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Samuel P. Huntirigton Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach DER KAMPF DER KULTUREN The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert EUROPAVERLAG MÜNCHEN - WIEN

The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der ... · ~hen war vielleicht die wichtigste Dimension beim Aufstieg des.Vestens zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Das ausgehende

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Page 1: The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der ... · ~hen war vielleicht die wichtigste Dimension beim Aufstieg des.Vestens zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Das ausgehende

Samuel P. Huntirigton

Aus dem Amerikanischen von Holger Fliessbach

DER KAMPFDER KULTURENThe Clash of Civilizations.

Die Neugestaltung der Weltpolitikim 21. Jahrhundert

EUROPAVERLAG MÜNCHEN - WIEN

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20 Kampf der Kulturen Die neue Ara der Weltpolitik

EII'\E :\IULTlPOLARE, MCLTlKCLTURELLE WELT

wurde Geschichte. In der Welt nach dem Kalten Krieg sind diewichtigsten Unterscheidungen zwischen Völkern nicht mehrideologischer, politischer oder ökonomischer Art. Sie sindkultureller Art. Völker und Nationen versuchen heute, die ele-mentarste Frage zu beantworten, vor der Menschen stehen kön-nen: Wer sind wir? Und sie beantworten diese Frage in der tra-ditionellen Weise, in der Menschen sie immer beantwortethaben: durch Rückbezug auf die Dinge, die ihnen am meistenbedeuten. Die Menschen definieren sich über Herkunft, Reli-gion, Sprache, Geschichte, Werte, Sitten und Gebräuche, Insti-tutionen. Sie identifizieren sich mit kulturellen Gruppen: Stäm-men, ethnischen Gruppen, religiösen Gemeinschaften, Nationenund, auf weitester Ebene, Kulturkreisen. Menschen benutzenPolitik nicht nur dazu, ihre Interessen zu fördern, sondern auchdazu, ihre Identität zu definieren. Wir wissen, wer wir sind,wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.

Nationalstaaten bleiben die Hauptakteure des Weltgesche-hens. Die wichtigsten Gruppierungen von Staaten sind jedochnicht mehr die drei Blöcke aus der Zeit des Kalten Krieges, son-dern die sieben oder acht großen Kulturen der Welt. (Karte 3.)Nichtwestliche Gesellschaften, zumal in Ostasien. sind heute da-bei, ihren wirtschaftlichen Wohlstand zu entwickeln und dieGrundlage für eine Ausweitung ihrer militärischen Macht undihres politischen Einflusses zu schaffen. In dem Maße, wieMacht und Selbstbewußtsein der nichtwestlichen Gesellschaftenzunehmen, pochen sie verstärkt auf ihre eigenen kulturellenWerte und verwerfen jene, die ihnen der Westen »aufgezwun-gen« hat. »Das internationale System des 21. Jahrhunderts«, be-merkt Henry Kissinger, » ... wird mindestens sechs Großmächteaufweisen - die USA, Europa, China, Japan, Rußland und wahr-scheinlich Indien -, neben einer Vielzahl mittelgroßer und klei-nerer Länder.e: Kissingers sechs Großmächte gehören zu fünfsehr verschiedenen Kulturen, und außerdem gibt es wichtige is-lamische Staaten, die durch strategische Lage, Bevölkerungs-größe und/oder Ölreserven Einfluß auf das Weltgeschehen

nicht universal ist, und sich einigen, um diese Kultur zu erneu-ern und vor der Herausforderung durch nichtwestliche Gesell-schaften zu schützen. Ein weltweiter Kampf der Kulturen kannnur vermieden werden, wenn die Mächtigen dieser Welt eineglobale Politik akzeptieren und aufrechterhalten, die unter-schiedliche kulturelle \Vertvorstellungen berücksichtigt.

In der \Velt nach dem Kalten Krieg ist Weltpolitik zum ersten-mal in der Geschichte multipolar und multikulturell geworden.Für die längste Zeit menschlichen Daseins auf Erden warenKontakte zwischen Kulturen sporadisch oder nicht existent. ZuBeginn der Neuzeit um 1500 n. Chr. nahm dann die globale Po-litik zwei Dimensionen an. Auf der einen Seite bildeten die Na-tionalstaaten des Westens - England, Frankreich, Spanien,Österreich, Preußen, Deutschland, die USA und andere - einmultipolares internationales System im Rahmen des westlichenKulturkreises und interagierten, konkurrierten und kämpftenmiteinander. Auf der anderen Seite wurde jede andere Kulturvon den expandierenden westlichen Nationen erobert, koloni-siert oder zumindest massiv beeinflußt. (Karte 1.) Während desKalten Krieges wurde die globale Politik bipolar, und die Weltzerfiel in drei Teile. Eine Gruppe zumeist wohlhabender und de-mokratischer Gesellschaften unter Führung der USA stand in ei-ner durchgängigen ideologischen, politischen, ökonomischenund zeitweise militärischen Konkurrenz zu einer Gruppe etwasärmerer kommunistischer Gesellschaften im Machtbereich undunter Führung der Sowjetunion. Ein erheblicher Teil diesesKonfliktes wurde außerhalb dieser beiden Lager in der DrittenWelt ausgetragen, bestehend aus armen, politisch instabilenLändern, die erst seit kurzem unabhängig waren und für sichBündnisfreiheit beanspruchten. (Karte 2.)

Ende der achtziger Jahre brach die kommunistische Welt zu-sammen, und das internationale System des Kalten Krieges

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Kamp/der Kulturen Die neue Ara der rVeltpolitik 25

haben. In dieser neuen vVelt ist Lokalpolitik die Politik der Eth-nizität, Weltpolitik die Politik von Kulturkreisen. Die Rivalitätder Supermächte wird abgelöst vom Konflikt der Kulturen.

Weltpolitik wird heute nach :Y1aßgahe von Kulturen und Kul-turkreisen umgestaltet. In dieser Welt werden die hartnäckig-sten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht zwischen so-zialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen ökonomischdefinierten Gruppen stattfinden, sondern zwischen Völkern, dieunterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören. Innerhalbder einzelnen Kulturkreise werden Stammeskriege und oth ni-sehe Konflikte auftreten. Die Gewalt zwischen Staaten undGtuppon aus unterschiedlichen Kulturkreisen jedoch triigt denKeim der Eskalation in sich, da andere Staaten und Gruppen ausdir-son Kultu rkrciseri ihren »Brudr-rliindern- (kin cou ntrir-s ): zuHilfe eilen werden. Der blutige Kampf der Clans in Somaliabirgt nicht die Gefahr eines größeren Konf1ikts. Der blutigeKampf der Stiimme Ruandas wirkt sich auf Cganda, Zain' undBurundi aus, aber nicht sehr viel weiter. Aus dem blutigenKampf der Kulturen in Bosnien, dem Kaukasus. Mittelasienoder Kaschmir könnten größere Kriege werden. Wenn in denjugoslawischen Konf1ikten Rußland den Serben diplomatischeUnterstützung gewiihrt und Saudi-Arabien, die Turkei , der Iranund Libyen den Bosniern Geldmittel und Vvaffcn geliefert ha-ben, dann nicht aus Gründen der Ideologie oder der Machtpoli-tik oder des ökonomischen Interesses, sondern aufgrund kultu-reller Verwandtschaft. »Kulturcllo Konfliku-«, hat Vaclav Handorkannt. »greifen um sich und sind heute gefährlicher denn jezuvor," und Jacques Delors pflichtet ihm bei: »Kiinftigc Konfliktewerden sich nicht an wirtschaftlichen oder ideologischen, son-dern an kulturellen Faktoren entzünden.«. Die gefiibrlichstenKonflikte aber sind jene an den Bruchlinien zwischen den Kul-turen.

In der Vvclt nach dem Kalten Krieg ist Kultur eine zugleichpolarisierende und einigende Kraft. :Vlenschen, die durch Ideo-logien getrennt, aber durch eine Kultur geeint waren, finden zu-

sarnrncn, wie die bei den Deutschlands zusa.mrnenfanden undwie die beiden Koreas und verschiedenen Chinas zusammcnzu-finden beginnen. Gesellschaften, die durch Ideologie oder hi-storische Umstände geeint, aber kulturell viPlfältig waren, fallenentweder auseinander, wie die Sowjetunion. Jugosla.wien undBosnien, oder sind starken Erschüttenmgen ausgesetzt wie dieUkraine, Nigeria, der Sudan, Indien, Sri Lanka und viele andere.Länder mit kulturellen Affinitäten kooperieren miteinander aufwirtschaftlichem und politischem Gebiet. Internationale Organi-sationen, die auf Staaten mit kultureller Gemeinsamkeit basio-rcn, wie etwa die Europäische Union, sind viell'rfolgreicher alssolche, die kulturelle Grenzen zu überschreiten suchen. Fünf-undvierzig Jahre la.ng war der Eiserne Vorhang die zentraleTrennungslinie in Europa. Diese Linie hat sich um mehrerehundert Kilometer nach Osten verschoben. I Icutc ist PS die Li-nie, die die Völker des westlichen Christentums auf der einenSeite von muslimischen und orthodoxen Völkern auf der ande-ren trennt. Österreich, Schweden und Finnland. kulturell einTeil des vVestells, waren im Kalten Krieg zu '\Jputrillität undTrennung vom Westen gezwungen. In der neue n Ara stoßen siewieder zu ihrer kulturellen Verwandtschaft in der EuropäischenUnion, und Polen, Ungarn und die Tschechische Republik sinddabei, ihnen zu folgen.

Die philosophischen Voraussetzungen, Grunrlwerte, sozialenBeziehungen, Sitten und a.llgemeinen Weltanschauunzen diffe-rieren von Kulturkreis zu Kulturkreis erheblich. Die Hovitalisic-rung der Religion in weiten Teilen der \Velt verstärkt diese kul-turellen Unterschiede. Kulturen können sich verändern, und dieArt ihrer Auswirkung auf Politik und Wirtschaft kann von Epo-che zu Epoche variieren. Gleichwohl wurzel n die wesentlichenUnterschiede in der politischen une! wirtschaftlichen Entwick-lung der Kulturkreise eindeutig in ihren unterschiedlichen kul-turellen Grundlagen. Der wirtschaftliche Erfolg Ostasiens wur-zelt in der Kultur Ostasiens, so wie die Schwierigkeiten derostasiatischen Gesellschaften bei der Etahlienmg eines stabilen

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Kampfder Kulturen Die neue Ara der Weltpolitik

demokratischen Systems von der ostasiatischen Kultur her-rühren. Die islamische Kultur erklärt zu einem großen Teil,warum die Demokratie in weiten Teilen der muslimischen Weltnicht Fuß fassen kann. Die Entwicklungen in den postkommu-nistischen Gesellschaften Osteuropas und der früheren Sowjet-union werden durch deren kulturelle Identität geprägt: Solchemit westlich-christlichem Erbe machen auf dem Wege zu wirt-schaltlicher Entwicklung und demokratischer Politik Fort-schritte; in den orthodoxen Ländern sind die Aussichten aufwirtschaftliche und politische Entwicklung unklar; in den mus-limischen Republiken sind sie düster.

Der "Vesten ist und bleibt auf Jahre hinaus der mächtigsteKulturkreis der Erde. Gleichwohl geht seine Macht in Relationzur Macht anderer Kulturkreise zurück. In dem Maße, wie der"Vesten versucht, seine Werte zu behaupten und seine Interes-sen zu schützen, sind nichtwestliche Gesellschaften mit einerAlternative konfrontiert. Einige versuchen, den Westen nachzu-ahmen und sich dem Westen anzuschließen, »mitzuhalten«. An-dere konfuzianische und islamische Gesellschaften versuchen,ihre wirtschaftliche und militärische Macht auszuweiten, umdem Westen zu widerstehen, »dagegenzuhalten«. Eine zentraleAchse der Weltpolitik nach dem Kalten K,ieg ist daher die In-teraktion der westlichen Macht und Kultur mit der Macht undKultur nichtwestlicher Gruppiemngen.

Die Welt nach dem Kalten Krieg ist demnach eine Welt aussieben oder acht großen Kulturkreisen oder »Zivilisationen«.Kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede prägen ihre In-teressen, Antagonismen und staatlichen Zusammenschlüsse.Die wichtigsten Länder der Welt kommen ganz überwiegendaus verschiedenen Kulturen. Jene lokalen Konflikte, deren Es-kalation zu umfassenderen Kriegen am wahrscheinlichsten ist,sind Konflikte zwischen Gruppen und Staaten aus verschiede-nen Kulturen. Die vorherrschenden Muster der politischen undwirtschaftlichen Entwicklung differieren von Kultur zu Kultur.Die Schlüsselthemen auf der internationalen Tagesordnung im-

plizieren Unterschiede zwischen Kulturen. Die Macht ver-schiebt sich allmählich vom lange vorherrschenden Westen aufnichtwestliche Kulturkreise. Die globale Politik ist multipolarund multikulturell geworden.

ANDERE WELfEN?

Karten und Paradigmen. Dieses Bild der Weltpolitik nach demKalten Krieg - von kulturellen Faktoren geprägt und Interaktio-nen zwischen Staaten und Gruppen verschiedener Kulturen im-plizierend - ist stark vereinfacht. Es unterschlägt vieles, verzerrtmanches und verdunkelt einiges. Totzdem benötigen wir, wennwir ernsthaft über die Welt nachdenken und effizient in ihr han-deln wollen, eine Art von vereinfachter Landkarte der Realität,eine Theorie, ein Konzept, ein Modell, ein Paradigma. Ohnederartige geistige Konstrukte gibt es nur, wie William James ge-sagt hat, ein »kunterbuntes Durcheinander«. Wie Thomas Kuhnin seinem Klassiker Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionengezeigt hat, besteht geistiger und wissenschaftlicher Fortschrittdarin, ein Paradigma, das immer weniger imstande ist, neueoder neu entdeckte Tatsachen zu erklären, durch ein neues Pa-radigma zu ersetzen, das diesen Tatsachen auf befriedigendereWeise gerecht wird. »Um als Paradigma angenommen zu wer-den«, schreibt Kuhn, »muß eine Theorie besser erscheinen alsdie mit ihr im Wettstreit liegenden, sie braucht aber nicht - undtut es tatsächlich auch niemals - alle Tatsachen, mit denen siekonfrontiert wird, zu erklären.e+ - »Um sich in unvertrautemGelände zurechtzufinden«, bemerkt auch John Lewis Gaddissehr klug, »braucht man in der Regel irgendeine Art von Land;karte. Die Kartographie ist, wie die Kognition selbst, eine not-wendige Vereinfachung, die uns erlaubt festzustellen, wo wirsind und wohin wir uns wenden.« Ein derartiges Schema warlaut Gaddis das im Kalten Krieg geläufige Bild von der Rivalitätder Supermächte; es wurde erstmals von Harry Truman artiku-liert, als »ein Stück geopolitischer Kartographie, das die interna-

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Kampf der Kulturen Der Westenund der Rest

Erster Zweiter Dritter Vierter Wa.' '~2-:':

BeijingSydneyManchesterBerlinIstanbulEnthaltungen

32301197

3730139

403711

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. .ilker und löschten sie zuweilen aus, erkundeten und besiedel-.,-[1 weniger dicht bevölkerte Landstriche. Der Export von Men-~hen war vielleicht die wichtigste Dimension beim Aufstieg des.Vestens zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert.

Das ausgehende 20. Jahrhundert erlebt einen anderen, noch,:;ößeren Aufschwung der Migration. 1990 betrug die Zahl derc-galen internationalen Migranten etwa 100 Millionen, die der:lüchtlinge etwa 19 Millionen und die der illegalen Migranten.ermutlich mindestens weitere 10 Millionen. Diese neue Migra-'.:onswelle war zum Teil das Produkt der Entkolonialisierung,.ier Errichtung neuer Staaten und staatlicher Politiken, die Men--chen zur Migration ermutigten oder zwangen. Sie war jedochsuch das Resultat von Modernisierung und technologischer Ent-wicklung. Verbesserungen des Transports machten Migration.eichter, schneller und billiger; Verbesserungen der Kommuni-xation erhöhten den Anreiz zur Wahrnehmung wirtschaftlicherChancen und förderten die Beziehungen zwischen Migrantenund ihren Familien in der Heimat. Und wie im 19. Jahrhundertdie Auswanderung durch das Wirtschaftswachstum des Westensgefördert wurde, so wurde im 20. Jahrhundert die Auswande-rung durch die wirtschaftliche Entwicklung in nichtwestlichenGesellschaften gefördert. Migration hält sich selbst am Laufen.-Wenn es in der Migration eine -Gesetzesmäßigkeit- gibt«, meintMyron Weiner, »dann die, daß ein Migrationsstrom, einmal inGang gekommen, sich selbst in Gang hält. Migranten ermög-lichen ihren Freunden und Verwandten in der Heimat die Migra-tion, indem sie ihnen Informationen über den Modus der Mi-gration liefern, ihnen Ressourcen zur Ermöglichung des Umzugserschließen und ihnen helfen, Arbeit und Wohnung zu finden.«Das Resultat ist nach seinen Worten »eine globale Migrations-krise«."

Die Westler haben konsequent und überwältigend einmütigdie Weitergabe von Kernwaffen bekämpft und Demokratie undMenschenrechte unterstützt. Dagegen ist ihre Meinung in derEinwanderungsfrage ambivalent gewesen und hat sich unter

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Gesamt 89 89 89 89

Lee Kuan Yew kommentierte: »Es ist Amerika und Engla::c: ~.lungen, China auf seinen Platz zu verweisen .... Der scheir.rer-Grund waren die -Menschenrechte« Der wahre Grund war c

politischer: die politische Durchsetzungsfähigkeit des We;:·'zu demonstrieren.e= Zweifellos interessieren sich viel l~>" .

Menschen in der Welt für Sport als für Menschenrechte. ,,' ~.Angesir.hls der Niederlagen des Westens in Menschenrechts.>:gen in Wien und anderswo erinnerte diese isolierte Demon-c=-tion westlicher »Durchsetzungsfähigkeit« gleichzeitig auch anwestliche Schwäche.

EINWANDERUNG

Wenn Demographie Schicksal ist, sind Bevölkerungsbewegu..gen der Motor der Geschichte. In vergangenen Jahrhundertc .haben unterschiedliche Wachstumsraten, wirtschaftliche Beeil:.·gungen und politische Gegebenheiten massive Wanderunge..von Griechen, Juden, germanischen Stämmen, Normanner..Türken, Russen, Chinesen und anderen bewirkt. In mancher,Fällen verliefen diese Bewegungen relativ friedlich, in anderer.sehr blutig. Die Meister der demographischen Invasion warer,jedoch die Europäer des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1821 une1924 wanderten annähernd 55 Millionen Europäer nach Überseeaus, davon 34 Millionen in die USA. Westler eroberten andere

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dem Strich in den letzten zwanzig Jahren des 20. Jahrhullc>:'-'signifikant verändert. Bis in die siebziger Jahre wurde Einv.derung in den europäischen Ländern generell gern gesehell :":.:in einigen Fällen, namentlich in Deutschland und der Schv.ausdrücklich ermutigt, um dem Arbeitskräftemangel abzuhe.:Die USA schafften 1965 die aus den zwanziger Jahren stamrr.-c.-den europa-orientierten Quoten ab und nahmen eine drasu-« . -;Revision der einschlägigen Gesetze vor, was in den siebziger c:achtziger Jahren enorme Zuwächse und neue Populationen .,Einwanderern ermöglichte. Ende der achtziger Jahre führt-:jedoch anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die zunehmenc-:Mengen von Einwanderern sowie deren überwiegend »nicr.:europäischer« Charakter zu massiven Veränderungen in d·:

Einstellungen und der Einwanderungspolitik der Europäer. \ \ ,..nige Jahre später kam es in den USA aus ähnlichen Bedenken z,einem analogen Wandel.

Die Mehrheit der Migranten und Flüchtlinge Ende des .::Jahrhunderts sind aus einer nichtwestlichen Gesellschaft in ei...andere nichtwestliche Gesellschaft gegangen. Gleichwohl h2.·der Zustrom von Migranten, die in westliche Gesellschafte.kommen, mittlerweile - in absoluten Zahlen gemessen - Fa,·das Ausmaß der europäischen Auswanderung im 19. Jahrhur.·dert erreicht. 1990 waren schätzungsweise 20 Millionen Einwan-derer in den USA, 15,5 Millionen in Europa und 8 Millionen E

Australien und Kanada. Der Anteil von Einwanderern an deGesamtbevölkerung erreichte in großen europäischen Länden.7 bis 8 Prozent. In den USA machten Einwanderer 1994 8,7 Pro-zent der Bevölkerung aus, doppelt so viel wie 1970, und stelltet.25 Prozent der Menschen in Kalifornien und 16 Prozent de:Menschen in New York. In den zehn Jahren zwischen 1981 und1990 kamen etwa 8,3 Millionen Menschen in die USA, allein irden vier Jahren zwischen 1991und 1994 waren es 4,5 Millionen

Die neuen Einwanderer kamen ganz überwiegend aus nicht-westlichen Gesellschaften. 1990 waren von den in Deutschlancilebenden Ausländern 1,675 Millionen Türken; die nächstgrößten

Kontingente stellten Jugoslawien, Italien und Griechenland. InItalien waren die Hauptursprungsländer der Einwanderer Ma-rokko, die USA (vermutlich größtenteils zurückkehrende Italo-Amerikaner), Tunesien und die Philippinen. Mitte der neunzigerJahre lebten annähernd 4 Millionen Muslime in Frankreichund bis zu 13 Millionen in Westeuropa insgesamt. In den fünf-ziger Jahren kamen zwei Drittel der Einwanderer in den USA ausEuropa und Kanada; in den achtziger Jahren kamen von densehr viel zahlreicher gewordenen Einwanderern 35 Prozent ausAsien, 45 Prozent aus Lateinamerika und kaum 15 Prozent ausEuropa und Kanada. Das natürliche Bevölkerungswachstum istin den USA niedrig und in Europa praktisch Null. Migrantenweisen hohe Fruchtbarkeitsraten auf und tragen daher am mei-sten zum künftigen Bevölkerungswachstum in westlichen Ge-sellschaften bei. Infolgedessen hegen 'Westler zunehmend dieBefUrchtung, »daß sie heute nicht von Armeen und Panzernüberrollt werden, sondern von Migranten, die andere Sprachensprechen, andere Götter verehren, zu anderen Kulturen gehörenund in Zukunft, so furchten sie, ihnen ihre Arbeitsplätze rauben,ihr Land wegnehmen, ihr Sozial system aufzehren und ihre Le-bensweise bedrohen werden.«= Diese Phobien, deren Wurzelder relative demographische Rückgang ist, basieren nach Stan-ley Hoffmann »auf echten kulturellen Konflikten und Sorgenüber die nationale Identitäte-s

Anfang der neunziger Jahre waren zwei Drittel der Migran-ten in Europa Muslime, und Sorge über die Einwanderung ist inEuropa vor allem Sorge über muslimische Einwanderung. DieHerausforderung ist eine demographische - auf das Konto vonMigranten gehen 10 Prozent der Geburten in Europa, auf dasvon Arabern 50 Prozent der Geburten in Brüssel - und eine kul-turelle. Muslimische Gemeinden, seien es türkische in Deutsch-land oder algerische in Frankreich, sind in die Gastkulturen bis-her nicht integriert und lassen zur Betroffenheit der Europäerauch weiterhin wenig Interesse hierzu erkennen. »In ganz Eu-ropa«, sagte Jean Marie Domenach 1991, »wächst die Angst vor

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einer muslimischen Gemeinschaft quer über alle europäisch -'Grenzen, quasi vor einer dreizehnten Nation der Europaisc+.Gemeinschaft.« Die Feindseligkeit der Europäer gegen Einv, <'..:.

derer ist, wie ein amerikanischer Journalist bemerkte,

»merkwürdig selektiv. Nur die wenigsten Menschen in Frank-reich fürchten einen Ansturm aus dem Osten - Polen sinoschließlich Europäer und Katholiken. Und nichtarabische afri-kanische Einwanderer werden zum größten Teil weder ge-fürchtet noch verachtet. Die Feindschaft richtet sich meistensgegen Muslime. Das Wort ,immigre< ist praktisch gleichbe-deutend mit dem Islam, heute zweitgrößte Religion in Frank-reich, und spiegelt einen kulturellen und ethnischen Rassis-mus, der tiefe Wurzeln in der französischen Geschichte hat.«"'

=-!:wanderungs-Parteien. Diese Erfolge waren aber in absoluten>iden selten sehr groß. Die Republikaner in Deutschland be-urnen bei den Europawahlen 1989 7 Prozent der Stimmen, bei:".n Bundestagswahlen 1990 aber nur '2,1Prozent. In Frankreich'::eg der Stimmenanteil der Nationalen Front, der vor 1981mi-:.:mal gewesen war, 1988 auf 9,6 Prozent und stabilisierte sich:.':nn bei Kommunal- und Parlamentswahlen bei 1'2bis 15Pro-rent. 1995 errang die Nationale Front in verschiedenen Städten,:"runter Toulon und Nizza, den Bürgermeisterposten. Ähnlich-:"egen in Italien die Stimmen für Movimento Soziale (MSI)/ AI-.-anza Nazionale von etwa 5 Prozent in den achtziger Jahren auf.) bis 15Prozent Anfang der neunziger Jahre. In Belgien steiger-.en sich bei Lokalwahlen 1994 Flämischer Block und Nationale~-ront auf 9 Prozent, wobei der Flämische Block '28 Prozent derxtimmen in Antwerpen erhielt. In Österreich steigerten sich die~-reiheitlichen bei Nationalratswahlen von kaum 10Prozent 1986auf über 15Prozent 1990 und fast '23Prozent 1994.20

Diese europäischen Parteien gegen muslimische Einwande-rung waren großenteils das Spiegelbild islamistischer Parteien inmuslirnischen Ländern. Beides waren Außenseiter, die ein kor-ruptes Establishment und seine Parteien brandmarkten, sichwirtschaftliche Mißstände, insbesondere die hohe Arbeitslosig-keit, zunutze machten, ethnische und religiöse Appelle an dieWähler richteten und ausländische Einflüsse in ihrer Gesell-schaft geißelten. In bei den Fällen beging ein extremistischerRand terroristische und gewalttätige Handlungen. In den mei-sten Fällen schnitten sowohl islamistische als auch europäischenationalistische Parteien in der Regel bei Kommunalwahlen bes-ser ab als bei landesweiten Wahlen. Das muslimische wie daseuropäische politische Establishment reagierte auf diese Ent-wicklungen auf analoge Weise. In muslimischen Ländern wur-den, wie wir sahen, die Regierungen allgemein islamischer inihren Ausrichtungen, Symbolen, Politiken und Praktiken. InEuropa übernahmen etablierte Parteien die Rhetorik und dieMaßstäbe der rechten Anti-Einwanderungs-Parteien. Wo demo-

'.

Die Haltung der Franzosen hat jedoch eher eine kulturelle Korrponente als eine im strengen Sinne rassistische. Sie habe:Schwarzafrikaner, die perfekt Französisch sprechen, im Parla-ment akzeptiert, aber sie akzeptieren nicht, daß muslimisch-Mädchen in der Schule ein Kopf tuch tragen. 1990 gab es eine:Meinungsumfrage zufolge für 76 Prozent der französischen (y.fentlichkeit zu viele Araber in Frankreich, für 46 Prozent zu viel-Schwarze, für 40 Prozent zu viele Asiaten und für '24 Prozent ZL

viele Juden. 1994 sagten 47 Prozent der Deutschen, sie würdet.nicht gerne mit Arabern Tür an Tür leben, 39 Prozent wollte..keine Polen, 36 Prozent keine Türken und '2'2Prozent keine Ju-den.>s In Westeuropa ist der gegen Juden gerichtete Antisemi-tismus weithin von einem gegen Araber gerichteten Antiserni-tismus abgelöst worden.

Die öffentliche Ablehnung der Einwanderung und Feind-seligkeiten gegen Einwanderer bekundeten sich in extremer;Gewalttaten gegen einzelne Einwanderer und Einwanderer-gemeinden, was besonders in Deutschland Anfang der neunzige:Jahre zum Problem wurde. Bedeutender waren jedoch die zu-nehmenden Wahlerfolge von rechten, nationalistischen Anti-

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kratische Parteien effizient funktionierten und es zu der islami-stischen bzw. nationalistischen Partei zwei oder mehr alternativeParteien gab, erreichte ihr Stimmenanteil bis zu 20 Prozent. DieProtestparteien vermochten diese Marge nur zu erreichen, wennes keine effiziente Alternative zu der an der Macht befindlichenPartei oder Koalition gab, wie dies in Algerien, Österreich undin beträchtlichem Umfang in Italien der Fall war.

Anfang der neunziger Jahre überboten Europas führende Po-litiker einander mit Reaktionen auf die einvvanderungsfeindlicheStimmung. In Frankreich erklärte Jacques Chirac 1990: »DieImmigration muß total gestoppt werden«, Innenminister Char-les Pasqua trat 1993 für »Null-Immigration« ein, und FranccisMitterranrl, Edith Cresson, Valery Giscard d'Estaing und anderePolitiker der Mitte vertraten einwanderungsfeindliche Stand-punkte. Bei den Parlamentswahlen 1993 war die Einwande-rungsfrage ein zentrales Wahlkampfthema und scheint zum Siegder konservativen Parteien beigetragen zu haben. In den frühenneunziger Jahren änderte die französische Regierung ihre Poli-tik, um KiIldern von Ausländern die Einbürgenmg, Familien vonAusl~ldern die Einwanderung, Ausländern den Antrag auf Asyl-gewahrung und Algeriern die Erlangung eines Visums fürFrankreich zu erschweren. Illegale Einwanderer wurden abge-schoben, die Befugnisse der Polizei und anderer mit Einwande-nmg befaßter amtlicher Stellen erweitert.

In Deutschland drückten Bundeskanzler Kohl und andereführende Politiker ebenfalls ihre Besorgnis über die Einwande-rung aus, und die Regierung änderte in einem sehr entschei-denden Schritt Artikel 16 des Grundgesetzes, der aus politischenGründen Verfolgten Asyl zusagt, und kürzte Leistungen für Asyl-bewerber. 1992 begehrten 438.000 Menschen in DeutschlandAsyl; 1994 waren es nur 1'27.000. Großbritannien hatte 1980 dieEinwanderung drastisch auf 50.000 Menschen pro Jahr begrenzt,und daher rührte diese Streitfrage weniger heftige Emotionenund weniger Widerstand auf als auf dem Kontinent. Allerdingssenkte Großbritannien zwischen 1992 und 1994 die Anzahl der

vsvlbewerber, die im Land bleiben dürfen, drastisch von über.o.ooo auf unter 10.000. Als die Freizügigkeit innerhalb der Eu-.opäischen Union in Kraft trat, konzentrierte sich die BesorgnisGroßbritanniens ganz wesentlich auf die Gefahren einer nicht--uropäischen Migration vom Festland aus. Alles in allem ten-.lierten die westeuropäischen Länder Mitte der neunziger Jahreunerbittlich dazu, die Einwanderung aus nichteuropäischen Her-sunftslandern wo nicht ganz zu unterbinden, so doch auf ein\Iinimum zu reduzieren.

In den USA kam die Einwanderungsfrage etwas später aufsTapet als in Europa und erreichte nicht ganz dieselbe emotionaleIntensität. Die USA sind immer schon ein Einwanderungslandzewesen haben sich als solches verstanden und haben historisch~beraus 'erfolgreiche Prozesse der Assimiliation von Neuan-kömmlingen entwickelt. Darüber hinaus war die Arbeitslosigkeitin den USA in den achtziger und neunziger Jahren beträchtlichniedriger als in Europa, und die Sorge um den Arbeitsplatz warkein entscheidender Faktor für die Einstellung zur Einwande-rungsfrage. Die Herkunftsländer der Einwanderer in Jeu USAwaren auch unterschiedlicher als der in Europa, und damit wardie Angst, von einer einzelnen Ausländergruppe überschwemmtzu werden, landesweit niedriger, wenngleich in bestimmten Ge-bieten sehr real. Ferner war der kulturelle Abstand der beidengrößten Migrantengruppen zur Wirtskultur in den USA geringerals in Europa: Mexikaner sind katholisch und spanischsprachig,Philippiner katholisch und englischsprachig.

Ungeachtet dieser Faktoren hat sich seit der Verabschiedungdes Gesetzes von 1965 über die Liberalisierung der Einwande-rung aus Asien und Lateinamerika die öffentliche Meinung inden USA entscheidend verändert. 1965 wünschten nur 33 Pro-zent der Öffentlichkeit weniger Einwanderung. 1977waren es 42

Prozent, 1986 waren es 49 Prozent, und 1990 und 1993 waren es62 Prozent. Umfragen aus den neunziger Jahren zeigen überein-stimmend, daß 60 Prozent und mehr der Bevölkerung für eineVerringerung der Einwanderung sind.>t Zwar beeinflussen wirt-

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Kampfder Kulturen Der Westen und der Rest

schaftliehe Belange und wirtschaftliche GegebenheitenEinstellungen zur Einwanderung, aber der stetig steigendt' \ ',derstand in guten wie in schlechten Zeiten läßt darauf schli-»daß Kultur, Kriminalität und Lebensweise bei diesem "I·nungsumschwung wichtiger waren. »Viele, vielleicht sogarmeisten Arnerikaner«, bemerkte ein Beobachter 1994, »seher.ihrer Nation noch immer ein von Europäern besiedeltes La: ..dessen Gesetze englisches Erbe sind, dessen Sprache das Er."lische ist (und bleiben soll), dessen Institutionen und öffentlic:Gebäude sich an den klassischen Normen des Westens Olien~:-ren, dessen Religion jüdisch-christliche Wurzeln hat und dess-Größe ursprünglich aus seiner protestantischen Arbeitsethik h,:·vorging.« Als Ausdruck dieser Besorgnisse gaben bei einer Stil-probe 55 Prozent der Befragten an, daß sie die Einwandern», ..für eine Bedrohung der amerikanischen Kultur hielten. \Ya:-rend Europäer die Einwanderungsbedrohung als eine muslin: -sehe oder arabische empfinden, empfinden Amerikaner sie ,~."eine lateinamerikanische und asiatische, primär jedoch als eIL·

mexikanische. Auf die Frage, aus welchen Ländern die USA i ..

viele Einwanderer hereinließen, nannten US-Amerikaner bei t~:-ner Stichprobe 1990 Mexiko doppelt so oft wie jedes ander-Land, gefolgt von - in dieser Reihenfolge - Kuba, dem »Oriem-(pauschal), Süd- und Lateinamerika (pauschal), Japan, Vietnar:und Korea."

Der wachsende öffentliche Widerstand gegen die Einwande-rung löste Anfang der neunziger Jahre eine politische Heaktio.vergleichbar jener aus, die in Europa einsetzte. Angesichts de:Eigenart des politischen Systems der USA gab es keine Stim-mengewinne für rechte und Anti-Einwanderungs-Parteien, abereinwanderungsfeindliche Publizisten und Interessengrupper,mehrten sich, wurden aktiver und lautstärker. Der Unmut galtvor allem den 3,5 bis 4 Millionen illegalen Einwanderern, une:Politiker griffen das Thema auf. Wie in Europa erfolgte di-stärkste Reaktion auf bundesstaatlicher und lokaler Ebene, wr.die meisten Kosten für die Einwanderer anfielen. Infolgedessen

verklagte der Bundesstaat Florida, dem sich später sechs weitereBundesstaaten anschlossen, die amerikanische Bundesregierungauf Zahlung von 884 Millionen Dollar jährlich, um Unterricht,Sozialhilfe, Strafverfolgung und andere durch illegale Einwan-derer verursachte Kosten zu decken. In Kalifornien, dem Bun-desstaat mit der absolut und prozentual höchsten Zahl von Ein-wanderern, erhielt Gouverneur Pete Wilson die Unterstützungder Öffentlichkeit, als er forderte, Kindern von illegalen Ein-wanderern den staatlichen Schulunterricht zu versagen, den inden USA geborenen Kindern von illegalen Einwanderern dieEinbürgerung zu verweigern und illegalen Einwanderern diestaatlichen Beihilfen zur medizinischen Notversorgung zu strei-chen. Im November 1994billigten die Kalifornier mit überwälti-gender Mehrheit Proposition 187,wodurch illegalen Ausländernund ihren Kindern medizinische, Bildungs- und Sozialleistungenversagt wurden.

Ebenfalls 1994 ging die Administration Clinton von ihremfriiheren Standpunkt ab und verschärfte die Einwanderungs-kontrollen, straffte die Gesetze zur Gewährung von politischem~-\.syl,erweiterte den »Immigration and Naturalization Service«,verstärkte die Grenzpolizei (Border Patrol) und errichtete an derGrenze zu Mexiko massive Barrieren. 1995 empfahl ein vomKongreß eingesetzter Ausschuß zur Einwanderungsreform dieReduzierung der jährlichen legalen Einwanderung von über800.000 auf 550.000 Personen, unter Bevorzugung der minder-jährigen Kinder und des Ehegatten, nicht aber anderer Fami-lienangehöriger der derzeitigen Staatsbürger und in USAWohnhaften, eine Maßgabe, »die asiatisch-amerikanische undhispanische Familien empörte«.29 Um die Jahreswende 1995/96lagen dem Kongreß Gesetze vor, in die viele Empfehlungen derKommission und andere Maßnahmen zur Einwanderungsbe-schränkung eingegangen waren. Mitte der neunziger Jahre waralso die Einwanderung eine große politische Streitfrage in denUSA geworden, und 1996machte Patrick Buchanan den Wider-stand gegen die Einwanderung zu einem zentralen Punkt seines

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Kampfder Kulturen Der Westen und der Rest

Präsidentschaftswahlkampfes. Die Vereinigten Staten tun es E.ropa gleich, was die massive Beschränkung des Zugan~s '.. ..Nichtwestlern zu ihrer Gesellschaft betrifft.

Kann Europa, können die USA sich der Migrantenflut entz.genstemmen? Frankreich hat eine signifikante Strähne von cl.·mographischem Pessimismus erlebt, die sich von dem quäle·!.-den Roman Jean Raspails in den siebziger Jahren bis zu d-:wissenschaftlichen Analyse Jean-Claude Chesnais' in den neu t _-

ziger Jahren erstreckt und 1991 von Pierre Lellouche wie folgt L-

sammengefaßt wurde: »Geschichte, geographische ähe ur::

Armut garantieren, daß es Frankreich und Europa bestimmt is..von Menschen aus den gescheiterten Gesellschaften des Süder..überschwemmt zu werden. Die Vergangenheit Europas \\,,~weiß und jüdisch-christlich. Die Zukunft wird es nicht sein.«Die Zukunft ist jedoch nicht unwiderruflich festgelegt; unckeine einzelne Zukunft ist für immer. Die Frage ist nicht, ob El;-

ropa islamisiert wird oder ob die USA hispanisiert werden. D:«Frage ist, ob Europa und Amerika zu gespaltenen Gesellschafte..mit zwei unterschiedlichen und weithin voneinander isolierte..Gemeinschaften aus zwei verschiedenen Zivilisationen werden.was seinerseits von der Anzahl der Einwanderer und davon ab-hängt, inwieweit diese an die in Europa und Amerika herr-schenden westlichen Kulturen assimiliert werden.

Europäische Gesellschaften haben in der Regel nicht derWunsch, Einwanderer zu assimilieren, oder tun sich sehr schwerdamit, und inwieweit muslimische Einwanderer und ihre Kin-der assimiliert werden wollen, ist unklar. Eine anhaltende sub-stantielle Einwanderung ist daher geeignet, Länder in eint"christliche und eine muslimische Gemeinschaft zerfallen zulassen. Dieses Resultat läßt sich in dem Maße vermeiden, wieeuropäische Regierungen und Völker bereit sind, die Kosten füreine Restriktion dieser Einwanderung zu tragen, das heißt diedirekten fiskalischen Kosten von Anti-Einwanderungs-Gesetzen.die sozialen Kosten einer weiteren Entfremdung der existieren-den Einwanderergemeinschaften und die potentiellen langfristi-

c.:en Kosten von Arbeitskräftemangel und niedrigeren Wachs-.umsraten.

Das Problem der demographischen Invasion der Muslimevird sich jedoch wahrscheinlich in dem Maße mildern, wie das3evölkerungswachstum in nord afrikanischen und nahöstlicheni;esellschaften seinen Höhepunkt erreicht, was in einigen Län-lern bereits der Fall ist, und zurückzugehen beginnt.» Insofernlemographischer Druck die Ursache der Einwanderung ist,xonnte die muslimische Einwanderung im Jahre 2025 bedeu-.end geringer sein als heute. Das gilt nicht für das subsaharischeAfrika. Wenn eine wirtschaftliche Entwicklung eintritt und diesoziale Mobilisierung in West- und Zentralafrika fördert, werdendie Anreize und Potentiale zur Migration zunehmen, und derdrohenden »Islamisierung« Europas wird seine drohende »Afri-kanisierung« folgen. Inwieweit diese Gefahr reale Gestalt an-nimmt, wird auch signifikant davon abhängen, inwieweit afrika-nische Populationen durch Aids und andere Seuchen dezimiertwerden und inwieweit Südafrika Einwanderer aus anderenTeilen Afrikas anlockt.

Während Muslime das unmittelbare Problem für Europasind, sind Mexikaner das Problem für die USA. Wenn die der-zeitigen Tendenzen und Politiken anhalten, wird sich, wie Ta-belle 8.2 zeigt, die amerikanische Bevölkerung in der erstenHälfte des 21. Jahrhunderts dramatisch verändern und zu rundjO Prozent aus Weißen, zu fast 25 Prozent aus Hispanics beste-hen. Wie in Europa, könnten Veränderungen in der Einwande-rungspolitik und die effiziente Durchsetzung von Maßnahmenzur Verhinderung der Einwanderung diese Hochrechnungenmodifizieren. Auch so wird das zentrale Thema die Frage blei-ben, inwieweit Hispanics in die amerikanische Gesellschaft soassimiliert werden, wie es bei früheren Einwanderergruppen ge-schehen ist. Hisparries der zweiten und dritten Generation sehensich diesbezüglich mit vielfältigen Anreizen und Pressionen kon-frontiert. Andererseits unterscheidet sich die mexikanische Ein-wanderung massiv von anderen Einwanderungen. Erstens

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Kampf der Kulturen Der Westen und der Rest

(arte 8.1:oe USA im Jahre 2020: ein gespaltenes Land?

haben Einwanderer aus Europa oder Asien Weltmeere zu i.: ..queren; Mexikaner spazieren über eine Grenze oder durrr.» ::

ten einen Fluß. Dies sowie die zunehmende Erleichterunz.Transport und Kommunikation erlauben es ihnen, engen h.. ..takt zu und die Identifikation mit ihren Heimatgemeindei. __halten. Zweitens konzentrieren sich mexikanische Emwand-:: -im Südwesten der USA und sind Teil einer kontinuierlichen :>.'

xikanischen Gesellschaft, die sich von Yucatan bis Colorade. 7:streckt, Drittens spricht einiges dafür, daß der Widerstand ge~oeine Assimilation unter mexikanischen Migranten stärker ist. :c.'

er es bei anderen Einwanderergruppen war, und daß Mexikai.edazu tendieren, ihre mexikanische Identität zu behalten, wie- ,',1994 in Kalifornien bei dem Kampf um Proposition 187 ofr-:kundig wurde. Viertens wurde das von mexikanischen MigL':.-ten besiedelte Gebiet seinerseits von den USA annektiert, nac rdem sie Mitte des 19. Jahrhunderts Mexiko besiegt hatten. n.-,wirtschaftliche Entwicklung Mexikos wird mit ziemlies. -Sicherheit mexikanische Revanchegelüste entstehen lasse ;Irgendwann könnten also die Resultate der militärischen b·pansion Amerikas im 19. Jahrhundert von der demographisch.':Expansion Mexikos im 21. Jahrhundert bedroht und mögliche:weise umgedreht werden, (siehe Karte 8,1)

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Tabelle 8.2Bevölkerung der USA nach Rasse und Ethnizität

1995 2020' 2050'

Nichthispanische Weiße 74% 64% 53%Hispanics 10 16 25Schwarze 12 13 14ASiaten,Pazifikinsulaner 3 6 8Indianer, Ureinwohn. Alaskas <1 <1 1Gesamt (Millionen) 263 323 394• = Schätzung

Quelle:U.S. Bureau of Census: Population Projections of the United States by Age, Sex, Race, and Hispanic Origln: ,?;.:to 2050 (Washington 1996), S. 12 f.

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330 Kampf der Kulturen

Die sich verändernde Machtbalance zwischen Kulturkre i-. .stellt den Westen vor wachsende Schwierigkeiten, seine Z:- .etwa zur ichtweitergabe von Waffen, zu Menschenrec.. ..·"und Einwanderung zu verwirklichen. Um seine Verluste in ,:.ser Situation möglichst gering zu halten, muß der Westen St'.:

wirtschaftlichen Ressourcen im Umgang mit anderen Ge~~.schaften geschickt als Zuckerbrot und Peitsche einsetzen. c.:seine Einheit zu stärken. Der Westen muß seine politischen SL-·tegien koordinieren, darnit es für andere Gesellschaften schw.criger wird, einen westlichen Staat gegen den anderen auszspielen, und er muß Differenzen zwischen nichtwestlicl.-:Staaten fordern und ausnutzen. Die Fähigkeit des Westens, di,>,·Strategien zu verfolgen, wird zum einen abhängig sein von c-"

Art und Intensität der Konflikte mit den Herausforderer-Kreis-..zum anderen davon, wie weit er gemeinsame Interessen mit Cv-"

»Pendler«-Kulturen finden und fördern kann.

KAPITEL 9

Weltpolitik und Kulturkreise

KERNSTAATENKONFLIKTE UND BRUCHLINIENKONFLIKTE

K.Tulturen sind die ultimativen menschlichen Stämme, und derKampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaß-

- :"'!). In der sich formierenden Welt können Staaten und Gruppeno~iS zwei verschiedenen Kulturkreisen miteinander begrenzte, tak-'._>l'head-hoc- Verbindungen und -Koalitionen eingehen, entwe-.er. um ihre Interessen gegen Einheiten eines dritten Kultur-xreises wahrzunehmen, oder zu anderen gemeinsamen Zwecken.Jie Beziehungen zwischen Gruppen aus verschiedenen Kultur-xreisen werden jedoch fast niemals eng, sondern für gewöhnlichxuhl und häuflg feindselig sein. Aus der Vergangenheit her-.ührende Verbindungen zwischen Staaten verschiedener Kultur-.sreise, zum Beispiel Militärbündnisse aus der Zeit des KaltenKrieges, werden voraussichtlich schwächer werden oder sichsuflösen. Die Hoffnung auf interkulturelle »Partnerschaften«, wie-ie für Rußland und Amerika einst von deren Führungsspitzenzum Ausdruck gebracht wurde, wird sich nicht erfüllen. Die ent-stehenden interkulturellen Beziehungen werden normalervveisezwischen Distanziertheit und Gewalt schwanken; die meisten',"erden sich irgendwo dazwischen bewegen. In vielen Fällenwerden sie sich voraussichtlich jenem »Kalten Frieden« an-nähern, der nach der Warnung Boris Jelzins die künftigen Be-ziehungen zwischen Rußland und dem Westen kennzeichnenkönnte. Andere interkulturelle Beziehungen könnten sich demZustand des »kalten Krieges« annähern. Der Begriff guerrajrfawurde im 13. Jahrhundert von spanischen Autoren geprägt, umderen »heikle Koexistenz« mit den Muslimen im Mittelmeer-

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Kampf der Kulturen Weltpolitik und Kulturkreise 333

raum zu beschreiben, und viele sahen in den neunziger Jahreneinen neuen »kulturellen kalten Krieg« zwischen dem Islam unddem Westen ausbrechen.' In einer Welt von Kulturlu-eisen wirdder Begriff nicht nur diese Beziehung zutreffend beschreiben.Kalter Friede, kalter Krieg, Quasi-Krieg, heikler Friede, gestöl1eBeziehungen, intensive Rivalität, rivalisierende Koexistenz.Wettrüsten: diese Wendungen sind die wahrscheinlichsten Be-zeichnungen für Beziehungen zwischen Ländern aus unter-schiedlichen Kulturkreisen. Vertrauen und Freundschaft werdenselten sein.

Dieser Konflikt nimmt zwei Formen an. Auf der lokalen oderMikro-Ebene ergeben sich Bruchlinienkonflikte zwischen be-nachbarten Staaten aus unterschiedlichen Kulturen, zwischenGruppen aus unterschiedlichen Kulturen innerhalb ein und des-selben Staates und zwischen Gruppen, die, wie in der früherenSowjetunion und im früheren Jugoslawien, den Versuch unter-nehmen, neue Staaten auf den Trümmern der alten zu errichten.Bruchlinienkonflikte sind besonders häufig zwischen Muslimenund Nichtmuslimen anzutreffen. Die Gründe fiir diese Konfliktesowie ihre Eigenart und Dynamik werden in den Kapiteln 10

und 11 untersucht. Auf der globalen oder Makro-Ebene ergebensich Kernstaatenkonflikte zwischen den großen Staaten unter-schiedlicher Kulturkreise. Gegenstand dieser Konflikte sind dieklassischen Streitfragen der internationalen Politik, nämlich:

der einen Kultur um Schutz seiner Angehörigen in eineranderen Kultur; um Diskriminierung von Menschen eineranderen Kultur oder um Ausschluß von Menschen einer ande-ren Kultur von seinem Staatsgebiet;

5. Wertvorstellungen und Kultur; hierüber kommt es zu Kon-flikten, wenn ein Staat den Versuch unternimmt, seine Wert-vorstellungen zu propagieren oder dem Volk einer anderenKultur aufzuzwingen;

6. gelegentliche Gebietsstreitigkeiten ; bei solchen Disputen wer-den Kernstaaten zu Frontkämpfern in Bruchlinienkonflikten.

J. relativer Einfluß bei der Gestaltung globaler Entwicklungenund die Aktionen internationaler Organisationen wie UNO.IWF und Weltbank;

'2. relative militärische Macht; manifestiert sich in Kontrover-sen über ichtweiterverbreitung von Waffen und Rüstungs-kontrolle und das Wettrüsten;

3. wirtschaftliche Macht und Wohlstand; manifestiert sich inStreitigkeiten über Handel, Investitionen und andere ver-wandte Fragen;

4. Menschen; manifestiert sich in Bemühungen eines Staate-

Diese Streitfragen sind natürlich in der Geschichte der Mensch-heit immer Konfliktquellen gewesen. Sobald jedoch Staaten ausverschiedenen Kulturkreisen involviert sind, wird der Konfliktdurch kulturelle Unterschiede verschärft.

Im Zuge ihrer Konkurrenz miteinander versuchen Kernsraa-ten, ihre Kulturangehörigen um sich zu sammeln, sich die Un-terstützung durch Staaten dritter Kulturkreise zu sichern, Zwi-stigkeiten und Spaltung in die Reihen des gegnerischenKulturlu-eises zu tragen und die geeignete Mixtur aus diplomati-schen, politischen, wirtschaftlichen und verdeckten Maßnahmensowie propagandistische Versprechungen und Zwänge einzuset-zen, um ihre Ziele zu erreichen. Kemstaaten werden jedoch mi-litärische Gewalt nicht direkt gegeneinander einsetzen. Ausnah-men sind Situationen, wie sie im Nahen Osten und auf demindischen Subkontinent entstanden, wo sie einander an einerkulturellen Bruchlinie gegenüberstehen. Ansonsten werdenKernstaatenlu-iege wohl nur unter zwei Umständen entstehen.Sie könnten sich erstens aus der Eskalation von Bruchlinienkon-flikten zwischen lokalen Gruppen entwickeln, wenn verwandteGruppen, einschließlich Kemstaaten, den lokalen Kombattantenzu Hilfe kommen. Gerade diese Möglichkeit schafft jedoch fürdie Kernstaaten in den entgegengesetzten Kulturkreisen einenwesentlichen Anreiz, den Bruchlinienkonflikt einzudämmenoder zu lösen.

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334 Kampfder Kulturen Weltpolitik und Kulturkreise 355

Zweitens könnte ein Kemstaatenluieg aus Veränderungen desweltweiten Machtgleichgewichts zwischen den Kulturkreisen re-sultieren. In der gliechischen Kultur führte die wachsendeMacht Athens, wie Thukydides meinte, zum PeloponnesischenKrieg, und die Geschichte der westlichen Kultur ist die Ge-schichte von »Hegemonialluiegen« zwischen aufsteigenden undabsteigenden Staaten. Inwieweit ähnliche Faktoren einen Kon-flikt zwischen den aufsteigenden und absteigenden Kernstaatenunterschiedlicher Kulturen begünstigen, hängt teilweise davonab, ob in diesen Kulturen die Politik des Sich-Anhängens oderdie Politik des Gegengewichts die bevorzugte Methode einesStaates ist, auf den Aufstieg einer neuen Macht zu reagieren. Inasiatischen Kulturen scheint man zwar die Politik des Mitlau-fens, des Aufspringens auf den Zug zu bevorzugen, aber beiStaaten anderer Kulturkreise wie den USA, Indien und Rußlanelkönnte der Aufstieg der chinesischen Macht das Bemühen umGegensteuern und Gegengewicht hervorrufen. Der fehlende He-gemonialluieg der westlichen Geschichte ist der zwischen Groß-britannien und den USA, und der friedliche Übergang von derPax Britannica zur Pax Arnericana war vermutlich ganz wesent-lich der engen kulturellen Verwandtschaft der beiden Gesell-schaften zu verdanken. Das Fehlen einer solchen Verwandtschaftim Zusammenhang mit dem sich verschiebenden Machtgleich-gewicht zwischen dem "Vesten und China macht einen bewaff-neten Konflikt zwar nicht zur Gewißheit, aber es macht ihnwahrscheinlicher. Die Dynamik des Islam ist also elie fortdau-ernde Quelle vieler relativ kleiner Bruchlinienkriege ; der Auf-stieg Chinas ist die potentielle Quelle eines großen interkultu-rellen Krieges zwischen Kernstaaten.

ISLAM UND DER VVESTEN

-.·'Iltalisten habe. Die Geschichte der letzten 1400 Jahre lehrt et-.,' anderes. Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem

.r.nstentum - dem orthodoxen wie dem westlichen - sind hau-.' :. stürmisch gewesen. Sie betrachten sich gegenseitig als den'."deren. Der Konflikt zwischen liberaler Demokratie und 1ar-..vmus-Leninismus im 20. Jahrhundert war ein flüchtiges und.~,rdergliindiges Phänomen, verglichen mit dem kontinuier-.. hen und konfliktreichen historischen Verhältnis zwischen Islam_;;cl Christentum. Manchmal stand friedliche Koexistenz im Vor-=~'rgrund; häufiger war das Verhältnis eine heftige Rivalität oder·.n heißer Krieg unterschiedlicher Intensität. Ihre »historischehnamik«, bemerkt John Esposito, »sieht die beiden Gemein-

,~haften oft in einem Wettstreit, manchmal in einem verbisse-'~'n tödlichen Ringen um Macht, Land und Seelen.s- Jahrhun-:ertelang war das Schicksal der beiden Religionen ein stetes Auf.,:-lelAb von mächtigen Vorstößen, Pausen und Gegenstößen.

Der erste arabisch-islamische Sturmlauf vom frühen 7. Jahr-::\llldert bis um die Mitte des 8. Jahrhunderts begründete die.nuslimische Herrschaft in Nordafrika, auf der Iberischen Halb-nsel, im Nahen Osten und in Nordindien. Etwa zweihundertiahrc lang stabilisierten sich die Grenzlinien zwischen Islam undChristentum. Dann errangen die Christen im späten 11. Jahr-:'undert wieder die Kontrolle über das westliche Mittelmeer,-roberten Sizilien und nahmen Toledo ein. 1095 begann die Chri--:enheit die Kreuzzüge, und anderthalb Jahrhunderte langversuchten christliche Potentaten mit immer gelingerem Erfolg,.iie christliche Herrschaft im Heiligen Land und den angrenzen-den Gebieten zu befestigen, wobei sie 1291 Akko, ihren letztenStützpunkt dort, verloren. Unterdessen waren die osmanischenTürken auf der Bildfläche erschienen. Sie schwächten zunächstB\'Zanz und eroberten dann weite Teile des Balkans sowie Nord-afrika, nahmen 1453 Konstantinopel ein und belagerten 1529

\Vien. Wie Bernard Lewis zeigt, war Europa fast tausend Jahrelang, von der ersten Landung der Mauren in Spanien bis zurzweiten Belagerung Wiens durch die Türken, ständig der

Manche Westler, unter ihnen auch Präsident Bill Clinton, habenden Standpunkt vertreten, daß der Westen Probleme nicht mitdem Islam, sondern mit gewalttätigen islamistischen Funda-

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Kampfder Kulturen Weltpolitik und Kulturkreise 337

Bedrohung des Islam ausgesetzU Der Islam ist die einzige Kulturdie das Überleben des Westens hat fraglich erscheinen lasse:und zwar gleich zweimal.Im 15·Jahrhundert hatte das Blatt sich zu wenden begonnt<

Die Christen eroberten nach und nach die Iberische Halbins-zurück - eine Aufgabe, die sie 1492 in Granada zum Abschlurbrachten. Unterdessen befähigten europäische Innovationen eil.'

dem Gebiet der Hochseenavigation die Portugiesen und ander-Völker, das muslimische Kernland zu umfahren und bis zur..Indischen Ozean und noch weiter vorzudringen. Gleichzeiu ,machten die Russen der 200jährigen Tatarenherrschaft ein End,Die Osmanen unternahmen daraufhin einen letzten Vorstoß, ir.-dem sie 1683zum zweiten Male Wien belagerten. Ihr Scheiter:dort war der Beginn eines langen Rückzugs, der begleitet wurd-von dem Kampf der orthodoxen Völker des Balkan um Befrei-ung von der Osmanenherrschaft, von der Expansion des Habs-burgerreiches und von dem dramatischen Vormarsch der Rus-sen bis zum Schwarzen Meer und zum Kaukasus. Im Verlauf vo..etwa einem Jahrhundert wurde aus der »Geißel der Christen-heit« der »kranke Mann am Bosporus«.r Bei Beendigung des Er-sten Weltkriegs gaben ihm England, Frankreich und Italien der.Gnadenstoß und etablierten in den noch verbliebenen osmarn-sehen Ländern mit Ausnahme der türkischen Republik ihre drrekte oder indirekte Herrschaft, 1920 gab es nur noch vier mus-limische Länder - die Türkei, Saudi-Arabien, den Iran un.:Afghanistan -, die von irgendeiner Form nichtmuslimische -Herrschaft verschont blieben.

Der Rückzug des westlichen Kolonialismus wiederum beganr_langsam in den zwanziger und dreißiger Jahren und erfuhr einedramatische Beschleunigung nach dem Zweiten Weltkrieg. DeoZusammenbruch der Sowjetunion bescherte weiteren muslimi-sehen Ländern die Unabhängigkeit. Nach einer Zählung wurdet:zwischen 1757und 191992 muslimische Gebiete von nichtmusl.-mischen Regierungen erworben. 1995 befanden sich 69 dieserTerritorien wieder unter muslimischer Herrschaft, und etwa .+.::

Staaten hatten eine ganz überwiegend muslimische Bevölke-nmg. Für die gewaltsame Natur dieser wechselnden Beziehun-",en spricht die Tatsache, daß 50 Prozent der Kriege zwischen?aaren von Staaten unterschiedlicher Religion zwischen 1820und;929 Kriege zwischen Muslimen und Christen waren.e

Die Ursachen für dieses Konfliktmuster liegen nicht in Über-;2:angserscheinungen wie dem christlichen Eifer des 12.Jahrhun-derts oder dem muslimischen Fundamentalismus des 20. Jahr-nunderts. Sie entspringen vielmehr der Natur dieser beidenReligionen und der auf ihnen basierenden Kulturen. Auf der ei-nen Seite war der Konflikt ein Produkt des Unterschiedes zwi-sehen beiden Religionen, besonders des Unterschiedes zwischendem muslimischen Konzept vom Islam als einer Lebensform,die Religion und Politik transzendiert und vereinigt, und dem-vestlich-christlichen Konzept von den bei den getrennten Rei-chen Gottes und des Kaisers. Der Konflikt wurzelte jedoch auchin den Ähnlichkeiten beider Religionen. Beides sind monothei-stische Religionen, die im Gegensatz zu polytheistischen Reli-gionen nicht ohne weiteres neue Gottheiten assimilieren könnenlind die Welt dualistisch in ein »wir« und ein »sie« teilen. Beidesind universalistisch und erheben den Anspruch, der eine wahreGlaube zu sein, dem alle Menschen anhängen sollen. Beidessind missionarische Religionen, die glauben, daß ihre Anhängerdie Verpflichtung haben, Nichtgläubige zu dem einen wahrenGlauben zu bekehren. Von Anfang an breitete sich der Islamdurch Eroberung aus, und ebenso das Christentum, wenn sicheine Gelegenheit bot. Die analogen Konzepte »dschihad« und-Kreuzzug« ähneln einander nicht nur, sie unterscheiden diesebeiden Glaubenssysteme auch von anderen großen Weltreligio-nen. Islam und Christentum haben, wie auch das Judentum,eine teleologische Auffassung von der Geschichte, im Gegensatzzu der in anderen Kulturen herrschenden zyklischen oder stati-schen Auffassung.

Die Heftigkeit des blutigen Konflikts zwischen Islam undChristentum wurde über die Zeiten beeinflußt von demographi-

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Kampf der Kulturen Weltpolitik und Kulturkreise 339

sehern Wachstum und Rückgang, wirtschaftlichen Entwicklun-gen, technologischem Wandel und der Intensität des religiöser,Engagements. Die Ausbreitung des Islam im 7- Jahrhundert gin,;!mit einer massiven, nach Umfang und Geschwindigkeit be.-spiellosen Migration arabischer Völker in die Länder des byzan-tinischen und des Sassaniden-Reiches einher. Die Kreuzzügeeinige Jahrhunderte später waren im großen und ganzen da-Ergebnis von Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsexpansion une:cluniazensischer Reform im Europa des 11. Jahrhunderts, die e,ermöglichten, riesige Scharen von futtern und Bauern für de nZug ins Heilige Land aufzubieten. Als der Erste Kreuzzug Kon-stantinopel erreichte, schrieb eine byzantinische Beobachterin.es habe den Anschein, als sei »das ganze Abendland, mit aller.Stämme der Barbaren, die hinter dem Adriatischen Meere undbis zu den Säulen des Herkules hausen, aufgebrochen zu einerVölkerwanderung und befinde sich mit all seiner Habe auf demWeg, in gewaltiger Masse in Asien einzubrechen.e'' Im 19. Jahr-hundert führte ein spektakuläres Revälkerungswachstum wie-derum zu einem europäischen Aufbruch und bewirkte diegrößte Migration in der Menschheitsgeschichte, die sich in mus-limische wie in andere Länder ergoß.

Eine vergleichbare Kombination von Faktoren hat Ende des20. Jahrhunderts den Konflikt zwischen dem Islam und demWesten zugespitzt. Erstens hat das muslimische Bevölkerungs-wachstum riesige Scharen arbeitsloser und entfremdeter jungerMenschen produziert, die sich für die islamistische Sacheeinspannen lassen, Druck auf benachbarte Gesellschaften aus-üben und in den Westen auswandern. Zweitens hat das islami-sehe Wiedererstarken den Muslimen neues Vertrauen in dieEigenart und die Vorzüglichkeit ihrer Kultur und ihrer Wertegegenüber jenen des Westens geschenkt. Drittens erzeugen diegleichzeitigen Bemühungen des Westens um Universalisierungseiner Werte und Institutionen, Aufrechterhaltung seinermilitärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit und Einfluß-nahme auf Konflikte in der muslimischen Welt enorme Erbitte-

--,mgunter den Muslimen. Viertens beseitigte der Zusammen-~,ruch des Kommunismus einen gemeinsamen Feind des We-siens und des Islam und ließ beide als die deutliche Hauptbe-irohung des jeweils anderen zurück. Fünftens stimulieren der.vachsende Kontakt zwischen Muslimen und Westlern und de-ren zunehmende Vermischung in beiden ein neues Gefühl für:1ieeigene Identität und für den Unterschied dieser Identitäten.oneinander, Interaktion und Vermischung verschärfen auch Dif-.erenzen über die Rechte der Mitglieder der einen Kultur in-inem Land, das von Mitgliedern der anderen Zivilisation domi-niert wird. Sowohl in muslimischen als auch in christlichenGesellschaften ging in den achtziger und neunziger Jahren dieToleranz für den anderen drastisch zurück.

Die Ursachen für den erneuten Konflikt zwischen dem Islamund dem Westen sind also in grundlegenden Fragen der Macht.md Kultur zu suchen. Kto? Kovo? Wer [beherrscht] wen? Diesezentrale Frage jeder Politik, wie sie Lenin definiert hat, ist die\V1117P1ops RiniTPns zwisr-hr-n oem Islam und dem Westen. Es

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zibt jedoch einen zusätzlichen Konflikt, den Lenin für bedeu-amgslos gehalten hätte: den Konflikt zwischen zwei verschiede-nen Auffassungen dessen, was richtig und was falsch ist, und in-fölgedessen, wer recht hat und wer nicht recht hat. Solange derIslam der Islam bleibt (und er wird es bleiben) und der Westender Westen bleibt (was fraglicher ist), wird dieser fundamentaleKonflikt zwischen zwei großen Kulturkreisen und LebensformenIhre Beziehungen zueinander weiterhin und auch in Zukunft de-finieren, so wie er sie 1400 Jahre lang definiert hat.

Diese Beziehungen werden zusätzlich durch eine Reihe vonStreitfragen belastet, die auf unterschiedlichen und gegensätz-lichen Standpunkten basieren. Historisch war die Kontrolle vonTerritorium eine bedeutende Streitfrage, die aber heute relativunerheblich ist. 19 von 28 Bruchlinienkonflikten zvvischen Mus-limen und Nichtmuslimen Mitte der neunziger Jahre waren sol-che zwischen Muslimen und Christen. Elf davon waren Kon-flikte mit orthodoxen Christen, sieben solche mit Anhängern des

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westlichen Christentums in Afrika und Südostasien. Nur el:.-..dieser gewalttätigen oder potentiell gewalttätigen Konflikte. ,=:..zwischen Kroaten und Bosniern, spielte sich direkt an .:-,.Bruchlinie zwischen dem Westen und dem Islam ab. Das fak,sche Ende des territorialen Imperialismus des Westens und c:.,-(bisherige) Ausbleiben einer erneuten territorialen Expansides Islam haben eine geographische Trennung herbeigeführt. ,daß nur an wenigen Stellen auf dem Balkan westliche und nu.s-limische Gemeinschaften wirklich unmittelbar aneinander grei.·zen. Konflikte zwischen dem Westen und dem Islam drehen Sl,:.

daher weniger um Gebietsfragen als um weitere interkulture..»Streitfragen wie Waffenweiterverbreitung, Menschenrechte UL :

Demokratie, Kontrolle der Ölquellen, Migration, islamistisch«:Terrorismus und westliche Intervention.

Nach dem Kalten Krieg wurde die zunehmende Heftigke:dieses historischen Antagonismus von Mitgliedern beider Gt:-meinschaften weithin registriert_ So sah Barry Buzan 1991viel-Gründe für einen beginnenden geselLsrhilftlichen kalten Krie ;»zwischen dem Westen und dem Islam, in dem Europa an VOf-

derster Front stehen würde«:

stantielle Gemeinschaft im Westen bereit sein, einen gesell~schaftliehen Kalten Krieg mit dem Islam nicht nur zu unterstut-zen, sondern auch durch geeignete Strategien herbeizuführen.«1990 untersuchte Bernard Lewis, ein führender westlicherIslamwissenschaftler, die »Wurzeln der muslimischen VVut«undkam zu dem Schluß:

»Es sollte nun deutlich geworden sein, daß wir es mit einerStimmung und mit einer Bewegung zu tun haben, die dieEbene der Streitfragen und Politiken und der sie verfolgendenRegierungen weit hinter sich lassen. Es handelt sich um nichtsweniger als einen -Karnpf der Kulturen- - jene vielleicht irra-tionale, aber gewiß historische Reaktion eines alten Rivalenauf unser jüdisch-christliches Erbe, unsere laizistische Gegen~wart und die weltweite Expansion von beidem. Es ist von allesentscheidender Bedeutung, daß wir unsererseits uns nichtzu einer gleichermaßen historischen, aber gleichermaßenirrationalen Reaktion auf diesen Rivalen provozieren Iassen.«z

»Diese Entwicklung hat zum Teil mit säkularen contra religiö-sen Werten zu tun, zum Teil mit der historischen Rivalität zwi-schen Christenheit und Islam, zum Teil mit der Eifersucht derwestlichen Macht, zum Teil mit Ressentiments gegenüber derDominanz des Westens bei der postkolonialen politischenStrukturierung des Nahen Ostens und zum Teil mit der Ver-bitterung und Demütigung durch den unerfreulichen Ver-gleich der Leistungen der islamischen mit denen der west-lichen Zivilisation in den letzten zweihundert Jahren.«

Ähnliche Beobachtungen kamen aus der islamischen Gemein-schaft. »Es gibt untrügliche Anzeichen für eine zunehmendeKonfrontation zwischen der jüdisch-christlichen Ethik des We-stens und der islamischen Erweckungsbewegung, die sich heutevom Atlantik im Westen bis nach China im Osten erstreckt« be-,hauptete 1994 der führende ägyptische Journalist MohammedSid-Ahmed. Ein prominenter indischer Muslim sagte 1992 vor-aus, die nächste Herausforderung des Westens werde »definitivaus der musiimischen Welt kommen. Im Bereich der islami-schen Nationen zwischen dem Maghreb und Pakistan wird derKampfum eine neue Weltordnung beginnen.« Für einen führen-den tunesischen Juristen ist dieser Kampf bereits im Gange:»Der Kolonialismus suchte alle kulturellen Traditionen des Islamzu deformieren. leh bin kein Islamist. Ich glaube nicht, daß wireinen Konflikt zwischen Religionen haben. Wir haben einenKonflikt zwischen Zivilisationen.ss

Weiter bemerkt Buzan: »Ein gesellschaftlicher Kalter Krieg mitdem Islam würde der Stärkung der europäischen Identitätinsgesamt zu einem für den Prozeß der europäischen Einigungüberaus wichtigen Zeitpunkt dienen.« Daher »mag eine sub-

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In den achtziger und neunziger Jahren war die generelleTendenz im Islam gegen den Westen gerichtet. Zum Teil ist dasdie natürliche Folge des Wiedererstarkens des Islam und dieReaktion auf die festgestellte »West-Infizierung« (gharbzadegl.»Westoxification«) muslimischer Gesellschaften. »Das neueSelbstbewußtsein des Islam, so sektiererisch es sich auch gebenmag, bedeutet die Zurückweisung des europäischen und ameri-kanischen Einflusses auf lokale Gesellschaft, Politik und Moral.«-In der Vergangenheit haben muslimische Führer gelegentlich inder Tat ihren Anhängern gesagt: »Wir müssen uns verwest-lichen.« Doch ein muslimischer Führer, der dies im letzten Vier-tel des 20. Jahrhunderts proklamieren würde, stünde allein. Esfällt denn auch schwer, Äußerungen von beliebigen Muslimen -Politikern, Beamten, Wissenschaftlern, Geschäftsleuten oderJournalisten - zu finden, die ein Lob westlicher Werte und In-stitutionen beinhalten. Vielmehr betonen sie die Unterschiedezwischen ihrem Kulturkreis und dem westlichen Kulturkreis, dieÜberlegenheit ihrer Kultur sowie die Notwendigkeit, die Inte-grität dieser Kultur gegen den Ansturm des Westens zu erhalten.Muslime fürchten und ärgern sich über die Macht des Westensund die Bedrohung, die sie für ihre Gesellschaft und ihre Über-zeugungen darstellt. Sie halten die westliche Kultur fur rnateria-listisch, korrupt, dekadent und unmoralisch. Sie halten sie aberauch für verführerisch und betonen daher nur um so mehr dieNotwendigkeit, ihrem Einfluß auf die muslimische Lebensformzu widerstehen. Zunehmend greifen Muslime den Westen nichtdarum an, weil er sich zu einer unvollkommenen, irrigen Reli-gion bekennen würde, die doch gleichwohl auf einer »heiligenSchrift« beruht, sondern darum, weil er sich zu überhaupt kei-ner Religion bekennt. In muslimischen Augen sind Laizismus.Irreligiosität und daher Unmoral des Westens schlimmere Übeials das westliche Christentum, das sie hervorgebracht hat. ImKalten Krieg war für den Westen sein Widersacher »der gottloseKommunismus«, im Kampf der Kulturen nach dem Kalten K1iegist fur Muslime ihr Widersacher »der gottlose Westen«.

Dieses Bild vom arroganten, materialistischen, repressiven,-rutalen und dekadenten Westen haben nicht nur fundamenta-.stische Imams, sondern auch Menschen, in denen viele West-

.i-r ihre natürlichen Verbündeten und Anhänger erblicken.viirden. Wenige Bücher muslimischer Autoren, die in den.ieunziger Jahren im Westen erschienen sind, haben so viel Lob.:::eerntet wie Fatima Mernissis Islam and Democracy= das im\ Vesten allgemein als die mutige Aussage einer modernen, libe-~alen Muslimin gefeiert wurde. Dabei ist die Darstellung des\Vestens in diesem Werk alles andere als schmeichelhaft. Der\ Vesten ist »rnilitaristisch« und »imperialistisch« und hat durch-kolonialen Terror« andere Nationen »traumatisiert«. Der lndi-.idualismus, Inbegriff der westlichen Kultur, ist »die Quelle al-.eri Übels«. Die Macht des Westens ist beängstigend. Der vYe-sten »allein entscheidet darüber, ob Satelliten dazu benutztwerden, um Araber zu bilden oder um sie zu bombardieren ...Er erdrückt unsere Potentiale und dringt in unser Leben ein mitseinen importierten Produkten und Fernsehfilmen, die die Sen-der überschwemmen, .. [Er] ist eine Macht, die uns erdrückt,unsere Märkte belagert und unsere letzten Ressourcen, lnitiati-ven und Potentiale kontrolliert. So nahmen wir unsere Lagewahr, und der Golfkrieg hat diese Wahrnehmung zur Gewißheit?:emacht.« Der Westen »schafft sich seine Macht durch militäri-sche Forschung« und verkauft dann die Produkte dieser For-schung an unterentwickelte Länder, die seine »passiven Konsu-menten« sind. Um aus dieser Untertänigkeit herauszukommen,muß der Islam seine eigenen Ingenieure und Wissenschaftlerausbilden, seine eigenen Waffen bauen (ob nukleare oder kon-ventionelle, sagt die Autorin picht) und »sich aus der militäri-schen Abhängigkeit vom Westen befreien«, \Vohlgemerkt: diessind nicht die Ansichten eines bärtigen, turbantragenden Aya-tollah.

Ungeachtet ihrer persönlichen politischen oder religiösen.\1einung sind sich Muslime darin einig, daß es fundamentaleUnterschiede zwischen ihrer Kultur und der westlichen Kultur

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gibt. »Grundlegend ist«, meint Scheich Ghanoushi, »daß unsereGesellschaften auf anderen Werten basieren als den westlichen.«Die Amerikaner, sagt ein ägyptischer Regierungsbeamter, »kom-men her und wollen, daß wir so sind wie sie. Sie verstehennichts von unseren Werten und unserer Kultur.« »Wir sind an-ders«, pflichtet ein ägyptischer Journalist bei. »Wir haben einenanderen Hintergrund, eine andere Geschichte. Und dement-sprechend haben wir auch das Recht auf eine andere Zukunft.«Volkstümliche wie geistig anspruchsvolle muslimische Publika-tionen beschreiben immer wieder angebliche westliche Pläneund Intrigen zur Unterwerfung, Demütigung und Unterminie-rung islamischer Institutionen und islamischer Kultur."

.nuslimischen Welt sind heute entweder wie Kuwait, Saudi-Ara-oien oder die Golf-Scheichtümer vom Westen militärisch oderwie Ägypten und Algerien vom Westen wirtschaftlich abhängig.Ende der achtziger Jahre brachen die kommunistischen Regime.n Osteuropa zusammen, als klar wurde, daß die Sowjetunion.hnen keine wirtschaftliche und militärische Unterstützung mehr;!ewähren konnte oder wollte. Falls erkennbar würde, daß der\Vesten seine muslimischen Satellitenregimes nicht längerhielte, würden sie wahrscheinlich ein vergleichbares Schicksalerleiden.

Das zunehmende muslimische Antiwestlertum hat seine Ent-sprechung in der wachsenden westlichen Besorgnis über die..islamische Bedrohung«, die insbesondere vom muslimischenExtremismus ausgeht. Der Islam gilt als Heimat der Kernwaf-fenweiterverbreitung, des Terrorismus und - in Europa - vonunerwünschten Migranten. Diese Sorgen werden sowohl vonder breiten Masse als auch von den Führungsspitzen geteilt. Im\'ovember 1994antworteten auf die Frage, ob die »islamische Er-neuerung« eine Gefahr für US-amerikanische Interessen im a-hen Osten bedeute, 61 Prozent einer Stichprobe von 35.000außenpolitisch interessierten Amerikanern mit Ja und nur '28Prozent mit Nein. Ein Jahr zuvor nannte auf die Frage, welchesLand die größte Gefahr für die USA darstelle, eine Zufallsaus-wahl der Befragten Iran, China und Irak an den ersten drei Stel-len. In ähnlicher V/eise nannten 1994 auf die Frage nach »kriti-sehen Bedrohungen« der USA 7'2 Prozent eines repräsentativenQuerschnitts der Bevölkerung, und 61 Prozent der außenpoliti-schen Spitzenpolitiker die KernwafTenweiterverbreitung und 69Prozent der befragten Bürger und 33 Prozent der führenden Po-litiker den internationalen Terrorismus - zwei Probleme, dieweithin mit dem Islam in Zusammenhang gebracht werden.Darüber hinaus sahen 33 Prozent der Öffentlichkeit und 39 Pro-zent der Spitzenfunktionäre eine Gefahr in der möglichen Ex-pansion des islamischen Fundamentalismus. Ähnliche Einstel-lungen haben die Europäer. So sagten zum Beispiel im Frühjahr

Die Reaktion gegen den Westen erkennt man nicht nur in derzentralen geistigen Stoßrichtung des wiedererstarkten Islam.sondern auch in den gewandelten Einstellungen muslimischerRegierungen gegenüber dem Westen. Die ersten postkolonialenRegierungen waren in der Regel westlich orientiert, was ihre po-litischen und wirtschaftlichen Ideologien und Strategien betraf.und prowestlich. was ihre Außenpolitik betraf, mit gewissenAusnahmen wie Algelien und Indonesien, wo die Unabhängig-keit das Ergebnis einer nationalistischen Revolution war. DochZug um Zug wurden in Irak, Libyen, Jemen, Syrien, Iran, Su-dan, Libanon und Afghanistan prowestliche Regierungen durchsolche ersetzt, die sich weniger mit dem Westen identifiziertenoder deutlich antiwestlich waren. Weniger dramatische Verän-derungen in derselben Richtung gab es in der Orientierung undBündnishaltung von anderen Staaten wie Tunesien, Indonesienund Malaysia. Die beiden verläßlichsten rnuslimischcn militäri-sehen Verbündeten der USA aus der Zeit des Kalten Krieges, dieTürkei und Pakistan, stehen intern unter politischem Druck derIslamisten, und ihre Bindungen an den Westen sind zunehmen-den Belastungen ausgesetzt.

1995war Kuwait der einzige Staat, der eindeutig prowestlicherwar als zehn Jahre zuvor. Die engen Freunde des Westens in der

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199451 Prozent der französischen Öffentlichkeit, daß die Haup;-bedrohung Frankreichs aus dem Süden komme, während nur 'Prozent sagten, sie komme aus dem Osten. Die vier Länder, ci;,-die Franzosen am meisten fürchteten, waren alle muslimisch: ')_Prozent nannten den Irak, 35 Prozent den Iran, 26 Prozer.:Libyen und 22 Prozent Algerien.v Hohe Politiker des Westens.darunter der deutsche Bundeskanzler und der französische l\L-nisterpräsident, äußerten ähnliche Bedenken, wobei der NATO-Generalsekretär 1995 erklärte, der islamische Fundamentalismu-sei »mindestens ebenso gefcihrlich wie der Kommunismus« fiirden Westen gewesen sei, und »ein sehr hochrangiges Mitglieej"der Administration Clinton den Islam weltweit als Rivalen de-Westens bezeichnete. I)

Die militärische Bedrohung aus dem Osten ist praktisch ver-schwunden, und nun richtet sich die Planung der NATO zuneh-mend auf potentielle Bedrohung aus dem Süden. Ein Analytikerder U.S. Army bemerkte 1992, die »Sudliche Reihe« ersetze heutedie Mittlere Front und werde »sehr rasch zur neuen Frontlinieder NATO«. Zur Abwehr dieser Bedrohung aus dem Süden be-gannen die südlichen Mitglieder der NATO - Italien, Frank-reich, Spanien und Portugal - gemeinsame militärische Planun-gen und Operationen und traten gleichzeitig mit den Regienmgendes Maghreb in Konsultationen über Möglichkeiten zur Be-kämpfung islamistischer Extremisten ein. Diese Bedrohungensind auch die Grundlage für das Verbleiben einer gewichtigenmilitärischen Präsenz der USA in Europa. »US-Streitkräfte sindzwar kein Allheilmittel für die Probleme, die der fundamenta-listische Islam aufwirft«, bemerkte ein früherer hoher US-Beam-ter, »aber sie werfen doch einen machtvollen Schatten auf diemilitärische Planung in dem Gebiet. Erinnern Sie sich an die er-folgreiche Entsendung amerikanischer, französischer und briti-scher Streitkräfte aus Europa im Golfkrieg 199o/91? Die Men-schen in der Region erinnern sich sehr genau.«14 Und - hätte erhinzusetzen können - sie erinnern sich mit Angst, Bitterkeit undHaß.

\.ngesichts der Meinung, die Muslime und Westler derzeit von--rnander haben, und angesichts des Aufstiegs des islamistischen:'\tremismus ist es kaum verwunderlich, daß im Anschluß an.ie iranische Revolution 1979 ein interkultureller Quasi-Krieg

.vvischeri dem Islam und dem Westen ausbrach. Es ist ein'juasi-Krieg aus drei Gründen. Erstens hat nicht der gesamte.slam gegen den gesamten Westen gekämpft. Zwei fundamen-.ahstische Staaten (Iran, Sudan), drei nichtfundamentalistische-taaten (Irak, Libyen, Syrien) sowie ein breites Spektrum isla-.mstischer Organisationen haben, finanziell unterstützt von mus-.imischen Ländern wie Saudi-Arabien, gegen die USA und ge-::,gentlich gegen Großbritannien, Frankreich und andere.vestliche Staaten und Gruppen sowie gegen Israel und die Ju-ien generell gekämpft. Zweitens ist es ein Ouasi-Krieg, weil er,;lbgesehen vom Golfkrieg 1990/91, mit begrenzten Mitteln aus-~etragen wird : Terrorismus auf der einen Seite und Luftwaffen-einsätze, verdeckte Aktionen und Wirtschaftssanktionen auf derillderen. Drittens ist es ein Quasi-Krieg, weil die Gewalttätigkeitzwar andauert, aber nicht kontinuierlich ist. Es gibt sporadischeAktionen der einen Seite, die Reaktionen der anderen Seite pro-vozieren. Trotzdem ist ein Ouasi-Krieg ein Krieg. Selbst wenn.nan die Zehntausende von irakisehen Soldaten und Zivilistennicht mitzählt, die durch westliche Bombenangriffe im Ja-nuar/Februar 1991umkamen, gehen die übrigen Toten und Ver-.etzten in die Tausende, und es gab sie buchstäblich in jedemJahr seit 1979. In diesem Ouasi-Krieg sind weit mehr Westlerzetötet worden als in dem »richtigen« Krieg am Golf.

Außerdem haben beide Seiten eingeräumt, daß dieser Kon-:1ikt ein Krieg ist. Schon früh erklärte Ayatollah Khomeini sehrzutreffend: »Der Iran befindet sich praktisch im Kriegszustandmit Amerika.ce Gaddafi proklamiert regelmäßig den Heiligen~lieg gegen den Westen. Muslimische Führer anderer extremi-stischer Gruppen und Staaten haben sich in ähnlicher Weisezeäußert. Auf westlicher Seite haben die USA sieben Länder als-terroristische Staaten« eingestuft, von denen fünf muslimisch

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sind (lran, Irak, Syrien, Libyen, Sudan; die übligen zwei sindKuba und Nordkorea). Diese Klassifizierung deklariert sie imEndeffekt zu Feinden, weil sie die USA und ihre Freunde mitder effizientesten ihnen zu Gebote stehenden Waffe angreifen.und erkennt damit die Existenz eines Kriegszustandes mit ihnenan. Von offizieller US-amerikanischer Seite werden diese Staa-ten auch immer wieder als »geächtete« und »Verbrecher«-Staa-ten bezeichnet, wodurch sie außerhalb der internationalen Ord-nung der zivilisierten Welt gestellt und zum legitimen Zielmulti- oder unilateraler Gegenmaßnahmen gemacht werden.Die R:gierun~ der USA beschuldigte die Bombenleger imWorld Irade Center, sie wollten »einen Krieg des urbanen Ter-rorismus gegen die Vereinigten Staaten« anzetteln, und vertratenden Standpunkt, die Verschwörer, denen die Planung weitererBombenanschläge in Manhattan zur Last gelegt wurde, seienSol~aten in einem Kampf gegen die USA, »der einen Krieg im-pliziert«. 'Nenn Muslime unterstellen, daß der Westen den Islambekriegt, und wenn Westler unterstellen, daß islamische Grup-p.en den Westen bekriegen, erscheint die Schlußfolgerung plau-sibel, daß etwas einem Krieg sehr Ahnliches im Gange ist.

In diesem Quasi-Krieg hat jede Seite Kapital aus den Stärkender eigenen. und den Schwächen der anderen Seite geschlagen.Militärisch ist es im wesentlichen ein Krieg zwischen Terroris-mus und Luftwaffe gewesen. Militante islamische Fanatiker ma-chen sich die offenen Gesellschaften des Westens zunutze undplazieren Autobomben an ausgewählten Zielen. Westliche Be-rufsmilitärs machen sich den offenen Himmel des Islam zunutzeund werfen »srnart bombs« auf ausgevvählte Ziele. Die islarni-sc~en Kriegsparteien schmieden Komplotte zur Emlordung pro-mmenter Westler; die USA schmieden Komplotte zum Sturz ex-tremistischer islamischer Regime. In den fünfzehn Jahrenzwischen 1980 und 1995 waren laut US-amerikanischem Vertei-digungsministerium die USA in siebzehn militärische Operatio-nen Im Nahen Osten verwickelt, die sich alle gegen Muslimerichteten. Gegen die Völker anderer Kulturkreise gab es keine

. t'rgleichbaren Militäraktionen der USA. Bis heute haben beide~"iten, abgesehen vom Golfkrieg, Gewalteinsätze au f ziemlich:.iedrigem Niveau gehalten und davon abgesehen, gewalttätigeAkte als kriegerische Handlungen zu bezeichnen, die einen um-.assende Gegenschlag verlangen. »Wenn Libyen einem seinerLO-Boote den Befehl erteilen würde, ein amerikanisches Passa-perschiff zu versenken«, meinte The Economist, »würden dieLSA dies als kriegerischen Akt einer Regierung betrachten undnicht die Auslieferung des U-Boot-Kommandanten verlangen.Der Bombenanschlag des libyschen Geheimdienstes auf eine Li-nienmaschine ist im Prinzip nichts anderes.e> Die Beteiligtensetzen in diesem Krieg jedoch viel mehr gewalttätige Taktik ge-,{eneinander ein, als die USA und die Sowjetunion im KaltenJ\.lieg gegeneinander anwendeten. Von wenigen Ausnahmen ab-gesehen, tötete keine der beiden Supennächte absichtlich Zivili-sten oder sogar Soldaten der anderen Seite. Genau das geschiehtJedoch immer wieder in diesem Quasi-Krieg.

Amerikanische Politiker unterstellen, daß die in diesemQuasi-Krieg engagierten Muslime eine kleine Minderheil dar-stellen, deren Gewaltbereitschaft von der großen Mehrheit dergemäßigten Muslime abgelehnt wird. Das mag richtig sein, dochfehlt es dafür an Beweisen. Proteste gegen antiwestliche Gewaltsind in muslimischen Ländern völlig ausgeblieben. MuslimischeRegierungen, sogar die mit dem Westen befreundeten und vonihm abhängigen Bunkerregierungen, haben sich auffallendzurückgehalten, wenn es darum ging, terroristische Akte gegenden Westen zu verurteilen. Auf der anderen Seite haben eu-ropäische Regierungen und die Öffentlichkeit Aktionen der USAgegen ihre muslimischen Gegner weithin unterstützt und seltenkritisiert, in auffallendem Gegensatz zu dem unermüdlichen Wi-derstand, den sie während des Kalten Krieges amerikanischenAktionen gegen die Sowjetunion und den Kommunismus häu-fig entgegensetzten. In Konflikten zwischen Kulturkreisen steht,anders als in ideologischen, Sippe zu Sippe.

Das tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische

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ASIEN, CHINA UND AMERIKA -

MISCHTROMMELDER KULTUREN

.ier politischen Schatten, ein Asien der Instabilität und des Kon-:1iktshervorbringen.

Die wirtschaftliche Entwicklung Asiens und das zunehmende-;elbstvertrauen asiatischer Gesellschaften stören heute die in-.emationale Politik auf mindestens dreierlei Weise. Erstens be-:liliigt ihre wirtschaftliche Entwicklung asiatische Staaten zur Ex-oansion ihres militärischen Potentials, fördert die Ungewißheit·.lber die zukünftigen Beziehungen zwischen diesen Ländern.md bringt Streitfragen und Rivalitäten aufs Tapet, die währenddes Kalten Krieges unterdrückt worden waren. Dadurch steigtdie Wahrscheinlichkeit von Konflikten und Instabilität in dieserRegion. Zweitens steigert wirtschaftliche Entwicklung die Inten-sität von Konflikten zwischen asiatischen Gesellschaften unddem Westen, in erster Linie den USA, und gibt asiatischen Ge-sellschaften zunehmend die Stärke, in diesen Kämpfen dieOberhand zu behalten. Drittens vermehrt das wirtschaftliche\Vachstum der größten Macht Asiens deren Einfluß in der Re-;!ion und somit die Wahrscheinlichkeit, daß China auf seine tra-ditionelle Hegemonie in Ostasien pocht. Das würde andere Na-tionen zwingen, entweder »mitzuhalten« und sich mit dieserEntwicklung abzufinden oder »gegenzuhalten« und den chinesi-schen Einfluß nach Möglichkeit einzudämmen.

Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam, eine 3L·

dere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer KUl'

tur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besesser.sind. Das Problem fiir den Islam sind nicht die ClA oder das c~·amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist derWesten, ein anderer Kulturkreis, dessen Menschen von der Um-versalität ihrer Kultur überzeugt sind und glauben, daß ihreüberlegene, wenngleich schwindende Macht ihnen die Ver-pflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu ver-breiten. Das sind die wesentlichen Ingredienzien, die den Kon-flikt zwischen dem Islam und dem Westen anheizen.

Die wirtschaftlichen Veränderungen in Asien, besonders inOstasien, gehören zu den bedeutendsten Entwicklungen in derWelt in der zweiten Hälfte des '20. Jahrhunderts. In den neun-ZIger Jahren hatte diese wirtschaftliche Entwicklung eine wirt-schaftliche Euphorie unter vielen Beobachtern ausgelöst, dieOstasien und das ganze Pazifikbecken in einem stetig expandie-renden Handelsnetz verknüpft sahen, das Friede und Harmonieunter den Nationen garantieren würde. Dieser Optimismusgründete sich auf die sehr fragwürdige Annahme, daß Han-deIsverkehr unfehlbar ein friedenschaffender Faktor ist. Dies istjedoch nicht der Fall. Wirtschaftliches Wachstum erzeugt poli-tische Instabilität innerhalb eines Landes und zwischen Län-dern, weil es das Gleichgewicht der Macht zwischen Ländernund Regionen verändert. Wirtschaftsverkehr bringt die Men-schen in Kontakt miteinander; er bringt sie nicht in Überein-stimmung. Historisch hat er oft ein tieferes Bewußtsein für dieUnterschiede zwischen Völkern geschaffen und aufbeiden Sei-ten Ängste erzeugt. Der Handel zwischen Ländern erzeugt Pro-fit, aber auch Konflikt. Sofern frühere Erfahrungen zutreffen.wird das Asien des wirtschaftlichen Sonnenscheins ein Asien

In den mehreren Jahrhunderten westlicher Vorherrschaft warendie internationalen Beziehungen, die zählten, ein Spiel des We-stens, das die großen westlichen Mächte untereinander austru-gen, wobei im 18. Jahrhundert in gewissem Umfange Rußlandund im '20. Jahrhundert Japan hinzukamen. In Europa spieltensich Großmachtkonflikte und -kooperation ab, und sogarwährend des Kalten Krieges verlief die Hauptlinie der Super-machtkonfrontation durch das Herz Europas. Soweit die inter-nationalen Beziehungen, die in der Welt nach dem Kalten Kriegzählen, einen Hauptschauplatz haben, heißt dieser SchauplatzAsien, besonders Ostasien. Asien ist der Schmelztiegel der Kul-turen. Allein Ostasien enthält Gesellschaften aus sechs Kultur-