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Holm Tetens (Berlin)
Der Gott der Philosophen*
Überlegungen zur natürlichen Theologie
Der Gott der Philosophen ist tot, und die Philosophen
haben ihn getötet. So kann man den berühmten Aphorismus von
Nietzsche aus „Die fröhliche Wissenschaft“ zu einer Teildiagnose
über den gegenwärtigen Zustand der Philosophie abwandeln. Der
Gott der Philosophen, das ist erst einmal der Gott, über den
Philosophen nachdenken. Er stirbt, sobald die Philosophen nicht
mehr über ihn nachdenken. Hat sich damit für die Philosophie
natürliche Theologie erledigt? Denn im Kontext der Philosophie
bedeutet natürliche Theologie ja, darüber nachzudenken, was sich
über Gott, sein Dasein und seine Eigenschaften mit guten
Gründen schon allein durch vernünftiges Überlegen und noch
ohne Berufung auf die Offenbarung Gottes sagen lässt. Doch
wenn Philosophen nicht mehr über Gott nachdenken, so scheint
sich dieses Projekt natürlicher Theologie in der Philosophie
erledigt zu haben. Ist das wirklich so? Und wenn ja, lässt sich
natürliche Theologie trotzdem innerhalb der Philosophie
wiederbeleben? Wie könnte, wie müsste eine solche
Wiederbelebung natürlicher Theologie aussehen? Und schließlich,
wie steht es dann mit den Theologen? Können sie uns
Philosophen helfen? Wollen sie uns überhaupt helfen?
** Vortrag im Rahmen der Festveranstaltung am Reformationstag mitPromotionsfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät der UniversitätTübingen am 31. Oktober 2014.
Das sind die Fragen, zu denen ich drei Thesen vortragen
und zur Diskussion stellen möchte. Ich will Sie gleich warnen.
Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen ein Stück inhaltlicher
philosophischer Theologie vortrage. Bis auf eine einzige kleine
Andeutung, werde ich Ihnen in diesem Vortrag nicht verraten, was
es nach meiner Sicht mit dem Gott der Philosophen inhaltlich auf
sich hat und wie er sich zum Gott des Glaubens verhält. In dieser
Hinsicht kann ich zu meiner Ehrenrettung nur anmerken, dass ich
meine inhaltliche Grundidee einer philosophischen Theologie in
einem kleinen Büchlein mit dem Titel „Gott denken. Ein Versuch
über rationale Theologie“ niedergelegt habe, von dem immerhin
schon die Druckfahnen existieren. Doch davon heute wie gesagt
nichts. Stattdessen möchte ich über die Möglichkeit
philosophischer Theologie in der Zeit ihrer bisher stärksten Krise
nachdenken. Die erste These trage ich Ihnen unter der Überschrift
vor:
I Theologischer Analphabetismus
Ich beginne mit der Erinnerung an eine Frage, die die
Gemüter zurzeit durchaus bewegt. Erleben wir gegenwärtig eine
Rückkehr der Religionen? Ist damit widerlegt, was viele
Theoretiker der Moderne angenommen hatten, nämlich dass sich
der Prozess der Säkularisierung, ist er erst einmal in Gang
gekommen, nicht mehr wieder umkehren lässt? Eine Antwort
muss, dafür sprechen alle soliden religionssoziologischen und
religionswissenschaftlichen Forschungsbefunde, sehr differenziert
2
und vorsichtig ausfallen. Und doch glaube ich, dass man einen
auffälligen Befund schwerlich wird in Abrede stellen können. Eine
rapide wachsende Zahl von Angehörigen der intellektuellen Eliten
in den hochindustrialisierten Ländern Westeuropas wendet sich
von den Kirchen und der Theologie ab und wird von ihnen nicht
mehr erreicht. Die Entplausibilisierung jedes substanziellen
Gottesgedankens – das ist es ja, was man allein sinnvoll mit
Nietzsche den „Tod Gottes“ nennen kann,- schreitet unter den
intellektuellen Eliten doch einigermaßen munter voran.
Die Abkehr maßgeblicher intellektueller Kreise von
Theologie und Religion lässt sich paradigmatisch und
eindrucksvoll in ihrer Wucht und Wirkung am Innenleben eines
Faches an unseren Universitäten besonders gut studieren, ich rede
von meinem eigenen Fach, ich rede von der Philosophie.
Betrachten wir die Philosophie!
Ich verstehe die Philosophie so, dass sie auf einer Leitfrage
beruht. Erst aus dieser Leitfrage heraus ergibt sich letzten Endes
die geradezu uferlose Vielzahl der Themen und
Problemstellungen, die an der Philosophie immer wieder irritiert.
Angesichts der Vielzahl ihrer Probleme und Fragestellungen – es
gibt fast nichts, über das Philosophen nicht nachdenken - , droht
die Philosophie in ein zusammenhangloses Sammelsurium von
Fragen und Themen auseinanderzufallen, gäbe es nicht doch so
etwas wie eine Leitfrage, die die scheinbar disparaten Fragen der
Philosophie am Ende zusammenhält. Ich würde diese Leitfrage,
die natürlich notgedrungen sehr allgemein ausfallen muss, in
3
folgender Weise formulieren: Wie lassen sich das Ganze der
Wirklichkeit und die besondere Stellung des Menschen in ihr
vernünftig denken, und zwar vernünftig denken nicht zuletzt mit
Blick auf das Glück des Menschen und die Bedingungen eines
gelingenden, eines guten menschlichen Lebens?
Im Rahmen dieser Leitfrage haben von den Vorsokratikern
bis Hegel alle Philosophen, die es in die Annalen der
Philosophiegeschichte gebracht haben, über die beiden folgenden
mit einander zusammenhängenden Fragen nachgedacht:
1. Lässt sich das Ganze der Wirklichkeit vernünftig ohne Gott denken?
2. Können insbesondere wir Menschen uns als vernünftige moralische
Personen ohne Gott verstehen?
Bis auf wenige Ausnahmen – hier wären etwa Epikur,
Hume oder radikale Materialisten unter den französischen
Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts wie LaMettrie und
d’Holbach zu nennen - haben fast alle Philosophen bis zu Hegel
beide Fragen verneint. Nein, weder das Ganze der Wirklichkeit
noch die Stellung der Menschen als vernünftige moralische
Personen lassen sich angemessen und im Ernst ohne Gott denken.
Natürlich, auch nach Hegel haben Philosophen über Gott
nachgedacht und die beiden Leitfragen einer philosophischen
Theologie weiterhin so beantwortet wie die überwältigende
Mehrheit der Philosophen bis Hegel. Aber nach Hegel schrumpfte
die Zahl der Philosophen, die sich das Ganze der Wirklichkeit
nicht sinnvoll ohne Gott denken konnten, doch in
atemberaubender Schnelligkeit. Zunehmend mehr Philosophen
4
antworteten gegenteilig: Dieser Meinungsumschwung ist an sich
schon bemerkenswert. Aber angesichts einer geradezu
erdrückenden Präsenz des Gottesgedankens in der weitaus
längsten Zeit der bisherigen abendländischen
Philosophiegeschichte ist etwas anderes noch viel
bemerkenswerter. Inzwischen ist nämlich für die überwältigende
Mehrheit der Philosophen Gott mit der größten
Selbstverständlichkeit überhaupt kein ernstzunehmendes Thema
ihres Philosophierens mehr. Diese Mehrheit unter den
Philosophen macht sich noch nicht einmal mehr die Mühe, auch
nur etwas ausführlicher zu begründen, dass und warum das Ganze
der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr problemlos
ohne Gott zu denken sind. Der methodische Atheismus der
Wissenschaften mit seiner Laplaceschen Maxime „Die Hypothese
Gott benötigen wir nicht“ ist längst als eine Art von
selbstverständlichem Gewohnheitsatheismus auf die
überwältigende Mehrheit der heutigen Philosophen
übergesprungen.
Diese, wie gesagt, philosophiehistorisch markante
Entwicklung geht einher mit einem konsequenten, aber im
Einzelfall doch immer wieder verblüffenden Analphabetismus in
Fragen der Theologie und ihrer Geschichte, ganz zu schweigen
von elementaren Kenntnissen über die Bibel, die Kirchen und ihre
Geschichte. Über diese Wissensgebiete haben nach meinen
eigenen Erfahrungen als Hochschullehrer in der Philosophie 98
bis 99 Prozent der heutigen Philosophiestudenten, auch der sehr
guten Philosophiestudenten keinen blassen Schimmer, und sie
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wissen auch am Ende ihres Philosophiestudiums immer noch fast
nichts darüber, natürlich nicht zuletzt deshalb, weil ihre
akademischen philosophischen Lehrer zunehmend weniger
darüber wissen. Ich habe mir sagen lassen, dass man im Fach
Kunstgeschichte an meiner Berliner Nachbaruniversität, der
Humboldt Universität, für die Studierenden eine Kurs
„Einführung in das Christentum und seine Geschichte“ etabliert
hat, damit man nicht erleben muss, dass ein Kunststudent,
aufgefordert ein Bild zu beschreiben, antwortet „Ich sehe auf dem
Bild eine Frau im blauen Mantel mit einem Kind auf dem Arm,
um sie herum steht Landbevölkerung ….“ Eine Einführung in das
Christentum, seine Theologie und deren Geschichte für
Studierende des Faches Philosophie ist von der Sache her
mindestens ebenso vonnöten. Doch im Gegensatz zur
Kunstgeschichte nimmt die wissenschaftliche Gemeinschaft der
akademischen Philosophen dieses Nichtwissen noch nicht einmal
mehr als ein Problem, als ein Defizit wahr.
Sie als Theologen hier werden vielleicht naiv fragen, wie
man Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, Leibniz,
Kant, um nur einige Geistesriesen aus der Philosophiegeschichte
zu nennen, lesen und verstehen könne, ohne die Frage nach Gott
intellektuell immer noch ernst zu nehmen und ohne etwas über die
Theologie und die Kirchen und die Kirchengeschichte zu wissen.
Gut gefragt. Nur, ich kann Ihnen nicht zureichend antworten. Ich
kann nur konstatieren, dass die Ausklammerung theologischer
Gehalte aus der Philosophie und Philosophiegeschichte
offensichtlich irgendwie geht, irgendwie gehen muss. Die weit
6
verbreitete Rede von Gott bei fast allen Philosophen aus der
Philosophiegeschichte behandelt man in der Regel als eine Art von
intellektuellem Zeitgeistkolorit der entsprechenden Epochen aus
der Philosophiegeschichte – „so hat man damals eben geredet!“ -
und versucht ansonsten, einen Philosophen nur so weit zur
Kenntnis zu nehmen und systematisch zu rekonstruieren, dass
dessen Überlegungen zu Gott keine Beweiskraft tragende Rolle
mehr einnehmen.
Deshalb ist der Gott der Philosophen inzwischen
verstorben. Der Gott der Philosophen ist tot und die Philosophen
haben ihn getötet. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie, die Theologen,
immer das Ausmaß wahrzunehmen bereit sind, in dem das, was
Sie als Theologen leidenschaftlich bewegt, in der Philosophie zum
Non-Thema geworden ist, ohne dass das Ausklammern der
Gottesproblematik im weitesten Sinne auch nur noch den Hauch
eines ernsthaften Rechtfertigungsdrucks bei Philosophen erzeugen
würde.
Wie auch immer, etwas gilt es in seinen dramatischen
Ausmaßen festzuhalten. Und das ist auch schon die erste der
angekündigten drei Thesen. Wer heute als Philosoph noch oder
wieder fragt, was sich aus vernünftigen Überlegungen heraus über
Gott, sein Dasein, seine Eigenschaften sagen lässt, der ist damit
konfrontiert, dass die Mehrheit der Kollegen diese Frage längst
mit einem lapidaren „Nichts“ beschieden hat und sie weiteren
Nachdenkens längst nicht mehr für würdig befindet. Wer heute als
Philosoph sich dem Projekt einer Philosophischen Theologie
7
verschreibt, tut das also in einem besonderen und in einem
besonders ungünstigen kulturell-philosophischen Klima. Es
verlangt von einer Natürlichen Theologie vor allem und zunächst
einmal, die intellektuelle Legitimität und Dignität des
philosophischen Fragens nach Gott allererst zurückzuerobern.
Wie könnte, wie müsste eine solche Rückeroberung der
Frage nach Gott, ihrer Legitimität und Dignität innerhalb der
Philosophie heute aussehen? Dazu möchte ich eine zweite These
formulieren. Ich entwickle diese These in einem Abschnitt unter
der Überschrift:
II Wider die Hegemonie des Naturalismus
Dass die allermeisten Philosophen gar nicht mehr über Gott
nachdenken, lässt sich auf einen philosophischen Begriff bringen.
Die allermeisten Philosophen sind heutzutage Naturalisten, und
zwar einfach so, als ob es sich ohne weiteres von selbst verstünde,
dass man im Ernst niemals etwas anderes als Naturalist sein
könne. Im Mittelpunkt des Naturalismus steht eine These, die,
wenn man nicht genauer hinschaut, in der Tat harmlos und
plausibel daherkommt: Die Erfahrungswelt, wie sie im Prinzip
zutreffend durch die empirischen Wissenschaften beschrieben und
erklärt wird, macht schon die ganze Wirklichkeit aus. Oder
scheinbar noch unschuldiger: Es gibt nichts, was sich nicht mit
den Mittel der empirischen Wissenschaften im Prinzip zureichend
erfassen, beschreiben und erklären ließe. Deshalb lässt sich der
Naturalismus auch noch anders formulieren: Es sind die
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empirischen Wissenschaften und nur die empirischen
Wissenschaften, die uns die Wirklichkeit erschließen, während
magische, mythische, religiöse und philosophisch-metaphysische
Auffassungen der Welt, wie sie in der Kulturgeschichte der
Menschheit ja auch massiv aufgetreten sind, die eigentliche
Realität verfehlen.
Ansgar Beckermann bringt den Naturalismus treffend
durch zwei Thesen auf den Begriff: „1. Die gesamte Realität
besteht nur aus natürlichen Dingen; in der Realität gibt es weder
Götter noch Geister noch Seelen noch andere übernatürliche
Mächte und Kräfte. 2. Philosophie und Wissenschaft gehören
enger zusammen als gemeinhin angenommen wird; letztlich sind
es die Wissenschaften, die uns sagen, was es in der Welt gibt und
wie das, was es gibt, beschaffen ist.“
Dass die Philosophen Antworten auf die Frage nach dem
Ganzen der Wirklichkeit an die Wissenschaften delegieren sollten,
begründet Beckermann mit einer besonderen
Unvoreingenommenheit der Wissenschaften. Er schreibt: „Es gibt
kein methodisches a priori, das bewirkt, dass sich die
Wissenschaften nur mit bestimmten Aspekten der Welt befassen
oder dass sie die Welt nur aus einer bestimmten Perspektive
erfassen können. Denn Wissenschaft ist nicht durch eine
bestimmte Methode definiert; vielmehr ist sie der systematische
Versuch herauszufinden, welche Hypothesen am besten gestützt
sind.“ Die Welt wissenschaftlich zu untersuchen, fällt für
Beckermann damit zusammen, sie unvoreingenommen, ohne
9
Scheuklappen, ohne Vor-Urteile zu betrachten. „Wenn man die
Welt unvoreingenommen beobachtet“, so noch einmal
Beckermann, „zeigen sich in ihr weder Götter noch Geister, noch
andere übernatürliche Mächte und Kräfte.“
Beckermann präsentiert uns folgende Strategie: Man setze
die Realität mit dem erfahrungswissenschaftlich Erfassbaren in
eins und deklariere den methodischen Atheismus von einem
methodische Apriori der Wissenschaften, was er in Wahrheit ist, in
eine selbstverständliche und fraglose Konsequenz
wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit gegenüber der Welt
um, ja dann hat sich die Gottesfrage ein für alle Mal erledigt, in der
Philosophie und natürlich auch anderswo.
Die skizzierte Überlegung ist natürlich ein Kurzschluss,
aber ein nichtsdestotrotz sehr wirkungsmächtiger und weit
verbreiteter. Eines jedenfalls ist klar: Wer, wie ich in der ersten
These formuliert habe, die Legitimität und Dignität der Frage nach
Gott innerhalb der Philosophie und für Philosophen
zurückerobern will, muss beim weit verbreiteten Naturalismus
unter Philosophen ansetzen. Er muss den vorherrschenden
Naturalismus philosophisch so aufbrechen, dass Schwächen und
Defizite des Naturalismus in Stärken einer natürlichen Theologie
umgemünzt werden können. Und damit bin auch schon bei
meiner zweiten These: Natürliche Theologie fragt ja unter
anderem so: Gibt es Merkmale der Erfahrungswelt, die mehr oder
weniger eindeutig mit guten Gründen auf Gott als Schöpfer der
Welt verweisen? So unvermittelt kann man Natürliche Theologie
heutzutage nicht wieder und nicht mehr in Gang bringen. Man
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muss heute dialektisch vermittelter und raffinierter fragen: Gibt es
Schwierigkeiten mit der vorherrschenden naturalistischen Deutung
der empirischen Welt, demzufolge nichts in der Welt auf Gott als
ihren Schöpfer hindeutet, und sind es diese internen
Schwierigkeiten einer Weltdeutung im Sinne des methodischen
Atheismus, die im Gegenteil gerade Hinweise und Gründe liefert,
die Welt als Schöpfung Gottes anzusehen?
Gibt es solche Schwierigkeiten und Defizite des
Naturalismus, die eine Philosophische Theologie dialektisch für
die eigene Sache ausbeuten kann? Davon soll die dritte These
handeln. Ich lege Sie ihnen auseinander unter der Überschrift:
III Wider die Metaphysikphobie
Der Naturalismus ist eine Auskunft über das Ganze der
Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr. Jeder, der eine
solche Auskunft geben möchte, steht im Wesentlichen vor zwei
miteinander verschränkten Aufgaben. Erstens muss er in seiner
Sicht vom Ganzen der Wirklichkeit alle Arten von Entitäten
überzeugend unterbringen, deren Existenz man beim besten
Willen nicht ableugnen kann. Zweitens muss er zeigen, wie diese
verschiedenen Arten von grundlegenden Entitäten so miteinander
zusammenhängen, dass daraus die Einheit der Wirklichkeit
resultiert.
Nun drängen sich zwei Arten von Entitäten derart auf, dass
jedes philosophische Panorama des Ganzen der Welt mit ihnen
angemessen zurechtkommen muss. Da sind zum einen die
11
materiellen Dinge und Prozesse in der Welt, wie insbesondere die
Naturwissenschaften sie beschreiben und erklären. Da sind zum
anderen wir Menschen als erlebnisfähige selbst-reflexive Ich-
Subjekte. Jede ernstzunehmende philosophische Auskunft über
das Universum und unseren Platz in ihm ist daher mit der Frage
konfrontiert: Wie haben wir uns die Wirklichkeit im Ganzen
vorzustellen, damit wir verstehen, wie in ein und derselben Welt
materielle Dinge und Prozesse und zugleich erlebnisfähige
selbstreflexive Ich-Subjekte vorkommen können?
Diese Frage steht im Zentrum des Leib-Seele- oder des
Körper-Geist-Problems, mit dem die Philosophie natürlich seit
ihren griechischen Anfängen ringt. Fällt damit nicht die von mir
oben formulierte Leitfrage der Philosophie mit der Grundfrage
des Körper-Geist-Problems zusammen? In gewisser Weise schon.
Jedenfalls stimme ich Franz von Kutschera zu, wenn er schreibt:
„Auch heute kann man das Problem des Verhältnisses von
Seelisch-Geistigem und Physischem wegen seiner
Schlüsselfunktion für die Konzeption der gesamten Wirklichkeit
als die zentrale Frage der Philosophie bezeichnen.“
Nun hat in den letzten 60 Jahren die Philosophie eine im
Grunde genommen beispiellos intensive Diskussion des Körper-
Geist-Problems hinter sich gebracht. Dabei waren und sind die
allermeisten Lösungsvorschläge von vornherein im Naturalismus
kategorial verortet. Und doch hat keiner der zum Teil höchst
unterschiedlichen naturalistischen Lösungsvorschläge restlos
überzeugt und sich durchsetzen können. Es gelingt dem
Naturalismus bis auf den heutigen Tag nicht, überzeugend zu
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erklären und verständlich zu machen, warum in einer anfänglich
rein materiellen und ausschließlich von zielblinden Naturgesetzen
regierte Welt eines Tages wir Menschen als geistige selbstreflexive
Ich-Subjekte auftreten, warum wir in der Lage sind, durch
vernünftiges Denken einerseits die Natur zumindest partiell richtig
zu erkennen und andererseits auch moralische und ästhetische
Werte anzuerkennen und uns in unserem Handeln an ihnen zu
orientieren. Jedenfalls sind alle naturalistischen Versuche, diese
drei markanten Phänomene des Geistes naturalistisch zu erklären,
in der Philosophie höchst umstritten. In welchen Erklärungsnöten
der Naturalismus weiterhin steckt, hat jüngst der amerikanische
Philosoph Thomas Nagel in seinem Buch „Geist und Kosmos.
Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der
Natur so gut wie sicher falsch ist“ wirklich eindrucksvoll
aufgezeigt.
Man könnte gegen meinen Lagebericht aus der Philosophie
einwenden, offensichtlich sei der Naturalismus in der Philosophie
doch hart umkämpft, und das passe nicht gut zu meiner
Behauptung, die naturalistische Option gelte unter Philosophen als
keiner weiteren Diskussion bedürftige Selbstverständlichkeit für
jeden wissenschaftlich aufgeklärten Zeitgenossen.
Das Problem lässt sich schnell auflösen. Bisher habe ich
noch nicht zur Sprache gebracht, dass der Naturalismus in zwei
Grundformen auftritt. Einmal in der radikalen, der
reduktionistischen Variante, wonach alles, was es gibt, letztlich mit
Hilfe der Physik und der anderen Naturwissenschaften
13
beschrieben und erklärt werden kann. Diese Version des
Naturalismus bezeichnet man als „Materialismus“ oder noch
besser: als „Physikalismus“. Zum anderen in einer gemäßigten
Variante. Die gemäßigten Naturalisten glauben nicht, dass sich die
geistige und kulturelle Erfahrungswirklichkeit des Menschen
letzten Endes rein naturwissenschaftlich beschreiben und erklären
lässt. Hingegen sind sie sehr wohl der Auffassung, dass auch die
geistigen und kulturellen Aspekte der Erfahrungswirklichkeit,
obwohl nicht auf das Materielle und naturwissenschaftlich
Erfassbare explanatorisch reduzierbar, trotzdem notwendig an
Materielles gebunden sind und bleiben. Der gemäßigte
Naturalismus verbindet einen Dualismus physischer und
psychischer Eigenschaften mit der Vorstellung einer einseitigen
Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen, das die eigentliche
und primäre Realität sei.
Die heftige und intensive Debatte um das Körper-Geist-
Problem, von der ich gesprochen habe, spielt sich fast
ausschließlich zwischen radikalen Physikalisten und den
gemäßigten Naturalisten ab. Was bei allen Gegensätzen diese
Beteiligten eint, ist die Überzeugung: Phänomene des Seelisch-
Geistigen treten ausschließlich nur in naturgesetzlicher
Verbindung mit dem Physischen auf, das die primäre Realität
ausmacht.
An nichts ist das naturalistische Vorurteil der gegenwärtigen
Philosophie so gut abzulesen wie an der Tatsache, dass die
Debatte um das Körper-Geist-Problem auf die Alternative
reduziert wird: radikaler Naturalismus versus gemäßigter
14
Naturalismus. Genau hier gilt es einzuhaken: Die Alternative
„Physikalismus versus gemäßigter Naturalismus“ ist verkürzt und
in seiner Einseitigkeit falsch. Schon rein logisch-begrifflich gibt es
drei prinzipiell mögliche Antworten auf die Frage, was die
Wirklichkeit im Ganzen ausmacht und welche Stellung
insbesondere der Mensch in ihr einnimmt. Zum ersten die
naturalistische Antwort, die auf einen ontologischen Monismus
des Materiellen hinausläuft, zum zweiten die des Idealismus, die
einen Monismus des Geistigen behauptet, und schließlich die
Antwort des Dualismus.
Das naturalistische Vorurteil in der Gegenwartsphilosophie
blockiert die Optionen des Dualismus und Idealismus fast
vollständig. Dabei legen die nicht zu übersehenden
Erklärungslücken und Erklärungsdefizite, mit denen sowohl harte
Physikalisten wie gemäßigte Naturalisten zu kämpfen haben, die
erneute vorurteilsfreie Diskussion und Prüfung von Dualismus
und Idealismus eigentlich mehr als nur nahe. Doch die Diskussion
in der Philosophie wird gegenwärtig nicht zugunsten einer offenen
und vorurteilsfreien Erörterung der drei Optionen Naturalismus,
Dualismus und Idealismus geöffnet. Wie gesagt, vor allem der
Idealismus ist für die meisten Philosophen „mausetot“. Für diese
Denkblockade gibt es auch einen philosophischen Begriff: Er
lautet Metaphysik, oder besser: die Angst vor der Metaphysik.
Dass der Metaphysikvorwurf so verfängt und jemanden in der
Philosophie so schnell zum Schweigen bringen kann, ist der
Dominanz des Naturalismus in der Philosophie geschuldet. Es
sind nämlich gerade die Naturalisten, die sich zugutehalten,
15
konsequent jeglicher Metaphysik abgeschworen zu haben und sich
nur an die wissenschaftliche Erfahrung zu halten.
Allerdings hier geht zweierlei komplett durcheinander. Es
ist in der Tat ein Gebot der Rationalität, sich in der Philosophie in
dem Sinne an die wissenschaftliche Erfahrung zu halten, als man
den anerkannten Ergebnissen der Wissenschaften nicht
widersprechen sollte. In diesem Sinne halten sich die Naturalisten
an die wissenschaftliche Erfahrung. Allerdings, auch jeder Dualist
und jeder Idealist muss und wird, wenn er vernünftig ist, keinem
Ergebnis der Wissenschaft widersprechen.
Etwas ganz anderes aber ist, dass der Naturalist mit seiner
Behauptung, die Erfahrungswirklichkeit, wie sie durch die
Wissenschaften beschrieben wird, mache schon die ganze
Wirklichkeit aus, selber über das hinausgeht, was aus den
Ergebnissen der Wissenschaften folgt. Kein Resultat der
Wissenschaften beweist den Naturalismus. Ein solcher
vermeintlicher Beweis wäre selbstwidersprüchlich. Denn
ersichtlich kann man mit den Methoden der
Erfahrungswissenschaften nicht beweisen, dass es nichts gibt, was
sich nicht mit den methodischen Mitteln der Wissenschaften
erkennen lässt.
Der Naturalismus sitzt in Wahrheit im selben Boot wie
Dualismus und Idealismus. Alle drei Optionen sind Metaphysik.
Daran ist nichts Problematisches, im Gegenteil. Erstens:
Metaphysik ist jeder Antwortversuch auf die respektable und
unaufgebbare Leitfrage der Philosophie: Wie sind das Ganze der
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Wirklichkeit und die besondere Stellung des Menschen in ihr
vernünftig zu denken? Zweitens: Jede Antwort auf diese Leitfrage
der Metaphysik ist metaphysisch auch in dem
erkenntnistheoretischen Sinne, dass sie logisch und semantisch
unabdingbar über das hinausgehen muss, was aus den Ergebnissen
der empirischen Einzelwissenschaften allein zwingend folgt. Aber
die Ergebnisse der empirischen Einzelwissenschaften stecken
nicht die Grenzen des vernünftig Denkbaren und Sagbaren ab.
Die Antworten der verschiedenen metaphysischen Optionen
lassen sich mit klaren Begriffen und transparenten Argumenten
unterscheiden, diskutieren und gegeneinander abwägen. Trotz
ihrer kontroversen Pluralität sind in der Metaphysik nicht alle
Katzen grau. In diesem Sinne leben wir entgegen einer unter
Intellektuellen beliebten Rede nicht in einem „nach-
metaphysischen Zeitalter“. Das hätten nur die Naturalisten gerne
so. Wir leben, wie alle relevanten Epochen der europäischen
Geistesgeschichte vor uns, immer mit bestimmten metaphysischen
Antworten auf die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit und
die besondere Stellung des Menschen in ihr. Keineswegs ist nur
noch die naturalistische Standardantwort auf die Frage nach dem
Ganzen der Wirklichkeit legitim und diskussionswürdig. Aus den
inneren Schwächen und Ungereimtheiten der naturalistischen
Antwort steht zum Beispiel sehr wohl unter anderem die folgende
Option als ernstzunehmende Möglichkeit zur Debatte, eine
Option, die Franz von Kutschera selber verteidigt und so
formuliert: „Es gibt nur Gott und menschliche Subjekte sowie ihre
17
geistigen Akte und deren Produkte. Die gesamte Wirklichkeit ist
die geistige Schöpfung eines personalen Gottes“.
Damit komme ich zu meiner dritten These: Wenn
Natürliche Theologie heutezutage dialektisch als Kritik des
Naturalismus anzulegen ist, dann muss sie wesentlich hervorgehen
aus einer Kritik an den Erklärungsdefiziten und Erklärungslücken
naturalistischer Philosophien des Geistes und dazu muss sie sich
wieder für die Optionen des Dualismus und Idealismus öffnen,
und zwar ohne jede Scheu vor der Metaphysik und mit souveräner
Verachtung für den metaphilosophisch undurchdachten Vorwurf,
Metaphysik hätten wir als wissenschaftlich aufgeklärte
Zeitgenossen zu meiden.
Ich will nach diesen drei Thesen alsbald zum Schluss
kommen. Ich tue das unter einer letzten Überschrift:
IV Irritationen aus der Theologie
Ich hatte Sie schon vorgewarnt, dass Sie nichts inhaltlich
über den Gott der Philosophen erfahren werden, bis auf eine
kleine Andeutung. Hier ist sie. Die natürliche Theologie antwortet
auf zwei Fragen: 1. Erstens muss sie kosmologisch fragen: Lässt
sich das Ganze der Wirklichkeit vernünftig ohne Gott denken, wie
die Naturalisten behaupten? Aus meiner Sicht muss man darauf,
zugegebenermaßen durchaus traditionell, antworten: Nein, die
Erklärungslücken und anderen Defizite des Naturalismus deuten
darauf hin, dass man das Ganze der Wirklichkeit nur vernünftig
begreifen kann, wenn man Gott als vernünftigen Schöpfer der
18
Wirklichkeit immer mitdenkt. Gott muss als ein vernünftiges
Wesen, Gott muss als Vernunft gedacht werden, um es mit dem
Titel der neuesten Aufsatzsammlung von Vittorio Hösle zu sagen.
Zweitens fragt die Philosophische Theologie
existenzphilosophisch-anthropologisch: Lässt sich die Stellung des
Menschen im Ganzen der Wirklichkeit ohne Gott vernünftig
denken, wie der Naturalismus behauptet? Aus meiner Sicht muss
sie darauf antworten: Die existenzphilosophischen und
anthropologischen Schwierigkeiten und Ungereimtheiten der
naturalistischen Sicht auf den Menschen deuten darauf hin, dass
man die Stellung des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit nur
zureichend begreifen kann, denkt man Gott als gerechten und
gnädigen Erlöser der Welt und der Menschen. In diesem Sinne
schlägt schon die Philosophische Theologie beim Übergang von
Antworten auf die erste kosmologische zu Antworten auf die
zweite existenzphilosophisch-anthropologische Teilfrage die
Brücke vom Gott der Philosophen zum Gott des Glaubens. Die
spannende, die aufregende Frage schon innerhalb der
Philosophischen Theologie lautet dann: Wie kann und muss man
Gott als Vernunft und zugleich als gerechten und barmherzigen
Richter und Erlöser der Welt und des Menschen zureichend
denken? Unter den Titelbegriffen „Vernunft“ und „Gnade“ sollte
der Gott der Philosophen mit dem Gott des Glaubens
zusammengedacht werden. Soweit meine inhaltliche Andeutung.
Aus der Warte der philosophischen natürlichen Theologie
folgt aus meinen Überlegungen zweierlei. Erstens ist die
Philosophische Theologie genuine und legitime Metaphysik.
19
Zweitens ist Philosophische Theologie nur als und in der Kritik
des Naturalismus, auch und gerade des gemäßigten Naturalismus
möglich und sinnvoll. Und wenn bereits der Erlösergott des
Glaubens in der Philosophischen Theologie thematisch wird, dann
scheint mir endgültig klar zu sein, was eigentlich auch so klar sein
sollte: Auch Theologie als Explikation des christlichen Glaubens,
seiner Inhalte, seiner Voraussetzungen, seiner Konsequenzen ist
legitime Metaphysik und nicht innerhalb des radikalen oder
gemäßigten Naturalismus möglich und sinnvoll. Mir scheint zum
Beispiel auf der Hand zu liegen, dass die folgenden Sätze erstens
metaphysisch sind, weil sie eine Auskunft über das Ganze der
Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr geben, und
zweitens nur Sinn machen und wahr sein können, wenn man sie
im Widerspruch zu den Auskünften des gemäßigten Naturalismus
liest: „Die alte philosophische Frage ‚Warum ist überhaupt etwas
und nicht nichts?‘ wird durch den christlichen Glauben mithin so
beantwortet: Es gibt diese Welt, weil Gott sie aus Freiheit und
Liebe heraus wollte. Er hat die Welt geschaffen, weil er anderem
neben ihm das Dasein wohlwollend gönnt. Es gibt eben nichts auf
der Seite des Geschöpfes, was den Schöpfer dazu veranlasst haben
könnte, das Geschöpf zu schaffen. Gott hat die Geschöpfe
geschaffen aus dem Willen heraus, seine Liebe weiterzugeben.
Dass es diese Welt gibt, hat seinen Grund allein in der Gnade
Gottes.“ Der Text war ein Zitat aus dem „Grundlagentext“ der
EKD zur Reformation „Rechtfertigung und Freiheit“.
Deshalb bin ich als Philosoph doch einigermaßen erstaunt,
wie oft ich bei der Lektüre oder in Gesprächen auf Theologen
20
stoße - deutlich mehr evangelische Theologen freilich als
katholische -, die behaupten, Theologie und Glaube kämen völlig
ohne Metaphysik aus und seien auf der Basis des gemäßigten
Naturalismus problemlos denkbar und möglich. Ich glaube nicht,
dass das auch nur im Ansatz wahr sein könnte.
Offensichtlich scheint es für viele Theologen verlockend,
den intellektuellen Eliten dadurch nicht zu nahe zu treten, dass
man den christlichen Glauben und seine Explikation in der
Theologie als metaphysikfrei und als in den bloßen Grenzen des
gemäßigten Naturalismus möglich ausgibt. Allein, es fehlt mir
jeder Glaube, dass sich die intellektuellen Eliten für solch artige
Zugeständnisse an die zeitgeistkonforme naturalistische Weltsicht
mit einem neu entfachten Interesse für die Sache des Glaubens,
der Kirchen und ihrer Theologien bedanken werden. Mit dem
vorherrschenden Naturalismus hart ins Gericht zu gehen, das
scheint mir in unserer geistigen Situation vonnöten, und jedenfalls
hilfreich für diejenigen Philosophen, für die sich auch
philosophisch die Frage nach Gott nicht erledigt hat.
Spätestens mit dieser Schlussbemerkung dürfte deutlich
geworden sein, was mein Vortrag über die Lage der Theologie, der
Lehre von Gott innerhalb der Philosophie immer mitbeinhaltete:
einen Hilferuf aus der Philosophie als Magd der empirischen
Wissenschaften an die Theologie. Ich weiß, so etwas hatten wir
schon lange nicht mehr. Aber so sind nun einmal die Zeiten.
Wie auch immer, Sie haben zur Feier Ihrer Fakultät und
Ihres Faches jedenfalls einen Philosophen zum Vortrag
21
eingeladen, der zwar vielleicht auf eigenwillig traditionelle Weise,
aber mit Herz und hoffentlich auch mit ein bisschen Verstand an
der Zukunft der Theologie und damit am Gedeihen und Blühen
Ihrer beeindruckenden Fakultät unbedingt interessiert ist und
Anteil nimmt. Ich bedanke mich sehr, nochmals für die Einladung
und jetzt auch für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.
22