächeder SPD gegenüber der PDS. Die PDS machthier ihren entscheidenden Schnitt, nicht durchwohlfeile Sprüche und Populismus. Wenn dieSPD es nicht vermag, an dieser Stelle anzuset-zen, das heißt die PDS wirklich auf das ihrimmer schwerer am Bein hängende Traditions-milieu zu beschränken, haben wir wenig hinzuzu gewinnen. Es sind die Rechte eines selbst-bewussten und qualifizierten Milieus, das inden letzten Jahren bereits härtere Modernisie-rungsschübe erlebte, als vergleichbare Kollek-tive im Westen. Diese Modernisierungswellenhinterlassen nämlich nicht nur zufällige indi-viduelle Gewinner und Verlierer, sondern auchden Lerneffekt, dass die Bewältigung ihrerFolgen kann nur kollektiv und organisiert, alsopolitisch vermittelt erfolgen kann. Weil dasschon jetzt nicht auf den Osten beschränkt ist,deshalb ist diese Debatte auch relevant für denWesten. Der Modernisierungsvorsprung Ost -im Sinne der Erfahrung und Bewältigung ra-dikaler Strukturbrüche - erfordert eine neueGerechtig-keitsdebatte, nämlich durchaus imnormativen Sinn von Grundrechten und ihrerGarantie durch den Staat.

Folglich: Wenn schon Neudefinition, dann bittenicht mit Haushaltsvorbehalt! Wenn es um einegrundsätzliche Orientierung gehen soll, um einLeitbild, das über die nächste Rentenanpassungoder Steuernovelle hinaus orientiert, so stehtdie Gerechtigkeitsfrage in einem grundsätzli-chen Zusammenhang mit den Menschenrech-ten, der Würde des Menschen, der Nicht-diskriminierung und des Rechtes auf freie Ent-faltung. Es geht eben auch und vor allem denOstdeutschen nicht um Versorgung, die Rück-versetzung in eine Kultur der Anpassung oderAbhängigkeit, sondern um die Schaffung vonVoraussetzungen wirtschaftlicher, sozialer undkultureller Selbstbestimmung.

Wenn Eigentum die Grundlage von Freiheit ist,nämlich im Sinne des Grundgesetzes die Ba-sis ökonomischer Selbständigkeit und derSelbstbestimmung des Einzelnen darstellt undEigentum gerade in der heraufziehenden„Wissensgesellschaft“ weit mehr ist als Grund-, Geld- oder Kapitalvermögen, dann hilft dergroßen Mehrheit im Osten vor allem eine Po-litik, die den Wert ihres sogenannten Human-kapitals steigert. Dies kann letztlich nur durchbessere Nachfrage und Qualifikation von Ar-beitskraft geschehen, aber auch durch gesicher-te Rechte gegen bodenlose Entwertung. Wenndie Menschen aus den bekannten strukturellenVeränderungen der Industriegesellschaft solcheBedingungen immer weniger organisiert aufdem Arbeitsmarkt aushandeln können, ja wennsie sogar zu erhähter Selbständigkeit ermutigtwerden sollen, dann braucht es dafür einenRechtsrahmen, der wie im Vertragsrecht eineArt Gleichheit der Waffen garantiert. Nach dervon der Bundesrepublik unterzeichneten UN-

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Das heißt - wie wir gelernt haben - nicht denStaat als Gesamtunternehmer wiedererfinden- aber wenigstens, die Verantwortlichkeiten neuzu definieren.

Wenn wir von Zukunft sprechen, müssen wiruns einem weiten Horizont öffnen: Tragfähig,wegbereitend und motivierend sind Lösungennur angesichts einer Zukunft, die hier im Ostenschon begonnen hat. Unsere Probleme sindtypisch für eine Welt, die sich insgesamt imÜbergang befindet!

Dr. Hans Misselwitz war von 1990 bis 1999Leiter der Landeszentrale für politische Bil-dung des Landes Brandenburg. Seit 1999 ister Büroleiter des stellvertretenden SPD-Bun-desvorsitzenden Wolfgang Thierse.

Konvention von 1966 über die wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Rechte erkennen wirdas Recht auf Arbeit an, von dem es heißt, essei „das Recht jedes einzelnen auf die Mög-lichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei ge-wählte oder angenommene Arbeit zu verdie-nen“ (Artikel 6(1)). Ausgehend von dieserschon als lebensfremd geltenden Prämisse, aberletztlich über das Gesicht unserer Gesellschaf-ten entscheidenden Verständnis der Grundwer-te Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, mußman die Frage nach den Instrumenten stellen.

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