73
BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK HEFT 38 JULI 2008 www.perspektive21.de PAUL VAN DYK: Rettet die SPD! KURT BECK UND FRANK-WALTER STEINMEIER: Die Arbeitslosigkeit besiegen THOMAS KRALINSKI: It’s the economy, stupid OTTO WELS: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ HANS-JOCHEN VOGEL: Wehret den Anfängen CHRISTOPHER CLARK: Das Bollwerk der Demokratie MATTHIAS PLATZECK: Sozialdemokraten in Verantwortung ALEXANDER GAULAND: Beim Erzählen erfunden NORBERT F. PÖTZL: Der rote Zar HEIKO TAMMENA: Zwei demokratische Preußen CHRISTIAN MAASS: Demokratie braucht Legitimation WIE PREUSSEN IN DEN ZWANZIGER JAHREN ZUM BOLLWERK DER DEMOKRATIE WURDE Das rote Preußen

perspektive21 - Heft 38

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Das rote Preußen

Citation preview

Page 1: perspektive21 - Heft 38

BRANDENBURGISCHE HEFTE FÜR WISSENSCHAFT UND POLITIK

HEFT 38 JULI 2008 www.perspektive21.de

PAUL VAN DYK: Rettet die SPD!

KURT BECK UND FRANK-WALTER STEINMEIER: Die Arbeitslosigkeit besiegen

THOMAS KRALINSKI: It’s the economy, stupid

OTTO WELS: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“

HANS-JOCHEN VOGEL: Wehret den Anfängen

CHRISTOPHER CLARK: Das Bollwerk der Demokratie

MATTHIAS PLATZECK: Sozialdemokraten in Verantwortung

ALEXANDER GAULAND: Beim Erzählen erfunden

NORBERT F. PÖTZL: Der rote Zar

HEIKO TAMMENA: Zwei demokratische Preußen

CHRISTIAN MAASS: Demokratie braucht Legitimation

WIE PREUSSEN IN DEN ZWANZIGER JAHREN ZUM BOLLWERK DER DEMOKRATIE WURDE

Das rote Preußen

Page 2: perspektive21 - Heft 38
Page 3: perspektive21 - Heft 38

Das rote PreußenP reußen gehört zu den geschichtspolitischen Themen, die Diskussionsrunden

spalten. Der Staat Preußen wurde 1947 aufgelöst, die Debatten über ihn wer-den aber auch noch in 100 Jahren polarisieren. Das ist auch mehr als verständlich,denn Preußen löst bei den Menschen sehr unterschiedliche Assoziationen aus.Während die einen zunächst an den Pickelhaubenmilitarismus denken, die impe-rialistische Großmannssucht, die in den ersten Weltkrieg mündete, denken anderean die „Aufklärung von oben“ des Alten Fritz, das Preußische Toleranzedikt oderdie Reformen von Hardenberg und vom Stein.

In dieser Ausgabe der Perspektive 21 wollen wir einen Teilaspekt der preußi-schen Geschichte näher betrachten, der in der öffentlichen Betrachtung fast einblinder Fleck ist: das demokratische, „rote“ Preußen der zwanziger Jahre des ver-gangenen Jahrhunderts. Dieses sozialdemokratisch geprägte Preußen war imDeutschland der Weimarer Republik ein Hort der Stabilität, der Rechtstaatlich-keit, der Liberalität und Demokratie. Für diese Phase seiner Geschichte standeninsbesondere der damalige Ministerpräsident Otto Braun (SPD) und seine sozial-demokratischen Innenminister Carl Severing und Albert Grzesinski. Drei Politi-ker, die heute in Brandenburg, dem Kernland des früheren Preußens, zu Unrechtfast vollständig in Vergessenheit geraten sind. Mit den Beiträgen insbesondere vonChristopher Clark und Heiko Tammena wollen wir einen kleinen Beitrag leisten,dass diese drei Politiker wieder Eingang in das Bewusstsein über unsere eigenen demokratischen Traditionen erhalten.

Ich jedenfalls würde mir wünschen, dass getreu dem Motto unseres Minister-präsidenten Matthias Platzeck, dass Zukunft auch Herkunft braucht, in Branden-burgs Städten und Gemeinden Straßen- und Schulnamen an diese großen Demo-kraten der Weimarer Republik erinnern.

KLAUS NESS

vorwort

3perspektive21

Page 4: perspektive21 - Heft 38
Page 5: perspektive21 - Heft 38

inhalt

5perspektive21

Das rote PreußenWIE PREUSSEN IN DEN ZWANZIGER JAHREN

ZUM BOLLWERK DER DEMOKRATIE WURDE

MAGAZINPAUL VAN DYK: Solidarität heute ........................................................................ 7Eine moderne Sozialdemokratie braucht einen modernen Solidaritätsbegriff

KURT BECK UND FRANK-WALTER STEINMEIER: Die Arbeitslosigkeit besiegen .... 11Wie die SPD mit einer strategischen Politik sozialen Aufstieg wieder möglich macht

THOMAS KRALINSKI: It’s the economy, stupid ................................................... 17Nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo fängt die Arbeit erst an

THEMAOTTO WELS: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ ............. 23Rede zur Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 vor dem Reichstag

HANS-JOCHEN VOGEL: Wehret den Anfängen .................................................... 27

Über die Ursachen und Lehren der Ereignisse von 1933

Die preußische Demokratie 1919-1932 ............................................................ 35

CHRISTOPHER CLARK: Das Bollwerk der Demokratie ........................................ 37Das Preußen der zwanziger Jahre war der Stabilisator der Weimarer Republik

MATTHIAS PLATZECK: Sozialdemokraten in Verantwortung .............................. 51Institutionen, Verfahren und Prinzipienfestigkeit machten Preußen zum Bollwerk der Demokratie

Page 6: perspektive21 - Heft 38

6 dezember 2007 – heft 36

inhalt

ALEXANDER GAULAND: Beim Erzählen erfunden ............................................... 59Der Wandel von Preußens Bild in der Geschichte

NORBERT F. PÖTZL: Der rote Zar ...................................................................... 63Unter dem Sozialdemokraten Otto Braun erlebte Preußen seine letzte Glanzzeit

HEIKO TAMMENA: Zwei demokratische Preußen ................................................ 67Über die Verdienste der preußischen Innenminister Severing und Grzesinski

CHRISTIAN MAASS: Demokratie braucht Legitimation ...................................... 77Was die SPD heute vom Preußen der zwanziger Jahre lernen kann

Page 7: perspektive21 - Heft 38

Rettet die SPD!NUR WENN DIE SPD WIEDER

REFORMMOTOR WIRD, HAT SIE AUCH EINE ZUKUNFT

VON PAUL VAN DYK

M ein ganzes Leben lang habe ich nur SPD gewählt und die Partei als Künstlerimmer wieder unterstützt – ich bin wirklich von ganzem Herzen Sozialde-

mokrat. Doch wo einst Schröder mit seinem Team einen Reformgeist versprühte,der mich inspiriert hat und dessen späte Früchte heute Hunderttausende in Formvon neuen Arbeitsplätzen genießen können, herrscht heute nur noch Unsicherheit,Konzeptions- und Ratlosigkeit. Es sitzt jemand am Parteisteuer, der nicht weiß,wohin er lenken soll, und der im Zweifelsfall lieber laut fluchend den Falschfahrernvon der Linkspartei hinterherjagt. Die Sozialdemokratie in Deutschland ist kurzdavor, sich selbst ins Abseits zu manövrieren. Deswegen muss die eingeschlageneRichtung, nämlich links und rückwärts, so schnell wie möglich scheitern, damit dieSPD eine relevante Größe bleibt.

Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist es, meiner Ansicht nach, die sozialeMarktwirtschaft permanent zu modernisieren. Also: Wie können wir unser Wirt-schafts- und Sozialsystem in einer globalisierten Welt beibehalten? Wie reagierenwir auf die drohende Überalterung der Gesellschaft? Was ist heute Gerechtigkeit?Wird den wirklich Bedürftigen richtig geholfen? Aber auch: Übernehmen alle ge-nug Verantwortung für ihr eigenes Leben und die Gemeinschaft? Machen wirFortschritte bei der Chancengleichheit? Aber auch: Können sich die Leistungs-träger richtig entfalten?

Lange ist nichts passiert

Die Probleme waren lange erkannt, aber nichts passierte. Dann kamen Schröderund seine Agenda 2010. Das war ein erster Schritt in die richtige Richtung. ImSystem hatten sich strukturelle Fehler aufgetan. Es gab Menschen, die sich mitTransferleistungen begnügten und keinen Druck verspürten, wieder geregeltenTätigkeiten nachzugehen. Zu lange waren gerade in der SPD solche Problemetabuisiert worden – so wie sie heute wieder ungern angesprochen werden, weilsich alle lieber beim Thema „Gerechtigkeit“ überbieten wollen. Das Prinzip

7perspektive21

magazin

Page 8: perspektive21 - Heft 38

„Fordern und fördern“ ist unpopulär und wird verdrängt. Aber wo Tabus herr-schen, kann keine vernünftige Politik gemacht werden.

Jeder wusste um die eklatanten Probleme in der Bildungspolitik und in den So-zialversicherungssystemen, getan wurde fast nichts, weil damit keine Wahl zu ge-winnen war. Die Agenda 2010 war da ein Hoffnungsschimmer – von dem nichtsübrig geblieben ist. Weder in der SPD noch bei der hochgelobten Kanzlerin. Vonihr geht kein Reformimpuls mehr aus, ihre einzigen Tugenden scheinen der Still-stand und die Flucht in die Außenpolitik oder die Beteiligung an Wahlgeschen-ken wie der Rentenerhöhung zu sein. Das wirkt immer dann besonders gut, wenndie anderen noch schlechter sind – und das ist bei der SPD leider der Fall.

Der Mittelstand treibt die soziale Marktwirtschaft

Mit Kurt Becks Hilfe ist die Agenda 2010 vom Tisch gefegt worden. Es gibt keine Konzepte mehr, keine klaren Ziele, keine Überzeugungen. Anstatt sichmit der tatenlosen CDU um die Mitte und die bessere Reformpolitik zu strei-ten, lässt er sich von Lafontaines Linkspartei treiben und versucht, deren linkePolitik zu überbieten, die er im gleichen Atemzug anprangert. Ex-SPD-ChefMatthias Platzeck hat die Folgen dieses Verhaltens einmal sehr schön auf denPunkt gebracht, als er meinte, dass man für jeden gewonnenen Linkspartei-Wähler „zwei, drei oder vier“ in der Mitte verlieren würde. Die jüngsten Um-fragen geben Platzeck recht.

Becks Politik steht für mich leider im Moment für den blinden Marsch in dieVergangenheit. Er hat keine Vision für eine zukunftsorientierte, reformfreudigeSozialdemokratie, die von intelligenten, jungen Wählern gewählt werden kann– von solchen Katastrophen wie in Hessen mal ganz abgesehen. Jeder verant-wortliche Manager in einem Unternehmen hätte nach einem solchen Fiasko sei-nen Hut nehmen müssen, in der SPD dagegen gab es keine Konsequenzen. Mirals ehemaligem Ossi ist es völlig egal, wie oft sich die alte SED umbenennt – so-lange sich Teile der alten Funktionäre dieser Partei nicht zu ihrer Verantwor-tung für das Unrechtsregime der DDR bekennen und neuere sogenannte Linkeaus dem Westen die Geschichte zu verklären versuchen, kann man mit diesenLeuten doch keine Politik machen.

Ich kenne viele sozial engagierte jüngere Selbstständige und Unternehmer,die sich in der SPD – von wenigen Ausnahmen abgesehen – durch niemandenmehr verstanden fühlen. Sie beobachten fassungslos, was geschieht – und fühlensich als Unternehmer nicht gewürdigt und geachtet. Es gibt zwar die „Netzwer-

8 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 9: perspektive21 - Heft 38

ker“ oder die Vertreter des „Seeheimer Kreises“, die ein offenes Ohr für solcheAnliegen haben, die aber offensichtlich im Moment in der Partei in der Minder-heit sind.

Es gibt in der SPD eine Tendenz, vor allem bei den Linken in der Partei, an-gestellte Dax-Vorstände, die sich nicht vorbildhaft verhalten und die nur einenBruchteil der deutschen Arbeitgeber repräsentieren, mit allen Unternehmerngleichzusetzen und ihnen mit Argwohn und Misstrauen zu begegnen. Der trei-bende Motor der sozialen Marktwirtschaft, die vielen anständigen und hart ar-beitenden Mittelständler, werden dabei völlig ignoriert. Dabei ist doch manch-mal alles so einfach: Jeder weiß, dass wir viele Menschen brauchen, die mitihren Ideen Arbeitsplätze schaffen. Jeder weiß, dass nur mutige Reformen unserSozial- und Rentensystem retten. Alle Experten sind sich einig, dass zum Bei-spiel der geplante Gesundheitsfonds keine Zukunft hat. Hat die Bundesregie-rung den Mut, diesen Fehler einzugestehen? Die Lösung dieser Probleme auswahltaktischen Gründen immer weiter in die Zukunft zu verschieben ist gefähr-lich – und für uns Jüngere untragbar.

SPD wird als Reformmotor gebraucht

Natürlich kann man sich an das Credo Oskar Lafontaines halten, wonach man immer die Mehrheit auf seiner Seite hätte, wenn man Politik nur für Rentner,Arbeitslose und sozial Schwache macht. Damit mag er recht haben. Aber obman mit so einer Politik ein Land dauerhaft zukunftsfähig machen kann, darfbezweifelt werden.

Natürlich finde ich es auch nicht hinnehmbar, dass manche Arbeitnehmer so wenig verdienen, dass es trotz Fulltime-Job, trotz einer 40-Stunden-Woche,nicht zum Leben reicht. Und natürlich muss man flächendeckend Ganztagsbe-treuung anbieten. Wie kann man über so etwas noch ernsthaft diskutieren?Gehen diese (Unions-) Politiker nie in deutsche Großstädte? Kennen sie allekeine alleinerziehenden Mütter? Niemanden unter 40? Wer Wirklichkeit soignoriert, signalisiert nur eins: Er nimmt uns nicht ernst.

Die Bundestagswahl 2009 ist für die Sozialdemokraten leider wohl jetzt schonverloren. Hoffentlich verbrennt die Partei in dieser hoffnungslosen Schlacht nichtihre wahren Spitzenleute wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Denn die-se Kräfte werden für das realistischere Ziel noch gebraucht: die Wahl 2013.

Auch wenn es mir zutiefst widerstrebt: Eigentlich muss man sich einen mög-lichst eindeutigen Sieg der CDU/FDP wünschen, damit die SPD endlich auf-

9perspektive21

paul van dyk – rettet die spd!

Page 10: perspektive21 - Heft 38

wacht. Je größer ihre Schlappe, desto heilsamer wird vielleicht der Schock. Daswird eventuell die Chance für einen umfassenden Klärungsprozess und einenNeuanfang bieten. Dann kann die SPD wieder der Reformmotor werden, dendieses Land so dringend braucht. Wenn sich die Sozialdemokraten nicht aufdiese Rolle zurückbesinnen, dann macht die SPD sich selbst überflüssig. n

P A U L V A N D Y K

ist in Eisenhüttenstadt geboren und heute einer der erfolgreichsten DJs und Produzenten der Welt.

10 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 11: perspektive21 - Heft 38

Die Arbeitslosigkeit besiegenWIE DIE SPD MIT EINER STRATEGISCHEN POLITIK

SOZIALEN AUFSTIEG WIEDER MÖGLICH MACHT

VON KURT BECK UND FRANK-WALTER STEINMEIER

E rinnert sich noch jemand an die Situation unseres Landes am 1. Mai 1998?Die Zahl der Arbeitslosen war auf weit mehr als vier Millionen Menschen ge-

klettert. In den Sozialkassen klafften tiefe Löcher, und der Bundesfinanzministerhatte im Bundestag die Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichts erklärt, umRekordzahlen bei der Neuverschuldung zu begründen. Selbst Hunderttausendevon Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Ländern verhinderten nicht,dass der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte bei der Mai-Kundgebung in Münchenfeststellte: „Unser Land ist Europameister im Anstieg der Arbeitslosigkeit.“

Wir Sozialdemokraten hatten die konservativ-liberale Regierung von HelmutKohl wegen ihrer mangelnden Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit immer wieder scharf kritisiert. Unsere Überzeugung gilt bis heute: Arbeitslosigkeitist das Krebsübel unserer Gesellschaft. Sie vernichtet Lebensmut und Lebensper-spektiven. Langzeitarbeitslosigkeit macht einsam und führt in die Armut.

Sozialdemokraten haben die Wende bewirkt

Darum machte die SPD, nachdem die Menschen uns die Regierungsverantwor-tung übertragen hatten, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu ihrer zentralenAufgabe. Den Reformstau des Landes zu überwinden, neue Fundamente für wirt-schaftliches Wachstum zu legen, die Sicherheit der Sozialsysteme langfristig neu zubegründen, verlangte schmerzhafte Entscheidungen. Die SPD brachte die Kraftauf, eine für das Land und die Menschen langfristig erfolgreiche Politik durchzu-setzen – im Wissen darum, dass dies die Erfolgsaussichten unserer Partei vorüber-gehend beeinträchtigt. Wir hatten den Mut, notwendige Reformen einzuleiten,ohne dabei auf den nächsten Wahltag zu schauen. Mit dem Entstehen der Links-partei haben wir dafür einen hohen Preis gezahlt.

11perspektive21

Page 12: perspektive21 - Heft 38

Aber die Anstrengung hat sich für das Land und die Menschen ausgezahlt. Andiesem 1. Mai, nach knapp zehn Jahren sozialdemokratischer Gestaltung in derBundesregierung, können wir mit einigem Stolz sagen, dass wir die Wende zumBesseren geschafft haben. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf gut drei Millionen ge-sunken. Wir sehen sogar gute Chancen, in diesem Jahr zum ersten Mal im verein-ten Deutschland wieder eine „Zwei“ vor dem Komma zu erreichen. Weil so vieleMenschen wie noch nie in unserem Land sozialversicherungspflichtig beschäftigtsind, haben sich auch die Sozialkassen wieder solide gefüllt. Im Jahr 2011 wollenwir wieder einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen. Das war zuletzt 1969der Fall.

Wir Sozialdemokraten waren es, die diese Wende bewirkt haben. Doch die zu-rückliegenden zehn Jahre sind für uns lediglich die erste Etappe auf dem langenWeg, die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen und Sicherheit für dieMenschen in einer völlig veränderten Welt zu gewährleisten. Gestärkt durch dieErfolge, sagen wir jetzt: Wir wollen die Arbeitslosigkeit nicht nur bekämpfen – wirwollen sie besiegen. Unser Ziel für das nächste Jahrzehnt ist: Vollbeschäftigung inDeutschland zu guten Löhnen und fairen Arbeitsbedingungen. Und wir wollennicht nur, dass jeder Mensch in unserem Land gute Aussichten hat, Arbeit zu fin-den, sondern auch die realistische Chance auf seinen sozialen Aufstieg erhält.

Die Globalisierung bietet große Chancen

Wir sind überzeugt, dass wir dieses Ziel mittel- und langfristig erreichen können.Mit einer Politik, die entschlossen auf Innovation und Wachstum setzt, die konse-quent die Chancen der Globalisierung nutzt und im Binnenmarkt neue Dienstleis-tungen fördert.

Die weltweite Arbeitsteilung und die Globalisierung der Finanzmärkte habenüberall auf der Welt bislang ungekannte Kräfte entfesselt. Unzählige Menschen –nicht nur in China und Indien, sondern von Mexiko bis Chile, von der Türkei bisKasachstan, von Indonesien bis Vietnam – haben zum ersten Mal die Chance, sicheinen Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, und sie nutzen sie, oft unterschwierigsten Bedingungen.

Zurzeit leben etwa 1,5 Milliarden Menschen in entwickelten Gesellschaften.Schon in einer Generation werden es aber rund 4 Milliarden Menschen sein. DerWelthandel wird sich in den nächsten 25 Jahren, im Vergleich zu heute, noch ein-mal verdoppeln. Vorübergehende wirtschaftliche Eintrübungen, wie wir sie derzeiterleben, werden diese Entwicklung höchstens vorübergehend verlangsamen. Wir

12 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 13: perspektive21 - Heft 38

Sozialdemokraten wollen, dass unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hier,im Land des Exportweltmeisters, an diesem globalen Aufschwung teilhaben.

Und dabei geht es nicht nur um ökonomische Chancen. Es wird nicht allein da-rauf ankommen, all diese Menschen mit Maschinen und Produkten auszustatten.Zugleich müssen wir uns der Verantwortung für die ökologischen Folgen des be-vorstehenden, geschichtlich einmaligen Wachstumsprozesses, stellen. Damit wirunseren Planeten Erde nicht überfordern, brauchen wir so rasch wie möglich mo-derne, umweltfreundliche Produkte zu bezahlbaren Preisen, die wir bei uns ganzwesentlich mitentwickeln und herstellen. Umweltfreundliche Energien; Maschi-nen, die mit weniger Energie auskommen; Produkte aus neuen Materialien stattaus teuren Rohstoffen – das sind unsere großen Zukunftschancen für sichere undzusätzliche Arbeitsplätze.

Politik für die Leistungsträger unserer Gesellschaft

Die Produktion von Sonnenkollektoren und Windrädern, wirtschaftliche Erfolgs-geschichten dieses Jahrzehnts in Deutschland, zeigen dies schon heute. Wir setzenauf weitere Fortschritte in der Optik, der Mikro-, Bio- und Nanotechnologie. Wirwollen eine starke Industrie und innovative mittelständische Unternehmen. Aberwir richten den Blick auch auf die Beschäftigungspotenziale in der Kreativwirt-schaft, die inzwischen eine ähnliche Wertschöpfung erzielt wie etwa die Chemie-branche. Und wenn immer mehr Menschen bewusst gesund leben und älter wer-den, werden Gesundheitsdienstleistungen in Zukunft noch stärker gefragt sein.

Einen Schlüssel für mehr Beschäftigung, auch für Menschen ohne Hochschul-abschluss, sehen wir im Bereich Verkehr und Logistik. Wir müssen dafür sorgen,dass unser Land zu einer Drehscheibe für den weltweiten Güterumschlag wird. Sokönnen wir vom wachsenden Welthandel direkt profitieren. Die Eröffnung desDHL-Drehkreuzes am Flughafen Leipzig Ende Mai, das 3.500 Arbeitsplätzeschafft, ist dafür ein sichtbares Zeichen. Beträchtliche Entwicklungsmöglichkeitenbietet auch der Schienenverkehr. Mit der Entscheidung für die Bahnreform habenwir dafür die richtigen Weichen gestellt. Sie schafft langfristige Sicherheit für dieBahnkunden, für die Beschäftigten der Bahn und konkrete Perspektiven für zusätz-liche Arbeitsplätze. Denn das private Kapital wird verwendet, um Bahnhöfe zu sa-nieren, Lärmschutzwände aufzustellen und um neue Loks und Waggons anzu-schaffen.

Jeder Arbeitsplatz, der neu entsteht, ist im Übrigen nicht nur ein Gewinn für dieMenschen, die der Arbeitslosigkeit entkommen. Politik für mehr Beschäftigung

13perspektive21

kurt beck und frank-walter steinmeier – die arbeitslosigkeit besiegen

Page 14: perspektive21 - Heft 38

nützt auch den Leistungsträgern unserer Gesellschaft, denen wir Sozialdemokratenuns verpflichtet fühlen – von der Krankenschwester über die Facharbeiter undAngestellten bis zu verantwortlich denkenden Unternehmern. Weil die Arbeits-losigkeit gesunken ist, haben sich ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung schonjetzt deutlich verringert. 250 Euro netto pro Jahr in der Tasche eines Durch-schnittsverdieners sind noch nicht genug. Aber das Beispiel zeigt, dass unsereRichtung stimmt.

„Gute Arbeit“ ist der Kompass unserer Politik

Für Sozialdemokraten steht im Mittelpunkt der Wirtschaft immer der Mensch.Darum ist der Grundsatz „Gute Arbeit“ Kompass unserer Politik. Gute Arbeit bedeutet: Wer eine Vollzeitbeschäftigung hat, muss von dem Lohn dieser Arbeit leben können. Darum kämpfen wir mit den Gewerkschaften für branchenspezifi-sche Mindestlöhne und für einen gesetzlichen Mindestlohn. Gute Arbeit bedeutetauch: Leiharbeit darf nicht für Lohndumping oder Tarifflucht missbraucht wer-den, sondern muss auf die Bewältigung von Auftragsspitzen beschränkt sein undals Brücke in den regulären Arbeitsmarkt dienen. Gute Arbeit heißt: strukturelleLohnunterschiede zwischen Frauen und Männern überwinden, mehr reguläreArbeitsverhältnisse aus prekären Jobs schaffen, Mitbestimmung in den Betriebenerhalten, Weiterbildung und Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmern fördern.

„Gute Arbeit“ liegt im Eigeninteresse langfristig und weitsichtig denkenderUnternehmen. Ihr wichtigstes Kapital sind gut qualifizierte, motivierte Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter. Unternehmen in Branchen, in denen es bereits anFachkräften mangelt – beispielsweise im Maschinenbau – richten ihre Strategienbereits nach dieser Logik aus. Dort steigen die Löhne, werden ältere Arbeitnehmerwieder geschätzt oder sogar neue eingestellt; und dort erhalten Mütter und VäterMöglichkeiten, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. In Branchen undRegionen ohne Bewerbermangel und ohne tarifliche Absicherung – gerade imBereich der Geringqualifizierten – erfahren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerdiese Behandlung häufig nicht. Langjährige prekäre Arbeitsverhältnisse gefährdenauch die Absicherung für das Alter. Darum stellen wir Sozialdemokraten uns derVerantwortung, Voraussetzungen für „gute Arbeit“ zu schaffen – mit neuen Mo-dellen für längere Erwerbstätigkeit und gleitende Übergänge vom Erwerbsleben indie Rente. Unser Grundsatz lautet: Wer länger arbeitet, muss davon im Alter auchprofitieren.

14 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 15: perspektive21 - Heft 38

Die Lohn- und Gehaltsrunden dieses Jahres haben aber gezeigt: Die erfolgreichePolitik für wirtschaftliche Dynamik und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zahltsich in vielen Teilen der Wirtschaft aus. Sie schafft finanzielle Spielräume zuguns-ten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir arbeiten dafür, dass dieserTrend sich verstärkt. Je weiter die Arbeitslosigkeit sinkt, je knapper gut qualifizierteFachkräfte werden, desto größer wird auch die Zahl der Unternehmen, die zufrie-dene Mitarbeiter als zentralen Baustein ihrer Wettbewerbsfähigkeit erkennen.

Im Jahre 2008 können wir feststellen: Deutschland geht die Arbeit nicht aus.Aber die Arbeit der Zukunft wird zu einem weit größeren Anteil hohe Anforde-rungen an gut ausgebildete Menschen stellen. Weil viele gut qualifizierte Ältere inden kommenden Jahren in den verdienten Ruhestand gehen und deutlich wenigerJüngere nachrücken, bedeutet dies: Gut qualifizierte Fachkräfte werden in weitenTeilen der Wirtschaft schon bald zum knappen Gut. Aus dem Mangel an Arbeits-plätzen wird ein Mangel an geeigneten Arbeitskräften.

Zu einer strategischen Politik mit dem Ziel der Vollbeschäftigung gehört des-halb eine umfassende Bildungs- und Qualifizierungsoffensive. Wir wollen eineRenaissance der sozialdemokratischen Bildungspolitik der siebziger Jahre, als un-zählige Kinder aus Arbeiterfamilien zum ersten Mal aufs Gymnasium gehen undstudieren konnten. Jetzt müssen wir ein weiteres Mal dafür sorgen, dass weitausmehr Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen das Abitur machen und eineUniversität besuchen. Dies ist eine Schlüsselaufgabe sozialdemokratischer Politikund der ganzen Gesellschaft – weit über die ökonomischen Aspekte hinaus.

Wir organisieren sozialen Aufstieg

Denn nur wenn die Chance auf sozialen Aufstieg endlich wieder konkret möglichund erlebbar wird, können wir den sozialen Zusammenhalt unseres Landes dauer-haft sichern. Herkunft und Stadtviertel dürfen keine Sperre in die höheren Etagender Gesellschaft sein. Das gilt insbesondere auch mit Blick auf den wachsendenAnteil von Kindern mit Migrationshintergrund. Viele von ihnen haben keinenSchulabschluss, keine Ausbildung – und sind damit verurteilt, ein Leben in prekärerArbeit als Geringverdiener zu führen. Integration gelingt, wenn talentierte Kindervon türkischen oder bosnischen Eltern in unseren Unternehmen endlich auch Pro-kurist statt Lagerist werden können, wenn sie auch Präsident einer Behörde werdenkönnen und nicht in erster Linie als Hausmeister oder in der Kantine arbeiten.

Das erfordert eine Vielzahl zusätzlicher Schritte – zweisprachige Erzieherinnenund Erzieher im Kindergarten, mehr Förderlehrer in der Grundschule, guten

15perspektive21

kurt beck und frank-walter steinmeier – die arbeitslosigkeit besiegen

Page 16: perspektive21 - Heft 38

Nachmittagsunterricht in Ganztagsschulen, aber auch die Wiedereinführung desSchüler-Bafög und das Recht auf ein gebührenfreies Erststudium.

Der soziale Aufstieg dieser Kinder entscheidet auch über die langfristige Leis-tungsfähigkeit der Sozialsysteme. Wenn möglichst viele Kinder, die heute aufwach-sen, im Jahr 2025 als Ingenieure und IT-Spezialisten zu hohen Löhnen arbeiten,stärkt das auch die Sicherheit staatlicher und beitragsfinanzierter Leistungen.

Auch unsere Angebote für mehr Ganztagsbetreuung von Kindern sind Teil einergroßen Beschäftigungsstrategie. Denn sie erleichtern konkret die Erwerbsmöglich-keiten von Frauen. Gerade auch alleinerziehende Frauen, die zu der Gruppe mitdem höchsten latenten Armutsrisiko in Deutschland gehören, können auf dieseWeise ein Einkommen erarbeiten und ihre Absicherung für das Alter verbessern.

Der technische Wandel verlangt aber auch von den aktiven Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmern mehr Möglichkeiten und Bereitschaft zu Weiterbildung undQualifikation – eine Aufgabe für die Tarifpartner, aber auch für uns Sozialdemo-kraten in gestaltender Verantwortung.

Deutschland hat eine bessere Zukunft, als viele von uns glauben. Mit einer kla-ren Politik können wir die Chancen nutzen, die vor uns liegen. Vertrauen wir mit-einander wieder auf unsere Kraft! Die Sozialdemokratie steht bereit für eine Politik,die die Massenarbeitslosigkeit besiegt, die Sicherheit für die Menschen und innerenFrieden für unser Land schafft. n

K U R T B E C K

ist Bundesvorsitzender der SPD und Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz.

F R A N K-W A L T E R S T E I N M E I E R

ist stellvertretender Vorsitzender der SPD und Bundesaußenminister.

16 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 17: perspektive21 - Heft 38

It’s the economy, stupidNACH DER UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNG

DES KOSOVO FÄNGT DIE ARBEIT ERST AN

VON THOMAS KRALINSKI

1.600 Kilometer sind es von Berlin bis Rom, bis in die Provence oder in dieFjörde Norwegens. 1.600 Kilometer sind es auch bis Pristina, der Hauptstadt desKosovo. Und doch scheint der Kosovo so unendlich weit weg zu sein. Auch undgerade nach der Unabhängigkeitserklärung vom März diesen Jahres scheint dasLand mit seinen Problemen fast in Vergessenheit geraten zu sein.

Wer mit dem Flugzeug nach Pristina will, fliegt einen großen Bogen von Ungarnüber Rumänien, Bulgarien und Mazedonien bis er den wohl kleinsten Hauptstadt-flughafen Europas erreicht. Und das erste, was einem dort ins Auge sticht sind dieTruppen der Kosovo-Force (KFOR) der NATO, die – wenn auch zurückhaltend –dennoch präsent sind im Alltag des Landes. Schon das zeigt, dass der Kosovo kein„normales“ Land ist, dass eine Unabhängigkeitserklärung allein noch kein souverä-nes Land schafft.

I.Der Kosovo hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Das Zentrum des serbi-schen Königreiches lag im 14. Jahrhundert im heutigen Kosovo. 1389 kam es

dort – auf dem Amselfeld, dem „Kosovo Polje“ – zur Schlacht gegen die Osmanen,die im Begriff waren, halb Europa zu erobern. Die Serben verloren die Schlacht,Serbien wurde für vier Jahrhunderte zum Teil des Osmanischen Reiches. Nachdem Rückzug der Serben siedelten die islamisierten Albaner auf dem Kosovo Polje.

Die Schlacht auf dem Amselfeld begründete ein historisches Trauma der Serbenund steht noch heute für die emotionale Bindung Serbiens an das Kosovo. DieSchlacht wurde zum nationalen Mythos, zum Symbol für die Befreiung Serbiens unddem Willen, das alte Serbische Reich wiederauferstehen zu lassen. Noch heute mar-kiert das Datum der Schlacht auf dem Kosovo Polje den höchsten serbischen Feiertag.

Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Kosovo in das neu entstandene Jugo-slawien eingegliedert. Unter Tito wurden die Autonomierechte des Kosovo 1974erheblich erweitert. Der 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld 1989 wur-de jedoch zum Wendepunkt in der jüngeren Geschichte. Der neue serbische Präsi-dent Slobodan Milosevic nutzte die Gelegenheit um seine Macht zu zementieren –

17perspektive21

Page 18: perspektive21 - Heft 38

und zwar nicht mehr mit kommunistischer Ideologie, sondern mit Nationalismus.Zum Jahrestag der Schlacht ließ er eine riesige Kundgebung auf dem Kosovo Poljeveranstalten. Mancher Beobachter sah in der martialischen Rede von Milosevicschon die Ankündigung der blutigen und nationalistischen Auseinandersetzungenauf dem Balkan. „Heute befinden wir uns wieder in Kriegen und werden mit neu-en Schlachten konfrontiert. Dies sind keine bewaffneten Schlachten, obwohl diesenicht ausgeschlossen werden können. Aber unabhängig von der Art des Schlacht,können Schlachten nicht gewonnen werden ohne Entscheidungskraft, Tapferkeitund Selbstaufopferung, ohne diese Qualitäten, die im Kosovo so lange vorherschon gegenwärtig waren“, gab Milosevic 1989 die Richtung vor.

Die Spannungen zwischen Kosovaren und Serben verschärfen sich

Im Gefolge des wieder auflebendem serbischen Nationalismus schränkte das jugo-slawische Parlament die Autonomierechte des Kosovo zugunsten Serbiens erheb-lich ein. Unter anderem wurden die Zuständigkeiten für Polizei und Justiz sowiezur Ernennung hoher Verwaltungsämter wieder beschnitten. Daraufhin kommt eszu den ersten blutigen Unruhen, bei denen 20 Menschen getötet wurden. Ein alba-nisch-sprachiges Schulwesen gab es nicht mehr, die Kosovo-Albaner wurden ent-eignet, die meisten der im Staatsdienst Beschäftigten wurden entlassen.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre verschärften sich die Spannungen zwi-schen Kosovo und Serbien immer stärker. Der anfangs gewaltfreie Widerstand gingin einen Partisanenkrieg über, zwischen den serbischen Streitkräften und den alba-nisch-kosovarischen Freischärlern der UÇK kam es zu immer schärferen Gefech-ten. Immer mehr Kosovaren flüchteten aus ihrer Heimat. Der Schriftsteller Ibra-him Rugova wurde zum politischen Führer der Unabhängigkeitsbewegung.

II.Nachdem auf dem Verhandlungsweg keine Einigung über den Status des Ko-sovo erreicht werden konnte und die Kämpfe zwischen der serbischen Armee

und der UÇK immer heftiger wurden, begann die NATO im März 1999 strategischwichtige Ziele in Serbien zu bombardieren. Vorrangiges Ziel war es, die „ethnischenSäuberungen“ der Serben zu beenden. Hundertausende Kosovaren waren auf derFlucht, viele von ihnen vertrieben von den Serben. Nach Ende des Krieges wurdeder Kosovo unter die Verwaltung der UN gestellt, blieb formal aber weiterhin einTeil Serbiens. Bis Ende 2007 bemühte sich die internationale Gemeinschaft weiter-hin um eine Klärung des Status’ des Kosovo – eine Einigung kam jedoch nicht zu-stande. Serbien und Russland waren strikt gegen eine Unabhängigkeit.

18 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 19: perspektive21 - Heft 38

So erklärte der Kosovo sich einseitig am 17. März 2008 für unabhängig. Diemeisten EU-Länder sowie die USA, Kanada, die Türkei und andere Staaten habendiese Unabhängigkeit mittlerweile anerkannt. Auch wenn Serbien die Unabhän-gigkeit als rechtswidrig betrachtet – de facto hat es keine Kontrolle mehr über denKosovo, abgesehen von einem kleinen Teil im Norden des Landes, der hauptsäch-lich von Serben bewohnt wird. In diesem Gebiet haben umgekehrt die Institutio-nen des Kosovo keinen Einfluss.

Mittlerweile hat der jüngste Staat Europas eine eigene Verfassung, eine eigeneHymne und eine eigene Sicherheitstruppe. Die internationalen Missionen werdenfortgeführt, teilweise in neuer Konfiguration. So hilft die EU beim Aufbau einesRechtsstaates und der Wirtschaft, die OSZE beim Aufbau demokratischer Institu-tionen und Parteien. Die Kosovo-Truppe der NATO (KFOR) steht weiterhin mitgut 15.000 Soldaten im Land und sorgt für Sicherheit und Ordnung. Fast aus deröffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, dass immer noch 3.000 deutscheSoldaten im Kosovo stationiert sind, das Mandat wurde vom Bundestag AnfangJuni 2008 um ein weiteres Jahr verlängert. Wie labil der Zustand der neuen Unab-hängigkeit des Landes ist, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass auch dieneue Verfassung die letztendliche Entscheidungsgewalt bei einem Sonderbeauf-tragten der EU für das Kosovo belässt.

Es fehlt eine gemeinsame Identität

Der Prozess der Staatswerdung hat bisher noch nicht zu einer gemeinsamen Identi-tät aller Bewohner des Kosovo beigetragen. Es fehlen schlicht gemeinsame Symbolealler Bevölkerungsgruppen, so dass beispielsweise die Flagge des Kosovo lediglichauf die Umrisse des Landes zurückgreift und die Nationalhymne (vorerst) auf einenText verzichtet. Das zeigt, wie wichtig das Zusammenleben der albanischen undserbischen Volksgruppen für eine gedeihliche Zukunft des Landes sein wird. DieMinderheitenrechte sind zwar in der neuen Verfassung garantiert, entscheidendwird es aber sein, ob die Frontstellung zwischen Albanern und Serben aufgebro-chen werden kann.

III.Der Kosovo ist heute die ärmste Region auf dem Balkan, vermutlich dieärmste Region Europas überhaupt. Das Bruttoinlandsprodukt liegt bei un-

gefähr 1.000 Euro pro Kopf – das des ärmsten EU-Mitgliedes Bulgarien bei ca.5.000 Euro pro Kopf. Ohne internationale Hilfe wäre das Land schlicht nicht le-bensfähig. Schon innerhalb Jugoslawiens war der Kosovo stets die rückständigste

19perspektive21

thomas kralinski – it’s the economy, stupid

Page 20: perspektive21 - Heft 38

Region, doch ist seine Wirtschaftskraft in den letzten Jahren von dem ohnehinniedrigen Niveau noch einmal um ein vielfaches zurückgegangen. Heute dominie-ren die Landwirtschaft sowie der Bau- und Handelssektor.

Wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung vermittelt der Kosovo einen zwiespältigen Eindruck. Ein beeindruckender Bauboom suggeriert Wachs-tum, doch es bleibt ein Beigeschmack. Von Aufbruch ist im Land nicht viel zu spüren. Zu unzufrieden sind die Bewohner über die trüben wirtschaftlichen Aus-sichten, bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von 45 Prozent (und mehr) keinWunder. Der Kosovo hat eine der jüngsten Bevölkerung Europas. Nur 6 Prozentder etwa 2 Millionen Einwohner sind über 65 Jahre alt, über die Hälfte ist jüngerals 35 – verteilt auf einer Fläche von gut einem Drittel der Fläche Brandenburgs.Das ist ein enormes Fachkräftepotenzial, momentan jedoch eher ein Reservoir fürkünftige Auswanderer.

Die nunmehr verkündete Unabhängigkeit hat letztlich den Blick auf die ökono-mischen und sozialen Probleme des Landes geöffnet. In den vergangenen Jahrenwaren alle Institutionen – einschließlich der politischen Parteien – des Kosovohauptsächlich mit der Statusfrage beschäftigt. Diese Frage dominierte lange diePolitik und die Politiker des Landes. Die Parteien stehen deshalb nun an einemWendepunkt. Erstmals kann die bis dato ungeklärte Statusfrage nicht mehr als„Ausrede“ für die schwierige wirtschaftliche Lage herhalten, vielmehr muss es nunum Bildung, Gesundheit und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gehen.

Die Energieversorgung ist das Kernproblem

Dabei steht das Land vor gleich mehreren Herausforderungen. Zum einen muss die neue Regierung ihre Institutionen aufbauen, beispielsweise durch die Errichtungeines Außenministeriums mit weltweiten Botschaften und einer eigenen Armee.Auch die Demokratie ist noch nicht fest verankert, die Parteien lange noch nicht stabil. Bisweilen ähneln sie eher Familien- und Clanparteien, manche profitierennoch vom Ruf der ehemaligen UÇK -Kommandeure, von denen einige heute in derPolitik aktiv sind. Allein neun Parteien sagen derzeit von sich, dass sie sozialdemo-kratisch orientiert seien. Stabile Mitgliederstrukturen gibt es nicht, Programme sindmeistens vage. Erst allmählich beginnen die Parteien, klare Konturen und Profile zuentwickeln – unter tatkräftiger Mithilfe internationaler Organisationen wie EU,OSZE, aber auch deutscher Stiftungen wie der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Das Kernproblem des Kosovo ist derzeit seine mangelhafte Energieversorgung –und eine schnelle Lösung ist alles andere als in Sichtweite. Zwei veraltete Kraft-

20 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 21: perspektive21 - Heft 38

werke versorgen das ganze Land mit Strom. Stromausfall und enorme Spannungs-schwankungen sind deshalb an der Tagesordnung – keine gute Voraussetzung fürwirtschaftlichen Wiederaufbau. Dabei liegt der Reichtum des Landes unter derErde: Kosovo verfügt über enorme Braunkohlevorkommen, hinzu kommen etlicheweitere Bodenschätze wie Blei, Zink oder Kupfer. Der Kosovo hat also gute Chan-cen, eines Tages Energielieferant für die gesamte Region zu werden.

Deutschland bleibt gefordert

Doch bis dahin werden noch einige Jahre vergehen. Internationale Hilfe wird derKosovo noch sehr lange brauchen, zu prekär ist die wirtschaftliche Situation desLandes, zu schwach seine Institutionen. Ein wichtiger Stabilitätsanker ist dabei derEuro, der derzeit offizielles Zahlungsmittel des Kosovo ist. Kernpunkt wird es sein,dass der neue Staat Zukunftsperspektiven vor allem den jungen Menschen vermit-teln kann – von denen derzeit zwei Drittel arbeitslos sind.

Es gibt nur wenige Länder in Europa, wo Bill Clintons Satz „It’s the economy,stupid“ so überlebenswichtig wahr ist, wie im Kosovo. Nur zwei Flugstunden vonBerlin entfernt, versucht ein Entwicklungsland den Anschluss an Europa. Mit derAnerkennung der Unabhängigkeit hat Deutschland auch Verantwortung für denAufbau des Kosovo übernommen. Und der wird mehr und mehr davon abhängen,ob die Menschen dort Arbeit und Vertrauen in die Demokratie finden. Noch kön-nen wir nicht sicher sein, dass all dies gelingt. Deshalb wird auch Deutschland ge-fordert bleiben. n

T H O M A S K R A L I N S K I

ist Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion Brandenburg und Chefredakteur der Perspektive 21.

21perspektive21

thomas kralinski – it’s the economy, stupid

Page 22: perspektive21 - Heft 38

22 juli 2008 – heft 38

magazin

Page 23: perspektive21 - Heft 38

D er außenpolitischen Forderungdeutscher Gleichberechtigung,

die der Herr Reichskanzler erhoben hat,stimmen wir Sozialdemokraten umsonachdrücklicher zu, als wir sie bereitsvon jeher grundsätzlich verfochten ha-ben. (Sehr wahr! bei den Sozialdemo-kraten.)

Ich darf mir wohl in diesem Zusam-menhang die persönliche Bemerkunggestatten, dass ich als erster Deutschervor einem internationalen Forum, aufder Berner Konferenz am 3. Februar desJahres 1919, der Unwahrheit von derSchuld Deutschlands am Ausbruch desWeltkrieges entgegengetreten bin. (Sehrwahr! bei den Sozialdemokraten.)

Nie hat uns irgendein Grundsatzunserer Partei daran hindern könnenoder gehindert, die gerechten Forde-rungen der deutschen Nation gegenüberden anderen Völkern der Welt zu vertre-ten. (Bravo! bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Reichskanzler hat auchvorgestern in Potsdam einen Satz ge-sprochen, den wir unterschreiben. Erlautet: »Aus dem Aberwitz der Theorie

von ewigen Siegern und Besiegten kamder Wahnwitz der Reparationen und inder Folge die Katastrophe der Weltwirt-schaft.« Dieser Satz gilt für die Außen-politik; für die Innenpolitik gilt er nichtminder. (Sehr wahr! bei den Sozialdemo-kraten.)

Auch hier ist die Theorie von ewigenSiegern und Besiegten, wie der HerrReichskanzler sagte, ein Aberwitz. DasWort des Herrn Reichskanzlers erinnertuns aber auch an ein anderes, das am23. Juli 1919 in der Nationalversamm-lung gesprochen wurde. Da wurde ge-sagt: »Wir sind wehrlos, wehrlos ist abernicht ehrlos. (Lebhafte Zustimmung beiden Sozialdemokraten.) Gewiss, dieGegner wollen uns an die Ehre, daranist kein Zweifel. Aber dass dieser Ver-such der Ehrabschneidung einmal aufdie Urheber selbst zurückfallen wird, daes nicht unsere Ehre ist, die bei dieserWelttragödie zugrunde geht, das ist un-ser Glaube bis zum letzten Atemzug.«(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten –Zuruf von den Nationalsozialisten: Werhat das gesagt?) – Das steht in einer

23perspektive21

thema – das rote preußen

„Freiheit und Leben kann manuns nehmen, die Ehre nicht“REDE ZUR ABLEHNUNG DES

ERMÄCHTIGUNGSGESETZES AM 23. MÄRZ 1933 VOR DEM REICHSTAG

VON OTTO WELS

Page 24: perspektive21 - Heft 38

Erklärung, die eine sozialdemokratischgeführte Regierung damals im Namendes deutschen Volkes vor der ganzenWelt abgegeben hat, vier Stunden bevorder Waffenstillstand abgelaufen war,um den Weitervormarsch der Feinde zuverhindern. – Zu dem Ausspruch desHerrn Reichskanzlers bildet jene Erklä-rung eine wertvolle Ergänzung. Aus ei-nem Gewaltfrieden kommt kein Segen;(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)im Inneren erst recht nicht. (ErneuteZustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Eine wirkliche Volksgemeinschaftlässt sich auf ihn nicht gründen. Ihreerste Voraussetzung ist gleiches Recht.Mag sich die Regierung gegen roheAusschreitungen der Polemik schützen,mag sie Aufforderungen zu Gewalttatenund Gewalttaten selbst mit Strenge ver-hindern. Das mag geschehen, wenn esnach allen Seiten gleichmäßig und un-parteiisch geschieht, und wenn man esunterlässt, besiegte Gegner zu behan-deln, als seien sie vogelfrei. (Sehr wahr!bei den Sozialdemokraten.)

Freiheit und Leben kann man unsnehmen, die Ehre nicht. (LebhafterBeifall bei den Sozialdemokraten.)

Nach den Verfolgungen, die die So-zialdemokratische Partei in der letztenZeit erfahren hat, wird billigerweise nie-mand von ihr verlangen oder erwartenkönnen, dass sie für das hier eingebrach-te Ermächtigungsgesetz stimmt. DieWahlen vom 5. März haben den Regie-

rungsparteien die Mehrheit gebrachtund damit die Möglichkeit gegeben,streng nach Wortlaut und Sinn der Ver-fassung zu regieren. Wo diese Möglich-keit besteht, besteht auch die Pflicht.(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Kritik ist heilsam und notwendig.Noch niemals, seit es einen DeutschenReichstag gibt, ist die Kontrolle der öf-fentlichen Angelegenheiten durch diegewählten Vertreter des Volkes in sol-chem Maße ausgeschaltet worden, wiees jetzt geschieht, (Sehr wahr! bei denSozialdemokraten.) und wie es durch dasneue Ermächtigungsgesetz noch mehrgeschehen soll. Eine solche Allmachtder Regierung muss sich umso schwererauswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt. Meine Damen und Herren! Die Zustände, dieheute in Deutschland herrschen, wer-den vielfach in krassen Farben geschil-dert. Wie immer in solchen Fällen fehltes auch nicht an Übertreibungen. Wasmeine Partei betrifft, so erkläre ich hier:wir haben weder in Paris um Interven-tion gebeten, noch Millionen nach Pragverschoben, noch übertreibende Nach-richten ins Ausland gebracht. (Sehrwahr! bei den Sozialdemokraten.)

Solchen Übertreibungen entgegen-zutreten wäre leichter, wenn im Inlandeeine Berichterstattung möglich wäre,die Wahres vom Falschen scheidet.(Lebhafte Zustimmung bei den Sozial-demokraten.)

24 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 25: perspektive21 - Heft 38

Noch besser wäre es, wenn wir mitgutem Gewissen bezeugen könnten,dass die volle Rechtssicherheit für allewiederhergestellt sei. (Erneute lebhafteZustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Das, meine Herren, liegt bei Ihnen.Die Herren von der Nationalsozialisti-schen Partei nennen die von ihnen ent-fesselte Bewegung eine nationale Revo-lution, nicht eine nationalsozialistische.Das Verhältnis ihrer Revolution zumSozialismus beschränkt sich bisher aufden Versuch, die sozialdemokratischeBewegung zu vernichten, die seit mehrals zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankengutes gewesenist (Lachen bei den Nationalsozialisten.)und auch bleiben wird. Wollten dieHerren von der NationalsozialistischenPartei sozialistische Taten verrichten, siebrauchten kein Ermächtigungsgesetz.(Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)

Eine erdrückende Mehrheit wäreIhnen in diesem Hause gewiss. Jedervon Ihnen im Interesse der Arbeiter, derBauern, der Angestellten, der Beamtenoder des Mittelstandes gestellte Antragkönnte auf Annahme rechnen, wennnicht einstimmig, so doch mit gewalti-ger Majorität. (Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten. Lachen bei den Nationalsozialisten.)

Aber dennoch wollen Sie vorerstden Reichstag ausschalten, um IhreRevolution fortzusetzen. Zerstörungvon Bestehendem ist aber noch keine

Revolution. Das Volk erwartet positiveLeistungen. Es wartet auf durchgrei-fende Maßnahmen gegen das furcht-bare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern in aller Weltherrscht. Wir Sozialdemokraten habenin schwerster Zeit Mitverantwortunggetragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. (Sehr wahr! bei denSozialdemokraten. – Lachen bei den Na-tionalsozialisten.)

Unsere Leistungen für den Wieder-aufbau von Staat und Wirtschaft, fürdie Befreiung der besetzten Gebietewerden vor der Geschichte bestehen.(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Wir haben gleiches Recht für alleund ein soziales Arbeitsrecht geschaffen.Wir haben geholfen, ein Deutschlandzu schaffen, in dem nicht nur Fürstenund Baronen, sondern auch Männernaus der Arbeiterklasse der Weg zur Füh-rung des Staates offensteht. (ErneuteZustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Davon können Sie nicht zurück, ohne Ihren eignen Führer preiszugeben.(Beifall und Händeklatschen bei den So-zialdemokraten.)

Vergeblich wird der Versuch bleiben,das Rad der Geschichte zurückzudre-hen. Wir Sozialdemokraten wissen, dassman machtpolitische Tatsachen durchbloße Rechtsverwahrungen nicht besei-tigen kann. Wir sehen die machtpoliti-sche Tatsache Ihrer augenblicklichenHerrschaft. Aber auch das Rechtsbe-

25perspektive21

otto wels – „freiheit und leben kann man uns nehmen, die ehre nicht“

Page 26: perspektive21 - Heft 38

wusstsein des Volkes ist eine politischeMacht, und wir werden nicht aufhören,an dieses Rechtsbewusstsein zu appellie-ren. Die Verfassung von Weimar ist kei-ne sozialistische Verfassung. Aber wirstehen zu den Grundsätzen des Rechts-staates, der Gleichberechtigung, des so-zialen Rechtes, die in ihr festgelegt sind.Wir deutschen Sozialdemokraten be-kennen uns in dieser geschichtlichenStunde feierlich zu den Grundsätzender Menschlichkeit und der Gerech-tigkeit, der Freiheit und des Sozialis-mus. (Lebhafte Zustimmung bei denSozialdemokraten.)

Kein Ermächtigungsgesetz gibtIhnen die Macht, Ideen, die ewig und

unzerstörbar sind, zu vernichten. Sieselbst haben sich ja zum Sozialismus be-kannt. Das Sozialistengesetz hat dieSozialdemokratie nicht vernichtet.Auch aus neuen Verfolgungen kann diedeutsche Sozialdemokratie neue Kraftschöpfen. Wir grüßen die Verfolgtenund Bedrängten. Wir grüßen unsereFreunde im Reich. Ihre Standhaftigkeitund Treue verdienen Bewunderung. IhrBekennermut, ihre ungebrochene Zu-versicht – (Lachen bei den Nationalso-zialisten – Bravo! bei den Sozialdemokra-ten.) verbürgen eine hellere Zukunft.(Wiederholter lebhafter Beifall bei denSozialdemokraten – Lachen bei den Na-tionalsozialisten.) n

26 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

O T T O W E L S

geboren 1873 in Berlin, gestorben 1939 in Paris, war 1907-1918 Parteisekretär in Brandenburg,

von 1919 bis 1939 Vorsitzender der SPD sowie bis 1933 SPD-Fraktionsvorsitzender im Reichstag.

In dieser letzten freien Rede vor dem Reichstag verteidigte der Fraktionsvorsitzende der SPD Otto Wels am 23. März 1933 mutig die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzesdurch die SPD. Einzig die verbliebenen 94 Sozialdemokraten stimmten im Reichstag gegen das Gesetz, etliche Abgeordnete waren zu diesem Zeitpunkt bereits verhaftet und inKonzentrationslager gebracht worden.

Page 27: perspektive21 - Heft 38

E rinnern, so hat Gotthold EphraimLessing einmal geschrieben, heißt

nicht, das Gedächtnis zu belasten, son-dern den Verstand zu erleuchten. Dennwer vor der Vergangenheit die Augenverschließt, wird blind für die Gegen-wart.

In den ersten sechs Monaten desJahres 1933 wurden Entscheidungengetroffen, ohne die das, was dann folgteund schließlich in der schlimmstenKatastrophe unserer Geschichte endete,kaum möglich geworden wäre. Die Er-eignisse dieser Zeit gingen bereits miteiner brutalen Verfolgung der politi-schen Gegner des Nationalsozialismuseinher. Zuerst vor allem von Kommu-nisten und Sozialdemokraten. Baldauch von Angehörigen anderer Parteienund Verbände. Bis zum Sommer 1933wurden mehr als 100.000 Männer undFrauen für kürzere oder längere Zeitverhaftet. Fast 27.000 befanden sichEnde Juli 1933 in der so genannten„Schutzhaft“. Viele dieser Verfolgtenwurden bereits damals gequält und ge-foltert. Und mehrere Hundert schonbis Ende März 1933 in barbarischerWeise ermordet. Vor allem die Kon-zentrationslager, von denen das erste

am 21. März 1933 in Dachau einge-richtet wurde, waren von Anfang anrechtsfreie Räume.

Die Republik wird zu Grabe getrag..

Wenden wir uns der Reichstagssitzungvom 23. März 1933 zu. An diesem Ta-ge wurden die Demokratie und mit ihrdie Republik von Weimar endgültig zuGrabe getragen. Diese Sitzung fand inder im Zweiten Weltkrieg schwer be-schädigten und 1951 abgerissenenKroll-Oper statt. In dieser Sitzung, vonder die kommunistischen Abgeordne-ten bereits ausgeschlossen waren, wur-de in drei Lesungen das sogenannteErmächtigungsgesetz verabschiedet, dasdie Gesetzgebung de facto vom Parla-ment auf die Reichsregierung übertrugund ihr die Befugnis zuerkannte, dabeiauch von der Verfassung abzuweichen.Die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit wurde erreicht, weil nichtnur die Nationalsozialisten und diedeutsch-nationalen Abgeordneten, son-dern auch die Abgeordneten des Zen-trums, der Bayerischen Volkspartei, desChristlichen Volksdienstes und derStaatspartei dem Gesetz zustimmten.

27perspektive21

Wehret den AnfängenÜBER DIE URSACHEN UND LEHREN DER EREIGNISSE VON 1933

VON HANS-JOCHEN VOGEL

Die Republik wird zu Grabe getragen

Page 28: perspektive21 - Heft 38

Nur die 94 anwesenden Mitgliederder sozialdemokratischen Fraktion –Julius Leber, der festgenommen wurde,als er die Kroll-Oper betreten wollte,und weitere 25 von den insgesamt 120sozialdemokratischen Abgeordneten wa-ren bereits in Haft oder hatten untertau-chen oder fliehen müssen – votierten innamentlicher Abstimmung dagegen. Sietaten das in einer Atmosphäre, die einausländischer Beobachter so beschrieb:„Für eine Sekunde verbreitete sich To-desschweigen im Hause, während vondraußen die drohenden Sprechchöre derSA hereindrangen. Weiß bis in die Lip-pen, den Mund zusammengepresst, mitharten Zügen, in sichtbarem Bewusst-sein der Schwere, des Ernstes und derGefahr des Augenblicks, bestieg OttoWels langsam die Rednertribüne. DenKopf leicht gesenkt, aber die stämmigeGestalt gestrafft, die Schultern hochge-zogen, als ob er in ein Gewehrfeuer hi-neinschritte.“

Eine Rede für die Geschichte

Die Rede, die Wels dann hielt, ist in dieGeschichte eingegangen. In dieser Redesagte er unter anderem: „Freiheit undLeben kann man uns nehmen, die Ehrenicht.“ Und direkt an Hitler gewandt:„Wir deutschen Sozialdemokraten be-kennen uns in dieser geschichtlichenStunde feierlich zu den Grundsätzen derMenschlichkeit und der Gerechtigkeit,der Freiheit und des Sozialismus. Kein

Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen dieMacht, Ideen, die ewig und unzerstörbarsind, zu vernichten.“

In der vorausgegangenen Fraktions-sitzung waren es übrigens vor allem dieFrauen, die einem Vorschlag widerspra-chen, man solle es bei einer schriftlichenErklärung bewenden lassen und an derPlenarsitzung überhaupt nicht mehrteilnehmen. „Ich sage Euch, ich gehe,und wenn sie mich drüben in Stückereißen“, rief Louise Schröder, die 1947und 1948 anstelle von Ernst Reuter als– so hieß es damals noch – Oberbürger-meisterin von Berlin amtierte, weil diesowjetische Besatzungsmacht ihm dieBestätigung verweigert hatte. Neunzehnvon denen, die damals der SPD-Reichs-tagsfraktion angehörten, haben das NS-Gewaltregime nicht überlebt. Mindes-tens elf wurden ermordet. Alle anderenwaren kürzere oder längere Zeit in Haftoder mussten emigrieren.

Es ist hier nicht der Ort, über dieGründe zu rechten, aus denen nicht nur die Nationalsozialisten und dieDeutsch-Nationalen, sondern auch dieAbgeordneten der anderen Parteiendem Gesetz zustimmten. Nach demheutigen Stand der zeitgeschichtlichenForschung haben dabei Zusagen Hitlersgegenüber der katholischen Kirche undden Repräsentanten der Zentrums-partei, aber auch die Furcht vor einerWelle blutiger Gewalt und die Sorgeum die eigene Sicherheit im Falle derAblehnung eine Rolle gespielt.

28 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 29: perspektive21 - Heft 38

Nicht wenige von denen, die am23. März 1933 mit Ja stimmten, wer-den das später so empfunden haben wie Theodor Heuss, der sich damals als Abgeordneter der Staatspartei unterÜberwindung schwerer Bedenken dazuentschloss. Der schrieb in seinen Erin-nerungen: „Jeder von uns, der als Pu-blizist oder als Politiker zu Entschei-dungen gezwungen war, die er späterbedauerte, hat Dummheiten gemacht.Und dieser Begriff ist zu schwach fürdie Zustimmung zu diesem Gesetz.Und auch das Wort ‚später‘ trifft nichtdie innere Lage; denn ich wusste schondamals, dass ich dieses Ja ‚nie mehr ausmeiner Lebensgeschichte auslöschenkönne‘.“

Wie es dazu kam

Eines aber steht heute wohl fest: Der Sozialdemokrat Otto Wels hat damals –so umschreibt es der Historiker Hein-rich August Winkler – nicht nur dieEhre der Sozialdemokratie, „sondern derdeutschen Demokratie überhaupt“ geret-tet. Die entscheidenden Sätze seiner Redegehören deshalb in alle Geschichtsbü-cher.

Insgesamt war mit dem Ermächti-gungsgesetz und der Ausschaltung derParteien der Übergang zur Diktaturvollendet und allem, was dann folgte,der Boden bereitet.

Wie war das in nicht ganz sechs Mo-naten möglich? Wie konnte das gesche-

hen im Lande Goethes und Schillers, ei-nes Kant und eines Lessing? Aber aucheines August Bebel, eines Ludwig Wind-horst und eines Friedrich Naumann? Ineinem Volk, das sich mit Recht seinergroßen geistigen, wissenschaftlichen undkulturellen Leistungen rühmte? Und das1933 zu 95 Prozent einer christlichenKonfession angehörte?

Einigen genügt als Antwort der Hin-weis auf den Versailler Vertrag, auf diedamalige Weltwirtschaftskrise und dieMassenarbeitslosigkeit oder auf dieAngst vor dem Kommunismus. Jedesdieser Probleme hat sicherlich für denAufstieg Hitlers eine Rolle gespielt.Und wir dürfen uns nicht darüber täu-schen, dass ihm damals mehr und mehrDeutsche zujubelten, ja ihn sogar für ei-nen Retter hielten. Aber warum schwie-gen seinerzeit, als sich die Zerstörungder Demokratie vollzog und alle Orga-nisationen und die meisten Institutio-nen gleichgeschaltet wurden, so viele,die eigentlich hätten reden müssen?Warum gab es auch in den Kirchen nureinige, die klar widersprachen? Warumunterstützten die konservativen Elitenin Industrie, Reichswehr, Staatsbüro-kratie und Wissenschaft und die ost-elbischen Großgrundbesitzer Hitler sozielstrebig bei der Demontage der De-mokratie? Und warum begrüßten undrechtfertigten nicht wenige Staatsrechts-lehrer, von denen ich nur Carl Schmittnenne, das Ermächtigungsgesetz aus-drücklich?

29perspektive21

hans-jochen vogel – wehret den anfängen

Page 30: perspektive21 - Heft 38

Da genügen die von mir bereits ge-nannten Umstände als Antwort nicht.Da müssen wir weiter zurückgreifen: n Etwa auf den jahrhundertealten

christlichen Antijudaismus. Ihmfolgte im späten 19. Jahrhundert derradikale Rassenantisemitismus, deran die teils latente, teils offene reli-giös motivierte Judenfeindschaft an-knüpfen konnte. Er wurde bereits im Kaiserreich politisch und gesell-schaftlich wirksam, als Begriffe wie„Reinheit des Blutes“ pseudowissen-schaftlich begründet wurden undman die Verben „ausmerzen“ und„ausrotten“ mit Blick auf die jüdi-sche Minderheit schon ganz selbst-verständlich verwendete.

n Oder auf die vor allem im Lager derdeutschen Rechten weit verbreiteteAblehnung der Demokratie und derRepublik von Weimar. Eine Ableh-nung, die bald in offene Feindse-ligkeit überging und sich gegenüberder Republik auch in den bezeich-nenden Schmähungen als „Republikder Novemberverbrecher“ und als„Judenrepublik“ äußerte. Nicht zuvergessen die sogenannte Dolch-stoßlegende; also die von der soge-nannten nationalen Rechten undinsbesondere auch von Hindenburgund Ludendorff propagierte Un-wahrheit, Deutschland sei im ErstenWeltkrieg im Felde unbesiegt geblie-ben und habe ihn nur verloren, weilaus der Heimat der Front vor allem

von den Demokraten und Republi-kanern der Dolch in den Rücken ge-stoßen worden sei. Hierher gehörtauch die justizielle Willkür, mit derschon in der Weimarer Republik deren rechtsextremistische Feinde geschont und ermutigt und die Ver-teidiger der Republik bloßgestelltund gedemütigt wurden.

n Weiter auf die Spaltung der Arbeiter-bewegung und die intransigente unddemokratiefeindliche Haltung derKommunisten, die auf Stalins Ge-heiß Anfang der dreißiger Jahre nichtden Nationalsozialismus, sonderndie Sozialdemokratie als Haupt-feind bekämpften. Eine Haltung, fürdie die deutschen Kommunisten da-nach zwischen 1933 und 1945 imWiderstand, aber auch – soweit siein die Sowjetunion geflüchtet wa-ren – als Opfer der Stalin’schenSäuberungen einen hohen Blutzollentrichteten. Außerdem ist die ob-rigkeitsstaatliche Tradition aus derZeit des Kaiserreichs zu nennen,der der Gehorsam als eine absoluteTugend und Zivilcourage eher alsetwas Undeutsches erschien.

Das Bürgertum entpolitisiert sich

Ernst Reuter hat wesentliche Teile dieserAspekte 1947 in einem Brief an seinenBruder so beschrieben: „Die Entpoliti-sierung des früher durchaus freiheitlichgesinnten Bürgertums, Bismarcks ver-

30 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 31: perspektive21 - Heft 38

hängnisvolles Erbe, die Absonderung derUniversitäten, die Institution des Reser-veoffiziers, die Kastenmethode innerhalbder Beamtenschaft, die Hinwendung desBürgertums zum reinen Geldverdienenund der Intellektuellen zu unpolitischerLoslösung vom wirklichen Leben: Austausend Kanälen wurde diese katastro-phale Grundhaltung der deutschen Mit-telschichten gespeist, die sie unpoliti-schen, rein emotionellen Erregungengegenüber so anfällig machte und dieden Sieg des Faschismus durch die voll-ständige Aufsaugung so gut wie aller bür-gerlicher Wählermassen ermöglichte.“

An Warnungen fehlte es nicht

Das sind harte Worte. Ein anderer,nämlich Konrad Adenauer, hat – je-denfalls kurz nach Kriegsende – nochhärter geurteilt. Er schrieb im Februar1946 an einen katholischen Geistlichenin Bonn unter anderem: „Nach meinerMeinung trägt das deutsche Volk undtragen auch die Bischöfe und der Kle-rus eine große Schuld an den Vorgän-gen in den Konzentrationslagern.Richtig ist, dass nachher vielleicht nichtviel mehr zu machen war. Die Schuldliegt früher. Das deutsche Volk, auchBischöfe und Klerus zum großen Teil,sind auf die nationalsozialistische Agi-tation eingegangen. Es hat sich fast wi-derstandslos, ja zum Teil mit Begeiste-rung ... gleichschalten lassen. Darinliegt seine Schuld.“

So weit Ernst Reuter und KonradAdenauer. Auch wer ihren Feststellun-gen nicht in allen Punkten zustimmenwill, wird sich mit dem, was diese beidenZeitzeugen gesagt haben, auseinander-setzen müssen. Denn sie waren Zeugenbesonderer Art. Und ihre Urteilsfähig-keit wird wohl schon deshalb niemandernsthaft in Zweifel ziehen.

Manche werden einwenden, die spä-teren Verbrechen habe man 1933 nochnicht voraussehen können. Dennoch:An Warnungen und Mahnungen hat eswahrlich nicht gefehlt. Viele Sozialde-mokraten, aber auch manche Liberaleund Sprecher des Zentrums habenschon vor 1933 nachdrücklich gewarntund darauf hingewiesen, dass HitlerDiktatur, Willkürherrschaft und Kriegbedeute. Zu nennen sind da vor allemdie Sozialdemokraten Wilhelm Hoegnerund Kurt Schumacher. Dann die Zen-trumsabgeordneten Bernhard Letter-haus und Josef Joos, der Abgeordneteder Bayerischen Volkspartei JohannLeicht und für die Liberalen TheodorHeuss.

Sie und andere beschrieben in allerKlarheit die Ziele und Methoden derNationalsozialisten. Als Beispiel zitiereich zwei Sätze, die Kurt Schumacherden nationalsozialistischen Abgeord-neten im Februar 1932 im Reichstagentgegen schleuderte. Nämlich: „Dieganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den innerenSchweinehund im Menschen.“ Und:

31perspektive21

hans-jochen vogel – wehret den anfängen

Page 32: perspektive21 - Heft 38

„Das deutsche Volk wird Jahrzehntebrauchen, um wieder moralisch und in-tellektuell von den Wunden zu gesun-den, die diese Art Agitation geschlagenhat.“

Entscheidend war aber, dass 1933die Demokratie in der Mehrheit unseresVolkes nicht, jedenfalls nicht mehr aus-reichend verwurzelt war. Dass sich die-jenigen, die – wie beispielsweise dasReichsbanner und die Eiserne Front –bereit waren, sie zu verteidigen, in derMinderheit befanden. Und dass sieauch von vielen preisgegeben wurde, dieglaubten, für die Verwirklichung derWerte, an denen sie durchaus festhaltenwollten, bedürfe es keiner demokrati-schen Strukturen.

Was wir lernen können

Natürlich lehrt uns die Erinnerung andie seinerzeitige Massenarbeitslosigkeit,wie wichtig es ist, dass das Gemeinwe-sen den Menschen eine hinreichendewirtschaftliche und soziale Sicherheitgewährleistet. Und dass der Protest ge-gen verzweifelte Lebensverhältnisse, dieals ungerecht, ja als dauerhafte Ausgren-zung wahrgenommen werden, radika-len Positionen Zulauf verschafft. Eben-so ersehen wir, wie wichtig auch derFortgang der europäischen Verständi-gung und Einigung ist, deren seinerzei-tige erste Ansätze – in einem sozialde-mokratischen Programm war von denVereinigten Staaten von Europa die

Rede und Gustav Stresemann bemühtesich, nicht ohne gewisse Erfolge, um ei-ne deutsch-französische Verständigung– bald von den aufgepeitschten Welleneines blinden Nationalismus hinweg ge-spült wurden.

Demokratie braucht aktive Bürger

Die wichtigste Lehre sehe ich aber inder Erkenntnis, dass eine Demokratieauf Dauer nur Bestand haben kann,wenn sie von den Menschen getragenwird; wenn diese sich als Bürgerinnenund Bürger verstehen, die selber für dieBewahrung der demokratischen Grund-regeln mit verantwortlich sind. DieseNotwendigkeit immer auf’s Neue insBewusstsein zu rufen und durch das eigene Beispiel zu bezeugen, ist die ge-meinsame Aufgabe aller, die in unsererGesellschaft besondere Verantwortungtragen. Und das nicht nur in der Poli-tik, sondern auch in der Wirtschaft undim Bereich der Medien; um nur einigeBereiche zu nennen. Die sinkendenWahlbeteiligungen, die nicht nur gele-gentlich zu verspürende Politikver-drossenheit und die zunehmendeEmpörung über das bedrückendeFehlverhalten von Managern solltenuns daran gemahnen – nein: Nicht nurgemahnen, sondern aufrütteln. Dennhier droht ein nachhaltiger Vertrauens-verlust. Ohne ein bestimmtes Maß anGrundvertrauen kann aber eine Demo-kratie ihre Aufgaben nicht erfüllen.

32 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 33: perspektive21 - Heft 38

Eine andere Lehre besteht für michdarin, dass die Demokratie des Einver-nehmens über ein klares Menschenbildund über die sich daraus ergebendeWertordnung bedarf. Beides findet sichin unserem Grundgesetz, das eben nichtnur eine Ansammlung von Organisa-tions- und Verfahrensregeln darstellt.Schon die ersten Absätze seines erstenArtikels lauten ja ausdrücklich: „DieWürde des Menschen ist unantastbar.Sie zu achten und zu schützen ist Ver-pflichtung aller staatlichen Gewalt. Dasdeutsche Volk bekennt sich darum zuunverletzlichen und unveräußerlichenMenschenrechten als Grundlage jedermenschlichen Gemeinschaft, des Frie-dens und der Gerechtigkeit in derWelt.“

„Nicht noch einmal!“

Das war die Antwort der Mütter undVäter des Grundgesetzes auf die men-schenverachtende Ideologie des NS-Gewaltregimes, das nicht müde wurde,den Menschen einzutrichtern: „Du bistnichts, Dein Volk ist alles!“ Und dasuns Junge damals singen ließ: „Wir wer-den weiter marschieren, wenn alles inScherben fällt. Denn heute gehört unsDeutschland und morgen die ganzeWelt.“

Wir alle sind aufgerufen, die Wert-ordnung des Grundgesetzes zu wahrenund sie immer wieder mit Leben zu er-füllen. Denn sie lebt nach dem bekann-

ten Ausspruch von Wolfgang Böcken-förde von Voraussetzungen, die derStaat allein nicht schaffen kann. Siewird vor allem von dem Gedankengutgespeist, aus dem der einzelne für sichdie absolute Verbindlichkeit der Men-schenwürde und der Menschenrechteherleitet. Also insbesondere aus denPrinzipien des Christentums, der Auf-klärung und des Humanismus, derenwir uns stets aufs Neue bewusst werdenmüssen.

Unsere jüngere Geschichte ist durchtiefe gesellschaftliche Umbrüche, durchdramatische politische Zäsuren unddurch sehr unterschiedliche Genera-tionserfahrungen geprägt. Es gibt indiesem Land kein ungebrochenes histo-risches Selbstverständnis. Aber es gab eine Fülle von weitreichenden Erschüt-terungen, an die man immer wieder er-innern muss.

Wenn wir uns an die schrecklichstePhase unserer Geschichte erinnern, tundas nicht, um Schuldkomplexe als einenationale Last zu konservieren. Schuldist eine individuelle Kategorie. Wir er-innern uns auch nicht, um an einemGedenktag Betroffenheitsrituale zupflegen. Nein! Die Erinnerung sollNachgeborenen vor Augen führen, woes endet, wenn die Menschenwürde mitFüßen getreten, Grundprinzipien mit-menschlichen Zusammenlebens miss-achtet und einem sogenannten Führerin gotteslästerlicher Weise Allwissenheitund Allmacht zugebilligt werden.

33perspektive21

hans-jochen vogel – wehret den anfängen

Page 34: perspektive21 - Heft 38

Eine weitere Mahnung aus jener Zeitvor 75 Jahren lautet: „Wehret den An-fängen!“ Und dieses Gebot ist durchausaktuell. Nicht, dass unsere Demokratieheute in ähnlicher Weise in Gefahr wä-re wie damals. Davon kann keine Redesein. Und wir brauchen uns auch trotzmancher Fehler, manchen Versagensund mancher Versäumnisse der bisheri-gen Geschichte unserer Bundesrepubliknicht zu schämen. Es wäre sogar gut,wenn wir uns gelegentlich über einzelneGlanzpunkte dieser Geschichte aucheinmal freuen würden. Etwa über dasunblutige Zustandekommen der deut-schen Einheit. Oder darüber, dass wirim Gebiet der heutigen EuropäischenUnion seit über 60 Jahren in Frieden le-ben. Das würde zugleich die Zuversichtstärken, dass wir auch die neuen He-rausforderungen bewältigen können.

Aber eine Wiederbelebung national-sozialistischer Anschauungen und Pa-rolen gibt es durchaus. Und auf dieserGrundlage antisemitische und auslän-derfeindliche Kundgebungen und Ge-walttaten. Es gibt sogar Parteien, die ineinzelnen Landesparlamenten in schwererträglicher Weise auftreten und an dieFrühzeit der NSDAP erinnern. Ihnengilt es zu begegnen. Nicht nur der Staat,

sondern wiederum jeder einzelne isthier in der Pflicht. Wer wegsieht odernur die Achseln zuckt, schwächt dieDemokratie. Wer widerspricht und sicheinbringt, stärkt sie.

Denn: Was vor 75 Jahren versäumtwurde, darf sich nicht wiederholen.„Nie wieder! Nicht noch einmal!“ Dassollte die entscheidende Losung sein.Ich sage das als einer, der selbst noch alsKind und dann als Jugendlicher erlebthat, was es heißt, unter einem Regimeaufzuwachsen, das alles und alle seinemBefehl unterwarf und keine Verant-wortung vor Gott und den Menschenkannte. Das sind wir aber auch denenschuldig, die damals im Widerstand ihrLeben einsetzten und den Millionen,die hingemordet wurden. Lassen Sieuns ihrer gerade in dieser Stunde geden-ken und damit das Versprechen verbin-den, dass wir ihres Vermächtnisses stetseingedenk bleiben und uns an ihm ori-entieren wollen. Und das nicht nur beifestlichen Gelegenheiten, sondern bis inunsere tägliche Arbeit hinein! n

Dieser Beitrag basiert auf einer Rede,die Hans-Jochen Vogel auf einer Gedenk-veranstaltung des Deutschen Bundestagesam 10. April 2008 gehalten hat.

34 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

D R. H A N S-J O C H E N V O G E L

ist ehemaliger Vorsitzender der SPD.

Page 35: perspektive21 - Heft 38

Die preußische Demokratie1919-1932

1918 Abdankung Wilhelms II. als deutscher Kaiser und preußischer König im Zugeder Novemberrevolution

1919 Aufgrund des Versailler Vertrages verliert Preußen etliche Gebiete, wie Elsass-Lothringen, Nordschleswig, Ost-Oberschlesien, Danzig, das Saargebiet. Preußen hat ca.40 Millionen Einwohner (von insgesamt ca. 60 Millionen im Reich).

1919 Das Drei-Klassen-Wahlrecht wird abgeschafft. Die verfassungsgebende preu-ßische Landesversammlung wird gewählt. Die SPD wird mit 26 % stärkste Kraft und bildet mit der Zentrums-Partei und DDP (Deutsche Demokratische Partei) die Landes-regierung. Erster Ministerpräsident wird Paul Hirsch (SPD).

1919 Die Weimarer Reichsverfassung wird verabschiedet und etabliert damit erst-mals erfolgreich die Demokratie in Deutschland. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebertwird erster Reichspräsident. Bereits ein Jahr später verliert die so genannte WeimarerKoalition aus SPD, Zentrum und DDP ihre Mehrheit. Bis 1933 amtieren 14 Reichs-kanzler.

1920 Nach dem niedergeschlagenen Kapp-Putsch wird Otto Braun (SPD) Minister-präsident in Preußen. Abgesehen von einigen mehrmonatigen Unterbrechungen 1921und 1925 bleibt er bis 1932 im Amt. Carl Severing wird preußischer Innenminister.

1921 Verabschiedung der preußischen demokratischen Verfassung. Preußen wirdzum Freistaat innerhalb der Weimarer Republik. In der Verfassung sind das konstrukti-ve Misstrauensvotum und eine Richtlinienkompetenz für den Ministerpräsidenten ver-ankert, die die Stabilität der Regierung sichern und zum Vorbild für das Grundgesetzwurden.

1921 Die SPD wird bei den Landtagswahlen mit 26 % stärkste Kraft, die Regierungwird um die DVP (Deutsche Volkspartei) erweitert.

1923 Mit der Einführung der Rentenmark endet die Hyperinflation. Die neueWährung markiert den Beginn der Goldenen Zwanziger Jahre, mit der ein wirtschaftli-

35perspektive21

Page 36: perspektive21 - Heft 38

cher Aufschwung, Deutschlands Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaftund die Stabilisierung der Demokratie einhergeht.

1924 Die SPD gewinnt die Landtagswahlen mit 25 %, die KPD erhält 10 %. DieDVP scheidet aus der Koalition aus.

1925 Nach Eberts Tod wird Paul von Hindenburg neuer Reichspräsident. Er wird1932 wiedergewählt.

1926 Severing tritt zurück. Albert Grzesinski, bis dahin Berlins Polizeipräsident,wird neuer Innenminister.

1928 Bei den Landtagswahlen wird die SPD stärkste Kraft mit 29 %, die NSDAP erhält 2 %. Die Koalition von SPD, Zentrum und DDP wird fortgesetzt.

1928 Severing wird in der Reichsregierung der Großen Koalition unter Reichskanz-ler Müller (SPD) Innenminister.

1929 Beginn der Weltwirtschaftskrise, in deren Gefolge die Arbeitslosigkeit raschzunahm. Die NSDAP wird bei den Reichstagswahlen 1930 mit 18 % zur zweitstärkstenKraft nach der SPD.

1930 Nach dem Bruch der Reichsregierung unter Hermann Müller wird CarlSevering wieder preußischer Innenminister, Grzesinski kehrt ins Amt des BerlinerPolizeipräsidenten zurück.

1932 Bei den Landtagswahlen im April verliert die Koalition aus SPD, Zentrumund DDP ihre Mehrheit. Die NSDAP wird stärkste Kraft mit 36 %, die SPD erhält 21 %, die KPD 12 %. Die Regierung Braun bleibt geschäftsführend im Amt. DieArbeitslosigkeit steigt auf 3,5 Millionen Menschen.

1932 Mit dem „Preußenschlag“ im Juli wird die preußische Landesregierung durchReichskanzler von Papen abgesetzt. Von Papen wird als Reichskommissar Regierungs-chef, Hermann Göring Innenminister. Die Regierung verzichtet auf Generalstreik oderden Einsatz der preußischen Schutzpolizei und reicht Klage beim Reichsgericht ein.

1933 Am 30. Januar wird Hitler Reichskanzler. Das Reichsgericht bestätigt die Ent-machtung der preußischen Landesregierung, der wichtigsten demokratischen Regierungin der Weimarer Republik. Braun und Grzesinski flüchten ins Exil.

36 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 37: perspektive21 - Heft 38

Vor 75 Jahren durchlebte Deutsch-land einen besonders niederschmet-

ternden Abschnitt seiner Geschichte:das Scheitern der ersten deutschenDemokratie im Angesicht ihrer erbit-terten nationalsozialistischen Feinde, anden Beginn der totalitären Diktatur inDeutschland. Zur Verabschiedung desErmächtigungsgesetzes hielt Otto Welsam 23. März 1933 eine tapfere Rede,während die sozialdemokratischeReichstagsfraktion mutig mit „Nein“stimmte, als alle anderen Parteien zu-stimmten, schwiegen oder bereits zumSchweigen gebracht waren. Die Ereig-nisse des 23. März 1933 waren einer-seits eine späte, abschließende Episodein der Niedergangsgeschichte der Wei-marer Republik, die sich bereits seitMonaten im Übergang in die Diktaturbefand.

Die Annahme des Ermächtigungs-gesetzes durch den am 5. März – bereitsunter irregulären Bedingungen – neugewählten Reichstag, bedeutete den

formalen Schritt zur Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Von der „pseudoparlamentarischen Legi-timierung der Diktatur“ hat derHistoriker Karl-Dietrich Bracher ge-sprochen. Während Hitlers Schergen in den Straßen der deutschen Städteunkontrolliert und gesetzlos wüteten,war es dem neuen Reichskanzler pa-radoxerweise dennoch wichtig, denäußeren Anschein der Legalität zu be-wahren.

Mit herausragendem Mut

In diesem historischen Moment bewie-sen die sozialdemokratischen Mitgliederdes Reichstages herausragenden Mut.120 Sozialdemokraten waren am 5.März in den Reichstag gewählt worden.Als der Reichstag am 23. März zusam-menkam, saßen die ersten von ihnenbereits hinter Gittern. Andere befandensich auf der Flucht, weil auch ihnen dieVerhaftung drohte. Wilhelm Sollmann,

51perspektive21

Sozialdemokraten inVerantwortung INSTITUTIONEN, VERFAHREN UND PRINZIPIENFESTIGKEIT

MACHTEN PREUSSEN ZUM BOLLWERK DER DEMOKRATIE

VON MATTHIAS PLATZECK

Page 38: perspektive21 - Heft 38

ein früherer Reichsminister der SPD,lag schwer misshandelt im Kranken-haus. Die sozialdemokratischen Abge-ordneten Julius Leber und Carl Seve-ring wurden am 23. März auf dem Wegins Plenum verhaftet.

So konnten nur 94 der 120 sozialde-mokratischen Abgeordneten an der na-mentlichen Abstimmung über das Er-mächtigungsgesetz teilnehmen. Sie tatenes unter höchstem Druck, physisch undpsychisch bedroht von bewaffneter SAund SS. Aber jeder und jede einzelne vonihnen stimmte mit „Nein“. Dieses coura-gierte „Nein“ der sozialdemokratischenReichstagsfraktion zu Diktatur und Un-menschlichkeit war – und bleibt – eineder leuchtenden Sternstunde in der oft-mals dunklen Geschichte Deutschlandsim 20. Jahrhundert.

Ideen sind ewig

Dasselbe gilt für Otto Wels’ furchtloses„Ja“ zur demokratischen Verfassung vonWeimar, für sein „Ja“ zu den Grund-sätzen des Rechtstaates, der Gleich-berechtigung, des sozialen Rechts; fürsein „Ja“ zu den Grundsätzen derMenschlichkeit und der Gerechtigkeit,der Freiheit und des demokratischenSozialismus. „Kein Ermächtigungsgesetzgibt Ihnen die Macht, Ideen, die unzer-störbar sind, zu vernichten“. Diesen Satzhielt Otto Wels den auftrumpfend fei-xenden Abgeordneten der NSDAP ent-gegen. Dieser Satz, ausgesprochen voller

Stolz und Klarheit, war richtig und zu-treffend. Denn es stimmt: Die Ideen derFreiheit und des Rechts lassen sich – alsIdeen – tatsächlich nicht vernichten,nicht zerstören, nicht beseitigen und einfür alle Mal aus der Welt schaffen. Ideensind ewig.

Freiheit braucht Bedingungen

Aber: Vernichtet und zerstört werdenkann die Möglichkeit, diesen Ideen praktische Geltung zu verschaffen. Ver-nichtet werden können die Bedingun-gen, unter denen sich die Ideen derFreiheit und des Rechts in der Wirk-lichkeit durchsetzen und handfest ver-teidigen lassen. In genau dieser verzwei-felten Lage befanden sich Otto Welsund die sozialdemokratische Reichs-tagsfraktion am 23. März 1933.

„Freiheit und Ehre kann man unsnehmen, die Ehre nicht“, rief Wels.Auch das klang stolz und kämpferisch.Aber es waren Worte, die in einer politi-schen Situation gesprochen wurden, diebereits völlig aussichtslos geworden war– aussichtslos nicht nur für die Weima-rer Sozialdemokratie, sondern für dieFreiheit, für die Demokratie und für dasRecht in Deutschland überhaupt. Denndie Verabschiedung des Ermächtigungs-gesetzes war ein später Bestandteil jenesStrudels von Ereignissen, der die ersteDemokratie in Deutschland spätestensab 1929/1930 erfasst hatte und immertiefer in den Abgrund riss.

52 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 39: perspektive21 - Heft 38

Die Krisenfaktoren waren vielfältig,und sie verstärkten sich gegenseitig: n die einsetzende Weltwirtschafts-

krise und die dramatisch steigendeArbeitslosigkeit;

n das Scheitern der sozialdemokratischgeführten Reichsregierung Müller1930;

n die dramatischen Wahlerfolge derNSDAP seit der Reichstagswahl vom September 1930;

n die krisenverschärfenden Maßnah-men der Reichsregierung Brüning;

n die Politik per Notverordnung desReichspräsidenten Hindenburg;

n das wechselseitige Aufschaukeln derpolitischen Extreme auf der Linkenund der Rechten, die es gleicher-maßen auf die Zerstörung der Repu-blik anlegten;

n das Zusammenschrumpfen der liberal-bürgerlichen Parteien und die um sichgreifende „Panik im Mittelstand“;

n die Zunahme politischer Gewalt undder Verfall des staatlichen Machtmo-nopols;

n schließlich die Intrigen der Konser-vativen um von Papen, Schleicherund Hindenburg, die Hitler über dieHintertreppe zur Reichskanzlerschaftverhalfen.

Dies alles hatte dazu beigetragen,dass der „Tag von Potsdam“ am 21.März, das Ermächtigungsgesetz zweiTage später und die Errichtung der to-talitären Diktatur möglich geworden

waren. Man kann noch weiter in dieGeschichte zurückgehen bei der Ur-sachenforschung. Ganze Schulen vonHistorikern haben sich bemüht, einemehr oder weniger geradlinige Ent-wicklung von Bismarck über den wil-helminischen Militarismus und denErsten Weltkrieg in den Nationalso-zialismus zu belegen. Das ist die be-rühmte These vom „deutschen Son-derweg“, der mehr oder weniger direktin den Totalitarismus geführt habe.

Ein traumatisiertes Land

Ich bin da skeptisch. Natürlich hängt inGeschichte und Politik immer vieles mitvielem zusammen. Trotzdem sollte manes, meine ich, mit den Kausalitäten undden vermeintlich zwangsläufigen Ent-wicklungslinien nicht übertreiben.Sicherlich ist richtig, dass Deutschlandnach dem Ersten Weltkrieg in die De-mokratie eingetreten war als eine Gesell-schaft, die tief traumatisiert, verstört, ge-spalten und in sich selbst zerstritten war.Aber auch damit war die zukünftige Ent-wicklung ja noch keineswegs vorausbe-stimmt, die schließlich – über Ermächti-gungsgesetz und Diktatur, Krieg undHolocaust – nicht nur in Deutschlandstotale Niederlage, sondern auch in einebeispiellose zivilisatorische Katastropheführen sollte.

Wenn es also keine Zwangsläufigkei-ten gibt, wie lassen sich dann Heraus-forderungen für die Demokratie – und

53perspektive21

matthias platzeck – sozialdemokraten in verantwortung

Page 40: perspektive21 - Heft 38

seien sie noch so gravierend – bewälti-gen? Wie hätten sich diese Herausfor-derungen in den Jahren der WeimarerRepublik bewältigen lassen? Wie lassensich heutige und künftige Herausforde-rungen für die Demokratie bewältigen?Das sind Fragen, die uns auch heutenoch beschäftigen sollten. Und es lohntsich anhand der Erfahrungen von Wei-mar immer wieder neu nachzudenken.Besonders aufschlussreich ist dabei derKontrast zwischen Reichsebene unddem Bundesstaat Preußen.

Preußen als Hort der Ordnung

Was der Weimarer Republik auf derEbene der Reichspolitik in besonderemMaße fehlte, das waren funktionstüchti-ge staatliche Institutionen, taugliche po-litische Verfahren sowie überzeugendepolitische Führungsfiguren mit klarenPrinzipien und eindeutig demokratisch-republikanischem Koordinatensystem.Institutionen, Verfahren und demokra-tische Prinzipienfestigkeit: Wie sehr esauf diese Faktoren ankommt, das wirddeutlich, wenn man vergleicht, wie un-terschiedlich sich die politischen Ver-hältnisse nach 1918 in der WeimarerRepublik insgesamt und in ihrem größ-ten Teilstaat Preußen entwickelten.

In der Reichspolitik herrschte bestän-dige Unordnung. Die Kabinette undReichskanzler kamen und gingen. StabileKoalitionsregierungen waren unbekannt.Nicht weniger als 12 Reichskanzler und

21 verschiedene Kabinette erlebte dieRepublik zwischen 1919 und 1933.

Im Bundesstaat Preußen war das völ-lig anders. Das neue demokratische undrepublikanische Preußen mit immerhindrei Fünfteln der Reichsbevölkerung er-wies sich als Hort der Ordnung, alsBollwerk der Demokratie und wichtigs-te Bastion der politischen Stabilität inder Weimarer Republik.

Warum war das so? Und welche Ein-sichten lassen sich daraus ziehen? MeinArgument lautet erstens, dass es auchheute noch auf intakte Institutionenund Verfahren sowie auf demokratischePrinzipienfestigkeit ankommt. Und ichmeine zweitens, dass das demokratischePreußen der Weimarer Jahre unter die-sen Gesichtspunkten nicht das schlech-teste Beispiel für unsere Zeit abgibt.

Demokratischer als das Reich

Blickt man zunächst auf die staatlichenInstitutionen, so kam das politische Sys-tem Preußens in der Weimarer Republikohne einen Präsidenten aus. Sein Minis-terpräsident wurde vom Parlament ge-wählt. Das machte das preußische Systemdemokratischer und weniger autoritär alsdas politische System der Reichsebene.Hier nämlich hing der Reichskanzlervom mächtigen Reichspräsidenten ab –bekanntlich mit katastrophalen Folgen inder späten Ära Hindenburg.

Ähnliches gilt für die politischenVerfahren. Anders als die Reichspolitik

54 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 41: perspektive21 - Heft 38

besaß Preußen durchgängig von 1920bis 1932 ein funktionstüchtiges Partei-ensystem, das stabile demokratischeMehrheiten gewährleistete. Die Sozial-demokratie, die linksliberale DeutscheDemokratische Partei und die katholi-sche Zentrumspartei regierten hier überJahre hinweg gemeinsam und einver-nehmlich.

Der „rote Zar“ hält Kurs

Auf der Reichsebene war die Politik ge-kennzeichnet durch ständige Konflikte,durch extreme Positionen, durch Re-gierungswechsel – im demokratischenPreußen dagegen herrschten Stabilitätund Kontinuität. Die Regierungen amtierten über die gesamte Legisla-turperiode, und sie betrieben Reform-politik mit Umsicht und Augenmaß.Zu einer vorzeitigen Parlamentsauflö-sung kam es in Preußen nur ein einzigesMal, nämlich ganz zum Schluss, als dieWeimarer Republik insgesamt bereitsam Ende war.

Das alte Preußen vor 1918 hatte fürObrigkeitsstaatlichkeit gestanden, fürKlassenherrschaft und monarchistischeGesinnung. Nun betrieb die neue preu-ßische Regierung auf allen Ebenen derstaatlichen Verwaltung eine systemati-sche Republikanisierung und Demo-kratisierung. Beamtenapparat undPolizei wurden allmählich, aber syste-matisch mit republiktreuem Personalbesetzt – und das alles, ohne dass das

Funktionieren der staatlichen Verwal-tung unter diesem Umbruch litt.

Hauptverantwortlich für diese ener-gisch republikanische Personalpolitik inPreußen waren der neue sozialdemokra-tische Innenminister Carl Severing, aberauch der tatkräftige Albert Grzesinski,auch er ein Sozialdemokrat, der sichebenfalls als Innenminister und als Poli-zeipräsident von Berlin um den Aufbauder demokratischen Ordnung in Preu-ßen verdient machte.

Die wichtigste politische Persönlich-keit der preußischen Politik aber warder sozialdemokratische Ministerprä-sident Otto Braun. Der so genannte„Rote Zar von Preußen“, Kind einerKönigsberger Arbeiterfamilie, amtiertenahezu ununterbrochen von 1920 bis1933. 1872 in Königsberg geboren,wuchs der spätere Ministerpräsident inärmlichen Verhältnissen auf. Er erlerntedas Steindruckerhandwerk und schlosssich mit 16 Jahren der SPD an, wurdeAgitator der Landarbeitergewerkschaftund 1911 erstmals in den PreußischenLandtag gewählt.

Es waren tatsächlich Sozialdemokra-ten, Männer wie Braun, Severing undGrzesinski, die in den Jahren der Weima-rer Republik in Preußen das verkörper-ten, was man im besten Sinne „preußi-sche Tugenden“ nennt. Ganz besondersOtto Braun charakterisiert der HistorikerChristopher Clark – paradoxerweise – alseine „zutiefst preußische Gestalt“: „AlsVorkämpfer des ländlichen Proletariats

55perspektive21

matthias platzeck – sozialdemokraten in verantwortung

Page 42: perspektive21 - Heft 38

war Braun der Antityp zur preußischenAgrarelite, deren politische Vorherrschafter 1918/19 beenden half. Und doch warer genauso betont und ebenso unver-wechselbar preußisch wie sie. Sein unstill-barer Arbeitseifer, sein Blick fürs Detail,seine Abneigung gegen jede Form derSelbstdarstellung und seine hohe Wert-schätzung des Staatsdienstes – alles Attri-bute, die man gemeinhin zum preußi-schen Tugendkanon zählt.“

Die SPD und Preußen

Über Albert Grzesinski schreibt ClarkÄhnliches: „Das Leben Grzesinskis wargekennzeichnet vom energischen Ein-satz nicht nur für die Demokratie ansich, sondern für die besondere histori-sche Berufung Preußens und seinerInstitutionen.“

Und insgesamt kommt Clark zu demSchluss: „Es bestand ... eine seltsameAffinität zwischen der sozialdemokrati-schen Parteielite und dem preußischenStaat .... Auffällig ist, dass die führendenSozialdemokraten mit der Verantwor-tung und den Risiken der Staatsführungin Preußen besser umgehen konnten alsauf Reichsebene.“

Wie wir wissen, haben die demokra-tischen – und sozial-demokratischen –Preußen den Aufstieg der Nationalso-zialisten nicht verhindern können. Derso genannte Preußenschlag, also die wi-derrechtliche Amtsenthebung der ge-schäftsführenden Regierung Braun im

Juli 1932 durch Reichskanzler vonPapen, beendete die kurze Ära der preu-ßischen Demokratie. Es ist kennzeich-nend, dass Otto Braun gegen diesenPutsch allein mit juristischen MittelnWiderstand leisten wollte. Auch inso-fern war er eben ein Preuße.

Diejenigen dagegen, die am 21. Märzvor 75 Jahren mit dem symbolisch auf-geladenen „Tag von Potsdam“ in derPotsdamer Garnisonkirche Anspruchauf das Erbe Preußens erhoben, warengerade keine Preußen im Sinne der bes-ten preußischen Tugenden. „Die Idee,die wir tragen, ist preußisch“, behaupte-te Goebbels. In Wirklichkeit repräsen-tierte der Nationalsozialsozialismus injeglicher Hinsicht das genaue Gegenteildessen, was gut und bewahrenswert waram preußischen Erbe.

Kurze demokratische Ära

Leider sind Männer wie Otto Braun undOtto Wels – als Berlin-Brandenburgerübrigens ebenfalls ein Preuße – heute ausdem historischen Gedächtnis der Deut-schen fast vollständig verschwunden.Leider gilt das sogar für das sozialdemo-kratische Gedächtnis. Und man mussdas noch erweitern: Die gesamte kurze,aber doch hoffnungsvolle Ära des demo-kratischen und sozial-demokratischenPreußen in der Weimarer Republik istheute weitgehend unbekannt.

Als Brandenburger und ausdrücklichauch als Vorsitzender der Brandenbur-

56 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 43: perspektive21 - Heft 38

ger Sozialdemokratie sage ich: Wir ha-ben allen Grund, dies wieder zu ändern.Wir haben allen Grund, uns – undAndere! – an Männer wie Otto Braunund Otto Wels, Carl Severing undAlbert Grzesinski zu erinnern. Wir haben allen Anlass, an Preußen geradeauch als das starke „Bollwerk der Demo-kratie“ zu erinnern, das Sozialdemokra-ten, Linksliberale und Zentrumsleutenach 1918 zu errichten hofften.

Preußische Tugenden wie sie OttoBraun und andere Sozialdemokratenverkörperten, funktionstüchtige staatli-che Institutionen, vernünftige politi-sche Verfahren und prinzipienfestes de-

mokratisches Personal – auf dies alles istunsere freiheitliche Demokratie auchheute existenziell angewiesen, wenn siejeder zukünftigen Herausforderung ge-wachsen sein soll.

Daran zu erinnern ist der 75. Jahres-tag des mutigen, aber eben auch vergeb-lichen sozialdemokratischen Wider-standes gegen das Ermächtigungsgesetzgenau der richtige Anlass. Sorgen wir also mit Umsicht und demokratischerLeidenschaft alle dafür, dass so tapfereReden wie jene von Otto Braun am23. März 1933 in Deutschland undEuropa niemals wieder gehalten wer-den müssen. n

57perspektive21

matthias platzeck – sozialdemokraten in verantwortung

M A T T H I A S P L A T Z E C K

ist Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Landesvorsitzender der SPD

und ehemaliger SPD-Bundesvorsitzender.

Page 44: perspektive21 - Heft 38

58 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 45: perspektive21 - Heft 38

A ls Alwin Ziel vor einigen Jahrenden etwas absonderlichen Gedan-

ken äußerte, man könne ein vereinigtesBerlin-Brandenburg doch auch Preu-ßen nennen, konnte man erleben, dassder 1947 formal aufgelöste Staat nochimmer keine erkaltete Lava war. ImGegenteil: Die alten Reflexe funktio-nierten noch und Ulrich Wehler befandapodiktisch: „Preußen vergiftet uns.“

Es ist schon so wie ChristopherClark, der jüngste Preußen-Biograph,schreibt: „Die Geschichte des preußi-schen Staates ist zugleich die Geschichteder Geschichte des preußischen Staates,denn dieser erfand seine Geschichte so-zusagen erst beim Erzählen.“ Preußenwar seit Rossbach und Leuthen „fritzi-sche“ Ideologie, vor allem im 19. Jahr-hundert, als protestantische preußischeHistoriker seine deutsche Sendung erfan-den, um Bismarcks klassischer Macht-politik nachträglich eine innere Notwen-digkeit zu verleihen.

Was als europäische Leerstelle, alsLogo für den Aufstieg der brandenbur-gischen Kurfürsten zu Königen im Jahre1701 begann und selten mehr als dieWillensanstrengung einiger wenigerMonarchen, ins Land geholter Auslän-

der wie des Rheinländers Stein und desHannoveraners Hardenberg und einesbegnadeten Junkers war, endete 1945wieder auf einer Leerstelle. Fast spurlosverschwand Preußen aus der europäi-schen Geschichte und hinterließ – an-ders als das alte Österreich – auch keinVerlustgefühl wie es im „RadetzkyMarsch“ von Joseph Roth so unnach-ahmlich zum Ausdruck kommt.

Gift für zwei Jahrhunderte

„Der Staat Preußen,“ – so die Begrün-dung für seine Auflösung durch den alliierten Kontrollrat – „der seit jeherTräger des Militarismus und der Reak-tion in Deutschland gewesen ist, hat inWirklichkeit zu bestehen aufgehört.“Auch wenn die westlichen Alliiertenund die Sowjetunion sich sonst innichts einig waren – in dieser Frageherrschte Einigkeit. Schließlich hattenbritische Historiker schon 1914 davongesprochen, dass der gegenwärtigeKonflikt, also der Erste Weltkrieg „voneinem Gift ausgelöst wurde, dass seitmehr als zwei Jahrhunderten im euro-päischen System am Werk ist, und dieHauptquelle diese Giftes ist Preußen.“

59perspektive21

thema – das rote preußen

Beim Erzählen erfunden DER WANDEL VON PREUSSENS BILD IN DER GESCHICHTE

VON ALEXANDER GAULAND

Page 46: perspektive21 - Heft 38

Schon 1939 nahm der britische Außen-minister Eden das Urteil vorweg, als erbemerkte: „Hitler ist im Grunde garnicht so einzigartig. Er ist nur der jüngs-te Ausdruck des Eroberungsgeistes despreußischen Militärs.“

Das Bild wird differenzierter

Und diesem Kurzschluss folgten zu Be-ginn auch die Historiker in West undOst. Schließlich hatte Adenauer schonin den zwanziger Jahren die Gardinenzugezogen, wenn der Zug die ElbeRichtung Berlin überquerte, und FranzMehring allen marxistischen Histori-kern den ersten Entwurf für eine Ge-samtverurteilung dieses Kunststaates geliefert. Und so waren auch die erstendeutschen Stellungnahmen Totalver-risse – im Westen von Ludwig Dehiound Friedrich Meinecke, der von derdeutschen Katastrophe sprach, und imOsten von Ernst Niekisch, dessenSchrift „Die deutsche Daseinsverfeh-lung“ hieß.

Doch je mehr Zeit verging, je deut-licher die Folgen der Teilung die Ge-schichtswissenschaft ergriffen, umsodifferenzierter wurde das Bild. Die an-gebliche Traditionslinie von Lutherüber Friedrich und Bismarck zu Hitlerwurde schon bald bezweifelt, wobei sichpolitische und wissenschaftliche Motivemischten. Im Westen hatte sich frühder Preußenenthusiast Schoeps demkollektiven Verdammungsurteil entge-

gengestellt. Aber mehr noch als Schoepswar es der Nestor der deutschen Histo-rikerzunft, Gerhard Ritter, der in sei-nem Hauptwerk „Staatskunst undKriegshandwerk“ und in seiner Fried-rich-Biographie die angeblichen Konti-nuitätslinien zwischen dem preußischenMilitarismus und dem Gefreiten ausBraunau durchschnitt. Für Ritter warPreußen der aufgeklärte rationale Macht-staat, einer unter anderen, zwischen denBourbonen, den hannoverschen Georgenund den Habsburgern, dessen Besonder-heit nur in seiner bevölkerungsmäßigenund kulturellen Disparität lag und dennichts mit dem hemmungslosen humani-tätsfeindlichen Nationalismus der Nazisverband. Selbst dem Raub Schlesiens, einem schon im 18. Jahrhunderten verur-teilten Verbrechen, wollte er eine gewisse-re innere Notwendigkeit nicht abspre-chen und schied ihn deshalb scharf vonHitlers verbrecherischen Raubzügen.Über Friedrich den Großen urteilte er:„Von der Primitivität eines Adolf Hitlerwar er ebenso weit entfernt … wie dasFlötenkonzert von Sanssouci vom Horst-Wessel-Lied.“ Mit der Preußen-Ausstel-lung von 1981 fand diese Differenzie-rung einen vorläufigen Abschluss.

Auch die DDR entdeckt Preußen

Doch auch in der DDR wandelte sichdie anfängliche Generalablehnung.Hier war es vor allem der Versuch, demunvollkommenen Nationalstaat DDR

60 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 47: perspektive21 - Heft 38

so etwas wie eine eigene historische Le-gitimität zu bauen, die ein Umdenkenbewirkte. So wurde schon 1966 einScharnhorst-Orden für die NationaleVolksarmee kreiert und Ingrid Mitten-zwei konnte 1979 Friedrich II. aus demideologischen Parteigefängnis befreien,so dass die Reiterstatue des Königs vonChristian Daniel Rauch wieder ihrenEhrenplatz Unter den Linden einneh-men durfte. Mit der Bismarck-Biogra-phie des Historikers Ernst Engelberg imJahre 1985 schloss diese Phase einer so-zialistischen Renationalisierung ab.

Viel lernen, manches bewundern

Dass Preußen anders als Frankreich,England und selbst Österreich heute eininteressantes Diskussionsthema aberkeine Realität mehr ist, hat wenig oder

nichts mit seinen angeblichen Verfeh-lungen zu tun. Sein Anderssein bestanddarin, dass es als Begriff und Inhalt eindynastisch fundierter bürokratisch zu-sammengehaltener Staat, nicht eine aufkulturell-nationalen Gemeinsamkeitenseiner Bewohner beruhende Macht ge-wesen ist. Die Kehrseite dieser Schwächewar ein bleibendes Gefühl der Ver-wundbarkeit, der dauernden Überan-strengung, das die politische KulturPreußens zutiefst geprägt hat. Russland,Frankreich und Polen erneuerten sichimmer wieder aus ihrem Volkstum,Preußen verschwand als Hitler das ange-sammelte Kapital Friedrichs, Steins undBismarcks verspielt hatte. Das ist nichtpreußische Schuld, sondern preußischesSchicksal. Lernen kann man von diesemStaat viel, bewundern manches, nachah-men oder kopieren nichts. n

61perspektive21

alexander gauland – beim erzählen erfunden

D R. A L E X A N D E R G A U L A N D

ist Publizist aus Potsdam und ehemaliger Herausgeber der

Märkischen Allgemeinen Zeitung.

Page 48: perspektive21 - Heft 38

63perspektive21

D ie beiden Regierungschefs brauch-ten, wenn sie miteinander reden

wollten, bloß über die Straße zu gehen.Der Reichskanzler residierte in der Wil-helmstraße 77, der preußische Minister-präsident schräg gegenüber, im Staats-ministerium mit der Hausnummer 63.

Doch zwischen den beiden Adressenin Berlin-Mitte lagen Welten. Im Reichging es drunter und drüber, der Haus-herr im Reichskanzlerpalais wechseltealle paar Monate, die Weimarer Repu-blik erlebte zwischen 1919 und 1933insgesamt 12 Kanzler und 21 Reichs-kabinette.

Preußen hingegen erwies sich alsHort der Stabilität und Ordnung, derMinisterpräsident hieß, von zwei kur-zen Unterbrechungen abgesehen, vonMärz 1920 bis 1933 Otto Braun. Unterder Führung des Sozialdemokraten ent-wickelte sich Preußen zu einem moder-nen Freistaat, der durch die Republika-nisierung des Beamtenapparats und derPolizei eine der Hauptstützen der erstendeutschen Demokratie bildete.

Gegner wie Bewunderer nanntenOtto Braun den „roten Zaren vonPreußen“, eine Bezeichnung, die er

selbst für eine gehässige und bösartigeErfindung seiner Feinde hielt. Mit sei-nen Parteifreunden lag der dickschädligeOstpreuße oft über Kreuz. Die SPD-Führung im Reich hätte den preußi-schen Staat nach der Revolution amEnde des Ersten Weltkriegs am liebstenvon der Landkarte getilgt – schließlichwaren schon nach August Bebels festerÜberzeugung „preußischer Geist undpreußische Regierungsgrundsätze“ der„Todfeind aller Demokratie“.

Ein klassischer Aufsteiger

Brauns Preußen knüpfte indes an dieguten Traditionen an – die von Aufklä-rung und Toleranz. „Das neue, das de-mokratische Preußen soll man nichtzerschlagen“, forderte er. Preußen um-fasste drei Fünftel der Gesamtbevölke-rung des Reichs. Mit einem Stimmen-anteil von zwei Fünfteln im Reichsratkonnte Preußen jede Verfassungsände-rung verhindern.

Als Bewahrerin Preußens wirkte eineKoalition, die ironisch erweise aus denin der Bismarck-Ära geächteten Grup-pen bestand: Der Sozialdemokrat Braun

thema – das rote preußen

Der rote ZarUNTER DEM SOZIALDEMOKRATEN OTTO BRAUN

ERLEBTE PREUSSEN SEINE LETZTE GLANZZEIT.

VON NORBERT F. PÖTZL

Page 49: perspektive21 - Heft 38

regierte im Bündnis mit dem katholi-schen Zentrum und der linksliberalenDeutschen Demokratischen Partei.

Braun, schrieb der Historiker HagenSchulze in seiner 1977 erschienenenBiografie, „war eine Figur, die die kon-servativen Parteien gerne im eigenenLager gesehen hätten“: „Er besaß vielejener Attribute, vom ‘herrenmäßigen’Auftreten über den einfachen Lebens-zuschnitt bis hin zu seinem autokrati-schen Regierungsstil, die in der altpreu-ßischen Grundbesitzer- und Beamten-schicht als eigentypisch betrachtetwurden.“

Otto Braun, 1872 in Königsberg geboren, war freilich in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Sein Va-ter, einst selbständiger Schuhmacher,hatte die Familie als Bahnarbeiter überWasser gehalten. Der Sohn erlernte dasSteindruckerhandwerk, schloss sich als16-Jähriger der noch illegalen sozial-demokratischen Partei an und wurdeFunktionär im örtlichen Arbeiter-Wahlverein, der damaligen Organi-sationsform der Partei.

Ostpreußen war eine Agrarprovinz,mit wenigen Herren und vielen Knech-ten. Friedrich Engels hatte die ostelbi-schen Landarbeiter schon 1870 als die„zahlreichsten und natürlichsten Bundes-genossen“ des Industrieproletariats be-zeichnet. Die sollten nun für die SPD gewonnen werden, und Braun betätigtesich als Landagitator. Er stieg zum Vor-sitzenden der ostpreußischen SPD auf

und gehörte dem Parteivorstand imReich von 1911 bis 1919 an.

Nach der November-Revolution1918 übernahm Braun das preußischeLandwirtschaftsministerium. Dort ver-folgte er vor allem den Plan, ehemaligeSoldaten auf brachliegenden Ländereienanzusiedeln, was jedoch am Widerstandder Großgrundbesitzer scheiterte.

Die eher rechten Koalitionspartnerüberließen Braun gern den Posten desMinisterpräsidenten, weil sie irriger-weise glaubten, in dieser Funktion seier, wie in der Presse zu lesen war, „vielweniger in der Lage, ausgesprocheneParteipolitik zu treiben“, das Amt sei„mehr dekorativer Natur“ – seine Geg-ner hatten offenbar die neue preußi-sche Verfassung nicht richtig gelesen,die den Regierungschef mit einer weit-reichenden Richtlinienkompetenz aus-stattete.

Größere Zustimmung als die SPD

Braun konnte sich derart profilieren,dass die SPD ihn trotz ständiger Que-relen mit der Parteiführung 1925 nachdem Tod Friedrich Eberts als Kandidatfür das Amt des Reichspräsidenten auf-stellte. Im ersten Wahlgang erhielt er29 Prozent der Stimmen – 3 Prozent-punkte mehr, als die SPD bei der vo-rangegangenen Reichstagswahl errun-gen hatte. Da das Zentrum keinensozialdemokratischen Bewerber unter-stützen mochte, trat Braun zum zwei-

64 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 50: perspektive21 - Heft 38

ten Wahlgang nicht mehr an; gewähltwurde Generalfeldmarschall Paul vonHindenburg, der Kandidat des rechten„Reichsblocks“.

Unabhängig bis zum Schluss

Braun erkämpfte die Unabhängigkeitseines Kabinetts und seiner Politik vomReich – egal, wer auf der anderen Seiteder Wilhelmstraße gerade regierte. Alsjedoch Adolf Hitlers Nationalsozialistenimmer mehr Zulauf bekamen, stützteBraun, um „Schlimmeres“ zu verhüten,den ab 1930 amtierenden Zentrums-Kanzler Heinrich Brüning. DessenSturz hätte auch die preußische Koali-tion zerbrechen lassen. Dabei nahmBraun in Kauf, für Brünings rigidenSparkurs und die verfassungsrechtlichbedenklichen Notverordnungen, mitdenen der Kanzler regierte, in Mithaf-tung genommen zu werden.

Bei der preußischen Landtagswahl am24. April 1932 steigerten sich die Natio-nalsozialisten von 2,9 auf 36,3 Prozentder Wählerstimmen und ließen die SPD,die nur noch auf 21,2 Prozent kam, weithinter sich. Den Nazis und den Deutsch-Nationalen fehlten, rechnet man weitererechte Splitterparteien hinzu, nur neunSitze zur absoluten Mehrheit. Aber esreichte eben auch nicht für eine Regie-rungsbildung, weshalb Brauns Koalitiongeschäftsführend im Amt blieb.

Am 30. Mai 1932 entließ Hindenburgden Reichskanzler Brüning und ersetzte

ihn durch Franz von Papen, einen reak-tionären westfälischen Landadligen, derzwei Tage nach seiner Ernennung aus derZentrumspartei austrat. Papens „Kabi-nett der Barone“ war allein vom Vertrau-en Hindenburgs und der Tolerierungdurch die NSDAP getragen. Eine preußi-sche Regierung, die die Nazis von derMacht fernhalten wollte, stand ihm da imWege. „Es hatte wenig Sinn, im Reichezu einer besseren Ordnung der Dinge zuschreiten, wenn sie nicht gleichzeitig auchin Preußen hergestellt werden konnte“,rechtfertigte Papen noch 1952 in seinenMemoiren seinen von langer Hand vor-bereiteten „Preußenschlag“.

Nur mit Rechtsmitteln

Am Vormittag des 20. Juli 1932 klin-gelte ein Beamter der Reichskanzlei anBrauns Dreizimmerhäuschen in Berlin-Zehlendorf. Das Schreiben, das derBote überreichte, enthielt einen einzi-gen Satz: Papen teilte mit, als vomReichspräsidenten eingesetzter Reichs-kommissar für das Land Preußen enthe-be er Braun seines Amtes als preußi-scher Ministerpräsident.

Gegen Papens Staatsstreich wollteBraun allein mit rechtlichen MittelnWiderstand leisten. Das wirksamsteGegenmittel wäre ein Generalstreik ge-wesen, den Papens Kabinett am meistenfürchtete, war doch der rechtsradikale„Kapp-Putsch“ im Frühjahr 1920 an einem flächendeckenden Ausstand der

65perspektive21

norbert f. pötzl – der rote zar

Page 51: perspektive21 - Heft 38

66 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Arbeiter gescheitert. Damals hatte frei-lich nahezu Vollbeschäftigung ge-herrscht; nun aber gab es mehr als fünfMillionen Arbeitslose, und die SPDkonnte sich ausrechnen, dass ein Aufrufzur Arbeitsniederlegung wenig bewirkthätte. Auch eine blutige Auseinander-setzung der preußischen Polizei mit derwaffentechnisch überlegenen Reichs-wehr mochte Braun nicht heraufbe-schwören.

Die preußische Koalition rief denStaatsgerichtshof an und hoffte, dieRegierung Papen würde bei der anste-henden Reichstagswahl vom Wähler abgestraft. Doch die NSDAP konnteihren Stimmenanteil gegenüber der

vorangegangenen Wahl im September1930 auf 37,4 Prozent mehr als verdop-peln. Und der Staatsgerichtshof fällteam 25. Oktober 1932 ein zwiespältigesUrteil: Einerseits rehabilitierte er dieRegierung Braun von dem Vorwurf,Preußen habe seine Pflichten verletzt,andererseits billigte er auch das Vor-gehen des Reichspräsidenten.

Noch einige Monate kümmerte dierechtmäßige preußische Regierung imSchatten der Reichskommissare dahin,tagte in Restaurants und Kneipen, bisihr die neuen braunen Machthaber imMärz 1933 endgültig den Garaus mach-ten. Otto Braun emigrierte in dieSchweiz. Er starb 1955 in Locarno. n

N O R B E R T F. P Ö T Z L

ist Redakteur beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel.

Page 52: perspektive21 - Heft 38

67perspektive21

D ass der Freistaat Preußen nachAbdankung der Hohenzollern

1918 in der Weimarer Republik sichals „Bollwerk der Demokratie“ zeigte,gehört in der Wissenschaft zum gesi-cherten Wissen. Insbesondere die Zu-ständigkeit für die Schulpolitik unddie Polizei verschaffte der preußischenLandesregierung einen erheblichen po-litischen Spielraum. Die Landespolizeizumal galt als „Festung der wehrhaftenDemokratie“ gegen die ständigen An-griffe besonders der Rechtsextremen,aber auch der von Moskau gesteuertendeutschen Kommunisten. Gerade dieAnfangsjahre der Republik 1919-1923und die Jahre der Wirtschaftskrise1929-1933 waren auch in PreußenJahre der politischen Gewalt, Armutund sozialen Instabilität. Das Landstand oft näher am Bürgerkrieg als vorden großen Zielen der sozialen Demo-kratie: Wohlstand, Freiheit und Ge-rechtigkeit.

Zum politischen Erfolg gehörtenaber auch damals schon die richtigen

Personen am richtigen Ort. Und diesesind heute weitgehend unbekannt undkeinesfalls im kollektiven Gedächtnisder breiten Öffentlichkeit. Wer leitetenun dieses wichtige Machtzentrum, diestärkste Position im Freistaat Preußen?Wer regierte die preußische Polizei undVerwaltungsaufsicht? Welche Männerwaren die Innenminister in der preußi-schen Sozialdemokratie? Übrigens:Frauen gab es in der damaligen SPDnur in wenigen, vor allem sozialpoliti-schen Funktionen. Ministerehren er-reichten sie weder im Reich noch inPreußen.

Sozialdemokratische Lebenswege

Keineswegs zufällig haben die beiden amlängsten amtierenden Innenminister –der Ostwestfale Carl Severing und derBerliner Albert Grzesinski – ähnlicheLebenswege und Erfahrungen, bevor siedie Weimarer Republik 1919 in die po-litische Verantwortung brachte. So inte-ressiert hier vor allem der Typus des

Zwei demokratischePreußen ÜBER DIE VERDIENSTE DER PREUSSISCHEN

INNENMINISTER SEVERING UND GRZESINSKI

VON HEIKO TAMMENA

Page 53: perspektive21 - Heft 38

auch in der Krisensituation durch Er-fahrung, Machtwillen und Geschick erfolgreichen Innenpolitikers. *

Wie waren diese zwei Minister Seve-ring und Grzesinski, die sich so deutlichvon der Reichsebene und ihren schei-ternden vorübergehenden Amtskolle-gen abhoben, in ihre Ämter gekommen?Welche Voraussetzungen brachten siemit, um allgemeines Lob und Anerken-nung auch über die eigene Partei hinauszu bekommen? Ihre beiden Lebensläufesollen im Folgenden typologisch vergli-chen werden.

Carl Severing wurde am 1. Juni 1875im westfälischen Herford als Sohn einesZigarrenarbeiters und einer Näherin ge-boren. Sein Weg zur sozialdemokrati-schen Arbeiterbewegung in Herfordund im benachbarten Bielefeld ent-sprach den Erfahrungen einer ganzenGeneration. In den Jahren des größtenWachstums der SPD im Kaiserreich,dem Jahrzehnt nach dem Ende desSozialistengesetzes 1890, führte ihn derWeg zunächst in gewerkschaftlicheFunktionen, dann in die Partei. SeineJugend waren für ihn „Jahre der härtes-ten Entbehrungen“. Da die Eltern dasGeld für die Bürgerschule nicht auf-bringen konnten, musste er die Armen-schule besuchen. In seinen Erinne-

rungen schrieb Severing selbst: „MeinWeg zur Arbeiterbewegung ist mirdurch Marxsche Theorien jedenfallsnicht gewiesen worden. ... Die Beweg-gründe, die mich zum Anschluss an dieGewerkschaft, zum Eintritt in die So-zialdemokratische Partei bestimmt ha-ben, nämlich eine unmittelbare Besse-rung der Lebenshaltung der Arbeiterdurch ihren Zusammenschluss und ih-ren Kampf gegen jegliche Bedrückungherbeizuführen, waren auch für Millio-nen anderer deutscher Arbeiter maßge-bend. Aber sie waren mehr vom Gefühl,vom Willen zur Freiheit und zum wirt-schaftlichen Aufstieg als von wissen-schaftlicher Erkenntnis eingegeben.“

Für die Schule fehlte das Geld

Auch Albert Grzesinski wurde keines-wegs in ein Milieu hineingeboren, daseine Laufbahn als Minister erwarten las-sen würde. Er wurde vier Jahre nachSevering am 28. Juli 1879 in Treptowan der Tollensee (heute Altentreptow,Vorpommern) geboren. Der unehelicheSohn eines Berliner Dienstmädchenswuchs bei den Großeltern auf, bis ermit fünf Jahren 1884 in den SpandauerHaushalt seiner Mutter zurückkehrte,die sich mit einem Stellmacher aus der Königlichen Artilleriewerkstatt inSpandau verheiratete. Für den höhe-ren Schulbesuch des Sohnes, der beiseinen guten Noten möglich war, fehlteauch in diesem Haushalt das Geld.

68 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

* Siehe dazu u.a.: Thomas Alexander, Carl Severing Sozialdemokrataus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992; ThomasAlbrecht, Für eine wehrhafte Demokratie. Albert Grzesinski unddie preußische Politik in der Weimarer Republik, Bonn 1999; Carl Severing, Mein Lebensweg (2 Bände), Köln 1950; AlbertGrzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, München 2001

Page 54: perspektive21 - Heft 38

Beide späteren Politiker kamen überdie Industriearbeit in Metallbetriebenzur Arbeiterbewegung, beide in mittel-großen Städten, beide in jungen Jahren.In seiner Schlosserlehre kam Severingmit der aufstrebenden Arbeiterbewe-gung in Berührung. Unmittelbar nachBeendigung der Lehre wurde er 1892Gewerkschaftsmitglied. Als im Sommer1893 ein Sozialdemokratischer Vereinin Herford gegründet wurde, schlosssich Severing an und wurde als jüngstermit 18 Jahren in den Vereinsvorstandzum Schriftführer gewählt. Für die sozi-aldemokratische Volkswacht in Bielefeldschrieb er bald eigene Beiträge.

Leibhaftige Erfahrungen mit Arbeits-konflikten sammelte Severing in Biele-feld, wo er seit 1895 in einer Nähma-schinenfabrik beschäftigt war. Währendeines Streiks im Frühjahr 1896 von denArbeitern als Wortführer bestimmt,wurde er nach dem Scheitern „gemaß-regelt“ und musste die Stadt verlassen.Die anschließende Wanderschaft führteihn in die Schweiz. Hier bot der deut-sche Arbeiterbildungsverein Eintrachtin Zürich eine neue Heimat. Auch dieseTätigkeit im Arbeiterbildungswesen wartypisch für eine ganze Generation, dieden Aufstieg in der Gesellschaft vomrechtlosen Proletarier zum mündigenStaatsbürger nur über Bildung findenkonnte.

Albert Grzesinski erlernte ebenfallseinen Metallberuf. Er wurde nach Ab-schluss der Volksschule 1893 Metall-

drücker und begab sich nach kurzfristi-gen Lohnverhältnissen (auch er standals Gewerkschafter auf den „schwarzenListen“ der Unternehmer) auf Wander-schaft, die 1900 in Offenbach mit einemfesten Wohnsitz endete. 1897 wurde erMitglied im Deutschen Metallarbeiter-verband, 1900 auch der SPD, die ihn1905 zum Vorsitzenden des Ortsvereinswählte. Politische und gewerkschaftlicheTätigkeiten waren bei ihm, wie bei vie-len dieses Typus des Arbeiterführers,schon früh eng verkoppelt.

Aufstieg in den Gewerkschaften

Carl Severing kehrte nach drei Schwei-zer Jahren 1898 nach Bielefeld zurück.Aus seiner Ehe gingen zwei Kinder her-vor. Das Verhältnis der Ehepartner zu-einander entsprach den damaligen pa-triarchalischen Verhaltensweisen. DieFrau blieb als Hausfrau ganz auf die Fa-milie verwiesen und trat politisch nichthervor. Bald wurde Severing in Biele-feld zur lokalen Führungsfigur und einer der ersten hauptamtlichen „Sekre-täre“ der jungen Arbeiterbewegung. Seiter 1901 zum besoldeten Geschäftsfüh-rer des Bielefelder Metallarbeiterverban-des wurde, lebte er nicht nur für, son-dern auch von der Arbeiterbewegung.1907 wurde er mit 32 Jahren als jüngs-ter SPD-Abgeordneter in den Reichstaggewählt, unterlag aber 1912 in seinemWahlkreis einem Gegenkandidaten, dadie Basis der Linksliberalen entgegen

69perspektive21

heiko tammena – zwei demokratische preußen

Page 55: perspektive21 - Heft 38

dem Votum ihrer Parteiführung in derStichwahl nicht für Severing stimmte.Danach wechselte er vom Gewerk-schaftsbüro in die Leitung der Biele-felder SPD-Zeitung Volkswacht.

Grzesinski wurde wie Severing schonsehr jung in eine hauptamtliche Funk-tion als Gewerkschaftssekretär der Me-tallarbeiter gewählt, mit 26 Jahren 1906in Offenbach. Nach nur einem Jahrwechselte er als Geschäftsführer zumMetallarbeiterverband nach Kassel undentfaltete hier seine Aktivitäten, weiter-hin vorrangig in den Gewerkschaften,zuletzt 1913 als Vorsitzender des etwa13.000 Mitglieder zählenden KasselerGewerkschafts-Kartells. Zwar war er auchin den örtlichen Vorständen der SPD,doch seine Kandidatur 1912 zum Reichs-tag war noch aussichtslos und er trat – an-ders als Severing – erst nach dem ErstenWeltkrieg in politische Mandate ein.

Pragmatisch durch die Revolution

Nach Kriegsausbruch 1914 gehörtenCarl Severing und Albert Grzesinski zujenen Kräften in der SPD, die für eineZustimmung zu den Kriegskrediten unddie Politik des „Burgfriedens“ eintraten.Am 1. August 1914 schrieb Severing inder Volkswacht: „Die vaterlandslosen Ge-sellen werden ihre Pflicht erfüllen undsich darin von den Patrioten in keinerWeise übertreffen lassen.“

Sowohl bei Severing in Bielefeld wiebei Grzesinski in Kassel hatte es wäh-

rend des Krieges, als sich die SPD überdie Frage der Kriegskredite spaltete, kei-ne relevante Linksabspaltung zur neuenUSPD gegeben. Dagegen wurden diepragmatischen Gewerkschaftsführer,beide vom Kriegsdienst aus Alters-gründen zurückgestellt, in die städti-schen „Kriegskommissionen“ berufen,die in den schwierigen Kriegsjahren inder Kommunalverwaltung zur Versor-gungssicherung gegründet wurden.Hier begann bereits die ersehnte Inte-gration der Arbeiterbewegung in dieGesellschaft und Institutionen desStaates – das wichtigste Ziel der selbstbereits aus der Arbeiterschaft in die Bü-ros der Gewerkschaften aufgestiegenenSevering und Grzesinski.

Während der November-Revolu-tion 1918 gelang es Severing undGrzesinski, sich in Bielefeld und Kasselan die Spitze des Arbeiter- und Solda-tenrats zu stellen und einen gewaltlo-sen Übergang herbeizuführen. Im De-zember 1918 nahmen beide am erstenKongress der Arbeiter- und Soldaten-räte in Berlin teil. Die sozialdemokrati-sche Mehrheit beschloss dort die sofor-tige Wahl einer Nationalversammlunganstatt eines reinen Rätesystems inDeutschland. Grzesinski wurde sogarin den „Zentralrat“ der deutschenArbeiter- und Soldatenräte in Berlinberufen, das als ständiges Räteparla-ment höchste Gremium auf Reichs-ebene in dieser Übergangszeit zur de-mokratischen Republik.

70 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 56: perspektive21 - Heft 38

Am 7. April 1919 wurde Carl Seve-ring die bis dahin bedeutendste Auf-gabe in seiner politischen Laufbahnübertragen: Er wurde zum Reichs- und Staatskommissar für das Ruhr-gebiet ernannt, wo über 300.000Bergleute unter anderem für dieSechsstundenschicht, Anerkennung des Rätesystems und Auflösung allerFreikorps streikten. In dieser sehrheiklen Lage trug sein Einfühlungs-vermögen dazu bei, dass sich die Lageentspannte, ein „Bielefelder Abkom-men“ beendete die Streiks.

Aufstieg zum Innenminister

Nur wenige Tage nachdem die Weima-rer Republik durch einen Staatsstreich,den von den Gewerkschaften mit einemGeneralstreik abgewehrten „Kapp-Putsch“, in ihrer Existenz bedroht war,wurde am 29. März 1920 der Biele-felder Sozialdemokrat Carl SeveringNachfolger des zurückgetretenen preu-ßischen Innenministers WolfgangHeine. Der Rechtsanwalt Heine, Sohneines Breslauer Gymnasiallehrers undimmerhin seit 1898 für die SPD imReichstag, schien seit März 1919 über-fordert mit dem Amt. Er scheiterte indieser wichtigen Funktion beim Über-gang vom Kaiserreich zur Republik undendgültig bei der Abwehr von rechtenGewalttaten, die zum Kapp-Putsch imMärz 1920 führten. Heine schied nachseinem Rücktritt auf Druck der Ge-

werkschaften, für sie eine Bedingungzur Beendigung des Generalstreiks ge-gen die „Kapp-Regierung“, aus der akti-ven Politik aus.

Lange stabile Amtszeit

Erst Carl Severing brachte Stabilität indas Innenministerium, er blieb für diedamaligen Verhältnisse lange sechsJahre: Nach einer kurzen Zeit der Ab-lösung vom 21.04. bis 7.11.1921 durchden unglücklichen Alexander Domi-nicus (DDP, zuvor Bürgermeister vonBerlin-Schöneberg) regierte er wiederbis zum 6. Oktober 1926, als er aus ge-sundheitlichen Gründen zurücktrat.

Sein Nachfolger in Preußen wurdeAlbert Grzesinski. Der bisherige Poli-zeipräsident von Berlin hatte ebenfallseine relativ stabile und lange Amtszeit:Auch er trat nach vier Jahren aus per-sönlichen Gründen zurück, als er sichals Opfer einer Kampagne gegen seinaußereheliches Zusammenleben mit einer Schauspielerin sah und das Schei-tern der „Weimarer Koalition“ in Preu-ßen verhindern wollte. Vom 28.02. bis22.10.1930 amtierte einige MonateHeinrich Waentig, ein Professor fürNationalökonomie in Halle, der derSPD erst nach 1918 beigetreten warund der nach dem Urteil aller Zeitzeu-gen nicht mit dem schwierigen Innen-ministerium zurechtkam.

Nach dem Bruch der „Großen Koa-lition“ im Reich und dem Ende der

71perspektive21

heiko tammena – zwei demokratische preußen

Page 57: perspektive21 - Heft 38

Regierung Müller kehrte Carl Severingam 27.10.1930 auf Wunsch des preußi-schen Ministerpräsidenten Braun wie-der in das Amt des preußischen Innen-ministers zurück. Severing wurde 1928Reichsinnenminister und war nach demEnde des Kabinetts von HermannMüller (SPD) im Frühjahr 1930 ohneAmt.

Gehasst von den Gegnern

Die zwei wesentlichen Felder der Re-formpolitik der beiden Innenministerwaren die Neuorganisation der preußi-schen Polizei und die Entfernung vonilloyalen Beamten aus dem Verwal-tungsapparat. Nicht zu unterschätzenwar die Bedeutung der Personalpolitik:Leider zu spät, erst nach dem Kapp-Putsch 1920, wurden unter Severing eine Reihe reaktionärer Beamter derKaiserzeit, die den Putsch unterstützthatten, in den Ruhestand versetzt. Stolzzählte die SPD in ihren Jahresberichtenjeweils die steigende Zahl der Landräte,Regierungspräsidenten und Oberpräsi-denten aus ihren Reihen auf. Mit demAmtsantritt Grzesinskis 1926 gab eshier noch einmal eine deutliche Ver-stärkung. Und auch wenn die sozialde-mokratischen Spitzenbeamten nie dieMehrheit erreichten, mehr als deutlichwurde, dass hier entschieden demokra-tische Personalpolitik aus der traditio-nell zentralistischen preußischen Ver-waltung heraus betrieben wurde.

Entschieden gingen sowohl Severingals auch Grzesinski gegen extremistischeund gewaltbereite Parteien und Orga-nisationen vor. Die Möglichkeit desParteiverbots durch das Ministeriumwurde mehrfach genutzt. 1922 bis 1924war die NSDAP in Preußen verboten.1923 verbot Severing zudem dieDeutschvölkische Freiheitspartei. Von1924 bis 1928 galt ein Redeverbot fürAdolf Hitler in Preußen. Angehörigeder KPD und NSDAP durften keineBeamten in Preußen werden.

Von ihren Gegnern wurden beideInnenminister dafür gehasst: So hingenin Berliner SA-Kasernen Karikaturenvon Severing und Grzesinski, die alsZielscheiben beim Schießtraining dien-ten. Die entschiedene Politik stand imGegensatz zu einigen anderen Ländern –insbesondere Bayern, das sich als „Ord-nungszelle“ im Bündnis von BayerischerVolkspartei (BVP, der Vorläuferin derCSU) und Nationalisten verstand undden idealen Nährboden der NSDAP undAdolf Hitlers bot.

Starke Persönlichkeiten

Deutlich wurde häufiger, dass die beidenstarken Innenpolitiker der preußischenSPD persönlich ein schwieriges Verhält-nis zueinander hatten und nicht seltengegenteilige Ansichten hatten. Severingwidersetzte sich zum Beispiel 1929 alsReichsinnenminister dem Ersuchen despreußischen Innenministers Grzesinski,

72 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 58: perspektive21 - Heft 38

nach den blutigen Zusammenstößen am1. Mai einem Verbot der KPD zuzustim-men, ließ aber ein Verbot des paramilitä-rischen Rotfrontkämpferbundes zu underntete auch damit weitere gewaltsameDemonstrationen.

Ein neuer Typus

Entscheidend ist, welcher Typus des in Regierungsämter aufgestiegenenArbeiterfunktionärs diese Erfolge imKampf um die Demokratie möglichmachte: der in den alltäglichen Arbeits-kämpfen, Sozialversicherungen und ge-werkschaftlichen Tarifauseinander-setzungen gestärkte, pragmatischeReformpolitiker aus dem aufstreben-den sozialistischen Facharbeiter-Mi-lieu, der stets eine starke Demokratieals Voraussetzung für soziale Verbesse-rungen im Interesse der Arbeiterschaftanstrebte. Dieser Typus war auch inden kleineren Industriestädten derProvinz Brandenburg und ihren poli-tischen Institutionen stark verbreitet.Ähnliche Lebensläufe wie Severing undGrzesinski hatten auf lokaler Ebene et-wa ihre preußischen LandtagsgenossenJohann Bauer aus Luckenwalde oderPaul Szillat aus Rathenow.* Sie prägten

vor allem mit dem sozialen Wohnungs-bau oder neuen Schulen die Kommu-nalpolitik der SPD in der WeimarerRepublik.

Zu unterscheiden waren sie deut-lich von zwei anderen Typen, die erstin der Weimarer Zeit in führendePositionen der Arbeiterbewegung ka-men. Da waren jüngere, aktivistischeFunktionäre, die zwar aus Arbeiter-familien stammten, aber nach ein-schneidenden Fronterlebnissen imWeltkrieg den Berufseinstieg schon inAngestelltenberufe schafften – häufigin den Büros der Krankenkassen,Genossenschaften oder der Gewerk-schaft und Partei selbst. Sie wuchsenim idealistischen Geist der sozialisti-schen Jugendbewegung auf, um „neueMenschen“ zu schaffen. Zum anderenTeil waren es aus bürgerlichen Fami-lien stammende Akademiker, die mitihren intellektuellen und rhetorischenFähigkeiten die Arbeiterbewegung be-lebten und oft die frühe Diskriminie-rung als Juden erlitten hatten. Aus diesen zwei Gruppen kam 1932 diegrößte Kritik am ruhmlosen Abgangdes „roten Preußen“ und den altenGewerkschaftsführern. Aus der Intel-lektuellenschicht, die in der Faschis-mus-Analyse und lebendigen Weiter-entwicklung der sozialistischen Theoriefortgeschritten war, als auch von jün-geren Realpolitikern und Mandats-trägern, die wie Kurt Schumacher,Waldemar von Knoeringen oder Carlo

73perspektive21

heiko tammena – zwei demokratische preußen

* Siehe dazu u.a.: Heiko Tammena, Unser schönes rotes Lucken-walde. Lager, Milieu und Solidargemeinschaft der sozialistischenArbeiterbewegung zwischen Ausgrenzung und Verstaatlichung,Münster 2000; Siegfried Mielke (Hg.), Gewerkschafter in den Kon-zentrationslagern Oranienburg und Sachsenhausen. BiographischesHandbuch, Berlin 2002/ 2003; Heiko Tammena, Geschichte inGeschichten. 130 Jahre Sozialdemokratie in Brandenburg 1868-1998, Potsdam 1998.

Page 59: perspektive21 - Heft 38

Mierendorff, die SPD in eine weit aktivere Rolle im Abwehrkampf gegenden Nationalsozialismus bringen woll-ten.

Das Ende des „roten Preußen“ undder Regierung Braun-Severing kamnicht überraschend. Der letzte Schlaggegen die seit der Wahl im April 1932nur noch geschäftsführend im Amt ste-hende preußische Regierung wurdenach dem Krieg von Historikern alszentraler Schritt auf dem Weg in dieNazi-Diktatur interpretiert. Die Mas-sen mobilisierte diese weitere Nachrichtüber das Chaos an der Regierung in derWeltwirtschaftskrise nicht mehr.

Nur der Gewalt weichen

Am 20. Juli 1932 teilte ReichskanzlerFranz von Papen in einer kurzfristig an-beraumten Besprechung mit, dass derpreußische Ministerpräsident OttoBraun und der Innenminister Severingaufgrund einer Verordnung des Reichs-präsidenten nach Artikel 48 ihrer Ämterenthoben seien. Mit der Führung desInnenministeriums wurde der EssenerOberbürgermeister Franz Bracht beauf-tragt. Auf die Frage von Papens, ob erfreiwillig seine Posten räumen würde,erwiderte Severing, er wolle „nur derGewalt weichen“. Severing verließ seineDiensträume am Abend des 20. Juli, alsder neue Berliner Polizeipräsident – derdiesen Posten nach gleichzeitiger Ab-setzung von Albert Grzesinski erhielt –

ihn durch persönliches Eingreifen ander Fortführung seiner Amtsgeschäftehinderte.

Die SPD und Severing setzten in al-ter Tradition auf den Rechtsstaat unddie bevorstehende Reichstagswahl am31. Juli 1932. Die abgesetzte preußi-sche Staatsregierung beschloss, denStaatsgerichtshof anzurufen. Für einenAufruf zum Generalstreik und die Mo-bilisierung der „Eisernen Front“ warSevering in einer Spitzenrunde ebensowenig zu gewinnen wie der SPD-Partei-vorstand und die Gewerkschaften.Doch auch auf die Justiz war nichtmehr Verlass: In seinem Urteil vom 25.Oktober 1932 erklärte der Staatsge-richtshof die Verordnung vom 20. Julials mit der Verfassung vereinbar. Mitdieser Entwicklung war die Geschichtedes „roten Preußen“ zu Ende und diedes demokratischen Rechtsstaats derWeimarer Verfassung im Grunde auch.Was zählte noch die Verfassung, wennsie Reichspräsident und Regierung be-liebig anwenden konnten?

Die Emigration folgte

Nach dem ruhmlosen Abgang mit dem„Preußenschlag“ zogen sich beide Poli-tiker in ihr Privatleben zurück undüberlebten noch die Diktatur des Na-tionalsozialismus, jedoch mit getrenn-ten Wegen. Albert Grzesinski kehrteaus der 1933 erzwungenen Emigrationunter Mithilfe des Bayern Wilhelm

74 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Page 60: perspektive21 - Heft 38

Hoegner bei der Flucht nach Öster-reich nicht zurück. Stationen seinesExils waren die Schweiz, Paris undNew York. Nach dem Krieg wollteGrzesinski unbedingt nach Deutsch-land zurückkehren. Doch dazu kam esnicht mehr, am 31. Dezember 1947starb er nach Mitarbeit in einigendeutschen Auslandsorganisationen in New York.

Ikonen mit Fehlern

Carl Severing saß 1933 kurz in Haftund konnte noch bei der historischenReichstagssitzung am 23. März 1933gegen das Ermächtigungsgesetz stim-men. Er blieb als Pensionär weitgehendverschont von der NS-Verfolgung.Nach 1945 hatte er noch einmalFunktionen bei der SPD, so wurde er1946 Vorsitzender des Bezirksver-bandes östliches Westfalen und 1947bis 1950 Landtagsabgeordneter inNordrhein-Westfalen. Bei seinerBeerdigung in Bielefeld im Juli 1952zeigte sich Tradition in einem Symbol:Es wurde der Sarg Carl Severings nichtmit der Bundesfahne in schwarz-rot-gold, sondern mit der schwarz-weißenFahne Preußens bedeckt. So hatte essich der langjährige preußische Innen-minister gewünscht.

Carl Severing und Albert Grzesinskisind besonders in Zeiten der neuenHerausforderungen der Demokratiedurch Wahlenthaltung und alten Fein-

de von ganz rechts vor dem endgültigenVergessen zu bewahren. Sie sind gewissVorbilder für eine wehrhafte und aktiveDemokratie. Nach langer Verdammnisder öden kommunistischen Heiligen-Geschichtsschreibung in der DDR ver-dienen sie neues Interesse und angemes-sene Würdigung. Sie sind aber keineIkonen für neue preußische Denkmal-sockel, die ohne Fehler sind.

Nicht nur kann bis heute munter anlinken Stammtischen gestritten wer-den, warum denn nun am 20. Juli1932 nicht die Massen gegen den„Preußenschlag“ der Reichsregierungmobilisiert wurden. Wer die Quellenkennt, weiß, dass dies ein fader Streitist, der aus der Sicht des Endes derHitler-Regierung geführt wird und diereal geringen Optionen der Handeln-den vergisst. Auch fehlte den in derGewerkschaftsarbeit groß gewordenenSevering und Grzesinski der Sinn fürschon damals aufkommende moderneSymbolik, für Mediennutzung und po-litische Theorien, ohne die es in derPolitik auch nicht geht und die von derjüngeren Generation vor 1933 so ver-misst wurden.

Ohne Chance gegen braune Flut

Beide, Severing und Grzesinski, hattenErfolge, auf die sie stolz sein konnten:die Demokratisierung der Verwaltungund der Polizei. Doch sie hatten auchSchwächen und starke und brutale

75perspektive21

heiko tammena – zwei demokratische preußen

Page 61: perspektive21 - Heft 38

76 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

Gegner, an denen sie letztlich scheiter-ten. Denn auch das „Bollwerk Preu-ßen“, das immer ein Bündnis der SPDmit Liberalen und katholischem Zen-

trum war, blieb ohne Chance gegen diebraune Flut an Propaganda und Gewalt,die 1933 in der größten Niederlage derdeutschen Arbeiterbewegung endete. n

D R. H E I K O T A M M E N A

ist Pädagogischer Leiter der Georg-von-Vollmar-Akademie Kochel am See.

Page 62: perspektive21 - Heft 38

P aul Hirsch, der erste sozialdemo-kratische Ministerpräsident Preu-

ßens, bekannte sich in seiner Regie-rungserklärung am 25. März 1919 zu„Freiheit und Ordnung“ als Grund-pfeilern, „auf denen sich das neue Preu-ßen aufzubauen hat. Aus dem altenPreußen, das für alle Zeiten dahin ist,wollen wir in die Zukunft hinüberneh-men das, was gut an ihm war: denschlichten Geist ernster Pflichterfüllungund den Geist nüchterner Sachlich-keit.“ Es kam anders und Deutschlandhat sich nach 1933 von allen menschli-chen Werten losgesagt. Der herrschen-de völkische Wahn ließ keinen Raummehr für Ernst und nüchterne Sachlich-keit. Trotz seines Scheiterns lohnt essich, den ersten Versuch einer Demo-kratie in Deutschland und insbesonderein Preußen einer genaueren Würdigungzu unterziehen. Thomas Mann sprachim Doktor Faustus von einem ganz undgar nicht aussichtlosen Versuch einerNormalisierung Deutschlands. An die-sem Versuch haben Sozialdemokratenentscheidend mitgewirkt und die So-

zialdemokraten in Preußen spielten da-bei eine besondere Rolle.

Das heutige Brandenburg, die Mark,war nur ein kleiner Teil des Preußens derWeimarer Republik. Preußen ist aberaus der Mark geboren und es ist wiederauf die Mark zurückgefallen. Deshalbist im Guten wie im schlechten Preußenimmer Bezugspunkt für das heutigeBrandenburg. Bei aller Vorsicht ist esdeshalb gestattet, Schlüsse für unsereZeit aus der Geschichte Preußens zuziehen.

Schuld ist die SPD?

Wenn das Feuilleton die Demokratie inder Bundesrepublik in Gefahr sieht,wird mitunter sehr leichtfertig der Ver-gleich mit den Zuständen während undam Ende der Weimarer Republik gezo-gen. Zur Weimarer Republik insgesamtund zu ihrem Ende gibt es eine umfang-reiche Literatur. Darauf kann und sollhier nicht eingegangen werden. Aus so-zialdemokratischer Sicht ist vor alleminteressant, dass sich radikale Linke und

77perspektive21

Demokratie brauchtLegitimation WAS DIE SPD HEUTE VOM PREUSSEN DER ZWANZIGER JAHRE LERNEN KANN

VON CHRISTIAN MAASS

Page 63: perspektive21 - Heft 38

Bürgertum in der Bewertung der Vor-gänge sowohl am Beginn als auch amEnde der ersten deutschen Demokratieschnell einig werden können: Schuldsind immer die Sozialdemokraten. Siehaben die Revolution 1918/1919 ver-raten, durch das Bündnis mit den Kräf-ten des alten und monarchistischenDeutschlands das Ende der Republikbereits an ihrem Beginn heraufbe-schworen. Schließlich haben die So-zialdemokraten nicht entschlossen ge-nug gegen den Faschismus gekämpftund haben zudem durch die Spaltungder Arbeiterklasse sein Erstarken erst ermöglicht. All das lässt sich wohlfeinbehaupten. Ohne jeden Zweifel gab essowohl strategisch als auch operativzahlreiche Fehler der SPD. Die Betrach-tung und kritische Würdigung dieserFehler darf jedoch nicht den Blick aufdie historische Leistung der Sozialde-mokratie bei der Schaffung der erstendeutschen Demokratie und den von1918/1919 bis 1933 geführten Kampfum ihren Erhalt verstellen.

Keine Regierungskrisen

Dabei nahm Preußen eine besondereStellung ein. Bis zum Preußenschlag imJuli 1932 stellte Preußen einen Hort derDemokratie in der krisengeschütteltenWeimarer Republik dar. „Tatsächlichwar es vor allem die SPD selbst, derenKurs während der Revolution sowohlPreußen als auch die demokratische

Entwicklung hier und auf Reichsebenegesichert hatte.“*

Als Person steht vor allem der lang-jährige Ministerpräsident Otto Braunfür diese demokratische Phase. Er am-tierte – mit zwei kurzen Unterbrechun-gen 1921 und 1925 – von 1920 bis zurAuflösung Preußens. „Ohne mich über-heben zu wollen, bin ich doch der Mei-nung, daß gerade der Umstand, dass ichso lange auf meinem Sessel ‚geklebt‘ habe, zum Besten des preußischen unddes deutschen Volkes gewesen ist. Dennhätten wir hier in Preußen, dem größ-ten deutschen Staate, fortgesetzt in kur-zen Abständen Regierungskrisen ge-habt, wie es im Reich der Fall war, dannsähe es vielleicht um unsere preußischeund deutsche Wirtschaft sehr vielschlimmer aus,“ so Otto Braun. Viel-leicht ist schon aus der Tatsache, dassein Proletariersohn und Schriftsetzerzum über zehn Jahre im ehemals feuda-len Junkerstaat Preußen regierendenMinisterpräsidenten wurde, zu erken-nen, wie groß die Umwälzung war, diesich nach 1918 vollzog. Dass er amEnde nicht mehr die Kraft hatte, sichgegen die Feinde der Republik, Demo-kratie und Preußens zu erheben, sprichtweniger gegen ihn, als gegen seine Fein-de. All denen, die aus heutiger Perspek-tive sehr schnell kritisieren, sei zudemder Hinweis auf die Angriffe mit auf

78 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

* Horst Möller, Preußen von 1918 bis 1947. Weimarer Republik,Preußen und der Nationalsozialismus, in: Wolfgang Neugebauer(Hg.): Handbuch der Preußischen Geschichte, Berlin u.a. 2001

Page 64: perspektive21 - Heft 38

den Weg gegeben, denen sich selbst derReichspräsident Friedrich Ebert ausge-setzt sah.

Nicht in der Regierung, sondern imParlament gehörte Ernst Heilmann –bis zu dessen Tod 1932 in guter und en-ger Zusammenarbeit mit seinemKollegen Joseph Hess vom Zentrum –zu den entscheidenden Stützen derDemokratie in Preußen. Heilmannwurde als Sozialdemokrat, aktiverAntifaschist und Jude bereits im Juni1933 verhaftet und nach qualvollenJahren in verschiedenen Kon-zentrationslagern 1940 von den Nazisermordet. Zu nennen ist auch CarlSevering als Innenminister, der jedochnicht gänzlich unumstritten blieb. Nach-folgend soll jedoch eine andere Person inden Mittelpunkt der Betrachtungen ge-stellt werden.

Gesetzen Leben einhauchen

Zu den herausragenden Persönlichkei-ten der SPD im Preußen der WeimarerRepublik gehört ohne jeden ZweifelAlbert Grzesinski (1879-1947), der u.a.Polizeipräsident in Berlin und nochwichtiger 1926 bis 1930 Minister desInnern in Preußen war. „Grzesinski, dergegen die Mehrheit der SPD-Fraktionaber mit der Unterstützung des Frak-tionsvorsitzenden Ernst Heilmann insAmt gekommen war, zählte zweifelloszu den markantesten politischen Persön-lichkeiten des Weimarer Preußen, seine

Amtsführung steht ganz zu Unrechtim Schatten derjenigen Severings, ob-wohl er diesem an politischem Gestal-tungs- und Machwillen, aber auch Ziel-strebigkeit und Tatkraft überlegenwar.“* Grzesinski steht für einen ent-schiedenen Kampf für die Demokratieund die Republik. Deutlicher als andereerkannte er die Notwendigkeit einerumfassenden Demokratisierung derVerwaltung und einer Reform der Ver-waltungsstrukturen. Vor dem Hinter-grund unseres Wissens über die nachWeimar folgenden Ereignisse erscheintsein Ausscheiden aus dem Amt despreußischen Staatsministers ebensotragisch wie bezeichnend für das Endeder ersten Demokratie in Deutschland.

Bereits lange von seiner Frau ge-trennt lebend, war er eine neue Ver-bindung eingegangen, die er indessenaufgrund der damaligen rechtlichenGrundlagen (Erfordernis der Einwilli-gung in die Scheidung) noch nichtdurch eine Heirat legitimieren konnte.Dies nahm ein SPD-Mitglied (!) zumAnlass, ihn sowohl bei Ministerpräsi-dent Braun als auch beim Koalitions-partner anzuschwärzen. Aufgrund desbereits schwierigen Zustandes der Ko-alition und der sich aus seiner konse-quenten demokratischen Haltung ge-gen ihn ergebenen Widerstände warGrzesinski als Minister nicht mehr halt-bar. Zweifellos hätten im Februar 1930

79perspektive21

christian maaß – demokratie braucht legitimation

* Ebd.

Page 65: perspektive21 - Heft 38

schwerwiegendere Probleme die Auf-merksamkeit der demokratischen Kräftein Preußen erfordert.

Zu den besonderen Leistungen Grze-sinskis gehört sein analytisches und tief-greifendes Verständnis der öffentlichenVerwaltung. Bei aller Wertschätzungdes Parlaments erkannte er die zentraleBedeutung der Umsetzung und Durch-führung politischer Programme durchdie Verwaltung. So führte er unter an-derem aus: „Nicht die Legislative, son-dern die Exekutive regiert.“ und unter-strich dies noch einmal: „Das Parlamentbeschließt Gesetze, – übrigens auch un-ter der Führung der Verwaltung – aberdie Exekutive, die Verwaltung, führt sieaus.“ Die Folgen dieser Tatsachen be-schrieb er unter anderem in zwei Vor-trägen in den Jahren 1928 und 1929.So ist die Wirkung eines politischenProgramms demnach ganz entschei-dend von der Umsetzung durch dieVerwaltung abhängig. Es ist die „gegen-über der Gesetzgebung nicht zu unter-schätzende Aufgabe der Verwaltung,den Gesetzen ‚Leben einzuhauchen‘.“*

Parlamentarische Mehrheiten zu er-ringen ist nach seiner Meinung nur dererste Schritt. Erst wenn die Adminis-tration nicht mehr im alten Geiste ver-harrend als Bremser und Verhindererder neuen Politik der parlamentarischenMehrheit agiert, hat diese neue Politik

auch eine Chance, umgesetzt zu wer-den. Um ein Funktionieren von Staatund Verwaltung nach dem Kriegsendeund der Revolution zu gewährleisten,wurde 1918/1919 auf einen radikalenUmbau der Verwaltung verzichtet. Daeine Vielzahl der – ehemals von Adligendominiert und selbst in der Breite hoch-gradig konservativ eingestellten – Be-amten noch vorhanden war, musste dieVerwaltung nun Schritt für Schritt de-mokratisiert werden.

Die Justiz bleibt konservativ

Dies gelang jedoch nur in Ansätzen:„Die Bedeutung einer systematischen,zielbewußten Personalpolitik, die eineDurchsetzung der Staatsverwaltung mitüberzeugten Anhängern des neuenStaates bezweckt, wird leider häufig ge-rade in den demokratischen Schichtenunseres Volkes noch nicht voll er-kannt“, so Grzesinski im Jahr 1928.Diese fehlende Erkenntnis war Ursachefür eine schwerwiegende Fehlentwick-lung der Weimarer Republik. Wurdenauch in einigen Bereichen Veränderun-gen vorgenommen, so konnte die Ad-ministration doch nicht so erneuertwerden, als dass sie sich den Entwick-lungen im Jahr 1933 entschieden entge-genstellte. Auch dass nachfolgend De-mokraten und rassisch Verfolgte aus derVerwaltung ausgestoßen wurden, wur-de entweder stillschweigend hingenom-men oder sogar noch begrüßt.

80 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

* Thomas Albrecht, Für eine wehrhafte Demokratie. AlbrechtGrzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik,Bonn 1999

Page 66: perspektive21 - Heft 38

Als besonders problematisch erwiessich die fast ungebrochene Kontinuitätim Bereich der Justiz. So genossen dieFeinde von Demokratie und Republik –bis hin zu eindeutig überführten Mör-dern – den wohlwollenden Schutz derin großen Teilen konservativ und reak-tionär eingestellten Richterschaft. Zudem konnte sich die Reichswehr wei-testgehend unkontrolliert zum Staat imStaate entwickeln.

Mehr Selbstverwaltung

Schon aber die wenigen Schritte reich-ten, um eine hasserfüllte Kritik auszu-lösen, die außerdem offen antisemiti-sche Züge trug. Otto Eggerstedt – erwar Mitglied der SPD-Reichstagsfrak-tion und wurde bereits 1933 im KZ ermordet – führte dazu aus: „Das deut-sche Bürgertum setzt reaktionäre poli-tische Einstellung mit Staatspolitik und Überparteilichkeit gleich; in jederfreiheitlichen Betätigung erblickt esParteibuchpolitik. Das ist das Erbe der jahrhundertelangen VergangenheitDeutschlands in politischer Knecht-schaft.“ Er bezeichnete es zudem als einen Fehler – teils aufgrund der Mehr-heitsverhältnisse, teils aufgrund falschenVertrauens auf trügerische Worte – zuviele „parteilose“ Beamte an ihren Stel-len gelassen zu haben. Die praktischenAuswirkungen dieser Entscheidungführten auch zu großen Enttäuschun-gen bei den Anhängern der Republik.

„Fast unnötig zu sagen, daß seit derÜbernahme der Macht durch die Re-aktion bei dem größten Teil dieser Beamten an die Stelle der bisherigenangeblichen Überparteilichkeit einegeradezu widerliche Beflissenheit fürden neuen Kurs getreten ist.“*

Zu den Leistungen Weimars im Be-reich der preußischen Verwaltungs-strukturen gehört ohne jeden Zweifeldas Groß-Berlin-Gesetz. Darüber hinauskonnten erst Mitte und Ende der zwang-ziger Jahre unter der Führung von Grze-sinski weitere notwendige Veränderun-gen zugunsten der Städte in Preußenvorgenommen werden. Auch in derHaltung gegenüber den Städten – undder Schaffung funktionierender Ver-waltungsstrukturen als Grundlage ihrergedeihlichen Entwicklung – wirkten alte und junkerliche Vorstellungennach. Schließlich sollten die Städte mitihren sozialdemokratischen Arbeiternnicht gestärkt werden. Während derMinisterzeit von Grzesinski sind Erwei-terungen der Stadtkreise Königsberg,Breslau, Frankfurt am Main, Wies-baden und Görlitz durch Gesetz vollzo-gen worden. Für die Gemeinden undKreise in der Provinz Oberschlesienund Unterelbegebiet sowie im rhei-nisch-westfälischen Industriegebiet(Regierungsbezirke Düsseldorf, Arns-berg und Münster) wurden Kom-

81perspektive21

christian maaß – demokratie braucht legitimation

* Otto Eggerstedt, Bekenntnis zum Parteibuchbeamten; in: Das freieWort. Sozialdemokratisches Diskussionsorgan, 4 (36), Berlin 1932

Page 67: perspektive21 - Heft 38

munalverfassung und Verwaltung derGemeinden und Kreise per Gesetz neugeregelt und damit zukunftsfähigeStrukturen geschaffen.*

Vielleicht faktisch nicht so wichtigwie die Veränderungen im rheinisch-westfälischen Gebiet aber von sehrgroßer symbolischer Bedeutung wardie Aufhebung der Gutsbezirke inPreußen als Beseitigung noch beste-hender Reste adliger Herrschaft. „DieGutsbezirke waren kleine absoluteStandesherrschaften, in denen derGutsherr polizeiliche Gewalt hatte ...“.Im Preußen des Jahres 1928 gab esnoch 11.894 dieser Gutsbezirke miteiner Bevölkerung von knapp 1,5Millionen Einwohnern. Vor allem ineinigen ländlichen Gebieten in Ost-preußen und in Schlesien wohnten 40Prozent der Einwohner in Gutsbezir-ken und unterstanden damit der Poli-zeigewalt ihres Gutsherrn. Natürlichgab es umfangreiche Widerstände ge-gen das Vorhaben, bis hin zu Klagenund Obstruktion. Es war der TatkraftGrzesinskis zu verdanken, dass es nichtnur zu einem zügigen Beschluss desGesetzes kam, sondern auch seinekonsequente und schnelle Umsetzungerfolgte. Durch die Auflösung derGutsbezirke konnten ihre Einwohne-rinnen und Einwohner die normalenRechte der kommunalen Selbstverwal-

tung in Anspruch nehmen, sie wurdenstaatsbürgerlich gleichgestellt.

Grzesinskis Haltung zum Ende derDemokratie in Weimar, zum Untergangder Republik fiel deutlich aus: „Die‚schlappe‘ Republik hat sich alles gefal-len lassen, sie und ihre Vertreter sind allein daran schuld, daß heute Hitler inDeutschland regiert. Ich bin sicherlichder letzte ..., der Parteien, Einrichtungenund Menschen, auch mich selbst inSchutz nehmen will, dass sie schwereund schwerste Unterlassungssünden begangen haben. Will man aber zu einerBewertung der Frage kommen, dannkann man nicht allein von einer Schuldeinzelner Personen, einzelner Parteien,sondern nur von einer Kollektivschuldsprechen; von einer Schuld, die ihreErklärung nur darin findet, dass weitenSchichten des deutschen Volkes, das aufden Gebieten der Wissenschaft, derKunst, der Technik so Gewaltiges geleis-tet hat, der politische Sinn, das Verstän-dnis für politische Feinheiten, für politi-sche Rechte, für politische, innen- wieaußenpolitische, ebenso wie für wirt-schaftliche und wirtschaftspolitischeZusammenhänge abgeht.“

Tradition und Aufklärung

Es fehlte aber nicht nur im politischenSinn, – so Thomas Mann in der Kritiknoch weitergehend – an bürgerlichenTraditionen, Werten der Bildung, Auf-klärung, Humanität. Solche Träume

82 juli 2008 – heft 38

thema – das rote preußen

* Erhard Kolb (Hg.), Albrecht Grzesinski. Im Kampf um die deutsche Republik. Erinnerungen eines Sozialdemokraten,München 2001

Page 68: perspektive21 - Heft 38

wie die Hebung der Völker durch wis-senschaftliche Gesittung wurden insge-samt von großen Teilen des Bürgertumsaktiv in Frage gestellt und verworfen.Auch und gerade „Männer der Bildung,des Unterrichts, der Wissenschaft“ ver-traten eine grundsätzliche Kritik an die-sen Werten – „und zwar mit Heiterkeit,nicht selten unter selbstgefällig-geistes-frohem Gelächter.“ Dass eine solcheGeisteshaltung, die „die uns Deutschendurch die Niederlage zuteilgewordeneStaatsform, die uns in den Schoß gefal-lene Freiheit, mit einem Wort: die de-mokratische Republik auch nicht einenAugenblick als ernstzunehmender Rah-men für das visierte Neue anerkannt,sondern mit einmütiger Selbstverständ-lichkeit als ephemer und für den Sach-verhalt von vornherein bedeutungslos,ja, als ein schlechter Spaß über dieAchsel“ wirft, ist dann eine logischeKonsequenz.

Die Härte fehlt

Es ist eine zentrale Erkenntnis ausWeimar, dass zur Freiheit und Demo-kratie auch immer der Umgang mit ih-ren Feinden gehört. Die fehlende Härteim Umgang mit ihren Feinden war einGrund für den Untergang Weimars.Doch war eine solche Barbarei, wie siefolgte, überhaupt vorstellbar? Konntendie Sozialdemokraten ahnen, dass all dieWerte, für die sie auch standen, so voll-ständig negiert wurden und eine Zeit

begann, in der die durchaus vorhan-dene Verfolgung und Zurückweisungder Kaiserzeit als völlig harmlos er-schien?

Wir wissen heute, dass eine lebendigeDemokratie demokratische Werte ver-mitteln muss. Die „bloße“ Lösung vonSachfragen allein reicht nicht aus. De-mokratie darf ihre Legitimation in derBevölkerung nicht außer acht lassen.Gegen die große Front, bestehend ausden Anhängern des alten monarchisti-schen Systems, der durch den Krieg,von den Folgen der Revolution undInflation beflügelten und radikalisiertenneuen Rechten sowie Teilen der radika-len Linken konnte die SPD die Demo-kratie nicht verteidigen, auch nicht inder Großen Koalition in Preußen.

Kuttner beschrieb Otto Braun als imbesten Sinne preußisch. Er ist versehenmit einer nüchternen Resolutheit, unbe-stechlichen Sachlichkeit und von einerherben Energie (Kuttner 1932:5). Fürihn und dieser Auffassung wird hier ge-folgt,: (Kuttner 1932:6).“

Ein modernes Preußentum

Zwischen sozialdemokratischer Gesin-nung und Preußen muss es keinen Wi-derspruch geben. Otto Braun, ErnstHeilmann, Carl Severing, Albert Grze-sinski und viel andere Sozialdemokratenim Preußen der Weimarer Republikstanden dafür, dass Preußen nicht mitMonarchie, Absolutismus und Reaktion

83perspektive21

christian maaß – demokratie braucht legitimation

Page 69: perspektive21 - Heft 38

thema – das rote preußen

juli 2008 – heft 3884

gleichzusetzen ist. Oder wie es ErichKuttner sagte: „Der Sozialdemokratweiß, dass starkes Heimatgefühl und internationale Verbundenheit mit derarbeitenden Menschheit einander nichtausschließen.“

Gestützt auf die Sozialdemokratie inPreußen, ist es die SPD heute, die den

positiven Strang unserer Geschichtewieder aufnehmen kann und im heuti-gen Brandenburg unter sozialdemokra-tischer Prägung auch sollte. Denn wasbleibend und wertvoll an dem Begriff„Preußentum“ ist, das vermag sich auchunter republikanischer und demokrati-scher Form viel besser zu entwickeln. n

C H R I S T I A N M A A S S

ist Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der Sozialdemokratischen Gemeinschaft für

Kommunalpolitik in Brandenburg.

Page 70: perspektive21 - Heft 38

85perspektive21

Page 71: perspektive21 - Heft 38

86 juli 2008 – heft 38

impressum

HERAUSGEBER

n SPD-Landesverband Brandenburgn Wissenschaftsforum der Sozialdemokratie

in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern e.V.

REDAKTION

Klaus Ness (V.i.S.d.P.), Thomas Kralinski (Chefredakteur), Ingo Decker, Dr. Tobias Dürr, Klaus Faber,Tina Fischer, Klara Geywitz, Lars Krumrey, Christian Maaß, Till Meyer, Dr. Manja Orlowski, John Siegel

ANSCHRIFT

Alleestraße 914469 PotsdamTelefon 0331 / 730 980 00Telefax 0331 / 730 980 60

E-MAIL

[email protected]

INTERNET

http://www.perspektive21.de

HERSTELLUNG

Layout, Satz: statement WerbeagenturKantstr. 117A, 10627 BerlinDruck: Lewerenz GmbH, Klieken/Buro

BEZUG

Bestellen Sie Ihr kostenloses Abonnement direkt beim Herausgeber. Senden Sie uns eine E-Mail.

Page 72: perspektive21 - Heft 38

Wie werden wir im 21. Jahrhundert leben? Die alten Lösungen taugen nicht mehr, die neuen

kommen nicht von selbst. Die Berliner Republik ist der Ort für die wichtigen Debatten unserer

Zeit: progressiv, neugierig, undogmatisch. Weil jede Zeit ihre eigenen Antworten braucht.

Das Debattenmagazin

Bezug der bereits erschienenen Hefte möglich www.b-republik.de

Die Berliner Republik erscheint alle zwei Monate. Sie ist zum Preis von 5,- EUR zzgl. Versandkosten als Einzelheft erhältlich oder im Abonnement zu beziehen:Jahresabo 30,– EUR; Studentenjahresabo: 25,– EUR

Jetzt Probeheft bestellen: Telefon 030/255 94-130 Telefax 030/255 94-199, E-Mail [email protected]

Page 73: perspektive21 - Heft 38

Seit 1997 erscheint„perspektive 21 – Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik“.

Wenn Sie Interesse an bisher erschienenen Ausgaben haben, können Sie ältereExemplare auf unserer Homepage www.perspektive21.de als pdf herunterladen.

Einzelne Exemplare von bisher erschienenen Ausgaben schicken wir Ihnen gerne auchauf Wunsch kostenlos zu. Senden sie uns bitte eine E-Mail an [email protected].

Zur Zeit sind folgende Titel lieferbar:Heft 17 Ende der Nachwendezeit. PDS am Ende?Heft 18 Der Osten und die Berliner RepublikHeft 19 Trampolin oder Hängematte? Die Modernisierung des Sozialstaates.Heft 20 Der Letzte macht das Licht aus?Heft 21/22 Entscheidung im Osten: Innovation oder Niedriglohn?Heft 23 Kinder? Kinder!Heft 24 Von Finnland lernen?!Heft 25 Erneuerung aus eigner KraftHeft 26 Ohne Moos nix los?Heft 27 Was nun Deutschland?Heft 28 Die neue SPDHeft 29 Zukunft: Wissen.Heft 30 Chancen für RegionenHeft 31 Investitionen in KöpfeHeft 32 Auf dem Weg ins 21. JahrhundertHeft 33 Der Vorsorgende SozialstaatHeft 34 Brandenburg in BewegungHeft 35 10 Jahre Perspektive 21Heft 36 Den Rechten keine ChanceHeft 37 Energie und Klima

SPD-Landesverband Brandenburg, Alleestraße 9, 14469 PotsdamPVST, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550