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ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 99/1 (2013) © Franz Steiner Verlag, Stuttgart EMMANUEL JOSEPH SIEYÈS. Was ist der Dritte Stand? Herausgegeben von Oliver W. Lembcke und Florian Weber, Schriften zur europäischen Ideengeschichte. Her- ausgegeben von Harald Bluhm. Band 3. Berlin: Akademie Verlag 2010, 361 S. Das Werk ist – nach Band 1 mit kleinen poli- tischen Schriften Alexis de Tocquevilles und Band 2 mit Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung – als dritter Band der von Harald Bluhm (Halle a. d. Saale) her- ausgegebenen Reihe „Schriften zur europä- ischen Ideengeschichte“ erschienen, welche inzwischen mit einem Band 4 (Schriften Mar- quis de Condorcets, ebenfalls 2010) auf vier lieferbare und vier weitere, konkret angekün- digte Bände angewachsen ist (Band 5 zu Je- remy Bentham ist für Dezember 2012; Band 6 zu Charles Fourier für August 2012, Band 7 zu John Stuart Mill für Juli 2012, Band 8 zu Edmund Burke für 2013 zu erwarten). Der hierzulande zumeist als Abbé Sieyès bekannte französische Geistliche, Politiker, Verfassungstheoretiker und politische Philo- soph, 1 von dem die in dem zu besprechen- den Band veröffentlichten Schriften stam- men, griff mit seiner prominenten Streitschrift Qu‘est-ce que le Tiers-État? nicht nur in ei- nem besonders günstigen Zeitpunkt in das Geschehen der Französischen Revolution ein – die 1. Auflage erschien im Januar, die 3. „passend zur Eröffnung der Generalstände im Mai“ 1789 (S. 107) – und erzielte so eine große Wirkung. Darin 2 ist seine Rolle jener vergleichbar, die Thomas Paine mit seiner Kampfschrift Common Sense „als Geburts- helfer“ der vorangegangenen Amerikanische Revolution gespielt hatte (S. 255). Die He- rausgeber vergleichen die Bedeutung der Schrift auf „der Bühne der Politik“ mit jener des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels für die sozialistische Bewegung (S. 109). Sieyès prägte mit Wortschöpfungen (S. 31) wie pouvoir constituant (verfassung- gebende Gewalt, S. 142, 150) und pouvoir constitué (von der Verfassung gesetzte Ge- walt, S. 150) 3 darüber hinaus Begriffe und Unterscheidungen, die bis heute Gültigkeit haben, 4 ja als so fundamental aufgefasst werden, dass von Studierenden der Rechts- wissenschaft erwartet wird, dass sie sie sich im ersten Semester aneignen. Paines „Com- mon Sense“ hinsichtlich des intellektuellen Niveaus überlegen, ähnelt die Flugschrift mit ihrer Verbindung aus Verfassungslehre, Polemik, höchst relevanter politischer „Hand- lungsorientierung“, „Prinzipien der Legitima- tion“, „grundsätzlichen Ordnungsideen und konkreten institutionellen Lösungsvorschlä- gen“ (Zitate S. 110) manchen der Artikel der amerikanischen Federalist Papers, mit denen die Herausgeber sie immer wieder zu Recht vergleichen (S. 24, 109 f.). In der Diskussion der zentralen Fragen der Bindung der Legis- lative an die Verfassung und der Kompetenz zur Setzung und Änderung einer Verfassung Literatur 1 Die Frage, inwiefern Sieyès auch den philosophe im Sinne des frz. Sprachgebrauchs des XVIII. Jahrhunderts mit dem ihn kennzeichnenden, politisch kämpfenden Aktionismus (eher nicht) verkör- perte, wird in dem zu besprechenden Buch immer wieder angesprochen (deutlich S. 174, Anmer- kung [b], zuvor S. 14 f., 27 und 28). 2 Zum günstigen Zeitpunkt der Veröffentlichung von Paines Pamphlet aufschlussreich: Isaac Kram- nick, Editor’s Introduction, in: Thomas Paine, Common Sense, Nachdruck hrsg. von Isaac Kramnick, New York, N. Y., 1976, S. 7 – 57, 8. 3 Otto Brandt spricht in seiner Übersetzung Emmanuel Sieyès, Was ist der dritte Stand (Klassiker der Politik, Hrsg. F. Meinecke und Hermann Oncken), 1924, S. 93 noch von der „konstituierenden“ bzw. „konstituierten Gewalt“. 4 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR I ³2003, § 1, S. 14 Rn. 29. Urheberrechtlich geschtztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

Literatur€¦ · wechsel mit Thomas Paine aus dem Jahr 1791 zur Frage, ob eine konstitutionelle Mo-narchie oder eine Republik angestrebt wer-den soll, führt dem Rezensenten eindrücklich

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ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 99/1 (2013)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

EMMANUEL JOSEPH SIEYÈS. Was ist der Dritte Stand? Herausgegeben von Oliver W. Lembcke und Florian Weber, Schriften zur europäischen Ideengeschichte. Her-ausgegeben von Harald Bluhm. Band 3. Berlin: Akademie Verlag 2010, 361 S.

Das Werk ist – nach Band 1 mit kleinen poli-tischen Schriften Alexis de Tocquevilles und Band 2 mit Essays zur Arbeiter-, Frauen- und nationalen Bewegung – als dritter Band der von Harald Bluhm (Halle a. d. Saale) her-ausgegebenen Reihe „Schriften zur europä-ischen Ideengeschichte“ erschienen, welche inzwischen mit einem Band 4 (Schriften Mar-quis de Condorcets, ebenfalls 2010) auf vier lieferbare und vier weitere, konkret angekün-digte Bände angewachsen ist (Band 5 zu Je-remy Bentham ist für Dezember 2012; Band 6 zu Charles Fourier für August 2012, Band 7 zu John Stuart Mill für Juli 2012, Band 8 zu Edmund Burke für 2013 zu erwarten). Der hierzulande zumeist als Abbé Sieyès bekannte französische Geistliche, Politiker, Verfassungstheoretiker und politische Philo-soph,1 von dem die in dem zu besprechen-den Band veröffentlichten Schriften stam-men, griff mit seiner prominenten Streitschrift Qu‘est-ce que le Tiers-État? nicht nur in ei-nem besonders günstigen Zeitpunkt in das Geschehen der Französischen Revolution ein – die 1. Auflage erschien im Januar, die 3. „passend zur Eröffnung der Generalstände im Mai“ 1789 (S. 107) – und erzielte so eine große Wirkung. Darin2 ist seine Rolle jener vergleichbar, die Thomas Paine mit seiner Kampfschrift Common Sense „als Geburts-

helfer“ der vorangegangenen Amerikanische Revolution gespielt hatte (S. 255). Die He-rausgeber vergleichen die Bedeutung der Schrift auf „der Bühne der Politik“ mit jener des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels für die sozialistische Bewegung (S. 109). Sieyès prägte mit Wortschöpfungen (S. 31) wie pouvoir constituant (verfassung-gebende Gewalt, S. 142, 150) und pouvoir constitué (von der Verfassung gesetzte Ge-walt, S. 150)3 darüber hinaus Begriffe und Unterscheidungen, die bis heute Gültigkeit haben,4 ja als so fundamental aufgefasst werden, dass von Studierenden der Rechts-wissenschaft erwartet wird, dass sie sie sich im ersten Semester aneignen. Paines „Com-mon Sense“ hinsichtlich des intellektuellen Niveaus überlegen, ähnelt die Flugschrift mit ihrer Verbindung aus Verfassungslehre, Polemik, höchst relevanter politischer „Hand-lungsorientierung“, „Prinzipien der Legitima-tion“, „grundsätzlichen Ordnungsideen und konkreten institutionellen Lösungsvorschlä-gen“ (Zitate S. 110) manchen der Artikel der amerikanischen Federalist Papers, mit denen die Herausgeber sie immer wieder zu Recht vergleichen (S. 24, 109 f.). In der Diskussion der zentralen Fragen der Bindung der Legis-lative an die Verfassung und der Kompetenz zur Setzung und Änderung einer Verfassung

Literatur

1 Die Frage, inwiefern Sieyès auch den philosophe im Sinne des frz. Sprachgebrauchs des XVIII. Jahrhunderts mit dem ihn kennzeichnenden, politisch kämpfenden Aktionismus (eher nicht) verkör-perte, wird in dem zu besprechenden Buch immer wieder angesprochen (deutlich S. 174, Anmer-kung [b], zuvor S. 14 f., 27 und 28).

2 Zum günstigen Zeitpunkt der Veröffentlichung von Paines Pamphlet aufschlussreich: Isaac Kram-nick, Editor’s Introduction, in: Thomas Paine, Common Sense, Nachdruck hrsg. von Isaac Kramnick, New York, N. Y., 1976, S. 7 – 57, 8.

3 Otto Brandt spricht in seiner Übersetzung Emmanuel Sieyès, Was ist der dritte Stand (Klassiker der Politik, Hrsg. F. Meinecke und Hermann Oncken), 1924, S. 93 noch von der „konstituierenden“ bzw. „konstituierten Gewalt“.

4 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee und Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR I ³2003, § 1, S. 14 Rn. 29.

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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119Rezensionen

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steht sie Überlegungen Thomas Jeffersons aus dem Jahre 17875 dort sehr nahe, wo auch Sieyès die Wahl „außerordentlicher Stellvertreter“ zu einer verfassunggeben-den Versammlung fordert (S. 157), die, wie Sieyès in anderen Schriften (S. 180, 209) ebenfalls 1789 entwickelt, auf einem selbst dem pouvoir constituant vorgeordneten pou-voir commettant (der beauftragenden Ge-walt) der Wählerschaft beruht. Über dieses Problem hinaus geht Sieyès 1795 mit der umfassenden Behandlung des Problems der teilweisen und totalen Verfassungsrevision und des Hüters der Verfassung (S. 339 f.). Dort betont er, dass eine Verfassung „etwas Dauerhaftes ist, gemacht nicht für diese oder jene Generation“ (S. 339) – worin sich dann doch eine ganz andere Grundtendenz zeigt als bei Jefferson, der noch 1824 Wert darauf legt, dass eine Generation nicht die auf sie folgende binden kann.6

Damit ist die Erkenntnis angedeutet, dass Sieyès’ Leben und Werk – assoziiert mit „An-fang und Ende der Französischen Revoluti-on“ (S. 13, ähnl. S. 25) – viel zu facettenreich sind, um allein mit einem groben Blick auf die Schrift zum Dritten Stand angemessen wahrgenommen zu werden. Dies springt ge-radezu ins Auge, wenn man die in so vielen Hinsichten sehr gelungene Textsammlung aufschlägt. Der erste Satz des Vorworts ver-deutlicht denn auch, dass sie gegen die Re-duktion auf das „Pamphlet über den Dritten Stand“ und ein hierauf gestütztes, einseitig rationalistisches Politikverständnis gerichtet ist, gegen die Zurückführung allein auf jenes „Meisterstück revolutionärer Polemik“, wel-ches sich „jedoch nur als die Spitze des Eis-bergs an fundierter Politiktheorie“ erweist (Zi-tate S. 9). Dies zu zeigen ist zentrales Motiv der Herausgeber (deutlich S. 24 f.), prägend für das Programm des Buches, entfaltet in seinem Aufbau und Inhalt. Auf ein kurzes Vorwort folgt eine aus-führliche, sehr detail- und aufschlussreiche, gut und aktuell belegte, dabei spannend ge-schriebene „Einleitung: Revolution und Kon-

stitution: Zur politischen Theorie von Sieyès“ (S. 13 – 89). Sie stellt Sieyès den Lesenden als einen Menschen mit seinen Stärken und Schwächen in wechselhaften Funktionen und Zeiten lebendig vor und rechtfertigt die Auswahl der Schriften (S. 24 – 27), v. a. die Nichtaufnahme der Frühschriften Abhand-lung über die Privilegien und des Überblick über die Ausführungsmittel, die den Reprä-sentanten Frankreichs 1789 zur Verfügung stehen mit einer überzeugend explizierten Ausgewogenheit im Rahmen des Gesamt-werks. Nichts verliert sie an Lebendigkeit, wo sie die Fäden in Sieyès’ Werk gedrängt nachvollzieht, wo sie es theoretisch einord-net und sich dabei, begrifflich immer klar und nachvollziehbar operierend, auch auf abs-trakte Höhen von Metaphysik und Erkennt-nistheorie (S. 28, 33 – 37), Anthropologie, Sozial- und Rechtsphilosophie (S. 37 – 56) sowie Demokratie- und Verfassungstheo-rie (S. 57 – 89) emporschwingt, wo sie Be-ziehungen aufzeigt zu Rousseau und zum Rousseauismus (S. 26 f., 42, 57 – 60), den französischen Sensualisten (S. 28, 34, 35), Kant (S. 28, 30, 34 f., 36) und Fichte (S. 34 f.), zu Leibniz (S. 35), Descartes (S. 36), den Physiokraten (S. 39, 41) im Gegensatz zu einerseits teleologischen Naturrechtlern (S. 38 f.) und andererseits zu Hobbes’ Kontrak-tualismus (ebda.) oder wo sie spätere Urteile Burkes und Tocquevilles über Sieyès (S. 33) aufgreift und ins rechte Licht rückt. Deutlich wird diese Lebendigkeit ganz besonders an der brillant formulierten Stelle, wo die Span-nung zwischen dem „metaphysischen Mate-rialismus“ (S. 36, 38) und der Annahme eines vorgängigen Bezugspunktes aller Erkenntnis aufgebaut wird und sich dann wieder aufhebt in Sieyès’ ausführlich entfaltetem Verweis auf einen „dynamischen Einheitspunkt“ (S. 36), der als psychologische Realität „vollstän-dig auf zelebrale Strukturen“ zurückführbar (S. 36) sei. Ähnliches begegnet aber immer wieder, etwa bei der Darstellung von Sieyes’ „Anthropologie der Bedürfnisse“ (S. 38) und der Nähe der auf sie aufbauenden politi-

5 Zur Fragestellung der Schaffung einer “form of government unalterable by ordinary acts of assem-bly” und zur Lösung durch die Wahl von „special conventions to form and fix … governments“ s. Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia (1787), Query XIII, Abschn. 5, in: derselbe, Writ-ings, New York, N Y. [Library of America], 1984, S. 121 – 325, 250.

6 Thomas Jefferson, Letter to Major John Cartwright, 5.6.1824, in: derselbe, Writings (Fn. 5), S. 1490 – 1496, 1493.

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120 Literatur

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schen Argumentation zu jener Spinozas (S. 58), bei der Entwicklung seines Verhältnisses zu Kontraktualismen (S. 39, 47, 49, 51, 57 f.) oder beim Aufleuchten der vielen Farben, Schattierungen und Bedeutungen der Reprä-sentationslehre Sieyès’: für die integrative Funktion der Arbeit (S. 38), für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft (S. 47 f. und 65), für die politische Konstituierung der keines-wegs substanziell vorfindlichen Nation (S. 51 und 61), für die institutionelle Einheitsbildung (S. 60), mit Blick auf das Verhältnis zur unmit-telbaren Demokratie oder zum repräsentati-ven Regierungssystem (S. 66 – 71) oder für die Begründung des Vorrangs des Gesetzes und des freien Mandats (S. 69). Diesen le-bendigen Geist atmet sie ferner dort, wo sie wiederholt die Entgegensetzung von ré-pub-lique zu ré-totale und zu ré-privée entwickelt (S. 48, 64, 77), die in ihren Funktionen bereits überraschend komplexe Menschenrechts-lehre mit einem originären Status sozialer Grundrechte darstellt (S. 54 – 56), sich aus-einandersetzt mit Carl Schmitts Auffassung der verfassunggebenden Gewalt, die auf den ersten Blick als nahe liegend erscheint, bei genauerem Hinsehen aber den Kern der Ar-gumentation Sieyès’ deutlich verfehlt (S. 61 f.) und nicht zuletzt auch dort, wo die Her-ausgeber einfühlsam und erschöpfend nach Gründen dafür suchen, dass Sieyès die Zu-sammensetzung der – Verfassungsrevisio-nen vorbereitenden – jury constitutionnaire per Kooptation bestimmen will (S. 87 – 89). Hier ist das Leben von seiner traurigen, re-signativen Seite her spürbar. Dies kann nicht ignorieren, wer die letzten beiden Sätze der Einleitung liest; aber auch hier kommt der Rezensent bei der Lektüre in den Genuss gut vorbereiteter Erkenntnis der zunächst ver-stellten, kaum ersichtlichen, ja fast undenk-bar scheinenden, dann aber klar und hell vor ihm aufleuchtenden ratio (S. 88 unten). Diese konzise und reiche Darstellung, die auch da-rin ihre Reife zeigt, dass sie einen die hinter ihr stehende Mühe nicht spüren lässt, rief dem Rezensenten immer wieder das Leseer-lebnis in Erinnerung, welches einst die Lektü-re von Ernst Cassirers Klassiker Philosophie der Aufklärung begleitete. Im Hauptteil ist der Band so gegliedert, dass die Herausgeber jedem der elf abge-druckten Texte eine kurze, knapp zwei Sei-ten lange, aber sehr informative Einführung

„Zum historischen Kontext“ voranstellen, die außer dem, was die Überschrift zum Aus-druck bringt, auch Informationen über Editio-nen und Hinweise auf weiterführende Litera-tur zu geschichtlichem Zusammenhang und systematischer Interpretation enthält. Die Herausgeber haben als wichtigste Schriften aus der vorrevolutionären frühesten Schaf-fensperiode die Briefe an die Ökonomisten (1775) (S. 93 – 108), aus dem revolutionären Anfangsjahr 1789 neben dem Text über den Dritten Stand Sieyès’ Skizze betreffend eine Verfassung von Paris und seinen Entwurf zur Menschenrechtserklärung, seine Rede über die Kirchlichen Güter sowie zum Königlichen Veto für den Abdruck ausgesucht. Ein Brief-wechsel mit Thomas Paine aus dem Jahr 1791 zur Frage, ob eine konstitutionelle Mo-narchie oder eine Republik angestrebt wer-den soll, führt dem Rezensenten eindrücklich vor Augen, wie die von ihm für vernünftiger gehaltene Position nicht immer mit besser ausgearbeiteten Argumenten vertreten wor-den ist. Ein Aufsatz aus dem Jahr 1793 über Freiheit in der Gesellschaft schließt sich an. Aus der Zeit nach der Schreckensherrschaft stammen endlich Biographische Notizen und die Erste Thermidorrede sowie die Zweite Thermidorrede. Auf den Hauptteil folgt eine gut sortierte, französische, englische und deutsche Pri-mär- und Sekundärliteratur auflistende Aus-wahlbiographie, die, vor allem bei fremdspra-chiger Literatur, außer den üblichen Angaben mitunter hilfreiche Zusatzhinweise („bis heute die kritische Standardausgabe“, „vollständige Faksimile-Ausgabe der zu Lebzeiten publi-zierten Schriften“, „Taschenbuchausgabe“, „unveröffentlichte Dissertation“) enthält. Ein Personen- und ein Sachregister helfen bei der Erschließung des Werks. Das auch seiner äußeren Gestaltung nach schöne Buch ist für jede Bibliothek (zur Geschichte) des Öffentlichen Rechts, zur All-gemeinen Staatslehre, zur Ideengeschichte der Rechtsphilosophie und zur politischen Theorie eine große Bereicherung.

Rainer Keil

Dr. R.K., Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Friedrich-Ebert-Anlage 6 – 10, D-69117 Heidelberg

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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121Rezensionen

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OLIVER SENSEN. Kant on Human Dignity, De Gruyter, Berlin/Boston 2011, 230 S.

Kants Begriff der Menschenwürde ist ei-nes der großen Inspirationsquellen für das rechtliche Konzept der Menschenwürde. In Anlehnung an Kants zweite Formel des ka-tegorischen Imperativs, der Zweck-an-sich-Formel,1 formuliert das Bundesverfassungs-gericht in ständiger Rechtsprechung:

»Die Menschenwürde ist betroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu ei-nem bloßen Mittel, zur vertretbaren Grö-ße herabgewürdigt wird«.2

Umstritten ist allerdings, ob sich diese Be-zugnahme auf Kant mit den Kantischen Auf-fassungen zum Begriff der Menschenwürde vereinbaren lässt. Oliver Sensen, Professor für Philosophie an der Tulane University in New Orleans, bringt mit seinem Buch »Kant on Human Dignity« Klarheit. Das Buch stellt die erweiterte Fassung seiner Dissertati-on dar, mit der er im Jahre 2004 bei Onora O`Neill an der Cambridge University promo-viert wurde. Sensens Hauptthese ist, dass Kant ein traditionelles Verständnis von Men-schenwürde hat, das größtenteils auf Cicero zurückgeht (S. 164 ff.). Diese traditionelle Verständnis von Menschenwürde unterschei-de sich vom zeitgenössischen Verständnis in vielfacher Weise (S. 161 f.): Entscheidend sei, dass Würde nicht als ein absoluter Wert verstanden werde, der eine metaphysische Eigenschaft des Menschen sei und Rechte begründe. Zu einer eigenständigen Begrün-dung von Rechten sei der traditionelle Begriff der Würde überhaupt nicht in der Lage. Es bestehe vielmehr allein die Pflicht gegen sich selbst, seiner ursprünglichen Würde gerecht zu werden, indem man bestimmte Fähigkei-ten (wie Vernunft oder Freiheit) nutze und da-durch seine ursprüngliche Würde realisiere. Die Würde des Menschen habe nach dem traditionellen Verständnis somit einen zwei-stufigen Charakter: eine jedem Menschen

zukommende ursprüngliche Würde (erste Stufe), die es zu verwirklichen gelte (zweite Stufe). Der Begriff der Würde drücke nach dem traditionellen Verständnis von Kant da-mit lediglich aus, dass moralisches, d.h. vernunftgesteuertes, Verhalten besser und wichtiger sei als nicht-moralisches Verhalten (S. 202). Folgt man dieser Interpretation Sensens, so kann sich das maßgeblich vom Bundes-verfassungsgericht entwickelte rechtliche Konzept der Menschenwürde zumindest nicht unmittelbar auf Kants Begriff der Men-schenwürde stützen. Der Mensch ist bei Kant nicht zu achten, weil er Würde hat, sondern umkehrt: Weil der Mensch zu achten ist, kommt dem Menschen Würde zu. Als Text-beleg für diese Kant-Interpretation Sensens lässt sich folgende Stelle aus der Tugendleh-re, dem zweiten Teil der Metaphysik der Sit-ten, anführen:

»Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Men-schen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck ge-braucht werden, und darin besteht eben seine Würde (Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sachen erhebt«.3

Der Begriff der Menschenwürde bei Kant stellt damit, so Sensen, lediglich ein »se-condary concept« dar (S. 202). Moralische Rechte würden bei Kant einzig durch den kategorischen Imperativ begründet. Mit einer differenzierten und überzeugenden Begrün-dung vertritt Sensen dabei im dritten Kapitel seines Buches die These, dass die erste For-mel des kategorischen Imperativs, die Allge-meine-Gesetzes-Formel,4 und dessen zweite

1 Die Zweck-an-sich-Formel lautet: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 4, S. 429).

2 BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 28, 386 (391); 45, 187 /228); 50, 125 (133); 50, 166 (175); 50, 205 (215); 72, 105 (116); 87, 209 (228); 109, 133 (150); 109, 279 (312).

3 Kant, Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 6, S. 462 – Hervorhebung vom Verfasser.4 Die Allgemeine-Gesetzes-Formel lautet: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zu-

gleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 4, S. 421).

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Formel, die Zweck-an-sich-Formel,5 nicht nur »extensionally equivalent« seien, d.h. diesel-ben Gebote und Verbote aufstellten, sondern auch »intensionally equivalent: They express one and the same requirement, merely in different ways« (S. 123). Anders ausdrückt: Das Erfordernis, den Menschen zu respek-tieren, ergebe sich bereits aus dem Verallge-meinerungsprinzip, das in der ersten Formel des kategorischen Imperativs zum Ausdruck komme. Oliver Sensens Buch »Kant on Human Dignity« gebührt nach alldem zunächst der Verdienst, den Begriff der Menschenwürde bei Kant dorthin zu verlagern, wo er auch hingehört: in die zweite Reihe. Es sollte zu-gleich Anlass sein, sich mit dem entschei-denderen Konzept Kants auseinanderzuset-zen: mit dem kategorischen Imperativ. Indem das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung auf die Zweck-an-sich-For-mel rekurriert, um die aus der Menschen-würde folgenden Rechte und Pflichten zu bestimmen, geht es den richtigen Weg. Zu-lässig erscheint es nämlich, den Begriff der Menschenwürde schlicht als eine Umschrei-bung der aus dem kategorischen Imperativ folgenden Rechte und Pflichten zu nutzen. Zumindest in Kants Schrift Was ist Aufklä-rung? findet sich eine Textstelle, in der Kant den Begriff der Würde in einem derartigen Sinne zu verwenden scheint:

»Wenn denn die Natur […] den Kern, für den Sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmäh-lig zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln

nach und nach fähiger wird) und end-lich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln«.6

Noch nicht abschließend geklärt ist diesbe-züglich, ob Kant davon ausgeht, dass der kategorische Imperativ in rechtlicher Hinsicht seine vollständige Transformation im allge-meinen Rechtsgesetz findet, welches Kant in der Rechtslehre, dem ersten Teil der Meta-physik der Sitten,7 formuliert. Sollte dies der Fall sein, so würde sich – rechtlich gesehen – der kategorische Imperativ (und damit auch die Kantische Menschenwürde als Rechtsbe-griff) im Schutz der allgemeinen Handlungs-freiheit erschöpfen. Da Oliver Sensen nicht aus einer spe-zifisch rechtsphilosophischen Blickrichtung Kants Begriff der Menschenwürde betrachtet, setzt er sich in seinem Buch »Kant on Human Dignity« nur sehr kurz und unzureichend mit dieser Frage auseinander (S. 169 f.). Nichtsdestotrotz können sich aber gerade für Rechtsphilosophen seine Klarstellungen zum Kantischen Verständnis der Menschenwür-de als gewinnbringend und fruchtbar erwei-sen. Aufgrund seiner anlytischen Sprache, den anschaulichen Beispielen und der guten Struktur ist sein Buch »Kant on Human Dig-nity« jedem Rechtsphilosophen, der sich mit dem Begriff der Menschenwürde auseinan-dersetzt, zu empfehlen.

Fiete Kalscheuer

Dipl.-Jur. F.K., Gerhardtstr. 104, 24105 Kiel, Kiel

5 Siehe oben Fn. 1.6 Kant, Was ist Aufklärung?, Akademieausgabe Bd. 8, S. 41 – Hervorhebung vom Verfasser.7 Das allgemeine Rechtsgesetz Kants lautet: »[H]andle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner

Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kön-ne« (Kant, Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. 6, S. 231).

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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MAX WEBER. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Mit- und Nachschriften 1919/20, hrsg. v. Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Joa-chim Schröder, Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) III, 6, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2012, e 269,–.

Von seiner Vorlesung Abriss der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, vor rund 500 Studenten im Wintersemester 1919/20 an der Münchener Universität gehalten, hatte Max Weber keine besonders hohe Meinung. Als eine „aufgedrungene Improvisation mit tausend Unvollkommenheiten“ habe er sie angesehen, berichten die ursprünglichen Herausgeber, der Mediävist Siegmund Hell-mann und der Nationalökonom Melchior Pa-lyi in der Vorbemerkung ihrer Ausgabe von 1923. Dass Weber überhaupt zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte liest, obwohl sich sei-ne wissenschaftlichen Interessen inzwischen zur Soziologie verlagert hatten, geht vermut-lich auf die nachdrückliche Bitte seiner Stu-denten zurück. Webers „Pflichtgefühl“, so der neue Herausgeber der Vorlesung in der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), Wolfgang Schluchter, habe den Ausschlag gegeben. Weber gehörte seit dem Sommersemes-ter 1919 zum Lehrkörper der Universität. Für die Annahme des Angebots aus München hatte er sich wohl auch deshalb entschie-den, weil er die räumliche Nähe zu seiner einstigen Doktorandin Else Jaffé-Richthofen suchte, mit der ihn in den letzten Jahren eine Liebesbeziehung verband. Dieses Verhältnis wurde erst Jahre nach Webers Tod 1920 pu-blik. Else Jaffé-Richthofen lebte bis zum Tod von Webers Bruder Alfred 1958 mit diesem in Heidelberg zusammen und starb selbst 1973 im Alter von 99 Jahren. Nicht auszuschließen ist, dass Kokette-rie mit im Spiel ist, wenn Weber seine Vor-lesung als eher misslungen darstellt. Denn in Wahrheit ist sie ein leuchtendes Beispiel für Webers Kunst, große Massen an Stoff zu bewältigen und thematisch zu konzentrieren. Schluchter meint deshalb auch, sie gehöre „zum intellektuellen Vermächtnis seiner letz-ten Jahre“ (S. 18). Mit Hellmann und Palyi, beide Teilnehmer an Webers Münchener Dozentenseminar, haben sich zwei konge-niale Mit- und Nachschreiber gefunden, die Webers Ton treffen und seine weitgehend frei vorgetragenen Gedanken stilistisch beinahe besser umzusetzen verstehen, als der zu

Schachtelsatzkonstruktionen und Substanti-vierungen neigende Weber selbst. Die hohe Qualität ist der Grund dafür, dass die 1923 erstmals veröffentlichte Mitschrift vollständi-ge Aufnahme in die MWG gefunden hat und erklärt auch, dass der bei Duncker & Humblot verlegte Abriss mit 5. Auflagen (und einer 6., die derzeit vorbereitet wird) überaus erfolg-reich ist. MWG-Herausgeber Schluchter macht darauf aufmerksam (S. 13 Anm.), dass der Abriss das erste in englischer Sprache ver-öffentlichte Weber-Werk ist, erschienen noch drei Jahre vor der englischen Ausgabe der „Protestantischen Ethik“. Diese hatte Tal-cott Parsons übersetzt und, ergänzt um die „Vorbemerkung“ aus dem ersten Band der „Religionssoziologie“, herausgegeben. Die Vorlesung ist klar gegliedert und erzählt im Wesentlichen die Geschichte und Vorge-schichte des modernen Kapitalismus. Auf eine kurze „Begriffliche Vorbemerkung“, in der u. a. der Begriff des wirtschaftlichen Han-delns geklärt wird, folgen vier Kapitel, die sich mit verschiedenen historischen Phasen wirt-schaftlicher Entwicklung befassen. Auf die Agrarverfassung und das Entstehen einfa-chen Gewerbes folgen der Bergbau und der Güter- und Geldverkehr im Vorkapitalismus, bis sich der moderne Kapitalismus entfaltet. Das Kapitalismus-Kapitel handelt vom Bürgertum und vom rationalen Staat und geht abschließend auf die ethische Grundlage ka-pitalistischen Wirtschaftens ein. Eine Epoche nennt Weber „kapitalistisch“, wenn die De-ckung des Bedarfs an Gütern vor allem „un-ternehmerisch“ erfolgt. „Unternehmerisch“ heißt, dass die Güter in einem Betrieb her-gestellt werden, der seine Rentabilität durch Buchhaltung und Bilanzaufstellung kontrol-liert. Eine derart „rationale“ Betriebsführung sei, so Weber, nur dem Okzident eigen (S. 318 f.). Im Kapitalismus-Kapitel, das viele Parallelen zu den entsprechenden Ausarbei-tungen in Wirtschaft und Gesellschaft auf-weist, untermauert Weber im Wesentlichen seine Protestantismus-Kapitalismus-These von 1904. Die Originalität des Weberschen

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Methodenansatzes wird deutlich. Ein beson-deres Auge wirft er auf die „konkomitanten“ Entwicklungen, so die Formulierung von Wolfgang Schluchter (S. 40), also die den Ka-pitalismus begünstigenden und ergänzenden Entwicklungen in den nicht-wirtschaftlichen Lebensbereichen. In der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der religionssoziologischen Aufsätze be-zeichnet Weber den Kapitalismus einmal als die „schicksalsvollste Macht unsres mo-dernen Lebens“ (Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, S. 4). Dies lässt auf eine Sorge Webers vor der künftigen Ent-wicklung schließen. Auch andere Stellen in seinem Werk deuten auf einen ausgeprägten Zukunftsskeptizismus, um nicht zu sagen: Pessimismus hin. Berühmt ist das Ende der ersten Protestantismusstudie oder auch der Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ mit seiner Entzauberungs- und Sinndefizitthese. Im Ab-riss ist der Ton dagegen eher nüchtern, weni-ger wertend, analytisch. Allerdings berichten Palyi und Hellmann von einer „schlagenden und drastischen Ausdrucksweise“ Webers, die zu rekonstruieren sie außerstande ge-wesen seien (S. 69). Gelegentlich lässt sich trotzdem etwas davon erahnen: In dem Kapi-tel über den Bergbau nennt Weber die Kohle das „wertvollste“ und zugleich das „schick-salsvollste“ Produkt des Okzidents (S. 252). „Schicksalsvoll“ ist sie deshalb, weil sie die Herstellung von Eisen ermöglicht. Das Eisen wiederum ist mit der schnellen Industrialisie-rung verbunden, die zu sozialen Konflikten führt. Weber berichtet von der Gründung von Kohlenbergwerken im 12. und 13. Jahrhun-dert, und zwar aus den Klöstern heraus. Be-merkenswert ist, dass er als Folge des Koh-lenbrandes in England die starke „Verpestung der Luft“ erwähnt und auf den „Raubbau an den Bodenschätzen“ hinweist. Als Beispiel für Letzteres führt er die „Entwaldung“ des Landes an, um Holzkohle zu gewinnen. Die Holzkohle wiederum diente bis Mitte des 18. Jahrhunderts der Erzeugung von Eisen. Da diese Bodenschätze nicht unerschöpflich sind, geht Weber davon aus, dass „das ei-serne Zeitalter höchstens ein Jahrtausend“ wird andauern können (S. 343, Anm.). We-ber weist auf diese Folge rasanter Industri-alisierung freilich nur hin; er problematisiert die Entwicklung nicht, sodass er kaum als ein ökologischer Vordenker in Anspruch ge-

nommen werden kann. Dennoch zeugen die-se Passagen von einer außergewöhnlichen Sensibilität für die ökologischen Folgen der Industrialisierung. Weber geht davon aus, dass nur ein begrenztes und maßvolles Wirt-schaften keine gravierenden nicht-wirtschaft-lichen Folgen hat. Sobald eine bestimmte Grenze industrieller Produktion überschritten wird, droht diese in Destruktion umzuschla-gen. Weber scheint der Auffassung zu sein, dass es zu dieser Grenzüberschreitung frü-her oder später unweigerlich kommt. Wäh-rend die klösterlichen Bergwerke noch für den Eigenbedarf produzieren, geht es im Verlauf der weiteren Entwicklung darum, mit der Ausweitung der Produktion Gewinn zu machen. Das Profitinteresse wird zu einem wichtigen Antriebsfaktor. Als Beleg führt We-ber die Kohleverschiffung in England an. Es wird nicht länger produziert, um den eigenen Bedarf zu decken, sondern um auf dem Weg des Handels Überschüsse zu erwirtschaften, die materielle Sicherheit und Versorgung in der Zukunft versprechen. Webers Begriff des Wirtschaftens, den man schon aus seiner „Wirtschaftssoziolo-gie“ in Wirtschaft und Gesellschaft kennt, ist besonders interessant. Wirtschaften ist für Weber der sparsame Umgang mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, um das Über-leben zu gewährleisten. Ziel ist, das Leben ohne materielle Not fristen zu können. We-ber definiert wirtschaftliches Handeln als „Fürsorge“ für „begehrte Nutzleistungen“. „Nutzleistungen“ sind jene Güter, die Pro-dukte eines Herstellungsprozesses sind (S. 81). Wirtschaften ist, könnte man im Sinne Webers sagen, der intelligente Umgang mit dem Wenigen. Damit hat Wirtschaften a pri-ori, wie Weber schließt, eine „Tendenz zur Rationalisierung“ (S. 83). Deren Ziel ist es, die Produktionskosten zu senken oder auch: mit einem möglichst geringen Einsatz von Kraft und Energie ein möglichst optimales Betriebsergebnis zu erzielen. So erklärt sich die Entstehung von Technik. Sie ermöglicht eine Beschleunigung der Produktion und eine Vervielfältigung der Produkte. Rationa-lisierung löst auch, wie es bei Weber heißt, „eine fieberhafte Jagd nach Erfindungen“ aus (S. 348). Wirtschaftsgeschichte ist, so fasst Weber zusammen, „in gewissem Sinn und in gewissen Grenzen die Geschichte des heu-te zum Siege gelangten ökonomischen, auf

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Rechnung aufgebauten Rationalismus“ (S. 94). Das heiß aber nicht, dass der Mensch seit jeher und immer wirtschaftlich („rational“) gewirtschaftet hätte. Der Herausgeber zitiert aus einem noch unveröffentlichten Brief We-bers von 1910 eine Bemerkung, wonach die Abfassung einer Wirtschaftsgeschichte die „Geschichte der menschlichen Unwirtschaft-lichkeit“ einschließen müsse (S. 10). Der „homo oeconomicus“ ist damit weitgehend eine Fiktion, ein „Idealtypus“. In Wirklichkeit ist Wirtschaftsgeschichte immer auch die Ge-schichte der Abweichung von ökonomischer Rationalität. Deutlicher als in anderen Schriften unter-scheidet Weber in der Vorlesung zwischen „formaler“ und „materialer Rationalität“. Zwischen beiden wüte ein „Kampf“ (S. 95). Interessant ist, dass er nicht nur das Ansin-nen, Güter „gerecht“ zu verteilen, als „mate-rial irrational“ bezeichnet, sondern auch das wirtschaftliche Spekulieren. Es ist deshalb „irrational“, weil es nicht der Güterproduktion, sondern dem Geldgewinn dient. Die Speku-lation ruft, so Weber, regelmäßig Wirtschafts-krisen hervor. Ihnen widmet er einen eigenen Paragraphen (S. 326 ff.). Darin unterscheidet er die begrenzte Spekulation von der „Über-spekulation“ (S. 330), die zu Überprodukti-on bei abnehmender Nachfrage führe und damit eine massive Störung des wirtschaft-lichen Gleichgewichts nach sich ziehe. Wie bei Marx klingt, was Weber im Folgenden beschreibt: Die mit der Verkokung von Koh-le möglich gewordene Herstellung von Eisen befreie die Produktion „von ihren organi-schen Schranken, in welchen die Natur sie gefangen hielt“ (S. 330). In der Folge komme es zu Krisen, die freilich nicht in jedem Teil der Welt dieselben Folgen hätten. An diesem Punkt kommt die Religion ins Spiel. Weber erwähnt, dass in Japan oder China Krisen als Ausdruck einer indisponierten Gottheit angesehen würden, der Arbeiter im Okzi-dent hingegen durchschaue, dass kein Gott, sondern die Wirtschaftsverfassung oder die Gesellschaftsordnung selbst der Grund der Krise und der eigenen desolaten Lage sei. Für Weber ist dies die Erklärung dafür, dass nur im Okzident „rationaler Sozialismus“ ent-stehen konnte (S. 331). Offensichtlich hatte Weber keine Gelegenheit, seine Ausführun-gen zu differenzieren, denn nicht überall im „Okzident“ entsteht „rationaler Sozialismus“.

Werner Sombart widmet dieser Frage be-kanntlich seine Studie Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? (1906). Nach Sombart verhinderten in den USA ein ausgeprägter Individualismus und ein relativ hohes Arbeitseinkommen die Ent-stehung des kontinentaleuropäischen Sozi-alismus. Die amerikanischen Arbeiter waren weniger isoliert und auch ethnisch zu hetero-gen, um sich als „Klasse“ zu konstituieren. Es herrschte zudem Arbeitskräfteknappheit. Die Ergebnisse der Studie stellen We-bers Diagnose allerdings nicht grundsätzlich in Frage. Neu und innovativ bei Weber ist die Erklärung, dass die religiöse Entzauberung die Kritik an der wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Verfassung entscheidend be-günstigt habe und letztlich mitverantwortlich gewesen sein dürfte für den entstehenden Klassenkonflikt. Zum Ende seiner Vorlesung zieht Weber ein ähnliches Fazit wie in seiner ersten Studie zur „Protestantischen Ethik“. Die Religion habe zwar den Kapitalismus maßgeblich ermöglicht, allerdings sei die re-ligiöse Wurzel im Augenblick der Entfaltung des Kapitalismus weitgehend abgestorben (S. 395). Im Unterschied zur Protestantis-musstudie eröffnet Weber jetzt nicht das düs-tere Szenario eines im Entstehen begriffenen „stahlharten Gehäuses“, sondern bezieht sich auf die zeitgenössische Gesellschaft, die er am Klassenkonflikt zerbrechen sieht. Weil die Religion ihre Zauberkraft verlo-ren habe, sei sie außerstande, den Arbeiter über sein Schicksal hinwegzutrösten. Weber glaubt deshalb, dass die Spannungen in der Gesellschaft weiter zunehmen werden. Die Neuedition enthält neben den Mit-schriften von Palyi und Hellmann die der Stu-denten Erwin Stölzl und Georg Girisch. Diese Texte sind nicht ausformuliert, es handelt sich lediglich um stichwortartige Aufzeichnungen, die keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Wiedergabe der Erst-Mitschriften enthalten. Man kann deshalb fragen, warum sie in den Band aufgenommen wurden. Das gilt auch für die Notizen aus dem Nachlass von Carl Schmitt, die rund drei Seiten umfassen. Die Herausgeber haben sich für die Wiederga-be aufgrund der „Bedeutung“ von Schmitt entschieden (S. 530). Schmitt, Vorlesungs-zuhörer und Teilnehmer an Webers zweiwö-chigem Dozentenseminar, ist von 1919 bis 1921 Dozent für Öffentliches Recht an der

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Münchener Handelshochschule. Zunächst mit literarischen Versuchen hervorgetreten (z. B. Theodor Däublers ,Nordlicht’, 1916), veröffentlicht er 1919 die Studie Politische Romantik, in der er die gesamte Mentali-tät der bürgerlichen Welt verwirft; diese sei durch Unentschiedenheit und fortdauerndes Gespräch gekennzeichnet. Der Titel ist in-soweit ironisch gemeint, als der Romantiker zum eigentlich Politischen: der „Entschei-dung“, nach Schmitt gar nicht fähig ist. 1921 erscheint sein erstes Hauptwerk Die Dikta-tur, in dem er sich für die „kommissarische“ Diktatur ausspricht, die eine Diktatur auf Zeit sei und dem Erhalt der Verfassung diene. Zu-gleich problematisiert er die Geltungsbedin-gungen des „bürgerlichen“ Rechtsstaats, wie er mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 institutionelle Gestalt gewinnt. In Mün-chen hört er auch Webers Vorträge „Wissen-schaft als Beruf“ und „Politik als Beruf“ und beteiligt sich später mit einer „Soziologie des Souveränitätsbegriffs“ an der von Melchior Palyi herausgegebenen Erinnerungsgabe an Max Weber (1923). Geht man dem Literaturhinweis der Her-ausgeber der wirtschaftsgeschichtlichen Vor-

lesung nach und liest in Schmitts Aufzeich-nungen über die Militärzeit, findet sich, dass dieser sich in seinem Denken von Weber bestärkt sah. In Webers Typus „charismati-scher Legitimität“ sieht er einen politisch ge-wendeten, ursprünglich theologischen Begriff (Politische Theologie II, 1970, S. 62). Er teilt Webers Kritik des Pazifismus und der Morali-sierung der Politik, wie dieser sie angesichts der Münchener Revolutions- und Bürger-kriegslage vorträgt. Wenn auch die Aufnahme der Notizen in den Band nicht zwingend erscheint, ermun-tert dieser Nachlassfund doch, sich (nach der Studie von Gary L. Ulmen, Politischer Mehr-wert, 1991) noch einmal mit dem Verhältnis Schmitt/Weber zu beschäftigen, das freilich spannungsreicher und widersprüchlicher ist, als Schmitt glauben macht: Denn gerade Weber ist auch ein Vertreter jener liberalen „Bürgerlichkeit“, die Schmitt so vehement be-kämpft.

Wolfgang Hellmich

Dr. W. H., In den Fischergärten 3, 72074 Tübin-gen, wolfgang [email protected]

GEORGE KATEB. Human Dignity. Cambridge, MA/London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2011, xiii + 238 pp. ISBN: 978-0-674-04837-9

Man’s place in the world is a signifi cant matter, both from an existential and a practical view-point. George Kateb’s Human Dignity deals with, inter alia, moral philosophy, philosophical anthropology (establishing the basis for human dignity) and philosophy of law (addressing the subject of human rights). Despite the scope of the inquiry, the author has managed to present his ideas in a book of modest proportions. Many works that deal with topics such as these excel in producing opaque arguments, larded with language of the same nature. For-tunately, Kateb is a positive exception in this regard. Not only does he steer clear of such a modus operandi, he also explicates matters in instances in which this is desirable. This, together with the author’s accessible style, makes the difficulties readily apparent. That such exist at all is, of course, unwelcome, but this state of affairs is still preferable to one – not seldom found in present-day philoso-

phy – in which the reader is forced to find his way through a web of intricacies spun by the author in an attempt to hide the weaknesses in his theory. Kateb can, in any event, not be accused of such a course of action. He seeks to locate the foundation of human dignity and to know which consequences follow from it. The outline of Human Dignity is presen-ted thus: “I wish to go to the extent of saying that the human species is indeed something special, that it possesses valuable, commen-dable uniqueness or distinctiveness that is unlike the uniqueness of any other species. It has higher dignity than all other species, or a qualitatively different dignity from all of them. The higher dignity is theoretically founded on humanity’s partial discontinuity with nature. Humanity is not only natural, whereas all other species are only natural. The reasons for this assertion, however, have nothing to do with theology or religion.

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I therefore work with the assumption that we can distinguish between the dignity of every human individual and the dignity of the human species as a whole. With that as-sumption in place, I make another assump-tion, that the dignity of every individual is equal to that of every other; which is to say that every human being has a status equal to that of all others. […] All individuals are equal; no other species is equal to humanity. These are the two basic propositions that make up the concept of human dignity. The idea that humanity is special comes into play when species are compared to one another from an external and deindividualized (though of course only human) point of view. When we refer to the dignity of the human species, we could speak of the stature of the human race as distinguished from the status of individu-als.” (pp. 5, 6). Kateb’s notion of ‘human dignity’ is an intricate one, incorporating status and sta-ture (p. 9; cf. p. 18) (as just mentioned). One wonders, though, what could prompt such an amalgam. If there were merely a need to un-derline the special contributions individuals (are able to) accomplish, the stature aspect would obviously be a superfluous addition. The benefit – if that is what this is – of such a conception is, in any event, that it includes those who cannot claim any merit; for them the stature aspect is the crucial element. A clear downside of this element is its vague-ness, which may be precisely what accounts for its success to accommodate those that lack a status in the sense in which it is usual-ly understood (the status of one human being not being equal to that of all others, in contra-distinction to what is the case in the author’s conception). The difficulties are brought to the fore by Kateb’s insistence to consider uniqueness to be “[…] the element common to status and stature […].” (p. 8). This becomes apparent when it is somewhat concretized: “[…] the di-gnity of the human species lies in its unique-ness in a world of species. I am what no one else is, while not existentially superior to anyone else; we human beings belong to a species that is what no other species is; it is the highest species on earth – so far.” (p. 17). Still, if Kateb is, as would appear to be the case, not willing to single out one or more ac-tual criteria on the basis of which the human

species’s dignity would subsequently be de-fended, it is simply the bare fact of belonging to this species that is decisive, namely (pre-sumably) having certain physical characteri-stics, making the decisive element an arbi-trary one. Once the author reaches the point where he starts to list the characteristics that are unique to human beings, it is clear that he dismisses such a way out (and rightly so, for the reason just mentioned), but he does not provide another solution: “All the traits and attributes are based in the body, but none is reducible to a merely biological phenomenon with an exclusively biological explanation.” (p. 133). The distinction between animals and human beings, at least in the way the author presents it, easily leads to the (rightful) ac-cusation of speciesism. (Kateb denies that the accusation of speciesism (referring to it as ‘species snobbery’) applies to his position (p. 179), but I have found no basis in his work that would substantiate this statement.) It is not reason (in whatever sense) that is crucial, as this would exclude those who are seriously cognitively impaired, and would ea-sily force a modification of this outlook, either conferring dignity on those animals that exhi-bit more intelligence than these individuals, or denying these individuals dignity. Neither of these options is open to Kateb, which ma-kes the vagueness of his definitions all the more problematical. (Incidentally, it is a non sequitur to conclude from the mere fact that the human species is unique that it should eo ipso be ‘elevated’ in some way compared to the other species.) It is almost as if the theory were constructed with the agenda in mind to create a ‘safe haven’ for every human being, while being able to justify a different treatment for animals, whose suffering, not belonging to a species that is unique, is less important than that of mankind (pp. 22, 23). (Kateb does not ignore animals’ suffering, though, and speaks of animal rights as “[…] made up of two com-ponents: the quasi-moral and the quasi-exi-stential, in analogy with human rights.” (p. 117).) The protective stance towards human beings becomes apparent, e. g., when Kateb says, committing an argumentum ad conse-quentiam: “[…] we should not speak as if at any time degraded human beings are no lon-ger human; to do so would justify the treat-ment inflicted on them.” (p. 21).

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On the basis of the foregoing, it appears difficult, if not downright impossible, to deli-neate a domain to which human beings ex-clusively belong on account of a non-trivial trait. This may be called a lower limit when it comes to seeking a contrast with those spe-cies that (supposedly) lack (this sort of) di-gnity. The upper limit, by contrast, lies in the acknowledgement of the non-existence of a special standing for those human beings that are endowed with extraordinary qualities, alt-hough the author does not overlook the dif-ferences between individual human beings. Still, he seems to need precisely the achie-vements of such individuals to buttress the special position of mankind, pointing to “[…] the great achievements that testify to human stature because […] they rebut the conten-tion that human beings are merely another species in nature, and thus prepare the way for us to regard every person in his or her po-tentiality.” (p. 8; cf. p. 115). ‘Great achievements’ would in fact plead inequality among human beings (since the achievements of some exceed those of others). The uniqueness of the species can, accordingly, only be said to follow from the achievements of great individuals (or at least not from the acts of each individual); in the most extreme cases (people that are signi-ficantly cognitively impaired), individuals are not even capable of performing unique ac-complishments. It must be granted that the great achievements are connected to human stature (p. 179) rather than to the status of individuals, so that individuals may be said to ‘share’ in the achievements: they are of the same species as the ‘great’ individuals and might be considered, from this perspective, to achieve great things if the circumstances had been different, whereas an animal would (presumably) never be able to, e. g., compo-se music or prove a theorem. If this reasoning is carried through consistently, those indivi-duals who are unable to contribute in such a way should not be considered human beings (or even individuals). The alternative consists in including such beings, at the expense of the disappearance of the demarcation line (the lower limit just mentioned) between human beings and ani-mals. This is not what Kateb would argue, focusing on the fact of being human: “There are people who are so disabled that they can-

not function. Does the idea of dignity apply to them? Yes, they remain human beings in the most important respect. If they cannot ac-tively exercise many or any of their rights they nevertheless retain a right to life, whatever their incapacities (short of the most extreme failures of functioning).” (p. 19). It is not surprising that Kateb finds himself in a split (or dilemma). He – rightly – denies that the whole human record is personified in every individual, but states that, on the basis of the stature aspect, each one has all the human characteristics (pp. 125, 126; cf. p. 179). On the one hand, individuals are not the personification of the human record (so that the individuals whose mental capacities are exceeded by those of some animals are included – at the same time, a supposedly common ground (the very human record) bet-ween ‘great’ individuals and these individuals is lost), but on the other hand, every indivi-dual has all the decisive traits and attributes to include him (which is easily refuted on the basis of experience). This theory may be said to want too much, so to speak: it is not pre-pared to sacrifice what is special in humanity but fails to accept the consequences of this premise when it is pressed to do so, thus leaving an account that may be considered inconsistent or even void. What does all this mean for the issue of granting rights? Kateb says: “Two kinds of equality are involved when the state re-cognizes and respects human rights. First, there is moral equality, and second, there is the equal status of every individual.” (p. 30). The first sort of equality is difficult to maintain in the light of the foregoing analysis. The se-cond sort of equality, the equal status of eve-ry individual, can be defended, but in order to eliminate the difficulties pointed out above, another foundation – or, rather, a foundation – must be provided. The problem with ‘human dignity’, it seems, is that it is an honorific rather than a description, so that the reason why digni-ty should be bestowed on human beings re-mains to be clarified. One may contrast this with an honorific bestowed on, e. g., athletes who have shown extraordinary accomplish-ments. They are praised for this, and in this consists the honorific: the honorific is based on some quality or performance considered exceptional by some. Crucially, such an ho-

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norific can only have a meaning if the reason for it to be bestowed can be contrasted with situations in which it would be out of place. The honorific is bestowed on athletes who show, as I said, extraordinary accomplish-ments. They are ‘extra’-‘ordinary’ (beyond the ordinary) in the sense that ordinary peo-ple (or the athletes with whom they compete) cannot (or, in any event, do not) perform such feats. In the case of ‘human dignity’, the pro-blem seems to be that everyone who is a human being is eo ipso qualified a proper candidate to have dignity bestowed on him. There is no contrast (not even with those who lack reason, who are still treated with dignity (if they cannot fend for themselves, they are not simply abandoned, which would probab-ly mean their death, but are taken care of in special institutions)). There is, of course, the more fundamental contrast with non-humans (animals), but that is not relevant here: even if such a contrast could be defended within Kateb’s theory (quod non), this would still not provide sufficient justification to speak of hu-man dignity (at least not in all cases). If there is no criterion to bestow an honorific – as di-gnity may be said to be –, the honorific itself loses all meaning. That this problem ensues can be ex-plained from the way the author qualifies ‘dignity’, which is not unrelated to the issue of the inclusion of every human being in the realm of subjects having dignity, for Kateb speaks of ‘human dignity’ as an existential rather than a moral value (pp. 10–17). He de-monstrates his awareness of the difference with a view such as Kant’s, who does con-nect dignity with morality (p. 13). (Incidentally, Kant speaks not about human dignity per se, arguing that any rational being may have di-gnity.) Kant’s approach faces some – or, rat-her, many – difficulties of its own, but he is in any case clear about the criteria for dignity to be bestowed on a being. Such an option seems ruled out in Kateb’s line of thought, in-sisting that “Human dignity is an existential value; value or worthiness is imputed to the identity of the person or the species.” (p. 10). On p. 24, Kateb says of human stature: “Hu-man stature is essentially an existential, not a moral, value.” An alternative would be, then, not to fo-cus on the ‘human’ part of ‘human dignity’

but rather to deem a characteristic decisive which some may be said to exhibit and which others lack, such as rationality. Such an alter-native brings its own complications with it, but these need not be discussed here as Kateb does not opt for it (indeed, as I indicated, the problem is rather that he does not choose at all). I mention it merely to remark that an al-ternative to Kateb’s theory, which would, of course, have to be examined just as critically, is not readily available, at least not as long as one aspires to present a theory that is just as elevated. Perhaps one may even reach the conclusion that such a project must be given up. In any event, Kateb’s ambition seems to exceed what he can demonstrate, and the extent to which a theory must be justified cor-responds with that of its claims rather than with its (intuitive) appeal or the aspirations of its originator. That is not to say that the book is without merit, but such merit lies primarily in indicating what is at stake in the human dignity debate, and in which setting such a debate can take place.

Jasper Doomen

J.D., J. Perkstraat 4 A, 2321 VH Leiden, The Netherlands, [email protected]

Urheberrechtlich geschutztes Material. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungen in elektronischen Systemen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013

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130 Literatur

ARSP (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie), Band 99/1 (2013)© Franz Steiner Verlag, Stuttgart

RALF KONERSMANN (Hrsg.). Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 3. Aufla-ge, D armstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2011, 592 Seiten, E 100,–.

A metaphoris autem abstinendum philo-sopho. Mit diesem auf Berkeley zurückge-henden Satz lässt sich die bis heute weit verbreitete Skepsis des Wissenschaftlers gegenüber Metaphern beschreiben. Diese werden als bloß rhetorisches Stilmittel aufge-fasst, dessen Unschärfe, Vieldeutigkeit und Irrationalität es für einen sachlichen Diskurs, der auf die präzise Formulierung des eige-nen Gedankens angewiesen ist, im besten Falle als überflüssig, im schlechtesten sogar als schädlich erscheinen lässt.1 Zu unrecht. Denn Metaphern und metaphernbasierte Modelle sind ein zentraler Bestandteil der wissenschaftlichen Sprachspiele – dies weiß nicht zuletzt der alltäglich mit dem „Willen des Gesetzgebers“, „logischen Sekunden“ und „juristischen Personen“ operierende Ju-rist.2 Deshalb ist es gerade auch aus rechts-wissenschaftlicher Sicht nachdrücklich zu begrüßen, dass die von Hans Blumenberg 1960 mit den „Paradigmen zu einer Meta-phorologie“3 zu neuem Leben erweckte For-schungsrichtung der Metaphorologie, der Wissenschaft von und über die „Erzählun-gen, die sich als Einzelwort maskieren“ (S. 17), in dem Wörterbuch der philosophischen Metaphern (WPM) einen lexikalischen Grals-hüter gewonnen hat. Der Herausgeber hat Lemmata wech-selnder Bearbeiter zu 40 sogenannten Ti-telmetaphern zusammengetragen. Damit sind solche Metaphern gemeint, die „einen kohärenten Vorstellungszusammenhang [überschreiben], der durch das Titelwort vor-gegeben ist und dessen konkrete Gestalt zeiträumlich variieren kann“ (S. 15). Mit dem WPM betritt Konersmann, wenn man von ei-

nem erfolglos gebliebenen Versuch Johann Georg Sulzers von 1767 absieht, editorisches Neuland. Die verbreitet geltend gemachten Einwände, dass die Metaphorologie die Ord-nungsfuktion der Begriffsgeschichte unter-grabe und, wenn überhaupt, nicht lexikalisch zu betreiben sei, weil eine Metapher nur in der Konkretion ihrer Anwendung betrachtet werden könne, erkennt Konersmann ebenso entspannt an wie die kaum begründbare An-zahl und Auswahl der bearbeiteten Titelmeta-phern (S. 13, 17, 18). Denn es geht nicht um eine abschließende Untersuchung, sondern um eine offene Interpretation, ein Werk „sei-ner Autoren und Leser“ (S. 19, Hervorhebung des Rezensenten): Der hergebrachten enzy-klopädischen Hermetik des Wörterbuchs wird eine erfrischende topologische Hermeneutik der Wörterschrift entgegensetzt.4 Damit er-weist sich das Werk als Produkt eben der von Blumenberg beschriebenen modernen Kon-tingenzkultur, die sich durch den Grundge-danken auszeichnet, dass nicht sein muss, was ist:5 Der Umweg der Geschichte führt über die Brücke des Aushaltens der Differenz zur Aufhebung derselben – „Metaphern […] indizieren Kontingenz – und sie kompensie-ren Kontingenz.“ (S. 12). Die offene Gesamtkonzeption bringt eine weitgehende Heterogenität der Bei-träge mit sich, was nicht nur ihre metapho-rologischen Ausgangspositionen, sondern auch ihren Umfang und Aufbau sowie ihre Qualität betrifft. Daher kann vorliegend kei-ne Wiedergabe aller oder eines typischen Beitrags erfolgen. Hingewiesen sei jedoch zunächst auf den Beitrag „Kreuz“ von Win-fried Brugger, dem einzigen Juristen unter

1 Vgl. Richard Dawkins, Unweaving the Rainbow, Boston 1998, S. 180 ff., 184: “dangers of becoming intoxicated by symbolism, by meaningless resemblances”.

2 Einen instruktiven Überblick über die einzelnen Bedeutungsebenen der Metapher im Recht liefert: Finn Makela, Metaphors and Models in Legal Theory, in: Les Cahiers de Droit, vol. 52 (2011), S. 397 ff.

3 Zuvor bereits: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung (1957), abgedruckt in: Anselm Haverkamp (Hrsg.), Hans Blumenberg – Ästhetische und metapho-rologische Schriften, Frankfurt 2009, S. 139 ff.

4 Vgl. Jacques Derrida, De la grammatologie, Chapitre 1: «La fin du livre et le commencement de l’écriture», Paris 1967, p. 15 ff.

5 Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt 1987, S. 57.

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131Rezensionen

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den Autoren. Hierin legt Brugger eine Kurz-version seiner bereits mehrfach publizierten6 entscheidungstheoretischen Anthropologie nieder, die jedoch bedauerlicherweise den spezifisch metaphorischen Gehalt des Kreu-zes kaum beleuchtet. Aus juristischer Sicht spannender ist deshalb beispielsweise die Bearbeitung „Netz“ von Christian J. Emden, welche die rechtliche Obligation mit den Begriffen des nexus/nectere in Verbindung bringt und den Leser unwillkürlich an die Verstrickung des Straf- und Zivilrechts den-ken lässt. Ebenso gedankenreich sind die Ausführungen von Susanne Lüdemann zur Metapher „Körper, Organismus“, die in eben-so verständlicher wie überzeugender Weise die Entwicklung der Körperschaft des Staa-tes aus derjenigen der Kirche nachzeichnet, die ihrerseits vom corpus christi und dessen antiken Vorläufern herrührt. Wie sich der Kul-tur- und Ausbildungsbegriff aus der Metapher „Pflanze“ kristallisieren, zeigen Theda Reh-bock und Nele Schneidereit unter anderem mit der interessanten Beobachtung auf, dass die lateinische cultura, die bekanntlich Pfle-ge, Anbau und Verehrung zugleich als Mo-mente in sich vereint, bis in das 18. Jahrhun-dert „ gar nicht ohne einen spezifizierenden Genitiv“ (S. 274), also ohne die Klarstellung, was genau man denn kultivieren wolle, vor-kommt. Begriffe wie „Verfassungsbaum“, „or-ganisches Schuldverhältnis“ müssen somit nicht bemüht werden, um die Relevanz der Pflanzenmetapher im rechtskulturellen Dis-kurs zu belegen. Die hier begonnene Liste ließe sich leicht fortsetzen, zum Beispiel mit den Beiträgen von Werner Köster zu „Raum“ (vgl. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, Art. 3 Abs. 2 EUV) und von Peter L. Oesterreich zu „Richten“. Der vorgelegte Band hat in seiner dritten Auflage wesentliche Mängel früherer Auf-lagen behoben. So wurde etwa dem Meta-phernregister ein überaus hilfreiches Namen-register beigefügt, das es nun gestattet, dem Metapherngebrauch eines bestimmten Den-kers gezielt nachzugehen. Bedauerlich sind allein die bei einzelnen Lemmata weiterhin

sehr spärlichen Nachweise. Immerhin bietet der Herausgeber dem Fachfremden eine ak-tuelle Auswahlbibliografie zur Metaphorolo-gie. Herausgeber, Autoren und Verlag muss man zu einem inspirierenden Gesamtwerk beglückwünschen. Die Anschaffung ist zu empfehlen – sei es als Einstieg in eigene me-taphorologische Studien, sei es als schlichte inspirierende Beschäftigung mit diesen „Leit-fossilien einer archaischen Schicht des Pro-zesses der theoretischen Neugierde.“7

Chris Thomale

C.T., Universität Freiburg, Institut für Handels- und Wirtschaftsrecht, Wilhelmstraße 26, 79098 Frei-burg i. Br.

6 Das anthropologische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, ZfP 2005, 261 ff.; Das anthropo-logische Kreuz der Entscheidung in Politik und Recht, Baden-Baden 2008.

7 Hans Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 77.

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