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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Was liegt hinter den Tönen?

Der Philosoph Ernst Bloch und die Musik (1)

Mit Werner Klüppelholz

Sendung: 31. Juli 2017

Redaktion: Dr. Bettina Winkler

Produktion: SWR 2017

Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung

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SWR2 Musikstunde mit Werner Klüppelholz 31. Juli - 04. August 2017

Was liegt hinter den Tönen?

Der Philosoph Ernst Bloch und die Musik

I Sau tot

In dieser Woche geht es um die Frage „Was liegt hinter den Tönen?“, zu der uns der

Philosoph Ernst Bloch führt. Die heutige Sendung heißt „Sau tot“. Dazu begrüßt Sie

Werner Klüppelholz.

Indikativ

Ein Augenzeuge: „Der große Vortragssaal ist überfüllt, auch das Podium voll besetzt.

Aus einer Seitentür wird ein Mann geführt, fast weißhaarig, gebeugt, an zwei

Krücken gehend. Trotzdem muss er noch gestützt werden. Sein Begleiter führt ihn

zum Rednerpult, die Krücken werden abgestellt, dann geht es los. Ernst Bloch

spricht. Woher die Kraft aus diesem kranken Körper kommt, bleibt unerfindlich. Der

alte Mann da, der mit beiden Armen das Rednerpult umklammert, donnert, säuselt,

jubelt, schimpft, doziert, deklamiert – er steht unter Dampf, da braust und zischt es,

dieser 86jährige Greis lebt auf eine Art und Weise, die den Zuhörer in Bann schlägt.“

Musik 1 (O-Ton Bloch)

Vortrag

„Was ist der Mensch? Möglichkeiten der Utopie heute“ 1‘12“ – 2‘21“

68029 36

Bei aller Heiterkeit: Ernst Bloch wirkte in späteren Jahren wie ein Prophet aus dem

Alten Testament. Ein Seher, der den Menschen das Paradies verheißt und den Weg

dorthin beschreibt - und der verläuft über Musik.

Nicht irgendeine Musik, sondern Beethoven, und nicht irgendein Beethoven, sondern

jene sechs Takte Trompetensolo gegen Ende dieses Stückes.

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Musik 2

Beethoven:

III. Leonoren-Ouvertüre 14‘38“

Philharmonia Orchestra

Ltg. O. Klemperer

M 0360236 001

Beethoven, dritte Leonoren-Ouvertüre, am Pult des Philharmonia Orchestra stand

Otto Klemperer.

Gewiss ist es ein Rätsel, wie es jemandem gelingt, auf den wenigen Takten der

Trompete eine ganze Musikphilosophie zu errichten; ein Rätsel, das wir bis

spätestens Freitag gelöst haben werden. Denn an sich ist diese Dreiklangsbrechung

ziemlich belanglos und uncharakteristisch. Hörte ich – waidmännischer Laie - solch

eine Melodie im Wald, würde ich eher an Gastronomie denken als an Philosophie,

etwa an ein Signal für „Jagd vorbei“ oder „Sau tot“.

Musik 3

Beethoven:

III. Leonoren-Ouvertüre

Tp. Solo 0‘30“

s. o.

Ernst Bloch wird 1885 in Ludwigshafen geboren. Ein Städtchen mit 25. 000

Einwohnern, damals zu Bayern gehörend, benannt nach König Ludwig I. Der Vater,

ein mittlerer Eisenbahnbeamter, ist gestreng, die Mutter distanziert. Materielle Armut

herrscht in der jüdisch assimilierten Familie nicht, wohl aber eine emotionale und

geistige; im ganzen Haus gibt es nicht ein einziges Buch. Die Schule bietet keinen

Ersatz. Eine wilhelminische Zuchtanstalt mit Prügelstrafe, die eher einem Gefängnis

gleicht, voller Unmündigkeit und Knechtschaft, gegen die Blochs Philosophie später

angehen wird. Seine Schulnoten sind hundsmiserabel und die Mitschüler erinnert er

als „Prä-Nazis“. Ernst rettet sich in die Phantasie. Sein philosophisches

Lebensthema, der „Tagtraum“ als Tor zum Noch-Nicht-Bewussten, Noch-Nicht-

Gewordenen, keimt bereits im Knaben, dem die Grundfähigkeit zur Philosophie

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gleichsam angeboren ist: aufmerksames Staunen. Der Achtjährige betrachtet lange

auf dem Schulweg in einem Schaufenster eine bemalte Nährollenschachtel: „Eine

Hütte war zu sehen, mit viel Schnee, der Mond stand hoch und gelb am blauen

Winterhimmel, in den Fenstern der Hütte brannte ein rotes Licht.“ Dieses Bild, die

warme Stube in einer kalten Welt, kehrt in Blochs Schriften mehrfach wieder als

Metapher für Metaphysik wie für Musik, das rote Fenster habe er „nie vergessen“.

Freilich findet die Phantasie des Kindes genügend Nahrung ebenfalls an anderen

Stellen Ludwigshafens, wo die Kneipen Namen tragen wie „Zum Scharfrichter von

Augsburg“ oder „Zum Sohn der Wildnis.“ Ein Ort, der den Horizont besonders leicht

erweiterte, ist der Hafen. Hier legen die Schiffe aus Holland an, deren Matrosen vor

gebannten Kinderohren ihr Seemannsgarn spinnen und einmal kurz davor stehen,

auf Blochs Brust ein Segelschiff und auf seiner linken Hand einen Ludwigshafener

Anker zu tätowieren. Daneben liest Ernst englische Detektiv- und Seeräuberromane,

die den Rhein in die Themse verwandeln, und er macht eine für ihn höchst wichtige

Entdeckung, die Bücher von Karl May. Von Anfang an ist Ernst Bloch ein kapitaler

Leser und als Kind bereits wird er zum Autor. Ein beliebtes Weihnachtsgeschenk für

Jungen war eine Dampfmaschine, die Ernst zu seinem ersten Text inspiriert, betitelt

„Über die Verhütung von Dampfkesselexplosionen“.

Wie kulturfern es im Hause Bloch auch zugeht, so ist der Vater wenigstens Mitglied

in einem Männergesangverein. Einmal wird Ernst zu einem Konzert mitgenommen

und bei einer Programmnummer lässt seine Phantasie alles zusammenfließen,

Erlebtes und Erträumtes, die holländischen Matrosen, den Wilden Westen und die

Seeräuber: „Da hörte ich später den Matrosentanz aus dem Holländer, die großartige

None, die Piccoloflöte als Bootsmannspfeife. Gleich wurde das Stück wild, bunt,

kolonial; Karl May und Richard Wagner schüttelten sich die Hand.“

Musik 4

Wagner:

Der fliegende Holländer

Introduktion zum III. Akt 3‘46“

Chor der Wiener Staatsoper

Wiener Philharmoniker

Ltg. H. von Karajan

M 0378668 006

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Das war die Einleitung zum dritten Akt von Wagners Oper „Der fliegende Holländer“,

mit dem Chor der Wiener Staatsoper und den Wiener Philharmonikern, geleitet von

Herbert von Karajan.

Schmutz und Rauch prägen die junge Stadt Ludwigshafen mit der größten Fabrik

Deutschlands, auf deren Straßen dem Knaben das Industrieproletariat begegnet und

Ernst über die ausgemergelten Gesichter der Arbeiter nachzudenken beginnt. „Ein

Schritt über die Brücke“, notiert Bloch nachmals, „und die Luft war anders.“

Mannheim ist eine gediegen-bürgerliche Stadt mit einem alten Schloss darin und die

Gegensätzlichkeit beider Orte empfindet der Heranwachsende als „Gleichzeitigkeit

des Ungleichzeitigen“, was später ein wichtiger Gedanke Blochs wird. „Der harte,

seltsam knisternde Akkord zwischen dem Futurum links des Rheins und dem

Antiquarium rechts des Rheins ging mir ziemlich deutlich durch mein ganzes

Philosophieren nach.“ Wie gleichermaßen der Pfälzer Dialekt beim Sprechen. Die

Bibliothek im Mannheimer Schloss wird für Bloch zur „philosophiehaltigen Oase“.

Hier begegnen ihm zum ersten Mal Karl Marx, der für Ludwigshafen steht, und Georg

Friedrich Wilhelm Hegel, der bei Bloch Mannheim repräsentiert und den er in weiten

Teilen auswendig lernt. Bald ist er überzeugt: „Es gibt nur Karl May und Hegel, alles

dazwischen ist eine unreine Mischung.“

Mannheim besitzt ebenfalls ein großes und altes Theater. Zwar verabscheut Blochs

Vater alles Intellektuelle, doch zeigt er eine Neigung zur Musik. Daher besucht die

Familie Bloch dort regelmäßig die Opernaufführungen. Das erste Mal – Wagners

„Götterdämmerung“, Ernst ist dreizehn – gerät freilich zum Desaster: „Ich verstand

kein Wort, und die Musik war derart laut, dass sie mich abstieß. Kurz und gut, es war

entsetzlich. Sechs Stunden hat das Ganze gedauert. Nur am Schluss wurde ich

aufmerksam, als die Bühne rot wurde. Ich glaubte, das Theater brenne. Und da alle

Jungen eine große Freude haben, wenn es irgendwo brennt, blieb ich sitzen, obwohl

das Theater dunkel wurde und der eiserne Vorhang schon runterging. Der

Logenschließer musste mich hinauswerfen, und ich sah, dass der Brand aufgehört

hatte. Also auch das war Schwindel.“ Doch bald erwärmt sich der junge Bloch immer

mehr für die Oper; er plant sogar selbst eine zu komponieren, nach einem Märchen

von Hauff. Und er möchte – wie der junge Brecht – Dirigent werden. Warum auch

nicht, musikalisch ist er. Bloch kann sauber singen und mittlerweile ebenfalls

Klavierspielen, weniger genau zwar, dafür jedoch umso lauter. Ein späterer

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Ohrenzeuge: „Wenn er Wagner spielte, donnerte es, bei Beethoven und Mozart

vibrierten die Saiten. Seine Zuhörer sollten zu spüren bekommen, wie große Musik

überwältigen könne. Von einem der Lieder des jungen Richard Strauss oder einem

Satz aus einer Mahler-Sinfonie ging er unvermittelt und mit größtem Vergnügen zu

ordinären Schlagern und Märschen über.“ Am Anfang sind es vorzugsweise

Klavierauszüge von Opern, die Bloch im Mannheimer Theater gehört hatte.

Musik 5

Mozart:

Die Zauberflöte, Ouvertüre

Bearbeitung für ein Klavier 7‘11“

Babette Dorn

M 0257800 001

Babette Dorn spielte die Ouvertüre zu Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ in der

Bearbeitung für ein Klavier von Johann Nepomuk Hummel.

In der Mannheimer Schlossbibliothek kniet sich Bloch tief in die Philosophie hinein.

Vor den Eltern verheimlicht, schreibt er Briefe an bekannte Philosophen wie Mach

oder Windelband, die ihm bereitwillig – und postlagernd – auf seine philosophischen

Fragen antworten. Als beim Abitur – geschafft mit Ach und Krach – der Schuldirektor

von Blochs Studienabsicht erfährt, ruft er aus: „Sie, Bloch, und Philosophie? Dafür

sind Sie viel zu dumm!“ Dem Vater passt ohnehin die ganze Richtung nicht, er

möchte den Sohn als Lehrling in eine Eisenwarenhandlung geben. Allerdings

überkommt ihn eine leise Irritation, als der Vater auf einer Reise in die Schweiz das

Denkmal des Philosophen Schelling sieht, das immerhin ein bayrischer König

gestiftet hatte. Dennoch, Jura ist besser. Bloch setzt sich durch und geht nach

München, weniger des Studiums als vor allem einer siebzehnjährigen Schauspielerin

halber. Von der akademischen Philosophie ist er umgehend enttäuscht: „Im System

sind die Gedanken wie Zinnsoldaten, man kann sie wohl nach Belieben aufstellen,

aber kein Reich damit erobern. Unsere Philosophie war immer an grammatischen

Haken oder an der Systematik ruhebedürftiger alter Herren aufgehängt.“ Bloch ist

das alles zu brav, ihm schwebt vor eine „Philosophie in Revueform“. Er wechselt die

Universität und geht nach Würzburg, belegt weiterhin Musikwissenschaft im

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Nebenfach und promoviert nach sechs Semestern. Während der nächsten Jahre ist

Bloch in intellektuellen Salons an unterschiedlichen Orten zu finden, etwa beim

Philosophen Georg Simmel in Berlin oder bei dem Soziologen Max Weber in

Heidelberg. Dessen Frau berichtet: „Gerade war ein neuer jüdischer Philosoph da –

ein Jüngling mit enormer schwarzer Haartolle und ebenso enormem

Selbstbewusstsein. Er hielt sich offenbar für den Vorläufer eines neuen Messias und

wünschte, dass man ihn als solchen erkannte.“ Von Bloch überliefert ist ein Wort an

Marianne Weber, kurz und kernig: „Wer mich ablehnt, ist von der Geschichte

gerichtet.“ Von Max Weber stammt das heute noch aktuelle Buch „Die

protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, wo er erklärt, dass diese

Gesellschafts- und Produktionsform, die die Welt erobert hat, letztlich auf Luther

zurückgeht. Als Bloch dort verkehrte, ist Weber gerade mit Überlegungen

beschäftigt, die den Anhang zu diesem Werk bilden sollten, der da heißt „Die

rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“. Selbstverständlich wird in

Webers Kreis darüber diskutiert und Bloch sitzt mit weit geöffneten Ohren dabei.

Auch er wird anschließend etwa die rationale, das heißt mathematische Seite der

Musik einer ausführlichen Betrachtung unterziehen. Wie kommt es, fragt Weber,

dass in anderen Musikkulturen die Oktave in ungleiche Abstände unterteilt wird, bei

uns dagegen in zwölf gleichmäßige Stufen? Es ist die westliche Rationalität,

symbolisiert in jeder Klaviertastatur und exemplarisch ausgeführt in Bachs

Wohltemperiertem Klavier.

Musik 6

Bach:

Das Wohltemperierte Klavier II

Präludium und Fuge a-moll 6‘45“

F. Gulda

MPS 0300650 MSW LC 0979

Friedrich Gulda spielte Präludium und Fuge in a-moll aus dem zweiten Teil des

Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.

Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs heiratet Ernst Bloch die lettische Bildhauerin

Else von Stritzky. Sie, die große Liebe seines Lebens, stirbt bereits einige Jahre

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danach. Am Beginn des Krieges, den Bloch als einer der Wenigen vehement

ablehnt, soll er eingezogen werden. Er sei allerdings kurzsichtig und farbenblind,

gibt er zu bedenken, und er möchte nicht verantworten, aus Versehen einen

deutschen General zu erschießen. Tatsächlich wird Bloch ausgemustert. Seine

lebenslang wirklich schlechten Augen hindern ihn indes nicht, sich intensiv mit

zeitgenössischer Malerei zu befassen und interessiert das neue Medium Film zu

verfolgen, das er schon als Jugendlicher auf den Jahrmärkten von Ludwigshafen

oder Mannheim erlebt hat. Von Anfang an werden die sprachlosen, geisterhaften

Schatten des Stummfilms mit Musik begleitet; populäre Schlager, Teile aus Opern

oder Programmmusik, was auch immer irgendwie zur Handlung passt. Dabei macht

Bloch eine kluge Beobachtung. Er stellt fest, dass der Film die gewohnte

ganzheitliche Wahrnehmung der Wirklichkeit auf das Sehen allein reduziert und dass

es die Aufgabe der Kinomusik sei, „die Vertretung aller übrigen Sinne“ zu leisten.

Einerseits kann Musik Gerüche oder Temperaturempfindung gewiss nicht ersetzen;

andererseits kann sie viel mehr, was Bloch gerade beim Stummfilm bemerkt und was

heute noch in jedem Filmstudio zu überprüfen ist, wenn die Tonspur zu den Bildern

hinzutritt: Musik vermag die Realität zu verändern, zu verzaubern, zu überschreiten.

Den ersten Impuls zu seiner Musikphilosophie hat Ernst Bloch mithin auf der Kirmes

empfangen.

Die Kinomusik jener Jahre – stets live gespielt – ist verklungen und vertan. Nehmen

wir stattdessen die erste Originalkomposition der Filmmusikgeschichte. Sie ist 1907

entstanden und beendet – zumindest für diesen Streifen - die Anarchie der

Kinomusik, wo etwa der Stummfilmstar Asta Nielsen in Selbstmordabsicht von der

Brücke springen will und der Klavierspieler dazu das damals bekannte Liedchen

„Hüpf, Mädele, hüpf, mein Kind“ intoniert.

Die Komposition - von Camille Saint-Saens - gehört zu einem sogenannten

Kunstfilm, wo einem bürgerlichen Publikum in den nun entstehenden

Lichtspielhäusern anspruchsvollere Kost vorgesetzt werden sollte als die bis dahin

üblichen Slapsticks und Räuberpistolen. Bei Mord bleibt es freilich, nur ist das Opfer

hier ein Mitglied höherer Gesellschaftsschichten, ein Herzog, der Duc de Guise. Das

kann man aber nicht hören.

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Musik 7

Saint-Saens:

L’assassinat du Duc de Guise

5. und 6. Teil 5‘18“

Radiosinfonieorchester Frankfurt

Ltg. R. Tschupp

M 0477167

Diese erste „Musikstunde“ von Werner Klüppelholz über Ernst Bloch endete mit dem

Schluss der Musik zum Film „L’assassinat du Duc de Guise“, die Ermordung des

Herzogs von Guise, von Camille Saint-Saens. Räto Tschupp leitete das

Radiosinfonieorchester Frankfurt.