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478 XXXI. DAS LETZTE TAL Rundwanderung im Val Rosandra Mit dem Val Rosandra besitzt Triest ein Naturreservat und Nah- erholungsgebiet, um das man die Einheimischen nur beneiden kann. Seine Wildheit bildet einen so scharfen Kontrast zur Stadt und ihrem weitgehend »domestizierten« Hinterland, dass der Wanderer fast unvermittelt in eine andere Welt versetzt wird. Zwar gibt es auch hier einige Zeugnisse menschlicher Zivilisa- tion, doch muten diese vor der dramatischen Felskulisse fast un- wirklich an. In Bagnoli, der Partisanenhochburg am Eingang des Tales, empfiehlt sich die Dorfbar zur Stärkung, ehe man sich auf den Weg begibt. Man nimmt kurz Anlauf und schraubt sich in zwei Etappen nach San Lorenzo am Abbruch des Karstplateaus hoch. Eine Aussichtswarte und die alte Trasse der Bahn nach Rijeka lie- gen am Weg. Auf schmalem Pfad entlang der Felskante genießt man tiefe Blicke in den Canyon und auf die Bucht von Triest. Seltene Blumen bevölkern den steinigen Boden. Ein Schwenk nach Norden führt nach Draga Sant’Elia, wo man mit guter Pasta und bestem Teran versorgt wird. Nach dem Abstieg nach Botazzo, dem melancholischen Grenzort am Grunde des Tales, darf man sich auf ein großartiges Finale freuen: die Schluch- tenwanderung entlang des Torrente Rosandra, der da über eine Felswand stürzt und dort manchen schönen Gumpen herausge- bildet hat. Weitere Sehenswürdigkeiten sind ein Steinkirchlein mit Aussicht und die Reste einer römischen Wasserleitung, die einen bis zum Stadtrand begleiten. HINWEISE ZUR WANDERUNG LäNGE: 12 km HöHENDIFFERENZ: 380 m h i GEHZEIT: 4:30 Std. ANFORDERUNGEN: gering ORIENTIERUNG: einfach ‹‹ Val Rosandra mit Blick auf Triest TIEFER_GEHEN_KNJIGA.indb 478 11.01.13 10:40

XXXi. das leTZTe Tal rundwanderung im Val rosandra...XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra 480 Zurück zur infotafel.Man wendet sich nach rechts und folgt dem weg nr. 15 weiter im Wald

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    XXXi. das leTZTe Talrundwanderung im Val rosandra

    Mit dem Val Rosandra besitzt Triest ein Naturreservat und Nah-erholungsgebiet, um das man die Einheimischen nur beneiden kann. Seine Wildheit bildet einen so scharfen Kontrast zur Stadt und ihrem weitgehend »domestizierten« Hinterland, dass der Wanderer fast unvermittelt in eine andere Welt versetzt wird. Zwar gibt es auch hier einige Zeugnisse menschlicher Zivilisa-tion, doch muten diese vor der dramatischen Felskulisse fast un-wirklich an.

    In Bagnoli, der Partisanenhochburg am Eingang des Tales, empfiehlt sich die Dorfbar zur Stärkung, ehe man sich auf den Weg begibt. Man nimmt kurz Anlauf und schraubt sich in zwei Etappen nach San Lorenzo am Abbruch des Karstplateaus hoch. Eine Aussichtswarte und die alte Trasse der Bahn nach Rijeka lie-gen am Weg. Auf schmalem Pfad entlang der Felskante genießt man tiefe Blicke in den Canyon und auf die Bucht von Triest. Seltene Blumen bevölkern den steinigen Boden. Ein Schwenk nach Norden führt nach Draga Sant’Elia, wo man mit guter Pasta und bestem Teran versorgt wird. Nach dem Abstieg nach Botazzo , dem melancholischen Grenzort am Grunde des Tales, darf man sich auf ein großartiges Finale freuen: die Schluch-tenwanderung entlang des Torrente Rosandra, der da über eine Felswand stürzt und dort manchen schönen Gumpen herausge-bildet hat. Weitere Sehenswürdigkeiten sind ein Steinkirchlein mit Aussicht und die Reste einer römischen Wasserleitung, die einen bis zum Stadtrand begleiten.

    hinweise Zur wanderunGlänGe: 12 km höhendifferenZ: 380 m h iGehZeiT: 4:30 Std.anforderunGen: geringorienTierunG: einfach

    ‹‹ Val Rosandra mit Blick auf Triest

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  • KarTe: Tabacco-Wanderkarte »Carso Triestino e Isontino«, 1:25.000einKehrMöGlichKeiT: Bagnoli della Rosandra, Bagnoli superiore, San Lorenzo, Draga Sant’EliaanfahrT: Man nimmt auf der slowenischen A1 die Autobahn-abfahrt »Kastelec«, folgt von dort dem Wegweiser bis Socerb. Die Straße senkt sich. Man passiert die Staatsgrenze zu Italien, biegt kurz darauf nach rechts und folgt der SR11 über Dolina bis Bagnoli della Rosandra.

    weGbeschreibunGAusgangspunkt ist der hauptplatz von bagnoli, wo man sich rechts einer Bar (Haus Nr. 62 an der Stirnseite des Platzes) in ein Sträßchen wendet und auf diesem Richtung Val Rosandra wandert. 15 Min. As-phalt bis bagnoli superiore, wo sich die Straße gabelt; man geht links (fahrverbotstafel) und erreicht gleich das rifugio Premuda. Von hier folgt man dem markierten weg nr. 15, der erst über ein Brücklein führt und sich dann gabelt; man hält sich links (wegweiser »Vedet-ta di Moccò«). Steiler Anstieg im Wald. Nach 15 Min. nimmt man eine Abzweigung nach rechts. Bald darauf ein Querweg; man geht rechts (ein kurzer Abstecher nach links führt nach San Antonio mit Blick auf Triest). Kurz darauf biegt der markierte Weg nach links; man geht auf unmarkiertem »Trampelpfad« geradeaus und steigt zu einem breiten Querweg an (Infotafel). Hier geht man rechts und gelangt gleich darauf zur Vedetta di Moccò (0:45 Std.). 479

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  • XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

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    Zurück zur infotafel. Man wendet sich nach rechts und folgt dem weg nr. 15 weiter im Wald bergauf bis zur alten bahntrasse; auf dieser nach rechts. Man durchschreitet zwei Tunnels und biegt bei einer Kreuzung scharf nach links. Kurzer steiler Anstieg auf einem as-phaltierten sträßchen. Bald darauf verlässt man die Straße und folgt der Markierung nr. 15 nach rechts. Weiter im Wald bergauf, einen blauweiß markierten Weg kreuzend, bis zur Trattoria al Pozzo in san lorenzo (1:45 Std.). Schöne Aussichtsterrasse.

    Auf der Querstraße nach rechts bis zu einem Kirchlein; man geht rechts, durchschreitet einen Schranken und wendet sich so-fort nach rechts, um dem markierten weg nr. 1 zu folgen. Man er-reicht die Geländekante und folgt dieser auf einem schmalen Steig in sanftem Auf und Ab. Schöne Blicke. Nach 30 Min. senkt sich der Weg. Etwas mühseliger steiniger Abstieg (Trittfestigkeit!) bis zu einer Weggabelung unterhalb einer Telefonleitung. Hier geht man links und erreicht nach 10 Min. draga sant’elia (2:45 Std.). Einkehr in der locanda da Mario.

    Vom Gasthaus 100 m weiter der Markierung folgend bis zur alten bahntrasse; auf dieser nach rechts. 10 Min. in großem Bogen bis zu einem Tunnel, den man durchschreitet. Nach einem weiteren Tunnel wendet man sich sofort nach links in den weg nr. 1 (Wegweiser). Steiler Abstieg bis zur Häusergruppe bottazzo (3:10 Std.).

    Im »Ortszentrum« biegt man auf einem fahrweg nach rechts. Nach 100 m wendet man sich nach links und folgt der Markierung auf die andere Seite des Baches. Der Weg steigt kurz an und führt oberhalb des flusses talauswärts. Spektakuläre Schluchtenland-schaft auf gut ausgebautem Wanderweg. Lohnender Abstecher zum Kirchlein santa Maria in siaris links oberhalb des Weges. Zurück auf dem Hauptweg passiert man bald einige schöne Badeplätze sowie Reste eines römischen Aquädukts, ehe man in bagnoli superiore eintrifft. Zurück zum Ausgangspunkt auf bereits bekanntem Wege (4:30 Std.).

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    Partizanski club in Bagnoli della Rosandra

    aM weGe

    bagnoli della rosandra | boljunecSteuert man den Ort mit dem Auto von Triest kommend an, ist zu-vor ein gründliches Studium der Straßenkarte empfohlen: Das un-überschaubare Straßennetz im Südosten der Stadt ist für Ortsfrem-de eine navigatorische Herausforderung. Mit Glück erreicht man nach wenigen Kilometern den Parkplatz des Sprejemni center/Cen-tro visite von Bagnoli della Rosandra. Neben der Touristeninforma-tion und einer Ausstellung zur Riserva naturale della Val Rosandra beherbergt der etwas überdimensionierte Mehrzweckbau außer-dem das Theater France Prešeren des hier ansässigen gleich namigen slowenischen Kulturvereins. Nicht gerade besucherfreundlich sind die Öffnungszeiten des Büros: In den Wintermonaten bis Ende März sind touristische Informationen nur samstags und sonntags sowie an Feiertagen von 9.00 bis 13.00 Uhr, im Sommer zusätzlich nachmittags von 14.30 bis 17.30 Uhr erhältlich.

    Das Ortsbild von Bagnoli, dessen historischer Kern sich dank des Campanile der Kirche aus dem Jahr 1663 leicht ausma-chen lässt, findet in keinem Architekturführer Erwähnung. Im

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    Halbkreis am Fuße des Monte San Michele angeordnet, besteht Bagnoli aus zwei Ortshälften: dem baulich homogeneren oberen Teil namens Bagnoli superiore/Gornji Konec, am Eingang zum Val Rosandra gelegen, und dem architektonisch durchwachse-nen unteren Hauptort, an den sich im Nordwesten gesichtslose Einfamilienhäuser reihen, die weniger einem organischen Orts-bild als vielmehr dem Geschmack des jeweiligen Bauherrn ver-pflichtet sind. Der Hauptplatz, an dessen Stirnseite sich die zen-trale Dorfbar mit sympathischer Bedienung und nebenan etwas versteckt der Partizanski klub befinden, ist mit der Zunahme des Individualverkehrs zum ständig überfüllten Parkplatz degradiert worden. Es ist zu hoffen, dass er nach seiner Sanierung die Funk-tion als Dorfplatz wieder zurückgewinnt.

    Folgenschwere Konsequenzen für die Entwicklung von Bagnoli hatte die Umwidmung landwirtschaftlicher Nutzflä-chen in der Ebene westlich des Ortes zur Industriezone: Wo von der bäuerlichen Bevölkerung einst Felder bestellt wurden und Weingärten die Landschaft prägten, stehen heute auf einer Fläche von 530.000 m2 Fertigungshallen des größten Schiffs-motorenherstellers Europas. Im Jahr 1999 wurde das ehemali-ge Werk der Grandi Motori Trieste von der finnischen Gruppe Wärtsilä erworben, das nach seiner Erweiterung heute 1.500 Leute beschäftigt. Bagnoli, dessen bebaute Fläche nicht einmal der Hälfte jener des Werksgeländes entspricht, stieg auf diese Weise zum wirtschaftlichen Zentrum der Gemeinde Dolina/San Dorligo della Valle auf. Gleichzeitig ist es Ausgangspunkt für Freizeitaktivitäten im Naturreservat Val Rosandra, das an Wochenenden von erholungssuchenden Triestinern bevölkert wird. Nicht zuletzt ist Bagnoli seit Jahrhunderten auch kultu-relles und politisches Zentrum der brežani, der slowenischspra-chigen Bevölkerung dieser Uferregion am Karstrand.

    Ausgrabungen auf den felsigen Anhöhen in der Umgebung von Bagnoli superiore brachten Funde steinzeitlicher Besiedelung zutage, archäologisch reichhaltiger sind Spuren der Römer ab dem Jahr 178 v. Chr.: Neben Münzen, Keramik und Steinurnen einer Grabstätte zur Feuerbestattung gibt es Reste einer gemau-erten Wasserleitung zu besichtigen. Lateinischen Ursprungs ist

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    Bagnoli della Rosandra

    auch der Name Balneolum, der einen Ort am Wasser bezeichnet, wovon sich auch der slowenische Name Bolùn, der seit dem 17. Jahrhundert in Verwendung ist, ableitet. Der amtliche Name Bagnoli della Rosandra ist jüngeren Datums und geht auf das königliche Dekret Nr. 800 aus dem Jahr 1923 zurück. Durch solche und ähnliche Maßnahmen der faschistischen Regierung sollte das Gebiet, in dem die slowenische Bevölkerung die Mehr-heit stellte, italianisiert werden. So geschehen auch mit dem Nachbarort und Gemeindesitz Dolina, das per Verordnung in San Dorligo della Valle umbenannt wurde. Nach Interventionen von Gemeindevertretern und einer Petition an das römische Par-lament trägt der Ort seit dem Jahr 2000 wieder seinen ursprüng-lichen Namen Dolina, die amtliche Bezeichnung der Gemeinde blieb unverändert.

    Über mangelnden Gehorsam und Eigensinn der brežani wird schon aus früheren Jahrhunderten berichtet: Ob als Untertanen

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    Draga Sant’Elia: Berlusconi als verrottete Faschingsfigur

    der Bischöfe von Triest oder als Leibeigene der Herren von So-cerb probte die geknechtete Bevölkerung immer wieder den Aufstand, manchmal auch den bewaffneten. Zwar wurden die Bauern seit dem Ende der Feudalherrschaft im Jahr 1848 von Leibeigenschaft und Zehent befreit, jedoch änderte sich nur wenig an den Besitzverhältnissen. So blieben auch die Getrei-demühlen, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem wich-tigen Wirtschaftszweig im Val Rosandra entwickelten, weiterhin im Besitz des Triestiner Adels und der Kirche, bis nach dem 1. Weltkrieg ihr Niedergang einsetzte und um 1950 alle Mühl-räder stillstanden.

    Trotz schwieriger wirtschaftlicher Zeiten nützte die Bevöl-kerung die gewonnene Freiheit und setzte, beseelt von natio-nalem Erwachen, neue gesellschaftliche Akzente: 1869 wurde die Brežanska čitalnica, der regionale Leseverein, gegründet; es folgten der slowenische Gesangsverein im Jahr 1893 sowie der Kulturverein France Prešeren im Jahr 1901, alle mit Sitz in Bagnoli. Zeitgenössische Zeitungen berichten von über 2.000 Besuchern, die 1870 an der Eröffnungsfeier der Bibliothek teilnahmen. Die Begeisterung erinnert den Berichterstatter

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  • XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

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    eher an einen tabor, wie die Volksversammlungen zur Stärkung des nationalen slowenischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert genannt wurden, denn an die Inauguration einer lokalen Bü-cherei. Chöre und Theatergruppen aus den benachbarten Or-ten gaben sich ebenso die Ehre wie die zahlreich erschienene slowenische und kroatische Prominenz aus Triest und Istrien.

    Neben kulturellen Organisationen waren in Bagnoli auch mehrere Wirtschaftsvereine tätig, denen die Abhaltung monat-licher Markttage oblag. Im Jahr 1910 wohnten in Bagnoli 871 Personen, davon 835 Slowenen, drei Deutsche sowie 34 Fremde unterschiedlicher Herkunft. Heute bekennen sich etwa 70 Pro-zent der knapp 1200 Einwohner zur slowenischen Volksgruppe, die slowenische Sprache wird im Alltag gepflogen und ist im öf-fentlichen Raum auch sichtbar.

    Bis 2011 schmückte ein großer roter Stern das Vereinsgebäu-de des Partizanski klub / Club partigiano am Hauptplatz; heute ist das einst öffentliche Lokal nur noch für Mitglieder zugäng-lich. Im Jahr 1986 als Teil der Dachorganisation der Associazione Nazionale Partigiani d’Italia gegründet, ist er der Tradition des Anti faschismus und der Erinnerung an den bewaffneten Wider-stand gegen Nationalsozialismus und Faschismus im Triestiner Karst verpflichtet. Allein unter der Bevölkerung von Bagnoli for-derten die Kämpfe 22 Todesopfer, an die das Partisanendenkmal an der Hauptstraße am westlichen Ortsrand erinnert. Es wurde im Jahr 1947 errichtet und war das erste seiner Art in dieser Re-gion. Insgesamt verloren 208 Männer der Gemeinde San Dorli-go della Valle als Partisanen ihr junges Leben, deren Namen auf dem im Jahr 1975 enthüllten, zentralen Denkmal von Dolina vor dem Vergessen bewahrt werden. ek

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    Santa Maria in Siaris

    Val rosandra | Glinøœica | rosandratalAuch geübte Karstwanderer werden vom schluchtartigen Talein-schnitt am Rande des Carso Triestino, der auf einzigartige Weise mediterrane Karstformen mit alpiner Morphologie verbindet, überrascht sein. Auf engstem Raum finden sich hier klare »Ge-birgsbäche«, die bei Starkregen zu bedrohlichen Wildbächen anschwellen können, umgeben von vertikalen Felsformationen und mächtigen Schuttkegeln, wie man sie aus den Kalkalpen kennt, neben unerschlossenen Höhlensystemen, Kavernen und unterirdischen Wasserläufen. Durch das Wechselspiel kontinen-taler, trocken-kalter Luftmassen und feucht-warmer Ströme aus dem Süden entsteht ein Mikroklima, das die Entwicklung en-demischer Tier- und Pflanzenarten begünstigt. Hier kollidiert die eisige Bora mit dem Wüstenwind Scirocco und geht das Naturreservat des Val Rosandra scheinbar nahtlos in die angren-zende Industrielandschaft aus Tanklagern und Fabriksanlagen über. Die soziale, kulturelle und politische Entwicklung dieses Abschnitts des Triestiner Hinterlandes ist nicht minder wech-selhaft: K. u. k. Monarchie, Faschismus, Nationalsozialismus, Operationszone Adriatisches Küstenland, Widerstands- und Par-

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  • XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

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    tisanenkampf, Transitzone zwischen Ost und West sowie natio-nale Konflikte zwischen der italienischen und der slowenischen Volksgruppe lauten die Schlagworte für die historischen Verwer-fungen der vergangenen 100 Jahre.

    Tektonische Brüche und Faltungen in Verbindung mit Erosion durch Wasser, Wind und chemische Verwitterung sind die form-gebenden geomorphologischen Faktoren dieser Region. Wasser-undurchlässige Schichten aus Flysch, Sandstein und Schwemm-material machen das Val Rosandra zum Unikat: einem Karsttal mit oberirdischem Wasserlauf.

    Die Karstforschung, die ihren Ursprung in Triest hat, wes-halb hier auch vom »Klassischen Karst« die Rede ist, unterschei-det zwischen oberirdischen und unterirdischen Karsterschei-nungen. Das Val Rosandra ist besonders im vegetationsfreien Gelände reich an geomorphologischem Anschauungsmaterial: Durch Korrosion, d. h. durch die Lösung des Kalkgesteins durch kohlensäurehältiges Wasser, entsteht im Zeitraum von mehreren tausend Jahren ein Mikrorelief aus Steinrinnen, den sogenann-ten Karren unterschiedlichster Ausformungen. Im Einzelnen treten sie als Kamenitza, Trittkarren, Trichterkarren, Rillenkar-ren, Rinnenkarren, Rundkarren, Mäanderkarren, Dachkarren oder Napfkarren in Erscheinung. Am Ende der Korrosion ste-hen schließlich Schutt- oder Steinfelder aus verwittertem und zertrümmertem Kalkgestein, das sich vom festen Untergrund gelöst hat. Im Val Rosandra tragen gleich mehrere Bergkup-pen den entsprechenden Fachbegriff im slowenischen Namen: Griža, übersetzt, Steinfeld. Dolinen und Poljen, ebenfalls aus dem Slowenischen entlehnte Bezeichnungen für oberirdische Karstformen und anderswo dominierendes Landschaftselement, kommen im Val Rosandra nicht vor.

    Groß und vielfältig ist hingegen der unterirdische Karstfor-menschatz. Bis heute wurden über 100 Grotten, Höhlen, Schlün-de und unterirdische Gänge auf einer Länge von 12 km entdeckt. Mit der wissenschaftlichen Erforschung der Höhlensysteme wur-de im Jahr 1890 begonnen, nachdem man beim Bau der Eisen-bahn durch das Rosandratal auf einen Höhleneingang oberhalb von Botazzo gestoßen war. Die heute als Grotta delle Finestre,

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  • XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

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    slow. Botaška pečina bekannte Karsthöhle zählt neben der Grotta degli Orsi am Monte Carso/Griža zu den von Speläologen am gründlichsten erforschten Höhlen im Tal. Eine touristische Nut-zung ist derzeit nicht geplant, Informationen und Bildmaterial stehen aber im Informationszentrum in Bagnoli zur Verfügung.

    Reichhaltig und differenziert ist auch die Tier- und Pflan-zenwelt im Val Rosandra: Die hohe Biodiversität ist das Ergebnis des Wechselspiels zwischen kontinentalem und mediterranem Klima sowie der stark gegliederten Geländeform. Auf kleinstem Raum sind hier mehr als 1.000 Pilzarten verbreitet, wachsen 980 Pflanzenarten und sind 450 verschiedene Flechten und Moose bekannt. Den 130 Vogelarten bieten Insekten, Amphibien und Kriechtiere reichlich Nahrung; Fledermäuse finden Lebensraum in Höhlen und Felsnischen. Die Karstlandschaft ist von der Art der Bewirtschaftung und dem Einfluss des Menschen geprägt, weshalb die Vegetation im Laufe der Jahrhunderte starken Ver-änderungen unterworfen war: Der ursprüngliche Eichenwald fiel der extensiven Weidewirtschaft zum Opfer, wurde großflächig gerodet und von steppenartigen, trockenen Wiesen abgelöst. Im 19. Jahrhundert scheiterten mehrere Aufforstungsversuche mit Laubbäumen, bis der Forstinspektor von Triest, Josef Ressel, alte Baumbestände der Schwarzkiefer entdeckte und diese dem ös-terreichischen Forstamt zur Anpflanzung empfahl. Die genüg-same Föhrenart, die sogar in kalkigen Felsrissen gedeiht, fand rasch Verbreitung und ist bis heute die vorherrschende Baumart im Triestiner Karst. Seit dem Niedergang der Weidewirtschaft nach dem 2. Weltkrieg wurden große Flächen des Karstplateaus von Buschvegetation zurückerobert und droht alte Kulturland-schaft allmählich zu verwachsen.

    Einem Keil gleich spaltet der Rosandrabach den Kalkstein un-terhalb des 30 Meter hohen Wasserfalls Supet zwischen dem Monte Stena (dt. Wand) im Nordosten und dem Monte Carso im Südwesten. Er wird im lokalen slowenischen Dialekt folge-richtig als Klinšica (klin = der Keil) bezeichnet. Die Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte »hyperkorrekte« slowenische Schreib-weise Glinščica (glina = Lehm) hingegen führt auf eine falsche etymologische Fährte. Der Torrente Rosandra, so die italie nische

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    Am Rosandrabach

    Bezeichnung des Flusses, hat seinen Ursprung in Slowenien und wird von den Quellen der namensgebenden Glinščica und des Rižnik gespeist. Vom Grenzweiler Botazzo/Botač bis zur Geländekante, die einige hundert Meter talabwärts die geolo-gische Trennlinie zwischen der wasserundurchlässigen Flyschzo-ne und dem wasserlöslichen Kalkstein markiert, entwässert der Fluss in sanftem Gefälle den einst landwirtschaftlich genutzten Talboden. Unterhalb des Wasserfalls wird der Bach zwischen Engstellen und Schluchten beschleunigt, kreist in Becken und Wannen, wird von unter- wie oberirdischen Zu- und Abflüssen gespeist sowie zu zahlreichen Richtungswechseln gezwungen. Bei Bagnoli am Talausgang ist der Torrente Rosandra in Tro-ckenzeiten nur noch ein Rinnsal.

    Oberirdische Wasserläufe und schützende Höhlen spielten für die Besiedelung des Rosandra-Tales eine entscheidende Rolle:

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    XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

    Auf dem Gebiet des heutigen Naturreservats sind etwa 40 Fund-orte aus prähistorischer Zeit bekannt. Spuren von Neanderta-lern und Hominiden aus der Bronze- und Eisenzeit wurden in der Caverna degli Orsi (Bärenhöhle) am Monte Carso gesichert. Aus vorrömischer Zeit stammen auch die castellieri, Reste befes-tigter Anlagen am Monte San Michele und dem Monte Carso bei Bagnoli, die dem antiken illyrischen Stamm der Histrier zu-geschrieben werden. Sie wurden um 170 vor Christus von den Römern unterworfen, die in den darauffolgenden 600 Jahren die Geschicke dieser Region bestimmten und Land und Leute prägten. Aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammen die gemauerten Überreste der ersten »kommerziellen« Nutzung des Rosandra-Baches in Form einer Wasserleitung zur Fließwas-serversorgung Triests. Das Meisterwerk römischer Baukunst, das auf einer Strecke von 14 Kilometern ein Gefälle von nur 100 Metern überwindet und dabei mehrere Erhebungen umgeht, maß 160 cm in der Höhe und 55 cm in der Breite und brachte es auf einen Durchfluss von 5.800 Kubikmeter Wasser pro Tag.

    Im Frühmittelalter wurde das dünn besiedelte Rosandratal hauptsächlich als Weideland genutzt. Erst im Spätmittelalter gewann es im Zuge der wachsenden Handelstätigkeit zwischen dem Süden und dem Norden an Bedeutung zurück. Säumer und Lasttiere waren auf ihrem Weg von der Adria in den Norden, wo Salz, Öl und Wein gegen Getreide und Eisenprodukte gehandelt wurden, auf Wasser angewiesen, daher führten die Saumpfade stets entlang von Wasserläufen. Die heutigen Burgruinen des Castello di Moccò/Muhov grad, Fünfenberg und Tabor bei Dra-ga Sant’Elia sowie Strmec bei Socerb stammen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts und wurden in erster Linie zu Überwachungs-zwecken errichtet. Salzschmuggel war im 16. Jahrhundert Anlass für kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der Republik Venedig und der autonomen Stadt Triest. An der Grenze gele-gen, geriet das Val Rosandra immer wieder zwischen die Fronten der beiden Machtzentren, dabei wurde im Jahr 1511 das Castel-lo di Moccò dem Erdboden gleichgemacht.

    Unversehrt thront hingegen die Kirche Santa Maria in Si-aris/Sveta Maria na Pečah/Heilige Maria am Stein auf einem Schuttkegel über der südlichen Talseite. Die einschiffige Stein-

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    Grenzübergang in Botazzo

    kirche stammt aus dem Jahr 1267 und befand sich einst unter der Obhut der Bruderschaft dei Battuti. Heute verläuft unter-halb des Sakralbaues der Wanderweg Nr. 1, der von Bagnoli zum Weiler Botazzo im Talschluss führt. Wo früher tausende Pilger Trost gesucht haben mögen, nehmen heute nur noch ver-einzelte Wanderer den steilen Aufstieg zur meist verschlossenen Kirche auf sich.

    Bessere Zeiten haben auch die Getreidemühlen gesehen, die fünf Jahrhunderte an den Wasserläufen des Rosandratals klap-perten. Efeubewachsene Mauerreste in der Nähe von Botazzo zeugen vom einst bedeutendsten Wirtschaftszweig im Tal, dem Mühlenwesen. 32 Mühlen, einige mit bis zu vier Wasserrädern betrieben, wurden im Laufe der Jahrhunderte erbaut. Sie be-fanden sich im Besitz weltlicher und kirchlicher Gutsherren aus Triest, wurden nach ihnen benannt und von einer Gene-ration zur anderen vererbt. Die angestellten Müller genossen hohes gesellschaftliches Prestige, sie verstanden sich nicht nur auf das Mahlen von Korn, sondern auch auf das Behauen von Mühlsteinen und das Bearbeiten von Holz. Ihre Frauen waren vielfach mit dem Mehlhandel in Triest und seiner Umgebung

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    betraut und mit ihren Packeseln oft mehrere Tage unterwegs. Seine Blütezeit erreichte das Mühlenwesen im 19. Jahrhundert: Im Jahr 1817 waren allein in der Umgebung von Bagnoli, bei einer Einwohnerzahl von 654 Personen und 120 Wohnhäusern, 14 Mühlen in Betrieb. Nach Einführung der Mühlensteuer und der Wassernutzungsabgabe sowie dem Aufkommen moderner dampf- und strombetriebener Mühlen gerieten die Müllerfami-lien im Val Rosandra zunehmend unter Konkurrenzdruck. Nach und nach wurden die Wassermühlen stillgelegt, die meisten stell-ten ihren Betrieb in den 1950er Jahren für immer ein.

    Im Gegensatz zum Berufsstand des Müllers war die Tätig-keit der Wäscherinnen von geringem Ansehen und wurde von den ärmsten Frauen aus den Dörfern des Val Rosandra ausge-übt. Wohlhabende Triestiner ließen ihre Wäsche zur Reinigung ins Tal bringen. Im Bachlauf der Rosandra kauernd, spülten die Frauen die zuvor in Aschenlauge ausgekochten Wäschestü-cke im fließenden Wasser. Erkältungen, Rückenschmerzen und Rheuma waren die Folge. Mit dem Einzug der Waschmaschine in die Haushalte in den 1960er Jahren verschwanden auch die Wäscherinnen.

    Seit der Ernennung des Val Rosandra und seiner Umgebung zum Naturpark Riserva naturale im Jahr 1996, steht die touristische Nutzung im Vordergrund. Das Gebiet ist mit einem dichten Netz von markierten Wanderwegen überzogen. Einer der po-pulärsten, stark frequentierten Wege verläuft auf der ehemaligen Bahnlinie Triest-Hrpelje in Slowenien. Das 20 km lange Bau-werk überwindet einen Höhenunterschied von 490 Metern und durchmisst dabei auf halber Höhe den schönsten Teil des Val Rosandra. Die Strecke beginnt auf Meeresniveau beim Bahnhof San Andrea im Stadtgebiet von Triest und dockt in Hrpelje bei Divača an die damals wichtige transistrische Bahnlinie Ljublja-na–Pula an. Strategische Überlegungen waren ausschlaggebend für den Bau der Eisenbahn, die auf kürzestem Weg Triest mit dem k. u. k.-Kriegshafen in Pula verband. Die Grundsteinle-gung erfolgte im Jahr 1885, die feierliche Eröffnung nach einer Bauzeit von weniger als zwei Jahren. Etwa 2.600 Arbeiter waren mit der Errichtung von sieben Viadukten, fünf Überführun-

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    Alte Bahntrasse im Val Rosandra

    gen, sechs Brücken, der Sprengung von fünf Tunneln und dem Bau mehrerer mächtiger Stützmauern beschäftigt. An manchen Stellen beträgt die teils in Fels gehauene, teils natürlichen Gege-benheiten folgende Strecke die für Eisenbahnen größtmögliche Steigung von 33 Promille: Nicht zuletzt aufgrund der engen Kurvenradien brachten es die oft von zwei Dampflokomotiven gezogenen Frachtzüge lediglich auf eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h.

    In der Zwischenkriegszeit, unter italienischer Verwaltung, erfreute sich die Bahn bei den Triestinern großer Beliebtheit. Es galt als chic, mit den littorine, modernen Dieselloks, eine Reise nach Istrien zu unternehmen. Während des 2. Weltkrieges, vor allem nach der Kapitulation Italiens im September 1943, war die Bahn mehrmals Ziel von Sabotageakten durch Partisanen, wodurch die Verbindung immer wieder unterbrochen und der deutsche Nachschub gestört wurde. Nach Kriegsende leiteten die schwierigen und langwierigen Grenzverhandlungen zwi-schen Italien und Jugoslawien das Ende der Bahn durch das Val Rosandra ein; die beschlossene Grenzziehung brachte schließlich das Aus: Die Strecke war zur Sackgasse geworden, beim Bahn-

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    Wasserfall im Rosandratal

    hof im Grenzort Draga Sant’Elia war Endstation. Im Dezember 1958 fuhr der letzte Zug durch das Rosandratal, acht Jahre spä-ter war der Gleiskörper vollständig entfernt.

    Heute gehört die einstige Bahntrasse Wanderern, Spazier-gängern, Joggern und Radfahrern, die von keiner Grenzkon-trolle mehr angehalten oder behindert werden. Zudem sind von hier aus die vertikalen Felswände des Monte Stena erreich-bar, die bereits in den 1920er Jahren unter Federführung von Emilio Comici für den Klettersport erschlossen wurden. Der Alpinismus in Triest nahm somit seinen Anfang im Val Rosan-dra, wo von der Società Alpina delle Giulie im Jahr 1940 auch das Rifugio Mario Premuda errichtet wurde. Es beherbergt die Kletterschule Emilio Comici und ist mit einer Seehöhe von nur 82 m das tiefstgelegene Schutzhaus Italiens. ek

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    einKehr: Trattoria Al pozzo / Pri vodnjaku, San Lorenzo/Jezero. Von der Aus-sichtsterrasse des sonst schmucklosen Restaurants überblickt man bei deftiger Kost und solidem Hauswein das Val Rosandra und den Golf von Muggia. 0039 04 0228211Locanda Mario, Draga Sant’Elia. Angenehmes Lokal mit Gastgar-ten nahe der ehemaligen Bahntrasse Triest–Hrpelje. Ambitionierte Küche mit vielfältigem Pastaangebot. Ein Wermutstropfen sind die überhöhten Preise. 0039 04 0228193Trattoria Bottazzo. Urige Jausenstation im gleichnamigen Grenzort am Grunde des Val Rosandra. Täglich von 10.00 bis Sonnenunter-gang, wenn‘s wahr ist. 0039 04 08325032

    XXXI. Rundwanderung im Val Rosandra

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