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Neue Wege in der Krebsforschung Weltraum-Technologien, digitale Fluoreszenz und kaltes Plasma Ausgabe 1 | 2020 UNTERNEHMEN REGION

Unternehmen Region - Neue Wege in der Krebsforschung · Mini-Drohnen · Rundblick. Seite 34 Aus dem Weltraum in den OP. TITELTHEMA. 30 | Neue Wege in der Krebsforschung___ Weltraumtechnologien,

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Neue Wege in der Krebsforschung Weltraum-Technologien, digitale Fluoreszenz und kaltes Plasma

Ausgabe 1 | 2020

UNTERNEHMENREGION

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R u n d b l i c k · M i n i - D r o h n e n

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RUNDBLICK

06 | Die Drohne aus dem Handschuhfach___Kleine Flugkünstler bei der Hamburger Feuerwehr

08 | Das grüne Dorf___Zu Besuch auf dem Wasserstoff-Testgelände in Bitterfeld-Wolfen

EINBLICK

12 | Generation Deutsche Einheit___Fünf junge Forscher berichten von Erfahrungen und Chancen im geeinten Deutschland

18 | Architektur statt Antibiotika___Mediziner, Biologen und Architekten haben Klinikkeimen den Kampf angesagt

22 | Von Beruf Erfinder___Ein Tag im Leben des Ingenieurs und Rockmusikers Mirko Lawin

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit einigen Wochen nun hält uns SARS-CoV-2 in Atem. Wissenschaftler in Deutschland und weltweit arbeiten mit Hoch-druck daran, einen Impfstoff gegen das neue Virus zu entwickeln. Das bedeutet aber nicht, dass die Gesundheitsforschung an anderer Stelle nachlässt. Im Gegenteil, denn gerade bei einer Volkskrank-heit wie Krebs ist Kontinuität in der Forschung entscheidend, um Fortschritte bei Diagnose und Therapie zu erzielen.

Dazu entwickeln Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen vielversprechende neue Ansätze und verlassen dabei immer häufiger gewohnte Pfade: Sie forschen an Weltraum-Technologien, digitaler Fluoreszenz und kaltem Plasma. Diese und weitere Ansätze finden Sie ab Seite 30 in unserem Titelthema „Neue Wege in der Krebsforschung“.

Neue, eigene Wege geht auch die „Generation Deutsche Einheit“. Doch was denken die heute 30-Jährigen über die Jahre 1989/1990? Wie leben und arbeiten sie im wiedervereinigten Deutschland? Und was sind ihre Ideen und Wünsche für die kommenden Jahr-zehnte? Die Antworten finden Sie ab Seite 12.

Viel Spaß mit dieser und weiteren Geschichten aus der deutschen Innovationslandschaft wünscht

Ihr Bundesministerium für Bildung und Forschung

Vorwort

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Seite 08 Das grüne Dorf

Seite 22 Von Beruf Erfinder

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M i n i - D r o h n e n · R u n d b l i c k

Seite 34 Aus dem Weltraum in den OP

TITELTHEMA

30 | Neue Wege in der Krebsforschung___Weltraumtechnologien, digitale Fluoreszenz und kaltes Plasma

32 | Allzweckwaffen gegen mutierende Zellen___Maßgeschneiderte Antikörper aus dem Reagenzglas

34 | Aus dem Weltraum in den OP___Astrophysikalische Methoden für die Krebsdiagnostik

36 | Präziser therapieren – besser heilen___ Neue Ansätze in der Strahlentherapie

38 | Leuchtende Zellen___Genetischen Veränderungen auf der Spur

40 | Kalt erwischt___Mit kaltem Plasma gegen Krebszellen

44 | „Perfekt zugeschnittene Therapien“___ Im Gespräch mit Krebsforscher Prof. Michael Baumann

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DURCHBLICK

45 | Reisen im Zwischenraum___Eine Außenansicht des Chemikers Prof. Gerd Folkers

RUBRIKEN

02 | Vorwort04 | Panorama___Modulare Landmaschinen und

künstliche Haihaut48 | Mein Schreibtisch + ich___Referent für

Bioökonomie Marco Geiger50 | Über dieses Magazin51 | Impressum

Neue Wege in der Krebsforschung

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R u n d b l i c k · M i n i - D r o h n e n

Ausgeschwärmt | Größer, schwerer, stärker – jahrzehntelang kannten viele Landmaschinenhersteller nur eine Rich- tung. Der sächsische Wachstumskern „Feldschwarm®“ will das jetzt ändern. Der „Cobotics“-Demonstrator, den die Bündnispartner auf der AGRITECHNICA in Hannover vorstellten, unterstützt den Menschen mithilfe kollaborativer Robotik. Denn auch wenn in Zukunft ganze Formationen kleiner, flexibler, automatisierter Maschinen zum Säen, Düngen und Ernten ausschwärmen: Es wird immer noch der Mensch sein, der sie über die Felder dirigiert.

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Gelasert | Schon seit den 1970er-Jahren inspiriert die strömungsgünstige Haut der Haie die Wissenschaft, Flugzeughüllen und andere technische Oberflächen zu optimieren. Bisher werden die feinen, gezackten Rippen mithilfe von Lacken, Walzen und Folien aufgetragen. Das „Innovation & Strukturwandel“-Pilotprojekt „OstrALas“ in Mittweida und Wilhelmshaven hat nun eine Methode entwickelt, diese mithilfe von Lasern zu erzeugen. Auch große Flächen könnten so künftig schnell und sicher optimiert werden.

P A N O R A M A

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Entzaubert | Sie gehören zu den ältesten mehrzelligen Organismen auf der Erde: marine Schwämme. Forscherinnen und Forscher des Zentrums für Innovationskompetenz „B CUBE“ in Dresden haben nun das Geheimnis der Meeresbewohner gelüftet: In ihrem Inneren bilden Skelettnadeln aus Proteinkristallen feinste symmetrische Strukturen. Gelänge es, diese Strukturen nachzubilden, könnten Nanomaterialien mit neuen Eigenschaften entwickelt werden.

Aufgemöbelt | Allein in Deutschland landen Jahr für Jahr mehr als zwei Millionen Tonnen Möbel im Müll. Nur rund die Hälfte davon wird recycelt. Eine noch junge Alterna-tive zur Entsorgung ist das sogenannte Upcycling, also die kreative Aufwertung gebrauchterEinrichtungsgegen-stände. Das Innovationsforum Mittelstand „Upcycling“ schafft nun eine neue Kommunikationsplattform in der Region Berlin-Brandenburg. Auf ihr können sich Designer, Handwerker, Wissenschaftler sowie Nachhaltigkeits- und Möbelexperten vernetzen und austauschen.

Geschrumpft | Optische Chips und andere optische Bau-teile basieren heute meist auf Glas- oder Halbleiter-materialien. Dem Wachstumskern „PolyPhotonics Berlin“ ist nun die Entwicklung eines optischen Baukastens auf Kunststoffbasis gelungen. Sein Herzstück, der Polytrans-ceiver-Chip, ist nur einen halben Zentimeter lang. Im Vergleich zu etablierten Konkurrenzmaterialien überzeugt der Berliner Polymerbaukasten nicht nur durch seine Kompaktheit, sondern auch durch seine flexiblen Einsatz- möglichkeiten – etwa in der 5G-Mobilfunktechnik oder in Sensoren für Kraftwerke.

P A N O R A M A

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Die Drohne aus dem HandschuhfachSie wiegen weniger als 250 Gramm, passen in jeden Einsatzwagen und wecken doch große Erwartungen: Die Hamburger Berufsfeuerwehr will Mini-Drohnen einsetzen, um Menschenleben zu schützen und zu retten.

Wie gefährlich ist die beschädigte Ladung im Innern des Waggons? Im Einsatz eine lebenswichtige Information für die

Feuerwehrleute. Christina Krywka nähert sich in der Prüfung vorsichtig mit ihrer Drohne dem Waggon.

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M i n i - D r o h n e n · R u n d b l i c k

Ein Hamburger Wetter wie aus dem Bilderbuch. Es regnet Bindfäden. Die feinen Regentropfen kullern wie kleine Perlen auf die Nasenspitze und den Hals hinunter.

Eigentlich wollte Oberbrandrat Franz Petter von der Hamburger Berufsfeuerwehr den aus ganz Deutschland angereisten Männern und Frauen mit einer nächtlichen Vorführung zeigen, was das „Drohnengeschwader“ der Feuerwehr so alles kann, aber es kommt, wie es kommen muss: Ein Großeinsatz wirft alle Pläne über den Haufen – zumindest bis zum nächsten Tag.

Live-Bilder von Bränden

Bevor die erste Frage gestellt ist, macht Franz Petter am nächs-ten himmelblauen Hamburger Morgen eines klar: „Damit wir alle über das Gleiche sprechen: Heute geht es um Mini-Drohnen.“ Im Gegensatz zu ihren deutlich größeren Verwandten passen diese kleinen Fluggeräte auf einen Handteller und wiegen unter 250 Gramm. Sie können vom Boden aus funkferngesteuert wer-den und sind mit einer HD-Kamera bestückt.

Ein kleines Drohnen-Team der Hamburger Feuerwehr erprobt schon seit einigen Monaten diese Mini-Drohnen, um in der Praxis vielfältige Erfahrungen zu sammeln. „Momentan setzen wir Mini-Drohnen ein, um beispielsweise durch Live-Bilder aus der Luft eine Übersicht bei Bränden zu bekommen“, erzählt Petter. Außerdem könne man mit den winzigen Drohnen nahe an Objekte heranfliegen und so auch versteckte Brand-nester aufspüren. Geradezu prädestiniert seien die kleinen Wunderflieger aber, um in Innenräume vorzustoßen: „Mit der Drohne können wir eine Vorerkundung durchführen und Gefahren erkennen, bevor wir Feuerwehrleute hineinschicken.“

Steuerung mit VR-Brillen

Wer eine Drohne – und ist sie auch noch so klein – fliegen lassen möchte, sollte sich allerdings zunächst mit den rechtlichen Voraussetzungen befassen: Fast jedes Bundesland hat seine eigenen Bestimmungen. Auch Hamburg hat eigene Drohnen-regeln, beispielsweise wegen des Hafengebietes und des Flughafens. Im Kern geht es vor allem um die maximal mögli-che Flughöhe der Drohnen, ihr Einsatzgewicht, die vorgeschrie-benen Abstände zu Flughäfen, das Überfliegen von Menschen auf Straßen und Plätzen sowie den Schutz privater Daten. Allein die Hamburger Luftverkehrsordnung führt zwölf Regelungen auf, die Drohnenflüge untersagen. So müssen die Fluggeräte in der Höhe sowie seitlich mehr als 100 Meter Abstand zu Kraftwerken, Bundesstraßen und Gleisanlagen halten.

Darum setzt das Drohnenteam der Hamburger Feuerwehr auf die Mini-Drohnen mit maximal 250 Gramm Fluggewicht. Gegenüber den größeren Drohnen ist ihr Einsatz wesentlich weniger eingeschränkt und für die zu erledigenden Aufgaben

absolut ausreichend. So dürfen handelsübliche Drohnen eigent-lich nur mit direktem Sichtkontakt vom Boden aus gesteuert werden, wobei Virtual-Reality-Brillen oder Monitore mit Echtzeitbild nur in genehmigten Ausnahmefällen verwendet werden können. Drohnen unter 250 Gramm dürfen hingegen ohne Sichtkontakt mit VR-Brille geflogen werden. Und auch für den kontrollierten Luftraum des Hamburger Flughafens, der weite Teile des Stadtgebietes einschließt, gibt es eine Ausnahmegenehmigung. „Der Einsatz von Mini-Drohnen ist also in Bereichen möglich, die von den derzeit handelsüblichen Drohnen nicht erreicht werden können – und das bei geringeren Kosten und kleinerem Risiko“, betont Franz Petter.

Drohnen-Pioniere im Parcours

Initiiert durch das Innovationsforum Mittelstand „WiNDroVe“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geför-dert wurde, hat sich ein harter Kern von Frauen und Männern mit einer gemeinsamen Leidenschaft gefunden: Sie fliegen Drohnen, bauen sie teilweise sogar selbst und flechten Schritt für Schritt ein Netzwerk, das auch Franz Petter und der Hamburger Feuerwehr mit Innovationen weiterhelfen soll. Zu diesen Drohnen-Pionieren gehört auch Christina Krywka. Hauptberuflich leitet sie die Abteilung Röntgenbildgebung am Institut für Werkstoffforschung des Helmholtz-Zentrums Geesthacht. Doch nun steht sie am Rande des Drohnen-Parcours auf dem Akademie-Gelände der Hamburger Feuerwehr, bereit zur Erprobung. Insgesamt sechs Piloten sollen hier an vier Stationen ihr Können und die technischen Möglichkeiten ihrer Mini-Drohnen unter Beweis stellen. Der Parcours bildet einen festen Bestandteil für Aus- und Weiter-bildung des Drohnenteams der Hamburger Feuerwehr.

Eine der kniffligen Prüfungen: In einem Güterzug sind Fässer mit gefährlicher Ladung verrutscht und offensichtlich beschädigt worden. Können Feuerwehrleute ohne Gefahr für Leib und Leben dort hineinschauen und die Lage erkunden? Die Antwort auf diese Frage muss jetzt Christina Krywka liefern. Ihre Drohne umfliegt den betreffenden Waggon von außen, um sich Meter um Meter einer offenstehenden Tür anzunähern. Behutsam dirigiert die Pilotin aus Kiel ihre Mini-Drohne ins Waggoninnere und liefert erste Bilder von der stark beschädig-ten Ladung – für die Einsatzleitung die entscheidende Information. Die dafür speziell ausgebildeten Feuerwehrmänner streifen ihre Schutzanzüge über und übernehmen jetzt. Christina Krywka atmet tief durch. Ihr Einsatz war erfolgreich und hat gezeigt, wie Mini-Drohnen künftig Feuerwehrleute unterstützen können.

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Einst ein Synonym für Gestank und verseuchten Boden, hat sich Bitterfeld-Wolfen zu einem modernen Industrie- und Forschungsstandort gewandelt. Mit einem „Wasserstoff-Dorf“ beginnt das erste grüne Kapitel des 126-jährigen Chemie- parks in Sachsen-Anhalt.

DAS GRÜNE DORF

Gelbe Schilderpfähle markieren die Stellen, an denen unterirdische Armaturen liegen oder Rohrleitungen ihre Richtung ändern.

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1,4 Kilometer Rohre

Jürg Ziegenbalg ist der „Gästeführer“ im Wasserstoff-Dorf. Auch ihm ist eine besondere Beziehung zu diesem Energieträger anzumerken. „Mich hat Wasserstoff schon in meinem früheren Berufsleben beschäftigt“, sagt der Energietechniker und erzählt, dass in der DDR das Stadtgas teilweise aus Wasserstoff bestand. Damals Betriebsingenieur beim Energiekombinat Leipzig, brachte Ziegenbalg nach der Wende wertvolles Wissen über den Bau der hiesigen Gasnetze mit zur MITNETZ GAS.

Wer von Jürg Ziegenbalg und Martin Glas über das Testfeld geführt wird, bekommt eine Vorstellung davon, wie die Versorgung eines Wohngebietes durch ein H2-Netz funktionie-ren kann. Damit es nicht bei einer „Vision“ bleibt, werden hier auf dem Testfeld die Infrastruktur und die Verwendung von Wasserstoff technisch, wirtschaftlich und ökologisch bewertet. Die HYPOS-Akteure sind damit Pioniere auf diesem Gebiet. Denn weltweit gibt es nur wenige Wasserstoffpipelines. „Diese bestehen ausschließlich aus teuren Stahlwerkstoffen“, sagt Jürg Ziegenbalg. Im Wasserstoff-Dorf würden hingegen rund 1,4 Kilometer hochdichte Kunststoff- und Metall-Kunststoff-verbundrohre ober- und unterirdisch getestet. Schon bei deren Verlegung wurde geprüft, welche modernen Verfahren sich eignen. Unter einer Verlegung im Graben kann sich wohl jeder-mann etwas vorstellen. Ziegenbalg spricht fachmännisch von „offener Bauweise“. Dann lässt er den Blick über einen Geländeabschnitt schweifen und erklärt, wie die Rohre darun-ter mittels Bohrspülung oder Erdrakete verlegt wurden. Ob sie

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Seh’n wir uns nicht in dieser Welt – so seh’n wir uns in Bitterfeld.“ Dieses alte Sprichwort geht auf Handelsreisende zurück, die sich im Gasthof „Zur Preußischen Krone“ in

Bitterfeld verabredeten. Später wurde der Spruch nebst rau-chenden Schornsteinen einer Chemiefabrik auf einem Bitterfelder Notgeldschein von 1921 verewigt. Bislang haben alle nachfolgenden Generationen – zumindest die im Osten Deutschlands – diesen geflügelten Spruch überliefert. Aber auch die Tradition als Industrie-Standort wird in Bitterfeld-Wolfen fortgesetzt. Heute ist der moderne Chemiepark mit seinen zwölf Quadratkilometern Standort für Chemie- und Pharma-unternehmen im mitteldeutschen Chemiedreieck Halle-Merseburg-Bitterfeld. Seit 126 Jahren erforschen und entwi-ckeln hier Fachleute innovative Ideen, neue Produkte, immer effizientere – und vor allem immer umweltfreundlichere Technologien.

Modellregion für Wasserstoff

Martin Glas von der MITNETZ GAS schließt das Tor zu einem Gelände auf, das jüngst als „Wasserstoff-Dorf“ in den offiziellen Betrieb ging. Gerade interessieren sich Politik und Medien, Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft der Branche sehr für das, was hier in der Chlorstraße passiert. Die Bundesregierung will den Anteil der erneuerbaren Energien an der Strom-versorgung bis 2050 auf mindestens 80 Prozent steigern und die Treibhausgas-Emissionen gleichzeitig um bis zu 95 Prozent reduzieren. Der Energieträger Wasserstoff kann daran einen entscheidenden Anteil haben. In diesem Kontext errichtet die Mitteldeutsche Netzgesellschaft Gas mbH (MITNETZ GAS) hier auf einem 12.000 Quadratmeter großen Gelände eine Wasser-stoff-Testinfrastruktur.

Mit der „H2-Netz“ genannten Infrastruktur wird in der Chlorstraße des Chemieparks Bitterfeld-Wolfen ein neues Kapitel, das erste „grüne“ in der Geschichte des Standortes, geschrieben. „Erneuerbare Energien werden in Wasserstoff oder Methan umgewandelt, die sich sowohl speichern als auch in das Erdgasnetz einspeisen lassen“, sagt Martin Glas. Er koordiniert alles, was mit dem Aufbau des Modells einer Wasserstoffinfra-struktur im Rahmen des HYPOS-Konsortiums zusammenhängt.

Seit 2013 beschäftigt sich „HYPOS – Hydrogen Power Storage & Solutions“ mit dem Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft. In Mitteldeutschland entsteht eine Modellregion, die auf einer etwa 150 Kilometer langen Wasserstoffpipeline und auf der traditionell angesiedelten Fachkompetenz aufbauen kann. HYPOS wird im Rahmen des Programms Zwanzig20 – Partner-schaft für Innovation vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Über 100 Mitglieder aus Wissenschaft und Wirtschaft hat das HYPOS-Konsortium mittlerweile.

Ein Blick in das Innere der Regel- und Messanlage: Sie arbeitet autark und überträgt u. a. Informationen über Drücke, Temperaturen und Durchflüsse online in die Leitstelle.

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Kran hier passgenau auf ein Fundament gesetzt wurde. Auf den Punkt gebracht bestehe das Projektziel des H2-Netzes in dem Nachweis, dass die Gasinfrastruktur auch mit reinem Wasserstoff funktioniert, sagt Ziegenbalg, indem er einen Blick in das Innere der Regel- und Messanlage gestattet. Sie arbeitet autark und überträgt u. a. Informationen über Drücke, Temperaturen und Durchflüsse online in die Leitstelle der MITNETZ GAS.

Martin Glas kommt auf die Sicherheit des H2-Netzes zu sprechen. Nur wenn diese gewährleistet sei, könne eine Akzeptanz für Wasserstoff im Marktumfeld erreicht werden. Auch die „Riechbarmachung“ des eigentlich geruchlosen Wasserstoffs sei darum ein Bestandteil der HYPOS-Forschung. In einer Odorieranlage werden dem Wasserstoff schwefelfreie und schwefelhaltige Duftstoffe beigefügt und getestet. „Es muss ein Geruch sein, mit dem jede Nase Gefahr assoziiert“, ergänzt Jürg Ziegenbalg – womit er bei den Verbrauchern angekommen ist. Im Test-Dorf werden auch die Endanwendungen auf Wasserstoffbasis erforscht und dazu verschiedene Verbrauchs-einrichtungen an das H2-Netz angeschlossen, wie beispielswei-se ein Wasserstoff-Blockheizkraftwerk.

Grün-blaue Leuchtturmprojekte

In Bitterfeld-Wolfen lässt sich jetzt schon erleben, wie die Wasserstoff-Infrastruktur in Zukunft funktionieren wird. Der „Informations-Pavillon“ ist in den leuchtenden HYPOS-Farben Grün und Blau gehalten. „Wir haben einige Leuchtturmprojekte für grünen Wasserstoff zu bieten“, sagt Martin Glas und legt

das unbeschadet überstanden haben und auf lange Zeit ihre ursprünglichen Eigenschaften erhalten bleiben, würden die Tests zeigen.

Reale Bedingungen

Auf die 70 Meter lange oberirdische Rohrbrücke knallt gerade die pralle Mittagssonne. Werden die Rohre nicht zu heiß? Ziegenbalg schüttelt den Kopf. Doch auch der Einfluss weiterer Umgebungsbedingungen wie Temperaturschwankungen und UV-Strahlung auf das Wasserstoff- und Materialverhalten müssten näher untersucht werden. Zu den Bedingungen hier auf dem Testfeld würden zudem auch die Kontaminationen gehören, die im Erdreich festgestellt wurden – und die zum Anfang der Historie des Chemiestandortes zurückführen.

Die Chlorstraße ist nicht erst heute eine Top-Adresse für innovative Entwicklungen – früher allerdings gingen diese zu Lasten der Umwelt. 1894 nahm die chemische Fabrik Griesheim in Bitterfeld die erste technische Großanlage für die Chloralkali-Elektrolyse in Betrieb. Hier wurden aus Natriumchlorid und Wasser die Grundchemikalien Chlor, Wasserstoff und Natronlauge gewonnen. Natrium und Chlor sind die Basisstoffe für Polyvinylchlorid (PVC). Auf der Grundlage von Chlor wur-den in Bitterfeld weitere Produkte wie Pflanzenschutzmittel oder Farbstoffe entwickelt und neue Produktionslinien errichtet.

„Durch die Entsorgung der Altlasten auf diesem Gelände verzögerte sich der Bau des Wasserstoff-Dorfes“, sagt Ziegenbalg und führt die Gäste zur Gasdruckregel- und Messanlage, die per

Jürg Ziegenbalg (links) und Martin Glas von der Mitteldeutschen Netzgesellschaft Gas.

Auf der 70 Meter langen oberirdischen Rohrbrücke wird das Materialverhalten unter realen Umge-bungsbedingungen getestet (Bild S. 11).

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G r ü n e r W a s s e r s t o f f · R u n d b l i c k

auch die stimmliche Betonung auf „grün“. Unter einem etwa 60 Kilometer entfernten Feld bei Bad Lauchstädt wird die Speicherung von grünem Wasserstoff in unterirdischen Salzstöcken erprobt. Das HYPOS-Projekt „H2-Forschungs-kaverne“ nimmt hier die weltweit erste Salzkaverne in Betrieb, die Wasserstoff aus erneuerbaren Energien speichert. Der unter-irdische Hohlraum soll Raum für 3.800 Tonnen Wasserstoff bieten – so viel, wie 40.000 Zwei-Personen-Haushalte im Jahr verbrauchen würden. Denn auch normale Haushalte sollen Wasserstoff in Zukunft nutzen können. „H2-Home“ ist ein HYPOS-Projekt, das eine Brennstoffzellen-Technologie er-forscht, die Wasserstoff in Strom und Wärme umwandelt. Das Projekt befasst sich unter anderem mit der Entwicklung und Realisierung eines Blockheizkraftwerk-Systems etwa für Wohnhäuser oder Wohnsiedlungen.

„H2-Netz“-Koordinator Martin Glas macht auf ein weiteres Novum aufmerksam: Der weltweit erste emissionsfreie Wasserstoff-Sauerstoff-Kreislaufmotor könnte Haushalte mit Strom versorgen, die etwa mit einer Photovoltaikanlage ausge-

stattet sind und mit einem Speicher. Aus diesem würde sich der Motor bei Bedarf bedienen. Das entsprechende HYPOS-Forschungsprojekt „LocalHy“ ist am Wissenschaftlich-Technischen Zentrum für Motoren- und Maschinenforschung WTZ in Dessau-Roßlau angesiedelt. Der Motor arbeitet mit Wasserstoff und Sauerstoff, einziges Abfallprodukt ist Kondenswasser, mit dem dann die Blumen im Vorgarten gegos-sen werden könnten.

„... so seh’n wir uns in Bitterfeld.“ Der alte Spruch füllt sich derzeit mit neuem Leben. Er darf nun wieder wörtlich und als Einladung genommen werden, sich über die HYPOS-Initiative zu informieren. „Interessenten aus aller Welt wollen wissen, was wir hier machen“, sagt Jürg Ziegenbalg. Zum Abschluss schweift der Blick noch einmal über das Testfeld. Die üblichen gelben Schilderpfähle markieren die Stellen, an denen unterirdisch Armaturen liegen oder Rohrleitungen ihre Richtung ändern. „Haben wir selbst beschriftet“, sagt Ziegenbalg. „Es gibt noch keine mit der Aufschrift ,Wasserstoff‘ zu kaufen.“ Doch das könnte sich schon bald ändern.

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E i n b l i c k · G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t

Sie sind um das Jahr 1990 herum geboren und im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen. „Unternehmen Region“ hat mit Forscherinnen und Forschern aus Ost und West gesprochen: über ihre geografische Herkunft, neue Chancen und ihre Visionen für die nächsten drei Jahrzehnte.

Was verbinden Sie ganz persönlich mit den Jahren 1989 und 1990?

Welche Rolle spielt Ihre ost- bzw. westdeutsche Herkunft für Sie?

Welche Chancen haben sich durch die Deutsche Einheit für die Forschung in Deutschland eröffnet?

Was wünschen Sie sich für die deutsche Forschungs-landschaft in den kommenden Jahrzehnten?

Welches wissenschaftliche Problem wollen Sie in 30 Jahren gelöst haben?

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GENERATION DEUTSCHE –– EINHEIT –––––

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G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t · E i n b l i c k

„WEDER ALS SPORTLER NOCH ALS SOLDAT HABE ICH MICH ALS ‚OSSI‘ GEFÜHLT, SONDERN ALS DEUTSCHER, BEZIEHUNGSWEISE KONKRET ALS MAGDEBURGER.“

HOLGER FRITZSCHE

(*1988 in Magdeburg/Sachsen-Anhalt) ist

Master of Science in Medizintechnik,

Doktorand und Mitglied der InnoProfile-

Transfer-Initiative „INKA – Intelligente

Katheter“. Fritzsche leitet das InnoLab IGT

(Image Guided Therapy) am Lehrstuhl für

Kathetertechnologien und bildgesteuerte

Therapie an der Otto-von-Guericke-

Universität Magdeburg.

1Ich wurde 1988 in Magdeburg geboren. Meine Eltern sind nach dem Mauerfall und der Deutschen Einheit in ihren Berufen geblieben, es gibt in meiner Familie keine dieser gebrochenen Biografien. Kindheit und Jugend verliefen aus meiner Sicht ganz normal.

22004 wurde ich Mitglied der Karate-Nationalmannschaft und war viel im Ausland unterwegs. Während des Bundeswehrdienstes lernte ich dann das grenzenlose Deutschland ziemlich gut kennen. Weder als Sportler noch als Soldat habe ich mich als „Ossi“ gefühlt, sondern als Deutscher, beziehungsweise konkret als „Magdeburger“. Meine Kolleginnen und Kollegen aus dem INKA-Team [die vom BMBF geförderte InnoProfile-Transfer-Initiative „Intelligente Katheter – Kathetertechnologien“; Anm. d. Red.] kommen aus Indien, Mexiko, China, Chile und dem Iran. Internationale Studiengänge und interdisziplinäre Forschungsprojekte schlagen Brücken zu anderen Kulturen. Ohne den Wegfall der Grenze hätte sich diese Chance wohl nicht so ergeben.

3Aus der deutschen Forschungslandschaft gehen hochinteressante Ergebnisse hervor. Es wird hier sehr viel Wissen generiert, und die fachübergreifende Netzwerkarbeit ist gut ausgeprägt. In meiner Doktorarbeit beschäftige ich mich mit dem Transfer der Medizintechnik aus dem Uni-Labor hinaus in die Industrie. Im öffentlichen Raum wird noch zu wenig über die spannenden Forschungsinhalte kommuniziert. Wissenschaft sollte mehr Anklang im gesellschaftlichen Diskurs finden.

4Um sich als Standort für Forschung und Entwicklung zu behaupten, braucht Deutschland einen gestärkten wissenschaftlichen Mittelstand. Anstellungsverhältnisse von Wissen-schaftlern sollten nicht von Projekt-Laufzeiten abhängig sein. Zudem muss sich die Bürokratie flexibel auf die dynamischen Märkte einstellen. Die Medizintechnikbranche beispielsweise ist sehr dynamisch. Unternehmensgründer, die auf Förderungen angewie-sen sind, können wegen der starren Bürokratie nur phlegmatisch reagieren.

5High Perfomance Computing und Künstliche Intelligenz sorgen für einen stetigen stei-genden Wissens- und Informationsfluss. In diesem Zusammenhang kann niemand abschätzen, wie unsere Forschungslandschaft in 30 Jahren aussehen wird. Alle Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler stehen aber vor einer großen Herausforderung: Sie müssen eine Reihe von ethischen Fragen lösen.

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E i n b l i c k · G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t

1Zuallererst ist 1989 das Geburtsjahr meines älteren Bruders. Drei Jahre später wurde ich dann geboren. Es war also für meine Familie eine besondere Zeit, die viele Änderungen im Privaten wie im Politischen bedeutete. Selbst kenne ich die Zeit um die Maueröffnung nur aus Erzählungen.

2Ich hoffe immer wieder, dass es in meiner Generation keine große Rolle mehr spielt, merke aber oft, dass dies leider nicht der Fall ist. Was ich daran nicht gut finde, sind die Rollenbilder, die oft zugeschrieben werden. Manchmal tritt die ost- bzw. westdeutsche Herkunft auch ganz plötzlich beiläufig in einem Gespräch zu Tage, wenn man Begriffe oder Markennamen verwendet, die dem anderen nicht geläufig sind. Mir passierte das in der Vergangenheit beispielsweise mit Halloren-Kugeln und dem Spülmittel Fit.

3Offen gestanden, ist diese Frage für mich schwer zu beantworten, denn ich habe ja kaum einen Vergleich zur Situation vor den Jahren 1989/1990. So ist es für mich heute ganz selbstverständlich, nicht nur innerhalb Deutschlands zu reisen, sondern auch weltweit Konferenzen zu besuchen, um mich über aktuelle Forschung auszutauschen. Der Austausch mit Wissenschaftlern anderer Gruppen innerhalb Deutschlands wie über die Grenzen hinaus ist für mich gelebter Alltag und bereichert meine Arbeit.

4Ich wünsche mir, dass Forschung noch einfacher öffentlich zugänglich wird. So hoffe ich beispielsweise, dass künftig noch mehr Paper „open access“ sind, also auch die breite Öffentlichkeit von Forschung profitieren kann. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass wir noch mehr in zukunftsweisende Technologien investieren und so ein wichtiger Technologiestandort bleiben können.

5An ein konkretes wissenschaftliches Problem denke ich nicht, dafür aber an eine Richtung: Ich hoffe, dass wir ein noch tieferes Verständnis davon bekommen, wie in unserem Körper Krankheiten entstehen und wir diesen schon frühzeitig entgegenwirken können. Ich bin davon überzeugt, dass uns hierbei zukunftsweisende Technologien wie beispielsweise der 3D-Druck von Geweben und Organoiden sehr helfen werden. Deshalb möchte ich auch zu diesem Ziel mit methodischer und technologischer Forschung meinen Beitrag leisten. Außerdem wünsche ich mir, dass Forschung neue Möglichkeiten für den Klimaschutz und den Erhalt der Artenvielfalt aufzeigt.

BOB FREGIN

(*1992 in Schlema/Sachsen) ist Diplom-

Ingenieur, Doktorand an der Universität

Greifswald und Mitglied der Nachwuchs-

gruppe Biomechanik am Zentrum für

Innovationskompetenz „HIKE“.

„ICH WÜNSCHE MIR, DASS FORSCHUNG NEUE MÖGLICHKEITEN FÜR DEN KLIMASCHUTZ UND DEN ERHALT DER ARTENVIELFALT AUFZEIGT.“

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G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t · E i n b l i c k

MARCELLO AMBROSIO

(*1990 in Westberlin) ist wissenschaftlicher

Mitarbeiter an der Brandenburgischen

Technischen Universität Cottbus-Senftenberg

(BTU) sowie am Fraunhofer-Institut für

Angewandte Polymerforschung IAP in Wildau

und Mitglied der InnoProfile-Transfer-Initiative

„Leichtbau mit strukturierten Werkstoffen“.

1Ohne den Mauerfall und die Deutsche Einheit könnte ich nicht hier im Branden-burgischen ein spannendes Zukunftsthema mit voranbringen – den Leichtbau mit Faser-Kunststoff-Verbunden. Im Rückblick ist mir das jetzt klar geworden. Ich wurde 1990 in Westberlin geboren, und als Kind war für mich das wiedervereinigte Deutschland kein Thema. In den Ferien reisten wir in die Herkunftsländer meiner Eltern, nach Italien und Tunesien. Zu jener Zeit hatte ich von der Berliner „Insel“ aus wenig Berührungspunkte, weder zu West- noch zu Ostdeutschland.

2Bei der Studienplatzsuche war mir egal, ob im Osten oder Westen. Die vergleichsweise kleine und noch relativ junge Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg hat einen guten Betreuungsschlüssel und verfügt über eine moderne technische Ausstattung, insbesondere in der Fachrichtung Maschinenbau. Das war der Grund für mich und auch einige Schulkameraden, in die Lausitz zu gehen. Was ich bis dahin nicht kannte, ist die spezielle ostdeutsche Mentalität: die Hilfsbereitschaft, das soziale Miteinander. Da war ich positiv überrascht.

3Wenn jetzt viel von „Freiheit“ gesprochen wird, dann denke ich auch an die Freiheit, die ost- und westdeutsche Forschung, Wissenschaft und Industrie noch besser und nach-haltiger miteinander zu vernetzen. Konkret meine Arbeit an der BTU betreffend z.B. Kooperationen mit dem Fachbereich „Polymermaterialien und Composite PYCO“ am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung. Auch in der Öffnung zu Partnerländern, etwa zum Nachbarland Polen, liegt eine große Chance für unsere klei-nen und mittelständischen Unternehmen. Das Land Brandenburg hat da noch einige ungenutzte Potenziale.

4Der Leichtbau ist ein Forschungsfeld der Zukunft – und es ist mein Forschungsfeld. Ich will dazu beitragen, dass der Leichtbau in Brandenburg zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor heranwächst, weil es in den kommenden Jahren vor allem auch um effiziente, umweltfreundliche Lösungen geht. Meine Doktorarbeit beispielsweise be-schäftigt sich mit dem Druck von Mikroelektronik auf Faserverbundstoffe. Dadurch kann man künftig technische Systeme nicht nur besonders leicht, sondern auch smart gestalten.

5Wenn wir neue Faserverbundmaterialien auf den Markt bringen wollen, muss deren gesamter Lebenszyklus mitgedacht werden. Hier sehe ich künftig den Einsatz von mög-lichst bio-basierten Ausgangsmaterialien. Wir müssen von Anfang an recyclinggerechte Designs und Strategien zur Wiederverwendung der hochwertigen Werkstoffe entwickeln.

„AUCH IN DER ÖFFNUNG ZU PARTNERLÄNDERN, ETWA ZUM NACHBARLAND POLEN, LIEGT EINE GROSSE CHANCE FÜR UNSERE KLEINEN UND MITTELSTÄNDISCHEN UNTERNEHMEN.“

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E i n b l i c k · G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t

1Ich wurde im April 1989 geboren. Im Herbst fiel die Mauer. Meine Eltern erzählen aus jener Zeit zum Beispiel, dass einiges für einen Haushalt mit Kleinkind nun leichter zu beschaffen war als in der Mangelwirtschaft der DDR.

2Ich wurde in Frankfurt (Oder) geboren, bin auch dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. In Halle an der Saale habe ich Lebensmittelchemie studiert und auf dem Gebiet der Ingenieurwissenschaften promoviert. Ich denke tatsächlich nicht in Ostdeutsch- und Westdeutsch-Kategorien. Meine Herkunft spielt für meine Arbeit keine Rolle. Ich bin nach Potsdam gegangen, weil ich die Stadt und ihre Umgebung wunderschön finde und es von hier aus nicht weit bis in meine Heimat ist.

3Die fachliche Zusammenarbeit wie auch der interdisziplinäre Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Forschungseinrichtungen ist sehr wichtig, um stets auf dem neuesten Stand zu sein beziehungsweise um die eigene Arbeit voranzutreiben und zu verbessern. Die persönlichen Begegnungen deutschlandweit und auch interna-tional sind wesentlich einfacher geworden. Außerdem gibt es viele gute Förderprojekte, die solchen Wissenstransfer finanziell unterstützen oder auch die Anschaffung exzel-lenter Geräte ermöglichen.

4Ich wünsche mir, dass es einfacher, beziehungsweise selbstverständlich ist, an Hoch-schulen und Forschungseinrichtungen unbefristete Stellen zu bekommen. Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ich kenne, haben befristete Arbeits-verträge. Sie wünschen sich alle eine gewisse Sicherheit, auf deren Basis sie ihre Arbeit hochmotiviert ausüben würden. Außerdem blieben den Forschungseinrichtungen mit den Wissenschaftlern auch deren Erkenntnisse und Erfahrungen erhalten.

5Als gerade sehr präsentes Problem sehe ich die Bewältigung des Klimawandels. Wir kön-nen dazu einen großen Beitrag leisten. Die alternativen Energiequellen und Technologien zur Minimierung des CO2-Ausstoßes beruhen alle auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auf den eigenen Forschungsbereich bezogen: Mit der Photonendichtespektroskopie kann ein Herstellungsprozess etwa von Zuckerkristallen inline und in Echtzeit überwacht wer-den. Bislang wird erst bei der Qualitätsprüfung des Endproduktes festgestellt, ob es den Anforderungen entspricht oder neu hergestellt werden muss. In 30 Jahren müssen ökolo-gisch nachhaltige Produktionstechnologien Standard sein.

ANNE HARTWIG

(*1989 in Frankfurt a.d. Oder/Brandenburg)

ist Postdoktorandin und Wissenschaftliche

Mitarbeiterin an der Universität Potsdam und

am Zentrum für Innovationskompetenz

„innoFSPEC“ auf dem Gebiet der physikali-

schen Chemie.

„IN 30 JAHREN MÜSSEN ÖKOLOGISCH NACHHALTIGE PRODUKTIONSTECHNOLOGIEN STANDARD SEIN.“

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G e n e r a t i o n D e u t s c h e E i n h e i t · E i n b l i c k

FLORIAN KLOSS

(*1985 bei Sonneberg/Thüringen) ist

promovierter Chemiker, Leiter der Transfer-

gruppe Antiinfektiva am Leibniz-Institut für

Naturstoff-Forschung und Infektionsbio-

logie Hans-Knöll-Institut Jena und Projekt-

koordinator beim Zwanzig20-Konsortium

„InfectControl 2020“.

1

Ich bin in Südthüringen aufgewachsen, sehr nah an der innerdeutschen Grenze. Wenn wir im Kindergarten draußen gespielt haben, konnten wir hin und wieder Grenzsoldaten sehen. Die Teilung zwischen Ost und West war immer präsent. Einige aus meiner Familie haben spürbar unter der Trennung und ihren Folgen gelitten. Auch deshalb war der Mauerfall 1989 für mich und meine Familie eine Befreiung. Ich erinnere mich an die Aufbruchstimmung, die uns erfasst hat. Und die ersten Fahrten in den Westen fand ich als Kind natürlich wahnsinnig spannend.

2Auch wenn die DDR in meinen ersten Lebensjahren sicher prägend war, spielt meine ostdeutsche Herkunft kaum eine Rolle. Eher die regionale: Ich bin Franke – ob Ost oder West, ist völlig egal. Vor allem aber bin ich sehr gerne Thüringer.

3In den letzten 30 Jahren hat sich die deutsche Forschungslandschaft gewaltig verän-dert. Besonders in Ostdeutschland gab es eine steile Entwicklung. Die Forschungsbe-dingungen gehören inzwischen zu den besten weltweit. Dennoch ist der Osten für viele Wissenschaftler im Ausland und in den alten Bundesländern noch immer nahezu un- bekanntes Territorium. Die gesamte Wissenschaftscommunity ist schlagkräftiger ge-worden. Deutschlandweite Kooperationen, die zu DDR-Zeiten schwierig bis unmöglich waren, sind kein Problem mehr. Und von den Stärken des Ostens im naturwissenschaft-lich-technischen Bereich und in der praxisnahen Forschung kann auch der Westen pro- fitieren. Die Spitzenforschung im Osten ist meiner Meinung nach aber noch ausbaufähig.

4Ich habe manchmal das Gefühl, die Forschung entwickelt sich zu abstrakter Kunst, anstatt sich beherzt und risikofreudig gesellschaftlichen Aufgaben zu stellen. Das Neue wird Innovativem gleichgesetzt, schnelle Publikationen sind karrierebestimmend – das setzt nicht immer die richtigen Anreize. Anwendungsnahe und gesellschaftlich relevante Themen sollten stärker im Fokus stehen. Wir brauchen klare und nachvollziehbare Fragestellungen, um mit reinem Gewissen forschen zu können. Und wir brauchen gut ausgebildete Wissenschaftler, die zu Problemlösern erzogen werden. Dafür ist die Ausbildung momentan jedoch zu schulisch, finde ich, da sollte sich etwas ändern. Ich halte es für wichtiger, dringende Probleme kreativ zu lösen, als immer neue Fragen aufzuwerfen.

5Mit meiner Forschung versuche ich, einen breiten gesellschaftlichen Nutzen zu schaffen. Derzeit suche ich nach Lösungen für das Problem der Antibiotika-Resistenzen. Das ist nicht nur eine wissenschaftliche, sondern eine globale gesellschaftliche Herausforderung. Infektionen mit multiresistenten Erregern, gegen die kein Antibiotikum mehr wirksam ist, nehmen weltweit zu. Gleichzeitig fehlt es an neuen Antibiotika, da die Entwicklung für Pharmaunternehmen nicht lukrativ ist. In einem – übrigens ost-westdeutschen – Kooperationsprojekt entwickeln wir derzeit ein neues Antibiotikum gegen multiresisten-te Tuberkulose-Erreger. An diesem und ähnlichen Problemen möchte ich weiter arbeiten und hoffe, dass viele Menschen davon eines Tages einen Nutzen haben.

„DIE FORSCHUNGSBEDINGUNGEN IN OSTDEUTSCHLAND GEHÖREN INZWISCHEN ZU DEN BESTEN WELTWEIT.“

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E i n b l i c k · H y g i e n i s c h e s P a t i e n t e n z i m m e r

ARCHITEKTUR STATT ANTIBIOTIKA

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H y g i e n i s c h e s P a t i e n t e n z i m m e r · E i n b l i c k

Eine halbe Million Menschen infiziert sich jedes Jahr in Deutschland mit Krankenhauskeimen. Architekten, Molekularbiologen und Mediziner haben den Keimen nun den Kampf angesagt. In einem einzigartigen Projekt entwickeln sie ein völlig neues Patientenzimmer.

Mehr Hygiene: Die Oberflächen aller Materialien im Patientenzimmer sind leicht zu reinigen und die Positionen der Desinfektionsmittel-Spender den Pflegeabläufen angepasst.

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E i n b l i c k · H y g i e n i s c h e s P a t i e n t e n z i m m e r

Wer ins Krankenhaus kommt, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Mehrbettzimmer, denn Einzelzimmer kosten extra und sind rar in

deutschen Kliniken. Wenn mehrere Patienten in einem Raum liegen und gemeinsam ein Badezimmer benutzen, besteht aber auch die Möglichkeit, dass Krankheitserreger übertragen wer-den. Handelt es sich dabei um multiresistente Erreger, gegen die keine Antibiotika mehr wirksam sind, kann das lebensge-fährlich werden: Experten gehen von rund 10.000 bis 15.000 Todesfällen im Jahr in Deutschland aus.

Doch welche Bakterien leben auf den Oberflächen in Patientenzimmern, welche Rolle spielen sie bei der Entstehung von Krankhausinfektionen? Und vor allem: Kann eine andere Raumplanung Infektionen in Kliniken verhindern? Mit diesen Fragen haben sich Architekten, Molekularbiologen und Mediziner bei KARMIN beschäftigt. Das Projekt gehört zum Konsortium „InfectControl 2020“, das im Rahmen des Programms „Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation“ vom Bundesforschungsministerium gefördert wird. KARMIN steht für Krankenhaus, Architektur, Mikrobiom und Infektion. In einer umfassenden Studie haben die Wissenschaftler zunächst Stichproben von Patientenzimmern der Berliner Charité unter-sucht – sowohl von Einzel-, als auch von Zweibettzimmern. Ein Jahr lang haben sie dort wöchentlich Abstriche an Betten, Türen, Wänden und in den Bädern gemacht sowie Proben direkt von den Patienten genommen. „Anhand der Studie kön-nen wir zum ersten Mal zeigen, wie sich das Mikrobiom, also die Gesamtheit der Bakterien, auf den Oberflächen im Krankenhaus zusammensetzt“, sagt Rasmus Leistner. Leistner ist Arzt am Institut für Hygiene- und Umweltmedizin der Charité Berlin und gehört zu den medizinischen Fachleuten bei KARMIN. Die Mediziner gehen davon aus, dass sowohl die Mikrobiome der Patienten als auch die der Ärzte und Pfleger, die dort arbeiten, die Gesamtheit der Bakterien im Raum beeinflussen. „Doch auch Reinigungsmittel können das Mikrobiom verändern“, sagt die Medizinerin und Professorin Hortense Slevogt. „Einerseits vernichten sie Bakterien, schaffen aber andererseits auch Nischen für gefährliche Erreger.“ Mikrobiologen von KARMIN haben die Proben aus den Patientenzimmern im Labor unter-sucht und sind nun dabei, die Ergebnisse auszuwerten.

Hygiene bis ins Detail

Architekten und Designer der Technischen Universität Braunschweig haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie mit dem Einsatz spezieller Materialien und einer klugen Raumplanung die Übertragung gefährlicher Keime in Krankenhäusern verhindern können. Dabei ist den Planern wichtig, Materialien einzusetzen, die sich leicht reinigen lassen. Als Alternative zu Einzel- und Mehrbettzimmern favorisieren

die Architekten Zweibettzimmer, da diese mehr Hygiene bei vertretbaren Kosten bieten. „Wir haben untersucht, ob dafür ein oder zwei Nasszellen notwendig sind und welche Materialien wir einsetzen sollen“, erläutert der projektleitende Architekt Wolfgang Sunder. Selbst die Möblierung haben er und seine Mitstreiter neu durchdacht. Schließlich können auch Nachttische Infektionsherde sein. Das Projektteam hat deshalb ein neuartiges Möbelstück entworfen, das weniger Fugen hat und dessen Oberflächen leichter zu reinigen sind. Auch Details wie die Beleuchtung und die Position der Desinfektionsmittel-Spender haben die Planer berücksichtigt: „Uns war es wichtig, den Desinfektionsmittel-Spender so zu positionieren, dass er immer im Blick ist und auch wirklich genutzt wird“, sagt Wolfgang Sunder. So lassen sich hohe Hygienestandards und sinnvolle Pflegeabläufe miteinander verbinden.

Das Zwei-Bäder-Prinzip

Momentan haben Zweibettzimmer in Krankenhäusern nur ein Bad, das sich die Patienten teilen. Die Überlegungen von Architekten und Medizinern bei KARMIN haben ergeben, dass getrennte Bäder mehr Hygiene gewährleisten und somit Infektionen vermieden werden könnten. Ein zweites Bad kostet

Getrennte Toiletten: Jeder Patient soll sein eigenes Bad bekommen, damit Krankheitserreger nicht übertragen werden können.

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H y g i e n i s c h e s P a t i e n t e n z i m m e r · E i n b l i c k

zwar mehr Geld und benötigt mehr Raum. „Aber die Fläche des Patientenzimmers und jeder einzelnen Nasszelle entspricht der im konventionellen Bereich“, sagt Sunder. „Außerdem gehen wir davon aus, dass die Mehrkosten für die zweite Nasszelle dadurch ausgeglichen werden, dass Kosten für eventuelle Infektionsbehandlungen wegfallen.“ Die Ausstattung der Bäder haben die Architekten gemeinsam mit der Röhl GmbH aus dem bayerischen Waldbüttelbrunn erarbeitet, die ein spezielles Know-how in der Produktion solcher Nasszellen hat.

Das Architektenteam der Technischen Universität Braunschweig hat die Entwürfe zunächst in ein dreidimensio-nales Modell und dann in die Ausführungsplanung gebracht. Auf dieser Grundlage konnte der bayerische Unternehmens-partner Röhl den Prototyp des neuartigen Zweibettzimmers gemeinsam mit 17 Industriepartnern bauen. In den kommen-den Monaten wollen die KARMIN-Partner diesen noch opti-mieren. „Der Demonstrator soll von Klinikmitarbeitern und Experten bewertet werden“, sagt Architekt Sunder. „Vor allem die Reinigungs- und Behandlungsabläufe wollen wir noch ein-mal genau unter die Lupe nehmen.“ Auf dem Berliner „World Health Summit“ im Oktober 2020 wird das KARMIN-Team den Demonstrator einem internationalen Fachpublikum vorstellen. Das modellhafte Patientenzimmer soll dann auf dem Gelände der Charité in Berlin-Mitte zur Besichtigung stehen. Davon

erhoffen sich die KARMIN-Beteiligten einen regen Austausch mit Profis aus aller Welt und wertvolle Impulse für die Weiterentwicklung des Patientenzimmers.

Hygienepioniere

Sobald der Demonstrator optimiert ist, will das KARMIN-Team seine Ideen zügig in die Praxis bringen. Dabei geht es nicht allein um das Gesamtpaket. „Die Kliniken müssen unser Zweibettzimmer-Modell nicht unbedingt 1:1 übernehmen“, erläutert Wolfgang Sunder. „Details, die wir entwickelt haben, wie spezielle Waschbecken, neue Nachttische und Desinfektionsmittel-Spender bringen auch schon eine Menge.“ Die praxistauglichen Entwicklungen des KARMIN-Teams sind also nicht nur für Neubauten relevant, sondern auch für Sanierungen und Umbauten von Krankenhäusern. Einige Klinikbetreiber haben bereits Interesse gezeigt. Ob das Gesamtkonzept der Zweibettzimmer mit getrennten Bädern oder auch nur Details des neuartigen Patientenzimmers – beide Ansätze sorgen für mehr Hygiene im Krankenhaus und eine Verbesserung der Pflegeabläufe. Die Beteiligten des in Deutschland einzigartigen, interdisziplinären Projekts haben Pionierarbeit geleistet und mit ihren Ideen Klinikkeimen den Kampf angesagt.

Clean aber gemütlich: Mit Couch und Schreib-tisch wirkt das neue Patientenzimmer fast wie ein Hotelzimmer.

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E i n b l i c k · E i n Ta g i m L e b e n

Unternehmensteilen auf drei Konti-nenten angeregt, um einen „ADVA Music Video Contest“ ins Leben zu rufen. Zu Spitzenzeiten waren es nicht weniger als elf Bands. Keine ist so erfolgreich wie „Heavy Dispersion“. H.D. hat kürzlich eine erste eigene CD herausgegeben.

Idee beim Zähneputzen

Im Berufsleben ist Mirko Lawin Erfinder – ein Erfinder, der sich selbst als „kreati-ven Ingenieur“ bezeichnet. Lawin und seine Advanced-Technology-Gruppe entwickeln aus abstrakten Ideen konkre-te Bauteile. Tagelang grübele er manch-mal über mögliche Wege bis hin zum Endprodukt, erzählt der Chef-Ingenieur und verrät, dass ihm die zündende Idee verlässlich irgendwann morgens beim Zähneputzen komme. Die ADVA lässt ihren Mitarbeitern Zeit für solch kreative Findungsprozesse. Wohl auch deshalb ist

Das ist Sina, unsere Bassistin.“ Mirko Lawin winkt der jungen Frau mit den langen Haaren zu,

die sich gerade einen Kaffee vom Automaten holt. „Bis heute Abend!“ Dann läuft uns ein Mann mit langem Bart über den Weg. „Das ist Marcel, unser Band-Leader“, erklärt Mirko Lawin. Auch hier wird über den Gang gerufen: „Wir sehen uns heute Abend!“ Immer mitt-wochs probt die Rockband „Heavy Dispersion“, die mehr ist als eine Firmenband der ADVA Optical Net-working SE. Seit neun Jahren sorgt sie in Meiningen und Umgebung für Stim-mung. Doch wie kommt das Unter-nehmen zu so vielen musikalischen Talenten? Talente ließen sich wohl in etlichen Firmen finden, meint Lawin, man müsse sie nur suchen wollen. „Man“ ist in diesem Falle der musikbegeisterte Technologievorstand von ADVA. Dieser hatte Band-Gründungen in allen

Von Beruf Erfinder––

das Unternehmen ein erfolgreicher Global Player. „Es gibt weltweit nur eine Handvoll Telekommunikationsfirmen, die die Standards mitbestimmen“, betont Lawin und erklärt: „Technologische Standards müssen sein, damit wir über den gesamten Globus hinweg miteinan-der kommunizieren können.“

Die ADVA Optical Networking SE ist auf optische Datenübertragungs-techniken spezialisiert und eines der wenigen Thüringer Unternehmen, die an der Börse notiert sind. Es entwickelt und baut die Geräte, die an den An- fangs- und Endpunkten der großen Glasfasernetze stehen. Dort, wo große Daten bewegt werden, etwa in Rechen-zentren von Telekommunikations- oder Internetunternehmen, stehen Kisten mit dem ADVA-Logo darauf. In deren Innerem werden elektrisch oder optisch ankommende Daten per Funk in Licht-impulse umgewandelt und in mehrere

Das Mobilfunknetz 5G braucht modernste optische Datenübertragungstechniken.

Einer der kreativen Entwickler ist Mirko Lawin, Ingenieur bei der ADVA Optical Networking SE im

thüringischen Meiningen. Unternehmen Region durfte den Erfinder einen Tag lang begleiten.

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Mirko Lawin ist leitender Ingenieur bei der ADVA

Optical Networking SE im südthüringischen Meiningen.

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E i n b l i c k · E i n Ta g i m L e b e n

„Päckchen verpackt“, beziehungsweise ausgelesen und wieder zu einem großen Paket zusammengefügt.

Die nächste Gerätegeneration soll nur noch so groß wie ein USB-Stick sein, dafür aber die Lichtpakete noch viel schneller durch die Faser schicken.

Geheimprojekt „Festplatte“

Mirko Lawin erzählt von Brian Protiva, heute Vorstandsvorsitzender von ADVA. Protiva gründete das Unternehmen 1994 in den Räumen des ehemaligen VEB Robotron. Seine ersten beiden Mitar-beiter kamen von diesem einst größten Elektronikhersteller der DDR. Das Zweigwerk in Meiningen stellte Klein-computer her. „In einem Geheimprojekt arbeiteten wir an der ersten PC-Festplatte aus DDR-Produktion“, weiß Mirko Lawin aus seiner eigenen Betriebszugehörigkeit in den 1980er-Jahren. Die Festplatte wäre im Ostblock vermutlich gut verkauft

worden – wenn sich nicht im Herbst 1989 die Grenze zum Westen geöffnet hätte. Fünf Jahre später entwickelte sich aus den Resten von Robotron die ADVA . Was nicht an Komik entbehrte: Zur Ver-ständigung nach draußen musste das Kommunikationsunternehmen zunächst die Telefonzelle auf der anderen Straßen-seite nutzen.

„ADVAs erster Wellenlängenmulti-plexer zur Steigerung der Übertragungs-kapazitäten war sofort ein geschäftlicher Erfolg“, erzählt Lawin und erklärt das Funktionsprinzip: Die optische Multi-plextechnik bündelt die verschiedenen Lichtwellenlängen und überträgt den gesamten Lichtstrom über einen Licht-wellenleiter zum Empfangsort, wo er mittels Filtertechniken wieder in die einzelnen Kanäle separiert wird. Ob er an der Entwicklung beteiligt war? Er schüt-telt den Kopf: „Das war 007.“ Nein, mit Spionage habe das nichts zu tun, schmun- zelt Lawin. „Der Entwickler war als siebter

Mitarbeiter ins Unternehmen gekommen. Heute sitzt 007 alias Andreas bei Heavy Dispersion am Schlagzeug.“ Mirko Lawin selbst hat die ADVA-Nummer 047. Nach dem Ende von Robotron hatte er zunächst einige Erfindungen und Patente auf den Weg gebracht. Dann kehrte er zu seinen Wurzeln zurück – im Jahr 1998, als die mobile Funkkommu-nikation Fahrt aufnahm. Lawin erzählt, dass ihn die kabellose Datenübertragung durch die Luft schon als Neunjährigen faszinierte; damals baute er seinen ers-ten einfachen Radioempfänger. Bei ADVA hat er später die erste sogenannte Fiber-Service-Plattform mitentwickelt.

High-Speed-Wollmilchschwein

Besonders für die jüngsten Kollegen in der Forschergruppe ist der leitende Ingenieur ein inspirierender Wegbe-gleiter. Mit zwei von ihnen hat er sich im Labor verabredet: Doktorand Florian

Teamgespräch mit den jungen Kolleginnen und Kollegen der Advanced-

Technology-Gruppe.

Die ADVA lässt ihren Mitarbeitern Zeit und viel

freien Raum für Kreati-vität. Wohl auch deshalb ist das Unternehmen ein

erfolgreicher Global Player (Bild S. 25).

„In einem Geheimprojektarbeiteten wir an der ersten PC- Festplatte aus DDR-Produktion.“

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E i n Ta g i m L e b e n · E i n b l i c kE i n Ta g i m L e b e n · E i n b l i c k

Azendorf, der von allen Felix genannt wird, um eine Verwechslung mit Florian Spinty zu vermeiden. Spinty schreibt bei ADVA seine Masterarbeit und ist jetzt der dritte Gesprächspartner im Bunde. Die beiden jungen Männer lenken die Aufmerksamkeit auf den High-Speed-Chip – das Herzstück zur Berechnung der Laufzeiten des Lichts in der opti-schen Faser. „Unser Eier legendes Wollmilchschwein“, so nennt Mirko Lawin diese Aufsehen erregende Produktentwicklung seines Teams. Der Chip wird je nach Einsatz unterschied-lich programmiert und ist weltweit schon in Autos, Handys, Fernsehern und Radaranlagen eingebaut. In den einzel-

nen Strömen innerhalb einer Faser könne es zu unterschiedlichen Laufzeiten der Lichtpakete kommen. Der Chip glei-che das aus und sorge dafür, dass die Pakete am Ende des optischen Netzes gleichzeitig ankommen, erklärt Florian Azendorf. Gerade bei autonom fahren-den Autos sind auf solche Weise syn-chronisierte Daten lebenswichtig Aber auch Industrie-Roboter, die mit dem Internet der Dinge vernetzt sind, und die Telemedizin brauchen diesen Chip – wie auch jeder, der sich auf seinem mobilen Endgerät einen Film in höchster Auflösung anschauen möchte. Auch Florian Azendorf ist Mirko Lawin musi-kalisch verbunden: Er sitzt bei „Heavy

Dispersion“ am Mischpult. Noch immer erinnert er sich an seinen ersten Einsatz anlässlich eines der traditionellen Simson-Treffen in dieser Region. Jährlich kommen hier die Besitzer eines der in der DDR so begehrten Zweiräder zusam-men.

Problem mit Lösungsansatz

Die Simson-Mopeds sind Kult. Selbst 30 Jahre nach der Wende sind sie noch auf den Straßen zu sehen, obwohl das Suhler Fahrzeugwerk 1991 geschlossen wurde. Seitdem wird kein einziges Simson-Moped mehr hergestellt. Aber die Produktion von Ersatzteilen läuft auf

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E i n Ta g i m L e b e n · E i n b l i c k

Hochtouren – und zwar in Sichtweite des ADVA-Unternehmensgebäudes. Mirko Lawin lässt seine Gedanken wan-dern zu dem Berg, wo das neue Werk des Ersatzteilanbieters aus dem Wald lugt. „Ich hatte 1975 eines der ersten Simson-Mopeds“, erzählt er und berichtet von den „Beziehungen“ seiner Mutter zum Handel und von seinen täglichen Moped-Fahrten vom Heimatdorf zur Schule nach Meiningen. Die Berufs-ausbildung zum Elektromechaniker mit Abitur erschien der Familie dann als der beste weiterführende Weg für ihren Sohn. Dass später an der Technischen Hochschule für Elektrotechnik in Ilmenau kein Informatik-Studienplatz mehr frei war, erwies sich bald als Glücksfall. Die Fachrichtung Geräte-technik habe ihm ein viel umfassenderes Wissen mit auf den Berufsweg gegeben, sogar Fernrohre und Mikroskope konnte er entwickeln, erzählt Lawin. Sein Hobby, das Gitarrenspiel, profitierte längst nicht nur von seinem musikalischen Talent. Jeder mit „Do it yourself“-Mentalität machte sich ein Stück weit unabhängig von der DDR-Mangelwirtschaft. Lawin baute Verzerrer und Verstärker für seine Gitarre – oder auch eine Blitzorgel, die Musik in rhythmische Lichteffekte umsetzt.

Als die TU Ilmenau in Suhl ihr Technikum errichtete, sah sich der damalige Diplomand genau richtig in diesem innovativen Verbindungsraum zwischen Hochschule und Produktion. Sein Forschungsdrang fühle sich erst dann so richtig aktiviert, wenn es um die tatsächliche Anwendung in der Praxis gehe, meint Mirko Lawin und schlägt

den gedanklichen Bogen zur ADVA – ebenso den zeitlichen, weil er hier auch mit Kollegen von früher fachsimpeln kann; mit Uwe Gröschner zum Beispiel. Oft verbringen die einstigen „Ro- botröner“, wie sie sich nennen, ihre Mittagspause zusammen. Der eine legt auf die Meinung des anderen großen Wert. Gemeinsam schöpfen sie aus ihrem wertvollen Schatz an Berufs- und Lebenserfahrung. Dass sie nach so vielen Jahren von einem hohen „Spaßfaktor“ ihrer Arbeit reden, spricht nicht zuletzt auch für das Unternehmen. „Wir in der Entwicklungsabteilung haben freie Hand“, sagt Uwe Gröschner. „Der Technologievorstand erwartet selbstän-dige Entscheidungen von uns.“ Gröschner und Lawin wissen, dass sie zu den Know-how-Trägern ihrer Firma gehören und dass gerade darum ihre Meinung bei den

Chefs Gewicht hat – erst recht, wenn es um Probleme geht. „Allerdings wird erwartet, dass wir in der Darstellung eines Problems auch immer schon einen Lösungsansatz formulieren“, ergänzt Mirko Lawin.

Was Einfaches, Digitales

Lösungsansätze stehen zur Zeit besonders hoch im Kurs, schließlich macht gerade die fünfte Generation der mobilen Datenübertragungstechnik – kurz 5G – von sich reden. „Macht mal was ganz Einfaches, Digitales“, gibt Mirko Lawin den Auftrag seines Chefs verkürzt wieder. Es geht um eine vereinfachte und preis-günstige Anbindung des schnellen mobi-len Datenverkehrs an das Internet. Herausgekommen ist ein Produkt, mit dem das Meininger Unternehmen wieder ein-

Die einstigen „Robotröner“ Uwe Gröschner und Mirko Lawin verbringen oft die

Mittagspause gemeinsam (Bild S. 26).

Die ADVA Optical Networking SE ist auf optische Datenübertragungstechniken

spezialisiert.

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E i n b l i c k · E i n Ta g i m L e b e n

mal einen internationalen Standard für Telekommunikation gesetzt hat. Der Transceiver – Sender und Empfänger in einem – ist die technische Basis für die 5G-Datenübertragung – und eine Welt-Sensation. Er gehört zum ersten hybrid-optischen Baukasten auf Polymerbasis. Der Kunststoff ermöglicht eine stabile Wellenlängenabstimmung bei einem Datentransfer von zehn Gigabit pro Sekunde. Die optische Technologie-plattform wird vom PolyPhotonics Berlin-Forschungsbündnis entwickelt. Die ADVA ist Partner in diesem vom Bundesforschungsministerium als „In- novativer regionaler Wachstumskern“ geförderten Projekt, das am Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik HHI in Berlin angesiedelt ist. Der Poly-

Besonders für die jüngsten Kollegen ist der leitende Ingenieur ein inspirierender Wegbegleiter. Hier ist Lawin im Gespräch mit Doktorand Florian Azendorf.

Transceiver von ADVA kann Daten auf 96 Kanälen in der erforderlichen Ge- schwindigkeit senden und empfangen. Bei aller Bescheidenheit muss erwähnt sein: Mirko Lawin hat einen entschei-denden Anteil an der Entwicklung des speziellen Kommunikationskanals dafür.

Von Visionen zu Produkten

Im Frühjahr wurde ADVA dafür mit dem „Thüringer Innovationspreis 2018“ aus-gezeichnet. „Wenn wir so drin stecken in unserem Tagesgeschäft, denken wir gar nicht, dass unsere Entwicklungen etwas Besonderes sind“, sagt Mirko Lawin. So kam die Anregung, sich um den Preis zu bewerben, vom Standort-Entwicklungs-leiter Jens Schott. Eben dieser steht mit

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ihm jetzt vor einer Tafel, auf der beider Gedanken in Form von farbigen Zeichen, Pfeilen und Kreisen visuelle Gestalt annehmen. Denn im neuen 5G-Mobil-funknetz steigt die Zahl der Antennen-Standorte, die an das optische Netz ange-bunden werden müssen. Viel mehr Funkzellen fangen Daten aus der Luft auf. Geräte und Technologien, um sie in Licht und wieder zurück zu verwandeln, müssen so günstig wie möglich sein. ADVA will damit auf dem Markt sein, wenn die ersten Kunden nachfragen.

Proben und fachsimpeln

Mirko Lawin steht wieder intensives Nachdenken und Grübeln bevor. Er liest utopische Literatur in solchen Zeiten, da würden sich seine Synapsen produktiv vernetzen, sagt der Vater von drei erwachsenen Kindern. Dass sich seine Töchter nicht nur für den Beruf des Vaters interessieren, sondern ebenfalls technische Fachrichtungen studiert haben, macht ihn auch stolz. Auf Fa- milientreffen bleibe da das Fachsimpeln nicht aus. Auch am Mittwochabend wird wieder gefachsimpelt, als sich die Kollegen nach und nach in einer urigen Kneipe zur Bandprobe einfinden. Wie selbstverständlich sitzt der Job bei einem Feierabendbier mit am Tisch – das scheint niemanden zu stören. Doch wenn sie dann in die Saiten ihrer Gitarren greifen, die Schlagstöcke schwingen, Keyboard, Flöte und Mundharmonika spielen und ins Mikrofon röhren, sind sie alle ganz bei sich und ihren Songs für die zweite eigene CD.

Immer mittwochs führt Mirko Lawins Feierabendweg (Bild oben) zur Probe der Firmenband „Heavy Dispersion“. Dort singt er und spielt Gitarre.

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K r e b s f o r s c h u n g · T i t e l t h e m a

NEUE WEGE IN DERKREBSFORSCHUNGImmer mehr Menschen erkranken an Krebs. Doch starke Bündnisse

aus Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen entwickeln neue Diagnose- und Therapieansätze. Dafür setzen sie

unter anderem auf Weltraumtechnologien, digitale Fluoreszenz und kaltes Plasma.

Alles, was wir über Krebs wissen, kann man auf eine Visitenkarte schreiben.“ Mit diesem ernüch-

ternden Befund soll ein französischer Wissenschaftler Anfang der 1970er-Jahre den aktuellen Stand der Forschung zusammengefasst haben. Seitdem bre-chen sich immer neue Erkenntnisse über die Erkrankung Bahn. Die grundlegends-te: Krebs beginnt mit einer einzigen mutierten Zelle. Meist verursacht dies ein komplexes Zusammenspiel verschie-dener Faktoren – Veranlagung, Verhal-tensweisen, Umwelteinflüsse. Doch Krebs ist nicht gleich Krebs. Tatsächlich sammeln sich unter diesem Begriff über 250 verschiedene Krankheiten, die sich in vielen Aspekten unterscheiden: be-troffene Körperregion, Wachstum, Ver-lauf der Krankheit, vor allem aber die genetische Zusammensetzung, die von Patient zu Patient völlig unterschiedlich sein kann.

„Die deutsche Krebsforschung ist im internationalen Vergleich hervorragend aufgestellt. Langfristig arbeiten wir daran, auf Basis der individuellen Ver-änderungen des Tumors allen Patien-tinnen und Patienten eine perfekt auf sie zugeschnittene Therapie anzubieten“, sagt Professor Michael Baumann (S. 44).

Er ist Vorstand des Deutschen Krebs-forschungszentrums in Heidelberg und Ko-Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs. Die „Dekade“, eine Initiative des Bundes-forschungsministeriums, will für den Kampf gegen Krebs die Kräfte aller rele-vanten Akteure Deutschlands bündeln. Bis 2029 wollen die Partner möglichst viele Krebsneuerkrankungen verhin-dern und Betroffenen ein besseres Leben ermöglichen.

Revolutionäre Methoden

Denn trotz aller Fortschritte: Die Zahl der Neuerkrankungen in Deutschland wird von heute rund 500.000 pro Jahr bis zum Jahr 2030 auf etwa 600.000 stei-gen – eine Folge der immer älter werden-den Bevölkerung. Deshalb entwickeln Expertinnen und Experten in Hoch-schulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen neue Ansätze für Prä-vention, Diagnose und Therapie von Tumorerkrankungen. Dabei gehen sie immer häufiger ungewöhnliche Wege. Das Zentrum für Innovationskompetenz „OncoRay“ in Dresden – dessen Sprecher Michael Baumann lange Jahre war – setzt unter anderem auf eine im Osten

Deutschlands einzigartige Therapie, die Protonenstrahlen und Ultraschall kom-biniert (S. 36). In Berlin-Brandenburg bringen zwei Bündnisse aus Hightech-Unternehmen und der Brandenburgisch- Technischen Universität Cottbus Senf-tenberg Tumorzellen zum Fluoreszieren und bestimmen genetische Ver-änderungen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (S. 38).

An der Universität Greifswald unter-suchen junge Forscherinnen und For-scher, wie Krebszellen auf ein Gemisch aus energiereichen Atomen, Molekülen und Elektronen reagieren – bisherige Ver- suche und Behandlungen mit kaltem Plasma sind äußerst vielversprechend (S. 40). Ein Team der Potsdamer Uni-versität hat eine revolutionäre Methode entwickelt, um für die Krebsdiagnose und -therapie maßgeschneiderte Antikörper im Reagenzglas zu produzieren (S. 32). Nur wenige Kilometer entfernt am Leibniz-Institut für Astrophysik Pots-dam untersuchen Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler, wie sich Spektrographen für die Krebsdiagnos- tik nutzen lassen – eine Technologie, mit der sie üblicherweise das Weltall beob-achten (S. 34).

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Allzweckwaffen gegen

mutierende ZellenOb Herzmuskelerkrankungen, Nervenkrankheiten

oder Krebs: Antikörper sorgen für präzise Diagnosen und effektive Therapien. An der Universität Potsdam

entwickeln die Immuntechnologin Katja Hanack und ihr Team bahnbrechende Technologien. Damit

lassen sich menschliche Antikörper schnell und ohne Versuchstiere produzieren.

Katja Hanack und ihr Team stellen die Immunreaktion des menschlichen Organismus im Labor künstlich nach.

Katja Hanack hat die Stiftungsprofessur „Immuntechnologie“ inne und leitet seit über zehn Jahren Forschungen zur Antikörper-Herstel-lung (Bild S. 33).

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nicht als fremd oder gefährlich genug erkennt. Menschliche Zelle und Eindringling müssen mit einer entsprechenden Signalstärke interagieren, damit Antikörper produziert werden.“ Inzwischen, so die Projektleiterin, helfe ihrem Team die lang-jährige Erfahrung, den Herstellungsprozess von humanen Antikörpern zu stabilisieren und vor allem zu verkürzen. Denn die biotechnologische Antikörper-Produktion im Labor war bislang ein aufwändiger und monatelanger Prozess. „Mit unse-ren neuen Technologien konnten wir diesen Prozess auf wenige Wochen reduzieren“, freut sich Katja Hanack. Die Forschungs-gruppe hat darüber hinaus auch neue Selektionsmethoden entwickelt, um Kunden maßgeschneiderte Antikörper anbieten zu können. Wie verlässlich die Technologien in der Praxis sind, zeigt sich in der Zusammenarbeit mit den Biotechnologie-Unternehmen, die die Stiftungsprofessur „Immuntechnologie“ finanzieren.

Ein weiterer Etappensieg?

„Gerade entwickeln wir solch einen spezifischen Antikörper gegen HER2“, sagt Katja Hanack. HER2 ist ein Proteinbaustein an der Oberfläche von menschlichen Zellen, der Wachstumssignale ins Zellinnere sendet und unter anderem in Brustkrebs-Tumoren vorkommt. „Gezielt entwickelte Antikörper haben in der Therapie von Brustkrebs schon große Erfolge gebracht. Sie bin-den und blockieren die HER2-Rezeptoren, bis das Immunsystem oder wachstumshemmende Medikamente diese Zellen vernich-ten“, erklärt die Wissenschaftlerin. Das HER2-Antigen soll innerhalb ihrer Forschung als Modell dienen, um zu prüfen, ob die neuen Technologien gut und verlässlich funktionieren. Die im Reagenzglas hergestellten Antikörper aus Potsdam sollen dann mit denen auf dem Markt verglichen werden. Sind die schneller hergestellten Antikörper aus Potsdam genauso gut oder sogar noch besser als ihre Konkurrenten, wäre das ein wei-terer Etappensieg im Kampf gegen Krebs. Die Immuntechnologin Katja Hanack jedenfalls ist überzeugt von Antikörpern als „All- zweckwaffen gegen mutierende Zellen“.

Man stelle sich vor: Ebenso selbstverständlich wie etwa Friseurtermine stehen in Zukunft die Termine für die regelmäßige Blutwäsche im Kalender – ein Verfahren,

das die im Körper zirkulierenden Tumorzellen einfach aus dem Blut herausfiltert. „So in etwa könnte das funktionieren“, stellt Katja Hanack in Aussicht. Sicher noch nicht für morgen, aber für übermorgen. Denn die Forschungen der Wissenschaftlerin am Institut für Biochemie und Biologie der Universität Potsdam tragen entscheidend dazu bei, diese Vision zu verwirklichen.

Immunreaktion in der Petrischale

Je mehr sie über das ausgeklügelte System des menschlichen Organismus wisse, umso erstaunter sei sie darüber, dass er in der Regel Jahrzehnte lang gut funktioniert – bei wachsender Lebenserwartung. Dass Zellen im hohen Lebensalter mutierten, sei normal, betont Katja Hanack. „Die natürliche Todesursache sind im Grunde entartete Zellen, mit denen das Immunsystem nicht mehr fertig wird“, erklärt die Expertin für Immun-reaktionen des menschlichen Organismus. Katja Hanack hat die Stiftungsprofessur „Immuntechnologie“ inne und leitet seit über zehn Jahren eine Forschungsgruppe, die die Antikörper-Herstellung revolutioniert – und dabei vom Bundesforschungs-ministerium im Rahmen des Programms „InnoProfile-Transfer“ gefördert wird.

Das Sensationelle am Potsdamer Forschungsansatz: Katja Hanack und ihr Team stellen die Immunreaktion des menschli-chen Organismus im Labor künstlich nach, um humane Antikörper zu produzieren. „Antikörper“, erklärt die Wissen-schaftlerin vereinfacht, „sind Proteine, also Bindemoleküle, die Eindringlinge wie Viren oder Bakterien so lange festhalten, bis die natürlichen Abwehrzellen kommen, um sie zu eliminieren.“ Da diese Bindemoleküle ebenso gut Wirkstoffe transportieren und somit in Diagnostik und Therapie eingesetzt werden kön-nen, würde weltweit daran geforscht, gute Antikörper schnell und preiswert herzustellen, sagt Katja Hanack. Dann erst könn-ten sie wie etwa in der eingangs beschriebenen Blutwäsche als Fänger von Tumorzellen eingesetzt werden. Das Team der Stiftungsprofessorin hat Strategien entwickelt, die in der Zellkulturschale das natürliche Milieu nachahmen, in dem eine menschliche Zelle gut funktioniert und Antikörper produziert.

Revolutionäre Technologien

Eine künstliche Immunreaktion – was sich so einfach anhört, ist wahrscheinlich schwer zu machen? Katja Hanack nickt. Die Zellen kämen eben nicht von Versuchstieren, sondern aus der Blutkonserve. Im Labor der Immuntechnologen zeige sich darum immer wieder: So individuell die menschlichen Blut-spender, so unterschiedlich vital sind auch ihre Zellen. „Es pas-siert“, erzählt die Wissenschaftlerin, „dass die Zelle das Antigen

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Astrophysiker kennen sich in medizinischen Belangen kaum aus, und Mediziner haben für gewöhnlich keine tiefgreifenden Kenntnisse über Astrophysik. Dennoch

finden wir zueinander“, freut sich Martin Roth. Der promovierte Physiker und gelernte Instrumentenbauer am Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam (AIP) leitet seit zehn Jahren das Zentrum für Innovationskompetenz (ZIK) innoFSPEC. Das vom Bundesforschungsministerium geförderte Zentrum forscht an speziellen optischen Fasern, mit deren Hilfe Astronomen das Weltall betrachten können – und Mediziner den menschlichen Körper. „Die bildgebende Spektroskopie aus der Astrophysik lässt sich auch für die nichtinvasive Krebsdiagnostik nutzen“, sagt Martin Roth. Vereinfacht ausgedrückt: Die an der Entstehung von Galaxien beteiligten Elemente wie Wasserstoff, Stickstoff oder Schwefel kommen auch im menschlichen Körper vor. Das interdisziplinäre innoFSPEC-Team nutzt die Wellenlängen, die

Aus dem Weltraum in den OPMit Spektrographen beobachten Wissenschaftler das Weltall. Die gleiche Technologie lässt sich aber auch in der Medizin anwenden. Wissenschaftler am Zentrum für Innovationskompetenz „innoFSPEC“ in Potsdam nutzen sie für ein neues Krebs-Diagnoseverfahren.

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diesen chemischen Substanzen zuzuordnen sind. Die Wissen-schaftler messen den spektrografischen Fingerabdruck, also das Licht, das jeweils für die Moleküle charakteristisch ist. So können die Wissenschaftler biochemische Veränderungen feststellen. „Auf diese Weise“, erklärt Martin Roth, „konnten wir in Gewebeproben aus der Berliner Charité Tumorzellen nachweisen.“

Patienten profitieren

Vier Jahre gemeinsamer Entwicklungsarbeit liegen hinter dem Leibniz-Institut für Astrophysik in Potsdam und der Arbeitsgruppe Physikalische Chemie an der Universität Potsdam. Seit die Ergebnisse im vergangenen Herbst veröffentlicht wurden, erfahre das ZIK innoFSPEC eine große internationale Resonanz – nicht nur von medizinscher Seite; auch die Industrie interessiere sich für den Bau entsprechender Geräte, betont Martin Roth. Schließlich passe ein astronomischer 3D-Spektrograph, wie er derzeit am weltgrößten Very Large Telescope in der chilenischen Atacamawüste angebracht ist, in keine Klinik, geschweige denn in einen Operationsraum. Aber gerade der Einsatz in der klinischen Praxis sei das Ziel.

Deshalb hat das innoFSPEC-Team eine Software entwickelt, die optische Signale in Echtzeit in Bilder verwandelt: „Der Arzt kann den Lichtsignalen u.a. Bakterien, Substanzen oder krank-hafte Gewebeveränderungen zuordnen“, sagt Martin Roth. Davon würden vor allem die Patientinnen und Patienten profitieren. Denn wie viel Gewebe er entfernen muss, entscheidet derzeit der Chirurg auf Basis seiner Erfahrung. Exakt erkennen könne der Mediziner aber nicht, wo gesundes Gewebe in krankhaftes über-

gehe, erläutert Martin Roth. „Mit unserem neuen bildgebenden Verfahren kann der Arzt ein Karzinom ganz genau vom gesun-den Gewebe abgrenzen.“

Auf der Suche nach Industriepartnern

In Zukunft könnte der Chirurg das entnommene Gewebe gleich im OP untersuchen und unmittelbar entscheiden, ob er weite-res Gewebe entfernen muss; ein bildgebender Raman-Spektrograph macht es möglich. Das vom innoFSPEC entwi-ckelte sogenannte Differenzverfahren habe dabei eine besonde-re Bedeutung, betont der ZIK-Leiter. „Es filtert störendes Licht, etwa durch Fluoreszenz oder die OP-Beleuchtung, heraus.“ Auch das Ferdinand-Braun-Institut in Berlin und das Leibniz-Institut für Photonische Technologien in Jena beteiligten sich an der Entwicklung dieser optischen Methode, ergänzt Wissenschaftler Roth und stellt in Aussicht: „Im Frühjahr 2020 wird es Baupläne für ein kliniktaugliches Gerät geben.“ Mit die-sen Plänen wird das ZIK innoFSPEC in der Industrie nach Partnern suchen, die solch einen Raman-Spektrographen auf kliniktaugliche Maße schrumpfen lassen.

Weltweit, erzählt Martin Roth, seien Scouts auf der Suche nach tollen Erfindungen. Jüngst hätten sie auch die Neuigkeiten auf der innoFSPEC-Website aufgespürt. Roth nimmt in verschie-densten Branchen ein explodierendes Interesse an der Raman-Spektroskopie wahr. Er ist optimistisch, dass in absehbarer Zukunft auch Medizintechnik-Unternehmen solch ein Gerät auf den Markt bringen können.

Zur Untersuchung einer Hautveränderung wird mittels optischer Faser

Licht in die Gewebestelle geschickt. Aus den zurück-kommenden Lichtsignalen

liest ein Spektrograph in Echtzeit heraus, ob es sich um ein Melanom handelt und wie es beschaffen ist.

Der Spektrograf MUSE sorgt für den perfekten

Blick ins Universum. Mit derselben Technologie

wollen Potsdamer Forscher künftig Krebs

diagnostizieren (Bild S. 34).

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Die Hitze des fokussierten Ultraschalls schwächt die Krebszellen so, dass sie bei der anschließenden Bestrahlung

schneller absterben.

Präziser therapieren – besser heilenUm die Heilungschancen von Krebspatienten zu erhöhen, entwickeln Wissenschaftler am Zentrum für Innovationskompetenz „OncoRay“ in Dresden und im Verbund-Projekt „SONO-RAY“ mit dem Leipziger Innovationszentrum Computerassistierte Chirurgie neuartige Therapien.

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Erfolg oder Misserfolg einer Strahlentherapie besser vorhersa-gen. Außerdem wollen die Biologen Medikamente entwickeln, mit denen resistente Zellen sensibler werden für die Bestrahlung. Dafür haben sie bereits vielversprechende Wirkstoffe entdeckt.

Gemeinsam stärker gegen den Krebs

Im Verbundprojekt SONO-RAY arbeiten die Dresdner OncoRay-Wissenschaftler mit dem Innovationszentrum Computerassistierte Chirurgie-ICCAS in Leipzig zusammen. Die Idee des Kooperations-projekts ist es, zwei energetisch unterschiedliche Behandlungs-formen zu kombinieren: den fokussierten Ultraschall und die auf Röntgenstrahlen basierte Therapie. Die Wärme, die beim fokus-sierten Ultraschall entsteht, soll die Tumorzellen derart sensibili-sieren, dass sie effektiver mit der Strahlentherapie behandelt werden können. Die Strahlendosis ließe sich auf diese Weise deutlich reduzieren und das umgebende gesunde Gewebe nimmt dadurch weniger Schaden. In ersten Experimenten mit Krebszellkulturen konnten die Leipziger Wissenschaftler bereits nachweisen, dass die Vitalität der Zellen durch die Ultraschall-Behandlung nachlässt. Damit die Methode in Zukunft klinisch genutzt werden kann, sollen Robotersysteme helfen, den Ultraschall-Fokus ganz exakt zum Ziel zu bringen. Erste Versuche der Leipziger Wissenschaftler haben gezeigt, dass ein Roboterarm Biopsie-Nadeln zur Entnahme von Gewebe perfekt positionieren kann. Demnächst soll das auch mit dem fokus-sierten Ultraschall funktionieren. Außerdem hat das SONO-RAY-Team die Kombination aus MRT-geführter, therapeuti-scher Ultraschallbehandlung und Strahlentherapie zum ersten Mal weltweit in die Klinik gebracht. Seit September 2019 wer-den in Dresden die ersten Patienten mit lokal begrenztem Prostatakarzinom in einer Pilotstudie mit fokussiertem Ultraschall behandelt. Gehen die Pläne der SONO-RAY-Forscher auf, können Krebspatienten mit der Kombinationsbehandlung in Zukunft schonender und effektiver therapiert werden.

Bei mehr als jedem zweiten Krebspatienten entscheiden sich Ärzte heute für eine Bestrahlung. Diese soll den Primärtumor vernichten und eine Streuung der

Krebszellen im Körper verhindern. In den meisten Fällen nut-zen die Mediziner dafür Röntgenstrahlen, in einigen Kliniken aber auch Protonenstrahlen – so wie am Nationalen Zentrum für Strahlenforschung in der Onkologie-OncoRay in Dresden. Innerhalb von drei Jahren ist hier eine im Osten Deutschlands einzigartige Protonenstrahlanlage errichtet worden. Seit 2014 werden damit Krebspatienten behandelt. Direkt nebenan arbei-ten OncoRay-Wissenschaftler an der Verbesserung der Strahlen-behandlungen. Klinische Praxis und Forschung sind hier so nah beieinander wie nirgendwo sonst in Deutschland.

Höhere Genauigkeit – bessere Überlebenschancen

Damit bei der Therapie gesundes Gewebe weitestgehend ver-schont bleibt, muss der Protonenstrahl so präzise wie möglich ans Ziel gelangen. Die OncoRay-Forscher haben dafür eine spe-zielle Kamera entwickelt, die sogenannte Prompt-Gamma-Schlitz-Kamera, mit deren Hilfe sie den Strahl im Körper genau nachverfolgen können. Die weltweit einzigartige Technologie testen sie derzeit in einer klinischen Studie. Um die Treff-sicherheit des Strahls bei der Behandlung zu erhöhen – insbe-sondere bei Tumoren, die sich durch die Atmung bewegen –, suchen die Wissenschaftler nach neuen Methoden. Mit einer technischen Machbarkeitsstudie haben sie erstmals gezeigt, dass die Protonentherapie mit der Magnetresonanz-Tomo-graphie (MRT) kombinierbar ist. Die Schwierigkeiten, die es zwischen MRT und Protonenstrahlanlage gibt, konnten die Forscher überwinden und haben bereits einen ersten Prototyp entwickelt.

Durch die Kombination von Magnetresonanz- und Positronen-Emissions-Tomographie haben die Forscher sogar eine Möglichkeit gefunden, um unheilbare Hirntumoren besser behandeln zu können. Die Verbindung der beiden bildgebenden Verfahren liefert den Medizinern mehr Informationen über das Gehirn. In einer klinischen Studie haben sie erstmals gezeigt, dass sie die Wirkung der Strahlentherapie so besser vorhersagen und individuell anpassen können. Das kann die Überlebens-chancen der Patienten künftig deutlich erhöhen.

Resistenzen überwinden

Doch selbst bei einer hochpräzisen Bestrahlung kann die Therapie durch strahlenresistente Krebszellen unwirksam blei-ben. Deshalb untersuchen Biologen am OncoRay Mechanismen, die eine solche Resistenz verursachen. Sie haben bereits Biomarker gefunden, mit denen strahlenresistente Zell-populationen sichtbar gemacht werden können. So lässt sich

OncoRay ist ein Gemeinschaftsprojekt des Dresdner Universitäts-

klinikums Carl Gustav Carus, des Helmholtz-Zentrums Dresden-

Rossendorf und der Medizinischen Fakultät der Technischen Universität

Dresden. Es wurde von 2005 bis 2016 vom Bundesministerium für

Bildung und Forschung als Zentrum für Innovationskompetenz (ZIK)

gefördert. Physiker, Mediziner und Biologen entwickeln hier gemein-

sam Methoden, mit denen sie die Strahlentherapie individueller und

präziser dosieren können. OncoRay ist mit großen Forschungszentren,

wie dem Heidelberger Institut für Radioonkologie, vernetzt und wurde

2010 zusammen mit den Heidelbergern zum Nationalen Zentrum für

Strahlenforschung in der Onkologie ernannt.

OncoRay

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Leuchtende Zellen

Im Innovationszentrum auf dem Senftenberger BTU-Campus befindet sich ein hochmodern ausgestattetes Labor, in dem diagnostische Methoden auf der Basis digitaler Fluoreszenz entwickelt werden.

Mit einer neuen Diagnosemethode machen Forscher und Unternehmer genetische Defekte von Tumoren sichtbar. Das Verfahren aus Berlin und Brandenburg ist sicher, schnell – und die Basis für wirksamere, individuelle Krebstherapien.

Die häufigsten Todesursachen sind – nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen – Tumoren. In Deutschland liegen Brust- und Prostatakrebs, Darm- und Lungenkrebs an vorderer Stelle“, sagt der Immunologe Dirk Roggenbuck. Die

Produkte seines Unternehmens sorgen für eine steigende Lebenserwartung. Die Medipan GmbH im brandenburgischen Dahlewitz bei Berlin entwickelt und produ-ziert spezifische Tests zur Unterscheidung von Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen, speziell für Autoimmun- und Tumorerkrankungen. Peter Schierack nickt zustimmend: „Der menschliche Körper besteht aus etwa 50 Billionen Zellen. Die Evolution hatte etwa 30 bis 40 Jahre Lebensdauer vorgesehen: Wachsen, arbeiten,

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Kinder bekommen und aufziehen war das Programm.“ Der Professor für Multiparameterdiagnostik an der Branden-burgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) macht damit deutlich, dass die menschlichen Zellen heute das Doppelte und mehr ihrer vorgesehenen Zeit funktionieren. Allein von der Natur gegeben ist das nicht – interdisziplinäre Forschung und Entwicklung haben großen Anteil daran. Die moderne Medizin kann in sehr vielen Fällen Leben retten und verlängern.

Verschiedene Farben für verschiedene Krebsarten

Den Wissenschaftler Peter Schierack und den Unternehmer Dirk Roggenbuck verbindet eine über zehnjährige erfolgreiche Zusammenarbeit. Die gemeinsame Forschung und Entwicklung beider Teams profitiert seit einem Jahr von einem hochmodern ausgestatteten Labor im Innovationszentrum auf dem Senftenberger BTU-Campus. Gleichzeitig ist das Labor das loka-le Zentrum des Wachstumskerns „PRAEMED.BIO“, der diagnos-tische Methoden auf der Basis digitaler Fluoreszenz entwickelt. PRAEMED.BIO wird als „Innovativer regionaler Wachstumskern“ vom Bundesforschungsministerium gefördert, ebenso wie das aktuelle Verbundprojekt „FISHng“. Das „Innovation & Strukturwandel“-Pilotprojekt will eine Plattform für eine auto-matische und standardisierte FISH-Analytik entwickeln.

Hinter dem Akronym FISH steckt die englische Bezeichnung für „Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung“ – eine genetische Untersuchungsmethode im Bereich der molekularen Diagnos-tik. Mit der Methode lässt sich geschädigte DNS nachweisen, die zur Bildung von Tumoren führen kann. Als Hybridisierung wird die Anbindung von Licht-Sonden an den spezifischen DNS-Stellen bezeichnet. Mandy Sowa koordiniert das Projekt. Sie erklärt ein Foto: „Unter einem Fluoreszenz-Mikroskop können Tumorzellen auf ihre genaue Krebsart untersucht werden. Dazu werden sie mit spezifischen Krebsmarkern markiert. Anzahl und Anordnung der in diesem Falle grün leuchtenden Marker zeigen dem Pathologen, dass diese Zellen eine genetische Veränderung aufweisen, die für Brustkrebs charakteristisch ist.“ Beim FISH-Verfahren könnten verschiedene Fluoreszenz-Farbstoffe für unterschiedliche Ziel-DNS verwendet werden, was eine Darstellung des gesamten Erbgutes möglich mache, sagt Mandy Sowa.

Intelligente Auswertungssoftware

Je älter ein Mensch wird, desto wahrscheinlicher nehmen einige der erwähnten 50 Billionen Zellen Schaden – oder entarten sogar. Die Pathologen müssen deshalb immer mehr Gewebe-

proben analysieren. Bislang sei das geschulte menschliche Auge ein weitaus besserer Diagnostiker als technische Geräte, weiß Dirk Roggenbuck. Das soll sich mit FISHng ändern. Mithilfe Künstlicher Intelligenz entwickelt Medipan eine automatische Auswertungssoftware speziell zur Früherkennung von gene-tisch bedingtem Brustkrebs und Lungenkarzinomen. Die Software soll selbständig eingrenzen, welcher Bereich einer Gewebeprobe genauer untersucht werden muss, und zudem die Art der kranken Struktur genau erkennen. So wie der Pathologe im Laufe seiner Berufsjahre Erfahrung sammelt, lernt auch die Software ständig dazu. Das „Lehrmaterial“ liefert unter ande-rem das Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus. Die FISH-Sonden entwickelt die ZytoVision GmbH, ein Kooperationspartner aus Bremerhaven.

Unter einem Mikro-skop mit Fluoreszenz können Zellen auf die genaue Krebsart untersucht werden. Dazu werden sie im Labor mit spezi-fischen Krebsmarkern markiert. Die charak-teristische Anordnung dieser (hier grünen) Krebsmarker zeigt eine genetische Ver-änderung speziell für Brustkrebs. 

Zielgerichtete Therapie

Dirk Roggenbuck sieht in der automatischen und standardisier-ten FISHng-Plattform einen wesentlichen Beitrag zur persona-lisierten Medizin: „Es gibt moderne, sehr effektive Therapie-methoden für genetisch bedingte Krebserkrankungen. Diese können das Leben der Patienten in guter Qualität verlängern.“ Er weiß auch, dass diese Therapien teuer sind. Aber mithilfe der automatischen FISH-Analyse, so Roggenbuck, würden exakt die Erkrankten erfasst, die davon profitieren. So könnten Krebszellen sehr früh entdeckt und zielgerichtet, genau auf den Patienten abgestimmt behandelt werden – was die Chancen auf Therapieerfolg erhöhe und den Einsatz der teuren Behandlung rechtfertige. Peter Schierack glaubt, dass die Plattform auf ganz verschiedenen medizinischen Gebieten anwendbar sei: „FISHng trägt dazu bei, aus dem Thema Gesundheit einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für die Lausitz zu machen“, ist sich der BTU-Professor sicher.

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Kalt erwischt

Die Plasmamedizin ist ein ziemlich neues Wissenschaftsgebiet, in dem Physiker, Mediziner und Biologen zusammenarbeiten. Das Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e.V. (INP) in Greifswald hat sich mit dem

Einsatz von kaltem Plasma zur Behandlung von Wundheilungsstörungen und gegen Bakterien bereits einen Namen gemacht. In den Laboren des INP werden kalte Atmosphärendruckplasmen mit Hilfe spezieller Plasmageräte erzeugt, und in Arztpraxen und Kliniken hat sich der Wundheilungsstift kINPen® MED als Therapieform für schlecht heilende Wunden etabliert.

Kaltes Plasma ist ein teil-ionisiertes Gas, das aus energiereichen Atomen, Molekülen und Elektronen besteht und höchstens 40 Grad Celsius warm wird. Deshalb können Mediziner mit diesem energiereichen Gas Patienten behandeln, ohne dass es zu Verbrennungen kommt. Seit wenigen Jahren untersuchen Forscher im Zentrum für

Sander Bekeschus und seine Nachwuchsgruppe erforschen im Greifswalder ZIK „plasmatis“ die Wirkung von kaltem Plasma auf Krebszellen. Das Gemisch aus energiereichen Atomen, Molekülen und Elektronen gilt als neue Chance zur Behandlung von Krebserkrankungen.

Sander Bekeschus am High Content Imager. Das präzise, automatisierte Mikroskop scannt ultraschnell eine hohe Anzahl von Proben. Dazu gehört eine Software, mit der die großen Datenmengen sichtbar gemacht und bestimmt werden können.

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eine sensationelle Entdeckung: Kaltes Plasma kann nicht nur gesunde Zellen zum Wachstum anregen, sondern tatsächlich auch Krebszellen abtöten. Ob und wie man mit diesem Verfahren auch jenseits von Laborbedingungen Tumoren verkleinern oder gar beseitigen kann, muss jetzt weiter untersucht werden.

Das Geheimnis der Mischung

Diese Erkenntnisse will Dr. Sander Bekeschus nun „molekular unterfüttern“. Bekeschus ist Humanbiologe und hat auf dem Gebiet der Immunologie promoviert. Er leitet die plasmatis-Forschungsgruppe „Plasma-Redox-Effekte“ und tritt durchaus selbstbewusst auf: „Unser Ziel ist es, Krebszellen mit kalten Plasmen zu zerstören.“ Kaltes Plasma ist ein Therapeutikum, das für den jeweiligen Einsatz eigens gemischt werden kann. „Wir wollen herausfinden, welche Mischung wir brauchen, um eine optimale Tumorreduktion zu erreichen“, erklärt Bekeschus. Für diese Feinabstimmung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei plasmatis besonders wichtig: Physiker, Biologen, Mediziner und Ingenieure suchen gemeinsam nach den Plasmen, die am besten funktionieren. Die Forscherinnen und Forscher am INP versuchen, über die Grundlagenforschung zwei Fragen zu beantworten. Welche Ergebnisse liefert das systematische

Innovationskompetenz (ZIK) plasmatis am INP, ob kaltes Plasma nicht nur chronische Wunden heilt und Bakterien abtö-tet, sondern auch Krebspatienten neue Hoffnung geben kann.

Eine fast zufällige Entdeckung

Dass kaltes Plasma Krebszellen zwar nicht direkt zerstören, aber ihr natürliches Absterben beschleunigen kann, ist schon seit ein paar Jahren bekannt. „Gesunde Nachbarzellen wachsen dann in den Defekt hinein“, erklärt Professor Hans-Robert Metelmann, Vorstandsvorsitzender des Nationalen Zentrums für Plasma-medizin und Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Greifswald. Metel-mann hatte kaltes Plasma mit einem Plasmastift bei seinen Patienten mit Mundhöhlenkrebs angewandt, um Bakterien abzutöten. Da entdeckten er und sein Team fast zufällig, dass auch die Tumoren auf die Behandlung reagierten und sich ver-kleinerten. Auf diese Entdeckung folgten weitere Unter-suchungen der Klinik in Zusammenarbeit mit dem Greifswalder Zentrum für Innovationskompetenz (ZIK) „plasmatis“. Die Grundlagenforscher untersuchten nun im plasmatis-Labor gezielter das Wachstum gesunder Zellen sowie von Tumorzellen unter der Behandlung von kaltem Plasma. Dabei machten sie

Dr. Sander Bekeschus leitet die Nachwuchsgruppe „Plasma-Redox-Effekte“ im ZIK plasmatis. Mitarbeiterin Julia Berner bereitet Zellkulturen für Laborversuche vor.

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Testen von kaltem Plasma auf verschiedene Tumorzellen und auf deren Wachstum? Und aufgrund welcher Mechanismen geht der Tumor zurück? Wenn kaltes Plasma nicht auf gesunde Zellen, sondern auf Tumorzellen eine abtötende Wirkung hat, so ist das von besonderem Interesse. Bewirkt kaltes Plasma den programmierten Zelltod? Und wenn ja, warum wirkt es auf Tumorzellen und nicht auf gesunde Zellen?

Plasma trifft Tumorzelle im Labor

Der Weg zu den Antworten führt über schier unendlich viele Versuche, etwa im Rahmen der sogenannten Durch-flusszytometrie. Mit dem Verfahren analysieren die Forscher Zellen, die einzeln an einer elektrischen Spannung oder einem Lichtstrahl vorbeirauschen. „Das geht nur mit der hohen tech-nischen Laborausstattung, die wir hier mit der ZIK-Förderung realisieren konnten“, sagt Bekeschus. Dank des Hightech-Verfahrens können Bekeschus und sein Team die Daten sehr schnell auswerten. Allein mit dem ultraschnellen „High Content Imager“-Mikroskop kommt plasmatis jährlich auf über 500.000 Einzelbilder. „Wir machen Bilder von den Zellen und Geweben, segmentieren und zählen sie mithilfe der Software und schauen uns bestimmte Parameter an, z. B. eine Färbung mit Antikörpern.“ Am Ende entsteht ein komplettes Bild des Gewebeschnitts, das wir analysieren können. „Das Gerät ist außerdem in der Lage, die optimalen Bedingungen für lebende Zellen von 37 Grad Celsius stabil zu halten“, schwärmt Bekeschus. „So können wir Zellen auch in ihrer zeitlichen Entwicklung beobachten.“ Positive Ergebnisse konnte die internationale Forschergruppe in Greifswald bei der Behandlung von Hautkrebszellen mit kal-tem Plasma in ihren Laboren nachweisen. Dabei verwendeten sie unterschiedlich zusammengesetzte Gase für die physikali-

sche Plasmaquelle, die auch unterschiedlich effektiv waren. Das Fazit: Über die Wirkung entscheiden die Zusammensetzung des Plasmas und die Dauer der Behandlung.

Vielversprechende Ergebnisse auf der Versuchsebene liefern Kombinationstherapien: Gemeinsam mit der Radiologie der Universität Erlangen versuchen die Greifswalder Forscher im Labor, die Wirkung von ionisierter Strahlung mit kaltem Plasma zu optimieren. Auch mit der Elektrochemotherapie, die bei äußerlich sichtbaren Krebsarten wie Haut- oder Gesichtskrebs angewandt wird, laufen Versuche, mit physikalischem Plasma die Therapie zu verbessern. Die häufigste Krebstherapie ist jedoch weiterhin die Chemotherapie. „Hier testen wir im Labor Stück für Stück eine Reihe von in Frage kommenden Chemotherapeutika in der Kombinationstherapie mit kaltem Plasma, mit vielversprechenden Ergebnissen“, berichtet Sander Bekeschus.

Plasmavisionen

Am INP ist im vergangenen Jahr eine Plasmaquelle entwickelt worden, die endoskopisch in einen Kanal eingeführt wird und so im Inneren des Körpers ihre Wirkung entfalten kann. Geplant ist damit unter anderem die Anwendung von kaltem Plasma bei streuendem Krebs im Bauchraum, der chirurgisch schlecht zu behandeln ist. Das ist die augenblickliche Zukunftsvision, die nun mit weiteren Tests unterfüttert werden soll. Parallel dazu entwickelt plasmatis eine weitere Plasmaquelle speziell für den Tumorbereich. Ein Prototyp liegt schon vor, er soll im Kooperationsprojekt ONKOTHER-H zusammen mit der Universitätsmedizin Rostock zum Einsatz kommen. Bisher laufen die Laborversuche mit dem kINPen® MED, der eine Medizinzulassung für Haut-, aber noch nicht für Krebs-erkrankungen hat.

Doch Sander Bekeschus will Tumorzellen nicht nur auf direktem Weg zerstören, sondern dem Krebs auch indirekt an den Kragen: „Als Immunologe möchte ich auch erforschen, in welchem Ausmaß kaltes Plasma körpereigene Immunzellen bei der Abwehr und Zerstörung von Tumorzellen unterstützt. Da haben wir schon Ergebnisse, die uns zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Trotz zahlreicher vielversprechender Ergebnisse könnte das Interesse an der Plasmamedizin in der Onkologie größer sein, findet Bekeschus. „Wir sind ein bisschen überrascht, dass sich nicht auch andere Ärzte für das innovative Verfahren interessieren“, bedauert der Forscher. „Es wäre für unsere Forschung sehr hilfreich, wenn sich weitere Kliniken auch außerhalb von Mecklenburg-Vorpommern an einer Studie beteiligen würden.“

Ein Plasmastift im Einsatz gegen Tumorzellen (violett), die sich nahe der lebenswichtigen Halsschlagader (unten) ausgebreitet haben.

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Herr Professor Baumann, warum erkranken Jahr für Jahr mehr Menschen an Krebs?Tatsächlich ist allein in Deutschland im nächsten Jahrzehnt mit einem Anstieg der Krebsneuerkrankungen von derzeit 500.000 auf 600.000 Fälle jährlich zu rechnen. Diese Tendenz gibt es aber nicht nur in Deutschland: In den nächsten 20 Jahren wird sich die Zahl der Krebs-neuerkrankungen weltweit fast verdoppeln. Zentrale Ursachen sind eine älter werdende Gesellschaft und eine ungesunde Lebensweise.

Welche Rolle spielt die Prävention?40 Prozent aller Krebserkrankungen ließen sich durch Primärprävention vermeiden. Dazu gehört zum einen die Änderung des Lebensstils: nicht rauchen, ausgewogene Ernährung, ein gesundes Körpergewicht und ausreichend Bewegung. Ein weiterer Aspekt der Prävention sind z.B. Impfungen gegen Krebs. Bei Papillomviren, die Gebärmutterhalskrebs verursachen, gibt es mittlerweile eine wirksame Impfung. Warum sollte das nicht auch bei anderen Krebsarten, die durch Viren verursacht werden, gelingen? In diesem Zusammenhang muss auch die Frage gestellt werden: Was können wir tun, um die HPV-Impfrate in Deutschland weiter zu steigern?

Welche sind die größten Fortschritte in den vergangenen Jahren?Wir wissen heute sehr viel besser, wie Krebs entsteht. Doch das reicht noch nicht! Durch die biologische Heterogenität gibt es viele unter-schiedliche Krebsarten – und die Erkrankung verläuft bei jedem Patienten, bei jeder Patientin anders. Der Wandel zur personalisierten Krebs-medizin ist deshalb ein ganz wichtiger Schritt. Eine individuell angepasste Prävention, Früherkennung und Behandlung verbessern unsere Chancen ungemein.

Wo liegen die Stärken der deutschen Krebsforschung und wo sehen Sie Handlungsbedarf?Die deutsche Krebsforschung ist im Vergleich mit anderen europäischen Nationen hervorragend aufgestellt. Langfristig arbeiten wir daran, auf Basis der individuellen Veränderungen des Tumors allen Patientinnen und Patienten eine perfekt auf sie zugeschnittene Therapie anzubieten. Aber wir haben auch noch Baustellen: Die Präventionsforschung ist unterrepräsentiert und die Umsetzung präklinischer Forschung in die klinische Praxis muss noch deutlich effizienter werden. Deutlichen Nachholbedarf insbesondere im Vergleich zu den USA und zunehmend

China gibt es aber noch bei der Translation von Ergebnissen der Grundlagenforschung in die klinische Anwendung und medizinische Produkte, die dann allen Patienten zur Verfügung stehen. Deshalb hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit und vielen weiteren Partnern die auf zehn Jahre angelegte Initiative „Nationale Dekade gegen Krebs“ ins Leben gerufen.

Was ist das Besondere an der Nationalen Dekade gegen Krebs? Die Nationale Dekade gegen Krebs vernetzt bundesweit alle relevanten Akteure in Krebsforschung, Forschungsförderung, Gesundheitswesen, Wirtschaft und Gesellschaft – das ist absolut einmalig. Unsere gemeinsame Vision ist es, möglichst viele Krebsneuerkrankungen zu verhindern, die Früherkennung zu verbessern und die Translation von Forschungsergeb-nissen hin zu den Kliniken, zu Ärztinnen und Ärzten und zu Patientinnen und Patienten zu beschleunigen. Dafür müssen wir die Krebsforschung entscheidend stärken.

„Forschung zum Wohl der Patienten“ ist das Motto des Zentrums für Innovationskompetenz (ZIK) „OncoRay“ in Dresden, das Sie viele Jahre lang geleitet haben. Ja, OncoRay verfolgt ein klares Ziel: die Heilung von Krebserkrankungen entscheidend zu verbessern durch eine biologisch individualisierte, tech-nologisch optimale Strahlentherapie. In Dresden verbinden sich dazu viele Erfolgsfaktoren und ein besonders passendes Umfeld: eine Technische Universität und die große Zahl außeruniversitärer Forschungs-zentren, die in Dresden exzellente Forschung betreiben, eine interdiszip-linäre Kultur und die konsequente Ausrichtung der Forschung auf das Ziel, neue personalisierte Ansätze für Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stellen.

Welchen Einfluss hat OncoRay auf die Region?Heute, knapp 15 Jahre nach der Gründung von OncoRay, nimmt Dresden einen Spitzenplatz in der deutschen Universitätsmedizin ein. Exzellente Forschung und Krankenversorgung sind hier auf vorbildliche Weise ver-bunden. Mittlerweile forschen am ZIK OncoRay rund 80 Menschen aus 28 verschiedenen Ländern. Außerdem bietet das Zentrum einen Masterstudiengang in Kombination mit der klinischen Ausbildung zum Medizinphysik-Experten an – eine in der Krebsheilung sehr gesuchte und deutschlandweit einmalige Qualifikation.

Professor Dr. Michael Baumann ist Vorstandsvorsitzender und Wissenschaftlicher Vorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg. Darüber hinaus ist er Sprecher des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung (DKTK) und Ko-Vorsitzender des Strategiekreises der Nationalen Dekade gegen Krebs.

„Wir wollen allen Patienten eine perfekt auf sie zugeschnittene Therapie anbieten“

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T i t e l t h e m a · K r e b s f o r s c h u n g

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REISEN IM ZWISCHEN RAUM

Eine Außenansicht von Gerd Folkers

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I n t e r d i s z i p l i n a r i t ä t · A u ß e n a n s i c h t

Interdisziplinarität. Ein Schlagwort macht sich selbstständig. Kaum eine wissenschaftliche Zeitschrift, die nicht zur „Interdisziplinarität“ einlädt, von anderen „Disziplinaritäten“

als neuen Wortschöpfungen ganz zu schweigen. Man wird den Verdacht nicht los, dass neue akademische Räume erschlossen werden, gleichsam aus den Faltungen der Disziplinen hervor-brechend, die der Besiedelung harren und von deren „terra incognita“ zwischen den Disziplinen Wunderdinge und Reichtümer zu erwarten sind. Allen Erwartungen voran: Innovation. Diese gesamte Denkfigur – in unbekannten Terri-torien Neues zu entdecken und das Neue nutz- und gewinn-bringend zuhause anzuwenden – reiht sich perfekt in die Geschichte der Expeditionen ein. Ob Humboldt Pflanzen, Vögel und Mineralien in Südamerika sammelte, oder Adolf Traugott zu Gersdorf seine Schweizerreise mit einem „schweizerischen“

Mineralienkabinett dokumentierte, unerforschte Gebiete bergen die Chance auf gewinnbringende Erkenntnisse. Reisen in die Zwischenräume der Disziplinen spielen sich ähnlich ab wie Expeditionen.

Probleme entstehen jenseits von Disziplinen

Zuerst sind sie ein Gedankenspiel, dann brauchen sie gewaltige Vorbereitungen, wegen der Angst zu scheitern. Ein Gefährte ist hilfreich bis notwendig (wird er später genannt werden?) und natürlich gilt es, Mittel zu beschaffen, bevor sich die Reisepläne realisieren lassen. Diese gesamte Metaphorik ist natürlich ein-fach übersetzbar: Zentrale Probleme, für die unsere Gesellschaft nach Lösungen sucht, wie beispielsweise die Klimaerwärmung, entstehen nicht nach Disziplinen geordnet. Es ist daher notwen-

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A u ß e n a n s i c h t · I n t e r d i s z i p l i n a r i t ä t

dig, die Disziplinarität den Problemen anzupassen, zu erkennen wo und wann disziplinäre Grenzen überschritten werden müs-sen und angestammte akademische Herrschaftsgebiete zu ver-lassen sind, um zu neuen Lösungsansätzen zu gelangen. Ideen sind gefragt, die sich nicht mehr automatisch in der eigenen Disziplin generieren lassen. Schon die Formulierung des Pro- blems bedarf in vielen Fällen eines Partners von jenseits der Disziplingrenzen, denn wer nur einen Hammer sein Werkzeug nennt, dem werden alle Probleme zu Nägeln.

Interdisziplinarität erfordert Freiräume – und Geld

Eine Reise in unbekannte Gegenden ohne einen landeskundi-gen Partner gestaltet sich oft schwierig und mühselig. Je früher man also ein vertrauensvolles Gegenüber in der anderen Disziplin findet, umso leichter wird der Austausch über das „Neue“. Beide Partner müssen sich mit den kollektiven Erfahrungen ihrer Disziplinen im Hintergrund dem zu formu-lierenden Problem in mehreren Anläufen nähern, Kompromisse schließen, sich gegenseitig neue Perspektiven eröffnen, Seman- tiken erläutern und schließlich eine Wortwahl treffen, die beid-seitig verstanden wird. Das braucht Zeit und Raum. Übersetzt in die akademische Praxis heißt das: Geld. Ob man diese Not-wendigkeit anerkennt oder nicht, Geld schafft Freiräume (Zeit und Raum), die es den Akteuren erlauben, Ideen zu verfolgen, deren Nützlichkeit noch nicht unmittelbar erkennbar ist.

Die Expedition als solche bleibt ein Experiment. Ihr mögli-ches Scheitern ist ein integraler Bestandteil. Jede nachträgliche Umwidmung eines Scheiterns – oft aus budgetären Gründen praktiziert – verhindert das Lernen aus interdisziplinären Kooperationen.

Das Ziel einer jeden Forschungsreise muss die Publikation sein. In welcher Form diese geschieht, ist unerheblich, ob als Patent, als Start-up oder im „High-level-Journal“. Der wissen-schaftlichen Gemeinde gilt es, zu deren Nutzen die Erfahrungen mitzuteilen.

Die Digitalisierung als Quantensprung

Hilfreich für jede Reise ist ein Reiseführer mit Wörterbuch, heute ein (Virtual) Guide und ein Smartphone Translator. Hier beginnt für mich die durch die Digitalisierung ausgelöste Transformation, der neue „Quantensprung“. Jeder menschliche Führer und Dolmetscher, der hinter den Wörterbüchern und bebilderten Reiseführern steht, ist zweifellos voll von kollekti-

ver Weisheit. Wir schätzen subtile Hinweise auf unangebrachte Sitten, problematische Nahrungsmittel, versteckte Kunstschätze. Die Erfahrung des Guides ist jedoch winzig im Vergleich zu den virtuellen Führern von heute. Kritikaster bemängeln die schlech- te Übersetzung der elektronischen Assistenten. Wenn aber mein Smartphone aus verschiedenen asiatischen Sprachen mittels Schrifterkennung so viel übersetzt, dass der Reisende seinen Weg findet, ist das eine absolut erstaunliche Leistung, ein Quantensprung. Man mag darüber sinnieren, welche Elemente alle dazugehören, um vor Ort die oft langfädigen Erläuterungen zu den Exponaten eines Heimatmuseums zu übersetzen.

Wenn Instagram und Verwandte einen neuen Ort finden, dessen Besuch eine besondere Erfahrung verspricht, dann ver-breitet sich diese Nachricht in Windeseile und der Ort wird – sehr zum Leidwesen mancher Reisender – zum Hot Spot. Der erlebt eine reiche, nicht immer positive Kommentierung.

Die Barrieren sind im eigenen Kopf

So, in diesen Schritten würde man sich wünschen, sollte Wissenschaft und besonders die interdisziplinäre betrieben werden. So ließen sich die Barrieren niederreißen, die oft nur aus Dünkel, Unwissenheit, Tradition oder vorauseilendem Ge- horsam errichtet wurden. Dafür seien nur beispielhaft genannt:• Umfassende Regularien in der akademischen Karriere,

beispielsweise für die Verfassung disziplinärer Dissertationen. • Wer darf welchen disziplinären Ursprungs welche Thematik

wo einreichen?• Sakrosankte Vorgehensweisen und Methodiken der einzelnen

Disziplin• Kognitive Konzepte und Vorurteile• Der etablierte Jargon einer Disziplin• Die ritualisierte Publikation

Interdisziplinarität beginnt im eigenen Kopf. Es gilt, sich einer anderen Denkweise, einem fremden Denkstil auszusetzen, wie es der Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck schon 1935 beschrieben hat. Dies setzt Neugier und vor allem Kritikfähigkeit voraus, die sich zuallererst auf die eigene Disziplin richtet. Denn das ist die ureigenste Haltung der Wissenschaften, die leider zu wenig praktiziert wird.

Dabei gibt es natürlich zahlreiche historische Beispiele. Um meine Reisemetapher aufrechtzuerhalten, sei hier aus dem Standardwerk der Gletscherforschung zitiert. Der berühmte irische Physiker John Tyndall, dessen akademischer Lebenslauf paradigmatisch für interdisziplinäre Exkursionen ist, schildert

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I n t e r d i s z i p l i n a r i t ä t · A u ß e n a n s i c h t

Gerd Folkers

(*1953 in Andernach/

Rhein) ist Präsident des

Schweizerischen Wissen-

schaftsrats und emeri-

tierter Professor für

pharmazeutische Che-

mie an der ETH Zürich.

Von 2004 bis 2015 leitete

er das interdisziplinäre,

gemeinsame Collegium

Helveticum der Universi-

tät Zürich und der ETH Zürich. Folkers war Herausgeber der Zeit-

schriften „QSAR“ und „Pharmaceutica Acta Helvetiae“, Autor mehre-

rer Fachbücher und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der

Schweizerischen Akademie der Technischen Wissenschaften sowie

im Vorstand oder Beirat mehrerer internationaler Fachgesellschaften.

Mitte des 19. Jahrhunderts seine Motivation zur näheren Erforschung der Materialeigenschaften von Schiefergestein eigentlich als ganz banal: „When, however we look closely into this bold and beautiful hypothesis, we find that the only analogy which exists between the physical structure of slate rocks and of crystals is this single one of cleavage. Such a coincidence might fairly give rise to the conjecture that both were due to a common cause, but there is great difficulty in accepting this as a theoretic truth.“

Ihm leuchtet die Erklärung großer Vertreter der eigenen Profession nicht ein. Deshalb hinterfragt er sie, aus guten logi-schen Gründen, nicht weil er zu diesem Zeitpunkt bereits eine eigene, abweichende Erklärung vorzulegen hätte. Es ist der Startpunkt seiner Reisen in die Alpen und steten Gedanken-austausches mit den lokalen Experten:

„On Monday the 9th of August, we reached the Riffel, and, by good fortune, on the evening of the same day (…), the well-known Ulrich Lauener, also arrived at the hotel on his return from Monte Rosa.“

Die digitale Transformation hilft in fremdem Terrain

Diese Haltung und Pragmatik sind heute ebenso bewunderns-wert, wie für die meisten von uns nicht mehr machbar. Die Gründe sind evident: Zeit, Raum und verfügbares Geld (siehe oben) in heutigen akademischen Karrieren bemessen sich anders. Ist das ein Grund zum Verzicht und zur Beschränkung auf einen engeren Horizont?

Ich denke nicht, denn nun kommt uns die digitale Transformation zu Hilfe. Machine learning, digital humanities,

„Machine learning, digital humanities, Künstliche Intelligenz bereiten den Boden, um die disziplinären Barrieren im eigenen Kopf zu überwinden.“

Künstliche Intelligenz bereiten den Boden, um die disziplinären Barrieren im eigenen Kopf zu überwinden. Denn sie ermögli-chen Übersetzungen. Letztere sind, wie aus der Reisemetapher hervorgeht, die wichtigste Voraussetzung dafür, sich mit einem fremden Terrain anzufreunden und dort zu lernen. Sie verhin-dern, in der eigenen Blase zu reisen und ständig von den eige-nen Konzepten umgeben zu sein. Die gigantische Fülle an Über-setzungsleistungen erleichtert mit ihrer virtuellen Struktur unser Zeit- und Raummanagement und senkt damit die Barrieren.

„Found in Translation“ ist folgerichtig auch der Titel eines wissenschaftlichen Aufsatzes über eine lernende Maschine in der komplexen organischen Chemie, einem der unbeliebtesten Schulfächer. Solch eine Maschine vermittelt genau jene kollek-tiven Erfahrungen einer ganzen Disziplin, die zu einem tieferen Verständnis und zu einer Kritik befähigen, vor allem aber auf eine Exkursion in diese Disziplin vorbereiten und Lust darauf machen können.

Wie jedes Instrument lässt sich auch eine solche Maschine unkritisch bedienen. Sie erzeugt solchermaßen nur Trägheit, Indifferenz, Oberflächlichkeit und fördert die Denkfaulheit. Kritikfähigkeit ist deshalb ein immer bedeutenderes Werkzeug, um in Zukunft zu bestehen, und die Interdisziplinarität im eigenen Kopf der wesentliche Schritt. Die Menge der aufzuwen-denden Arbeit dürfte sich im Realen und Virtuellen die Waage halten. Aber die Bedingungen für eine Vielzahl von Menschen sind in der digitalen Welt die günstigeren.

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Mein alter, treuer Begleiter und die Lieblingstasse meiner Kollegin.

Im Rahmen unserer Workshopreihe bringen wir verschiedenste Stakeholder zum Thema Recyclingfähigkeit biobasier-ter Verpackungen aus ganz Deutschland zusammen.

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Mein Schreibtisch + ich

MARCO GEIGER Marco Geiger ist Referent für Bioökonomie beim Umweltcluster Bayern in Augsburg. Er leitet das vom BMBF geförderte Innovationsforum Mittelstand „BIOVERPACKT – Recyclingfähige Verpackungen auf Basis nachwachsender Rohstoffe“. Die Initiative vernetzt von Augsburg aus zentrale Akteure entlang der Wertschöpfungskette. Dazu zählen insbesondere kleine und mittlere Unternehmen sowie Start-ups.

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Beim Umweltcluster Bayern bin ich verantwortlich für das Innovations- forum BIOVERPACKT. Mit dem Forum wollen wir alle wichtigen Akteure entlang der Wertschöpfungskette vernetzen. Ein wichtiges, spannendes, aber auch anspruchsvolles Projekt.

Die Natur zeigt uns viele Lösungen für aktuelle Herausforderungen. Ökologische Kreisläufe sind geniale Vor- bilder für eigentlich simple Lösungen – auch für einen nachhaltigeren Konsum.

Ich arbeite erst seit einigen Monaten in Augsburg und komme ursprünglich aus Schleswig-Holstein. Für meine neue Aufgabe bin ich nun vom hohen Norden in den tiefen Süden gezogen. Den Kontakt in meine alten Heimaten kann ich aber trotz der räumlichen Distanz glücklicherweise gut pflegen, wie den zum BUND-Landesverband Schleswig-Holstein. Der Plastikatlas, ein Kooperations-projekt des „Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland“ (BUND) und der Heinrich-Böll-Stiftung, ist wieder eine sehr zu empfehlende Lektüre.

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Ob ein Förderprogramm erfolgreich ist, hängt ganz entscheidend von den Menschen ab, ihren Ideen, ihrem persönlichen Einsatz, ihrem Mut. Innovationen und damit wirtschaftliche Erfolge basieren auf dem Austausch unterschiedlicher Menschen mit eigenem Wissen, eigenen Kompetenzen und dem gemeinsamen Wunsch, etwas zu verändern. Deshalb stehen in diesem Magazin die Menschen im Mittelpunkt.

Nicht nur im Magazin, auch auf www.innovation-strukturwandel.de finden Sie viele spannende Geschichten und alle wichtigen Informationen zu den geförderten Initiativen und zu unseren Förderprogrammen.

Ansprechpartner

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)Referat Nachhaltige regionale Innovationsinitiativen11055 Berlin | Tel.: 030 1857-5273 | Fax: 030 [email protected]

Über dieses Magazin

Innovation & Strukturwandel

Mit der Programmfamilie „Innovation & Strukturwandel“ fördert das Bundesforschungs minis terium den Wandel in struktur-schwachen Regionen. Mehrere Förderprogramme unterstützen strategische Bündnisse aus Unternehmen, Hochschulen, For-schungs ein richtungen und weiteren Akteuren dabei, regional vorhandene Innovationspotenziale zu nutzen und weiterzuent-wickeln. Die „Innovation & Strukturwandel“-Programme sind grund sätzlich themenoffen konzipiert und für Bündnisse aus allen strukturschwachen Regionen in Deutschland offen.

Derzeit laufen die Förderprogramme:

• WIR! – Wandel durch Innovation in der Region

• RUBIN – Regionale unternehmerische Bündnisse für Innovation

• REGION.innovativ

Weitere Programmlinien werden folgen. Allein bis 2024 plant das Bundesforschungs minis terium, rund 600 Millionen Euro für die „Innovation & Strukturwandel“-Programme bereitzustellen.

Unternehmen Region

Die Programmfamilie „Innovation & Strukturwandel“ basiert auf den Erfahrungen, die das Bundesforschungs ministerium mit „Unternehmen Region“ gesammelt hat. Seit 1999 unter -stützt diese Innovationsinitiative ostdeutsche Regionen dabei, ein zukunfts fähiges Profil zu entwickeln und regionale Stärken auszubauen. In insgesamt neun Einzelpro gram men wurden rund 600 regionale Initiativen und mehr als 5.000 Einzelprojekte gefördert. Ins ge samt stellt das BMBF 2020 für die laufenden Vorhaben 160 Millionen Euro zur Ver fügung.

Derzeit werden noch Initiativen in folgenden Einzelpro gram men gefördert:

• Innovative regionale Wachstumskerne mit Modul WK Potenzial

• Zentren für Innovationskompetenz

• InnoProfile-Transfer

• Zwanzig20 – Partnerschaft für Innovation

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Diese Publikation wird als Fachinformation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung kostenlos herausgegeben. Sie ist nicht zum Verkauf bestimmt und darf nicht zur Wahlwerbung politischer Parteien oder Gruppen eingesetzt werden.

Impressum

HerausgeberBundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Referat Nachhaltige regionale Innovationsinitiativen 11055 Berlin

Bestellungenschriftlich anPublikationsversand der BundesregierungPostfach 48 10 0918132 RostockE-Mail: [email protected]: bmbf.deoder perTel.: 030 18 272 272 1Fax: 030 18 10 272 272 1

StandApril 2020

Gestaltung und TextPRpetuum GmbH, 80801 Mü[email protected]

DruckDruck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, 60386 Frankfurt am Main

BildnachweiseTitel, S. 30: Getty Images/baranozdemirS. 3: G. Hüdepohl (atacamaphoto.com)/ESOS. 4: Getty Images / Brant Bady / EyeEm; TU Dresden, Jens KrzywinskiS. 5: Uwe Demele; Fraunhofer HHI; Igor Zlotnikov, B CUBE DresdenS. 6: PRpetuum GmbHS. 13: Chris Rößler | TUGZS. 14: PRpetuum GmbHS. 15: BTU Cottbus – SenftenbergS. 16/17: privatS. 18-21: Tom Bauer, AD PhotographyS. 34: Eric Le Roux / Service Communication / UCBL / MUSES. 35: PRpetuum GmbHS. 36: ICCASS. 39: MEDIPAN GmbHS. 40: plasmatisS. 41/42: PRpetuum GmbHS. 43: Stefan Merker – Infografik3D.deS. 44: NCT-Dresden / Philip BenjaminS. 47-49: privatAlle anderen Fotos: BMBF/Innovation & Strukturwandel/Thilo Schoch, Berlin

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bmbf.deinnovation-strukturwandel.de