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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_15|2010 IV arbeitmarkt I n Deutschland leben rund 82 Millio- nen Menschen, von denen im Feb- ruar 2010 nur 39.827.000 Menschen erwerbstätig und davon 27.545.399 versicherungspflichtig beschäftigt waren. Bei einer Erwerbsquote von unter 50 % leben also über 42 Millionen Einwohner von dem Sozialprodukt, das eine knappe Hälfte erwirtschaftet, und die Steuerein- nahmen des Bundes reichen kaum noch aus, die Transferleistungen zu finanzie- ren. Dabei lag die Arbeitslosigkeit gemäß der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Feb. 2010 bei 3.643.000. Oft werden die Angaben der BA be- zweifelt mit der Behauptung, es handele sich um statistische Tricks (1), denn die tatsächliche Arbeitslosigkeit läge bei über 10 Millionen. Tatsächlich erschei- nen in der Statistik der BA z.B. nicht die geringfügig Beschäftigten, obwohl diese von ihrem Erwerbslohn nicht leben können. Will man also eine Aussage zum Überleben durch Arbeit machen, dann muss man für das Jahr 2009 3.209.000 Personen hinzu rechnen, die Arbeitslo- sengeld bezogen haben, und das waren 23 % mehr als im Vorjahr. Addiert man nun noch die Frühverrentungen und die Teilnehmer von Trainingsmaßnahmen, so kommt man auf die Summe von über 10 Millionen Betroffenen. Betroffen sind weiterhin 10 Millionen Menschen, die in Deutschland in Einkommensarmut leben. Darunter sind viele Akademiker, die dies schamhaft verschweigen, vor allem aus dem Bereich der Gesellschafts- wissenschaften, der Psychologie, Päda- gogik und Politologie, der Künstler und Journalisten. Zwar liegt deren offizielle Arbeitslosenquote bei vier Prozent, aber nicht erfasst ist eben die Einkommens- armut. „Ein Uniabschluss mündet nicht mehr automatisch in eine qualifizierte – und entsprechend entlohnte – Arbeit“ (arbeitsmarkt 10/2010). 80 % der Deut- schen sind mit ihrem Gehalt unzufrieden und beschweren sich über mangelnde Anerkennung (Prisma 8/2010). Deutschland – ein Billiglohnland Die Einkommensarmut hat viele Ursa- chen: Es gibt immer weniger zu verteilen- de Arbeit, Billiglohnkräfte aus dem Aus- land, Zeitarbeitsverträge mit abgesenk- tem Lohnniveau, Leiharbeit, Jobsharing etc. Nur noch 44 % aller Beschäftigten haben eine Vollzeitstelle. Schon 2006 lag Deutschland gemäß der ILO-Statistik be- züglich der Vollbeschäftigung hinter Itali- en, Estland, Litauen, Belgien und Lett- land. Auch Hartz-IV hat Vollzeitjobs zer- stört. Warum einen Hochschulabsolven- ten einstellen, wenn dieselbe Arbeit von zwei langzeitarbeitslosen Akademikern mit Ein-Euro-Job erledigt wird? Zwar wird in Studien dem Arbeitszwang ein schlech- tes Zeugnis ausgestellt (vgl. Friedrich- Ebert-Stiftung in: Märkische Allgemeine 4.12.2009: Einstieg in den Ausstieg, Maß- nahme-Karrieren) aber es gibt sie noch, die Flops der kommunalen Beschäfti- gungsprogramme, wobei sich viele Men- schen als geistig so gesund erweisen, dass sie gegen den restriktiven staatli- chen Zwang mit Widerstand agieren. Die ausländische Presse (2) stellt Deutschland bereits als „Billiglohnland“ und „Armenhaus Europas“ dar, aus dem die Menschen zu Hunderttausenden fliehen. Vor allem Gutqualifizierte wan- dern in Scharen aus. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte am 4.3.2010, dass zum ersten Male in der Geschichte der BRD die durchschnittlichen Brutto- Wie sieht es aus auf unserem Arbeitsmarkt, und was können wir in Zukunft erwarten? Hierzu gibt es viele Standpunkte und Erklärungsansätze. Klaus Wenzel, Soziologe, Publizist und Leser unserer Zeitschrift, erläutert uns seine Sicht. Zustand und Zukunft des Arbeitsmarktes STANDPUNKTE © Stihl024/Pixelio

Zustand und Zukunft des Arbeitsmarktes...sich um statistische Tricks (1), denn die tatsächliche Arbeitslosigkeit läge bei über 10 Millionen. Tatsächlich erschei-nen in der Statistik

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arbeitsmarkt BILDUNG | KULTUR | SOZIALWESEN_15|2010IV

arbeitmarkt

In Deutschland leben rund 82 Millio-nen Menschen, von denen im Feb-ruar 2010 nur 39.827.000 Menschen

erwerbstätig und davon 27.545.399 versicherungspflichtig beschäftigt waren. Bei einer Erwerbsquote von unter 50 % leben also über 42 Millionen Einwohner von dem Sozialprodukt, das eine knappe Hälfte erwirtschaftet, und die Steuerein-nahmen des Bundes reichen kaum noch aus, die Transferleistungen zu finanzie-ren. Dabei lag die Arbeitslosigkeit gemäß der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Feb. 2010 bei 3.643.000.

Oft werden die Angaben der BA be-zweifelt mit der Behauptung, es handele sich um statistische Tricks (1), denn die tatsächliche Arbeitslosigkeit läge bei

über 10 Millionen. Tatsächlich erschei-nen in der Statistik der BA z.B. nicht die geringfügig Beschäftigten, obwohl diese von ihrem Erwerbslohn nicht leben können. Will man also eine Aussage zum Überleben durch Arbeit machen, dann muss man für das Jahr 2009 3.209.000 Personen hinzu rechnen, die Arbeitslo-sengeld bezogen haben, und das waren 23 % mehr als im Vorjahr. Addiert man nun noch die Frühverrentungen und die Teilnehmer von Trainingsmaßnahmen, so kommt man auf die Summe von über 10 Millionen Betroffenen. Betroffen sind weiterhin 10 Millionen Menschen, die in Deutschland in Einkommensarmut leben. Darunter sind viele Akademiker, die dies schamhaft verschweigen, vor

allem aus dem Bereich der Gesellschafts-wissenschaften, der Psychologie, Päda-gogik und Politologie, der Künstler und Journalisten. Zwar liegt deren offizielle Arbeitslosenquote bei vier Prozent, aber nicht erfasst ist eben die Einkommens-armut. „Ein Uniabschluss mündet nicht mehr automatisch in eine qualifizierte – und entsprechend entlohnte – Arbeit“ (arbeitsmarkt 10/2010). 80 % der Deut-schen sind mit ihrem Gehalt unzufrieden und beschweren sich über mangelnde Anerkennung (Prisma 8/2010).

Deutschland – ein Billiglohnland

Die Einkommensarmut hat viele Ursa-chen: Es gibt immer weniger zu verteilen-de Arbeit, Billiglohnkräfte aus dem Aus-land, Zeitarbeitsverträge mit abgesenk-tem Lohnniveau, Leiharbeit, Jobsharing etc. Nur noch 44 % aller Beschäftigten haben eine Vollzeitstelle. Schon 2006 lag Deutschland gemäß der ILO-Statistik be-züglich der Vollbeschäftigung hinter Itali-en, Estland, Litauen, Belgien und Lett-land. Auch Hartz-IV hat Vollzeitjobs zer-stört. Warum einen Hochschulabsolven-ten einstellen, wenn dieselbe Arbeit von zwei langzeitarbeitslosen Akademikern mit Ein-Euro-Job erledigt wird? Zwar wird in Studien dem Arbeitszwang ein schlech-tes Zeugnis ausgestellt (vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung in: Märkische Allgemeine 4.12.2009: Einstieg in den Ausstieg, Maß-nahme-Karrieren) aber es gibt sie noch, die Flops der kommunalen Beschäfti-gungsprogramme, wobei sich viele Men-schen als geistig so gesund erweisen, dass sie gegen den restriktiven staatli-chen Zwang mit Widerstand agieren.

Die ausländische Presse (2) stellt Deutschland bereits als „Billiglohnland“ und „Armenhaus Europas“ dar, aus dem die Menschen zu Hunderttausenden fliehen. Vor allem Gutqualifizierte wan-dern in Scharen aus. Das Statistische Bundesamt veröffentlichte am 4.3.2010, dass zum ersten Male in der Geschichte der BRD die durchschnittlichen Brutto-

Wie sieht es aus auf unserem Arbeitsmarkt, und was können wir in Zukunft erwarten? Hierzu gibt es viele Standpunkte und Erklärungsansätze. Klaus Wenzel, Soziologe, Publizist und Leser unserer Zeitschrift, erläutert uns seine Sicht.

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verdienste aller Arbeitnehmer um 0,4 Prozent auf 27. 468 Euro gefallen sind. Dabei war die Kaufkraft der Löhne in den vergangenen zehn Jahren schon um 5,1 Prozent gesunken. Wenn auch die Arbeit-geberseite ständig deklamiert: „Deutsch-land hat die höchsten Arbeitskosten“, sieht die Realität anders aus. Über Jahre hat die Politik die Unternehmenssteuern gesenkt und die Massensteuern erhöht, wodurch großflächig Armut entstand. Mit sinkenden Löhnen ging der Einzelhan-delsumsatz zurück, und nun ist auch der Export rückläufig.

Wird Deutschland abgewrackt? Diesen Eindruck kann man durchaus gewinnen: Der Staat ist überschuldet und zahlt trotz-dem in alle Welt, die Städte gehören nicht

mehr den Bürgern, die Energie ist fest in den Händen von Konzernen, das Saatgut wird patentiert, und um die Bildung und Arbeit ist es sehr schlecht bestellt (vgl. Wenzel in „Quo vadis“). Werden gesetzli-che Mindestlöhne gefordert, erheben so-fort wirtschaftsgesteuerte Fachleute aus dem IFO- oder IWH-Institut ihre Stimme, dass das Arbeitsplätze koste, und so wird weiter mit der Angst um die Arbeit ma-nipuliert. Mutet es nicht merkwürdig an, dass das Absinken der statistisch erfass-

ten Arbeitslosigkeit durch die Ausweitung des Personenkreises in Armut multime-dial im Gleichklang der Medien als Erfolg von Hartz IV gefeiert wird? Nicht, wenn man die jüngste Studie der Otto-Brenner-Stiftung (Feb.2010) kennt, in der „das in vielen Fällen eklatante journalistische Versagen schonungslos offen gelegt“ wird. Die Medien und regierungsnahen Institute verkünden überwiegend Partei-en-Propaganda.

Wohlstand für alle

In der sozialen Marktwirtschaft war das sozialpolitische Ziel die Angleichung der Lebensverhältnisse und die Bekämpfung der Armut, so wie Ludwig Erhard das in seinem Buch „Wohlstand für alle“ dar-stellte und als Wirtschaftsminister zu er-wirken suchte. Erst allgemeiner Wohl-stand wurde als Erfolg gefeiert. In der neoliberal geprägten globalen Wirtschaft der vergangenen zwanzig Jahre ist das wirtschaftspolitische Ziel, immer mehr Personen im Niedriglohnsektor zu be-schäftigen, was zu um sich greifender Bedürftigkeit trotz Arbeit führte.

Das Grundrecht auf Arbeit

Gemäß Art. 12 GG haben alle Deutschen das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbil-dungsstätte frei zu wählen. Diese Grund-rechtsgarantie kollidiert mit den Sankti-onsparagraphen des SGB II, wonach alles zumutbar wäre. Die Praxis der Sanktio-nen verstößt gegen die höchsten Werte der allgemeinen Handlungsfreiheit, der freien Entfaltung der Persönlichkeit sowie der menschlichen Würde. Doch in einem Lande, in dem die höchsten Richterstel-len politische Ämter sind, ist das schwer einklagbar.

Art. 12, 2 GG besagt, dass Zwangs-arbeit nur im Rahmen einer allgemei-nen, für alle gleichen und öffentlichen Dienstpflicht zulässig ist. Hierzu zählen Wehrpflicht, Zivildienst und Arbeit wäh-rend einer gerichtlich angeordneten Freiheitsstrafe. Unter keine dieser Ka-

tegorien fallen die Ein-Euro-Jobs. Auch das Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit (C029) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 1930 verbietet diese, und es wurde am 19.06.1956 von der BRD ratifiziert. Und obwohl also Ein-Euro-Jobs gegen internationale Abkommen und Grundrechte verstoßen, werden sie staatlicherseits erzwungen. Müssen arbeitslose Betriebswirte, Ver-kaufs- und Abteilungsleiter in virtuellen Kaufhäusern das Ausfüllen von Adress-feldern (v)erlernen? Oft genug wird das Elend der Arbeitslosigkeit durch die Sinnlosigkeit so genannter „Quali-fizierung“ ins Unerträgliche gesteigert. Neben der materiellen Not werden Menschen durch schikanöse Sanktio-nen zerbrochen und in die Depression, ja sogar in den Selbstmord, getrieben. Denn wie fühlt sich ein Mensch, mit dem man wie mit einem Sklaven ver-fährt? Als Fluchtpunkt bleibt ihm nur die innere oder äußere Emigration. Ist ihm die äußere nicht möglich, bleibt die innere, was zur aktuell ausgebrannten Gesellschaft im passivem Widerstand führte. Hunderttausende von Menschen schreiben im Internet Sätze wie: „Ich habe das Gefühl, dass die Menschen unseres Landes den Dauerbetrug satt haben“ (3). Überdrüssig der Sanktionen, der täglichen Beschimpfung, der auch im strafrechtlichen Sinne relevanten Beleidigungen, der Stigmatisierung, des Verstoßes gegen den Gleichbehand-lungsgrundsatz, des Messens mit zwei-erlei Maß, der täglich geschürten Angst, des Geschreis um den angeblichen Missbrauch, der tatsächlich bei unter zwei Prozent liegt, während in der Etage der Finanzelite Millionen hinterzogen werden, ohne dass das geahndet wird. Der überwiegende Teil der Menschen ist an eigenverantwortlicher Existenzsi-cherung interessiert, aber dazu muss in ausreichendem Maße Arbeit da sein. Dabei ist diese überreich vorhanden, aber durch die Ungleichverteilung des Geldes nicht bezahlbar. So wurde Arbeit künstlich verknappt, und in wenigen

„Wohlstand für alle!“ – ein längst ver-gessenes Motto? © Bernd Sterzl/Pixelio

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kommen wird es so lange nicht geben, wie die Regierenden über die Arbeit reg-lementierend eingreifen können. Wer-den sich die Menschen wehren ?

Arbeitgeber-Arbeitnehmer-verhältnis

Mobbing, Bossing, Pressing, Lobbying beherrscht die Arbeitswelt. Kollegialität ist ein Fremdwort. Die Lager stehen sich feindlich gegenüber. Es geht um Macht-erhalt. Der Arbeitgeber wird in der Rolle des Überlegenen, des Positiven und Stärkeren dargestellt, der Arbeitnehmer in der Rolle des Unterlegenen und Bitt-stellers. Aber häufig hat sich das Verhält-nis von Bildung, Intelligenz, Überlegen-heit und moralischer Stärke längst um-gedreht. Über Jahre wurden gemäß des Peter-Prinzips oft Unqualifiziertere ein-gestellt, so dass wir heute eine Hierar-chie der Unfähigen haben. In vielen lei-tenden Positionen sitzen Überschätzte – die Tendenz inkompetenter Men-schen, sich selbst zu über- und kompe-tentere Menschen zu unterschätzen, wird als Dunning-Kruger-Effekt bezeich-net. So läßt sich selbst mit einem As-sessment Center nicht der Fähigere fin-den, wenn der Unfähigere evaluiert. In sieben von zehn Fällen wird der ideale Bewerber nicht erkannt (Praxishandbuch PERSONAL, 1998). Was wir bräuchten,

ist eine Nivellierung der Hierarchien und eine Überwindung der Gegensätze – das ist Zukunftsmusik.

Qualifikation

Eine der verlogensten Scheindebatten wird um die „Qualifikation“ geführt, verlo-gen deshalb, weil es nur darum geht, Druck aufzubauen. Bei den Banken wer-den heute eher die frischen Absolventen von Höheren Handelsschulen eingestellt als der 30jährige Diplom-Kaufmann mit abgeschlossener Banklehre. Kleine und mittlere Firmen stellen eher Leute ohne Abitur ein, denn der Abiturient zeigt oft zu wenig corporate identity, da ihm alterna-tiv der Weg zum Studium offensteht.

Deutschland ist intelligenzfeindlich. Wer besser qualifiziert ist als der Chef, gilt als inakzeptabel. Älter, kultiviert und hochqualifiziert ist ein „no go“ für den Arbeitsmarkt. Akademiker gelten als The-oretiker, und Personalchefs vertreten die These: Wir brauchen mehr Indianer, we-niger Häuptlinge. Dabei sind vier von fünf Arbeitssuchenden für die von ihnen an-gestrebten Tätigkeiten ausreichend qua-lifiziert – nur 20 Prozent gelten als nicht (aus-)bildungsreif. Dabei verschweigen Höherqualifizierte schon Titel oder Wei-terbildungen. So entwickeln wir uns nicht in Richtung Wissensgesellschaft, sondern in Verbindung mit den Dumpinglöhnen

Jahren werden wir eine Altersarmut zu vergegenwärtigen haben, die Millionen Menschen betreffen wird, weil sie kei-ne gradlinige Erwerbsbiographie mehr haben konnten, obwohl sie hochqualifi-ziert und bestmotiviert sich tausendfach bewarben. Zu der Zeit werden dann die heutigen Politiker mit astronomischen Rentenbezügen auf Kosten des Volkes in Pensionärsparadiesen leben.

Arbeitsplatzvernichtung

Im ersten Jahr schwarz-gelber Regierung wurden bislang 263.448 Stellen abge-baut. Im Jahr zuvor unter schwarz-rot waren es 534.843 Arbeitsplätze (http://www.egon-w-kreutzer.de/Meinung/12700cFrame-SetAlmanach.html). Die Globalisierung, d.h. der Einfluss durch Geld auf das Gemeinwohl eines Landes vor allem durch Arbeitsmarkt- und Sozi-alpolitik, vernichtete Millionen von nor-malen, das Leben finanzierenden Ar-beitsplätzen. In der Automobilindustrie werden in den nächsten Jahren 25 % der Arbeitsplätze abgeschafft. Auch Be-triebsausgliederungen kosten Arbeits-plätze, so dass es immer weniger Nor-malarbeitsplätze geben wird; vielleicht bald nur noch 30 %. Fraglich ist dann die Verteilung der Arbeit innerhalb der Be-völkerung, die bislang das Leben durch Arbeit gestaltete, denn ein Grundein-

Aufwärts geht es immer wieder, zumindest bei den Bilanzen © Peter Kirchhoff/Pixelio

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bestehend aus Spitzenpolitikern und der Finanzelite, die die Jobs innerhalb ihrer Zirkel weiterreichen. Hier treffen wir auf eine ausgeprägte Vetternwirtschaft, Be-günstigung, den Lobbyismus der Groß-konzerne und die Steigbügelhalter.

Ob Sie ein Drehbuch geschrieben haben, an einem Literaturwettbewerb teilnehmen oder Zugang in eine For-schungsgesellschaft suchen: Es werden Ihnen Seilschaften begegnen. Dabei geht es weniger um objektive Leistungen, immer aber um Dazugehörigkeit. Als K. Köhler Familienministerin wird, schreibt die ZEITonline: Jung, loyal und keine Ahnung von Familienpolitik (27.11.2009) und der Politikwissenschaftler Al-Wazir: „Hauptsache Gefolgschaft“.

Die Sektoren Bankenwesen, Bildung, Energiewirtschaft, Pharmaindustrie, Medizin und Lebensmittel gelten als gut kontrolliert. Das Zauberwort heißt Patronage.

Zu Karriereförderern gehört neben einer Parteimitgliedschaft die Atlantik- Brücke, der Lionsclub und die Rotarier, wonach viele nicht ausgeschriebene Stellen wie hohe politische Ämter ver-geben werden. Da gibt es keine externe Bewerbungsmöglichkeit, und da kommt es auch nicht auf die formale Quali-

fikation an. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wie man mit sehr wenig Berufserfahrung erst Wirtschafts- und dann quasi über Nacht Verteidigungsmi-nister wird wie zu Guttenberg, während andere schon für das Befestigen einer Steckdose eine dreijährige Ausbildung nebst zahlreicher Prüfungen über sich ergehen lassen müssen.

In der EU sitzen viele, die bei norma-len Bewerbungsverfahren keine Chance hätten, denken wir etwa an G. Oettinger, für den Englisch die Arbeitssprache ist. Er habe „gute Kenntnisse“, bescheinig-te er sich selbst in seiner Bewerbung (SPIEGELonline 13.3.2010). Jeder andere wäre in einem normalen Bewerbungs-verfahren gescheitert, nicht aber „diese Geschützten“. So wurde auch J. Fischer ohne Schulabschluss Professor in Har-vard: B wie Beziehung!

Die PANORAMA-Sendung vom 18.2.2010 belegte, dass die (Geld-) Eliten im Bildungsbereich und in der Arbeitswelt unter sich sein wollen. Hier werden gut dotierte Stellen „vererbt“, Professuren vergeben, auch die Aufgabe einer Frau-enbeauftragten, Vorstandssitze, Aufsichts-ratsposten und Geschäftsführerpositionen ohnehin, und hier werden auch Karrieren verhindert. Forschung wird nicht gewür-digt, Leistung unter den Teppich gekehrt. Zwar sprießen immer einmal wieder Blu-men durch diesen Beton, aber selten.

Vor kurzem erst wurde bekannt, dass auch G. Westerwelle die geschäftlichen Interessen seiner Familie protegiert ha-ben soll. Dafür scheitern Begabtere in der Arbeitswelt, und individuelle und gesell-schaftliche Frustration wird epidemisch.

Zudem regelt eine entwürdigende Sprache (lohnabhängig, weisungsgebun-den, Untergebener) erstarrte Hierarchi-en. Auch das läßt den Arbeitsmarkt wenig lustvoll erscheinen.

In summa führte das zu dem, was der FOCUS (8.3.2010) als die Burn-out-Gesellschaft bezeichnete. Nur noch rund 20 Prozent der Arbeitnehmer haben Interesse an ihrer Arbeit, die zumeist entfremdete Arbeit darstellt. Auch jünge-

wird unentwegt die Tendenz zur Verwahr-losung verstärkt.

Bildung als Schlüssel zum Arbeitsmarkt

Grundsätzlich sind die Arbeitsmöglichkei-ten a) abhängig vom Bildungsstand, also für Akademiker besser als für bildungsfer-ne Schichten, b) von dem zu ergreifen-den Beruf, so z.B. im Sozialwesen noch besser als für Journalisten und c) regional abweichend, da schon die wirtschaftli-chen Gegebenheiten innerhalb eines Landes oft unterschiedlich sind. Aber auch (Aus-)Bildung ist kein Schlüssel, der in jedes Schloss passt. Promovierte Sozi-ologen, die als Verwaltungsangestellte in einer Bußgeldstelle arbeiten, können sich noch glücklich schätzen. Zwar haben Aka-demiker ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden, aber anspruchsvolle Füh-rungsaufgaben, qualifizierte Forschung, Entwicklung und Lehren ist nur durch Vit-amin-B wie „Beziehung“ erreichbar.

Die Betondecke

Denn über der großen Arbeitswelt subal-terner Tätigkeit liegt wie eine Betondecke eine alles dominierende dünne Schicht

Die öffentliche Arbeitsförderung gibt ein brüchiges Bild ab. Ihre Qualifizierungs-angebote gehen oft an der Realität vorbei © Klaus Uwe Gerhardt/Pixelio

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re Menschen haben begriffen, dass die Erfüllung ihres Lebensglücks durch beruf-liche Verwirklichung auf dem Spiel steht. Auch sie sind oft schon zutiefst frustriert.

Die Erfolgreichen haben einen Burn-out, die weniger Erfolgreichen bekom-men Depressionen (vgl. FAZ,10.3.2010, Diagnose: Totale Erschöpfung). Nur noch 65 % erleben das Berufsende mit Eintritt des 65. Lebensjahres. Wer früher aufhö-ren kann, hört auf.

Sinn der Arbeit

Die absolute Mehrzahl der Menschen will arbeiten und liebt Arbeit, weil sie der Selbstverwirklichung entspricht. Arbeit gehört zum beseelten Leben wie das At-men, denn sie hat entscheidenden Anteil an der Entwicklung der individuellen Menschwerdung wie an der Gestaltung des Gemeinwohls.

Für eine Entfesselung der Arbeit brau-chen wir aber einen kompletten Neustart des verquasten Systems. Die Menschen müssen sich wieder mit der Arbeit identifi-zieren können, und ihre Arbeit sollte ihrer BERUFung entsprechen, nicht Job sein.

Deshalb müssen wir die widerlichs-ten Formen von Arbeit überwinden: Zwangsarbeit, wie die Arbeit zur Mehrung fremden Kapitals, wie die Zurichtung der Menschheit zur „profitablen Verwertbar-keit“ (Strasser in SWZ 6.9.00).

Perspektive

Wir stecken nicht in einer vorübergehen-den Krise, sondern wir leben in einer Dauerkatastrophe, die von den Überfüt-terten geschaffen wurde, weil sie nicht teilhaben lassen. Es ist eine legendäre Geldgier, die die internationalen Finanz-jongleure auszeichnet. Gehaltserhöhun-gen um mehrere 100 Prozent sind keine Seltenheit. Ihren Machtapparat erhalten sie hinter der politischen Scheinwelt und Milliarden von Menschen sind ihre Opfer. Immer weniger Arbeitnehmer akzeptie-ren, dass etwa Manager und Sportler pro Monat soviel verdienen wie ein normaler

Arbeitnehmer in 15 Jahren. Dahinter steckt kein Neid, sondern ein sicher wer-dendes Selbstwertgefühl und das Verlan-gen nach Leistungsgerechtigkeit.

Eine Lösung durch die Politik ist nicht zu erwarten, denn die Politik ist das Problem! Der deutsche Staat ist ein insolventer Defraudant, der wie viele andere Länder unter der Betondecke der Günstlingswirt-schaft mit komplexer Machtfülle vegetiert. Allein die Kurzarbeit rettete den Arbeits-markt diesen Winter vor dem Absturz.

Nun mögen Sie, die/der Sie einen Arbeitsplatz dringend suchen, vielleicht enttäuscht sein, da Sie nun noch weni-ger Möglichkeiten sehen. Das ist nicht die Absicht dieses Beitrags, sondern im Gegenteil darauf hinzuweisen, dass Arbeitslosigkeit selten ein individuelles, immer ein strukturelles, gesellschaftliches Phänomen ist, über dessen Hintergrund man informiert sein sollte.

Die Stellen, die im arbeitsmarkt aus-geschrieben werden, sind zu gut 70 Pro-zent frei zu besetzen. Aber um wirkliche Perspektiven für die Arbeit aufzuzeigen, brauchen wir den größten Strukturwan-del, den die Menschheit je gemacht hat. Wir bräuchten die Möglichkeit einer frei-en Entfaltung der Persönlichkeit, Unab-hängigkeit von den Konzernen, regionale Versorgung, wirkliche Demokratisierung, mehr Gerechtigkeit, freie Forschung, freien Zugang zu allen Bildungsein-richtungen, freie Berufswahl, ein freies Grundeinkommen.

Dagegen ist die Lage auf dem Arbeits-markt in politischer, ökonomischer und so-zialer Hinsicht stabil trostlos. Aber gerade diese zerstörerische Trostlosigkeit ist die Voraussetzung für die Entstehung neuer, besserer Strukturen. Konzepte von Arbeit liegen seit Jahren ungenutzt vor (vgl. F. Bergmann, Neue Arbeit, neue Kultur). Was fehlt, ist eine Umverteilung und Neube-wertung der vorhandenen Arbeit zum Nut-zen aller. Nach dem Globalisierungswahn werden wir hoffentlich eine Politik neuen Bewusstseins mit erstarkten regionalen Arbeits- und Wirtschaftsverbänden bilden können, in denen eine max. Arbeitszeit

von fünf Stunden ausreichend sein dürfte (D. Dante, Konzept einer herrschaftsfreien Gesellschaft). Bewusstseinsarbeit wird dann eine „empathische Zivilisation“ (Je-remy Rifkin) im Gegensatz zu heutiger Zwangs- und Angstgesellschaft entstehen lassen (vgl. auch M. Horx, Weg mit der Angst. Krise als produktiver Prozess für notwendigen Wandel).

Wie lange die Bevölkerung es noch akzeptieren wird, dass ihr Arbeits- und Handlungsspielraum immer stärker eingeschränkt wird, ist nicht abzusehen. Soziale Unruhen sind zu befürchten, und der Wirtschaftswissenschaftler L. Cordon-nier hat die in den Mainstream-Medien ausgeblendeten Aspekte eines massiven gesellschaftlichen Widerstandes gegen den Raubzug der Investoren dargestellt. In den Wirtschaftsblättern Mitte März d. J. wurden bereits die Szenarien eines Staatsbankrotts ausgebreitet. Vielleicht gibt erst der Crash auf dem Arbeits- und/oder Finanzmarkt die Chance, die Politik zu verändern. Wir brauchen dringend eine Arbeitsmarkt(R)Evolution, die ge-recht umverteilt und in der das Ausleben von Berufung möglich ist.(1) h t t p : / / w w w . e l o - f o r u m . n e t/

arbeit%11beruf/arbeit%11beruf/-200804011730.html)

(2) http://www.blick.ch/sonntagsblick/wirtschaft/artikel56773

(3) h t t p : / / w w w . d e u t s c h l a n d-debatte.de/2010/01/08/10083/ vgl. auch http://www.welt.de/politik/deutschland/article5770281/Die-Methode-Merkel-zieht-nicht-mehr.html

ÜBER DEN AUTOR:

Klaus Wenzel studierte Sozialarbeit,

Soziologie, Psychologie und Jura

und arbeitet in freier Tätigkeit z.B.

zur Arbeitssoziologie („Arbeit macht

das Leben süß“, 2000) oder zur

Bildungspolitik (2008 in „Quo vadis

Deutschland“, Hrsg. Grimmenstein)

Kontakt: [email protected]

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