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Christoph Merian Stiftung (Hg.)
Christoph Merian Verlag
Pionierbautenim Dreispitz
Vom Gewerbeareal zum
Stadtquartier
Pionierbauten im Dreispitz Vom Gewerbeareal zum Stadtquartier
Christoph Merian Stiftung (Hg.)
Christoph Merian Verlag
Christian Felber
Der Dreispitz: ein neuer Stadtteil zwischen zwei Kantonen 4
André Salvisberg
Vom freien Land zum zollfreien Lager 8
Von Pionieren, Taten und Bauten: drei Interviews 16
Felix Leuppi
«Die Pionierbauten entfalten ihre Wirkung» 17
Andrea Deplazes
«Eine kluge Umsetzung» 20
Beat von Wartburg
«Ich hoffe, dass die Transformation nie beendet sein wird» 22
Die kulturelle Eroberung 26
Dreispitzhalle 51
Martina Desax
Eine Eventhalle als Katalysator und Anziehungspunkt 60
Martina Desax
Black and White 66
Oslo 73
Martina Desax
Ein Haus für die Kunst und das Gewerbe 82
Thomas Jenny
Der Weg des Radio X an die Oslo-Strasse 96
Rakete 103
Christoph Meneghetti
Der Kreativwirtschaft einen Ort und ein Gesicht geben 108
Jonathan Koellreuter
Die Rakete ist gestartet 116
Urban Farmers 127
Martina Desax
Nahrungsproduktion auf dem Flachdach 131
Freiräume 135
Felix Leuppi
Vom Zwischenraum zum Freiraum 137
Martina Desax
Ein neuer Platz sucht seine Gestalt 144
Freilager-Platz 8 – 10 151
Martina Desax
Die Magie der robusten Schlichtheit 155
Sabine Himmelsbach
Medien, Technologie und Kunst im HeK 167
Alexandra Stäheli
Vom iaab zum Atelier Mondial 172
Guy Krneta
Schreiben im bewegten Dorf Dreispitz 182
Autorinnen, Autoren und Interviewpartner 185
Quellen- und Literaturverzeichnis 186
Bildnachweis 187
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Der Dreispitz: ein neuer Stadtteil
zwischen zwei Kantonen
Die Entwicklung eines landwirtschaftlichen Gebiets über Transporthallen zu
einem verdichteten urbanen Areal: Welche Kräfte sind dabei am Werk? Wie
kann man sie befördern und dabei dem Anspruch auf Nach haltigkeit gerecht
werden? Mit welchen einzelnen Schritten und auf der Basis welcher Bau-
werke kann eine positive Gesamtentwicklung in Gang gesetzt werden? Unter
welchen Bedingungen rechnet sich das ökonomisch?
Christian Felber
Die Voraussetzungen für die Stadtentwicklung Dreispitz hat der Basler Christoph
Merian (1800 – 1858) im 19. Jahrhundert gelegt: Er kaufte Landwirtschafts land im
grossen Stil und lebte nach der Überzeugung, dass alle Kraft aus dem Boden komme
und die Agrarwirtschaft die einzige Quelle gesellschaftlichen Reichtums sei. Äcker
und Wiesland auf dem Dreispitz vermachte er seiner Stiftung,1 und diese hat im
Laufe der Jahrzehnte weitere Parzellen dazu gekauft. 500 000 Quadratmeter Land,
das entspricht rund siebzig Fussballfeldern, sind so auf dem Dreispitz zusammen
gekommen; und durch das Wirken der Stiftung zusammengeblieben. Die Christoph
Merian Stiftung hat einzelne Baufelder im Baurecht abgegeben und sorgt dank ihrem
Eigentum des Grundes für den Zusammenhalt. Sie steuert die Entwicklung durch
Baurechtsverträge, durch Investitionen sowie durch Dienstleistungen vor Ort. Und
sie prägt die Transformation durch Verhandlungen mit den Anspruchs gruppen, die
in der bereits dicht bebauten Umgebung sehr zahlreich sind.
Als Wegbereiterin und Motor der langfristig angelegten Entwicklung, als Grund
besitzerin und als Investorin hat die Christoph Merian Stiftung ihre Chance genutzt.
Sie hat mit den in den letzten sechs Jahren errichteten vier Pionierbauten eine neue
Präsenz des Areals geschaffen, sie hat das Gebiet auf die Landkarte gebracht und für
eine Belebung gesorgt. Wie hat die Christoph Merian Stiftung diese Veränderungen
initiiert?
Über Jahrzehnte hat die Stiftung gute und wertschätzende Beziehungen zu den
Behörden in den beiden Kantonen BaselLandschaft und BaselStadt sowie zur
Gemeinde Münchenstein aufgebaut. Diese Beziehungen halfen, als es im Jahre 2002
darum ging, mit den Architekten Herzog & de Meuron eine Vision für das Gebiet zu
erarbeiten. Der Dreispitz ist für Schweizer Verhältnisse gross und zudem in zwei
Kantonen gelegen. So war es der Stiftung von Anfang an klar, dass sie ihre Ziele
nur gemeinsam mit den beteiligten Gemeinwesen erreichen kann. Die Gemeinde
Münchenstein, die beiden Halbkantone und die Christoph Merian Stiftung bildeten
eine Planungsgemeinschaft, die nun seit über zehn Jahren am Werk ist und die die
Erneuerung dieses Areals zu ermöglichen sucht.
Diese Gemeinschaft war nicht die einzige grosse Voraussetzung: Es gelang der
Stiftung, das Gebietsmanagement, das seit fünfzig Jahren in ihrem Auftrag durch das
Finanzdepartement BaselStadt ausgeübt wurde, herauszulösen und zur Stiftung zu
rückzubringen. Ohne direkten Zugriff auf das Gebietsmanagement, auf die Vergabe
von Baurechten und auf die Steuerung der Investitionen wäre die Entwicklung im
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Keime erstickt. Die Vereinfachung der Eigentums und Managementstrukturen bil
dete die zweite Voraussetzung. Auch ohne direkte Beziehungen zu den rund vierhun
dert im Gebiet tätigen Unternehmen wären die Veränderungen nicht geglückt, denn
eigene Kenntnisse der Bedürfnisse der vor Ort tätigen Unternehmen und Investoren
sind unabdingbar, um einen Stadtteil zu entwickeln. Erfahrungen zur Weiter ent
wicklung waren ja bereits vorhanden: Städtebaulich gesehen hatte die Stiftung
Vorhaben in vergleichbarer Grössenord nung bereits in den 1950erJahren im Gellert
quartier und in den 1970erJahren im St. AlbanTal realisiert, wo heute die Papier
mühle und das Museum für Gegenwartskunst angesiedelt sind.
Zu guter Letzt war aber auch bei der Christoph Merian Stiftung selber ein Um
denken nötig: Noch um 1990 führte sie wegen Entschädigungen für Bau rechte
Prozesse bis zum Bundesgericht: Die Kultur der juristisch perfekten Verwaltung
eines Gebietes musste einer kundenorientierten Haltung weichen. Die Stiftung musste
zur Unternehmerin werden; sie musste bereit sein, Risiken einzugehen und selbstbe
wusst in der Öffentlichkeit aufzutreten. Ohne diesen Kulturwandel wäre die Ent
wicklung gescheitert.
Zum ökonomischen Setting
In anderen europäischen Beispielen, etwa Lyon Confluence oder HafenCity Hamburg,
kauft in der Regel die Stadt oder Regionalregierung ein brachliegendes Gebiet,
entwickelt es und veräussert es parzellenweise an Investoren. Die öffentliche Hand
zahlt, finanziert durch den Verkauf der Parzellen, die Erschliessung. Im besten Falle
geht die Rechnung auf. Am Schluss hat die Stadt zwar einen neuen Stadtteil, aber
keine Eigentumsrechte und keine direkten Erträge mehr. Sie kann lediglich auf
Steuern hoffen.
Im Dreispitz will die Stiftung das Land im Eigentum behalten. Im Vergleich zu
Lyon oder Hamburg fällt weiter auf, dass kein Exodus des Gewerbes stattfindet und
kaum Brachland besteht. Während der ganzen Dauer der Baumassnahmen arbeiten
rund viertausend Menschen auf dem Gebiet des Dreispitz und die Stiftung verdient
Geld. Am Ende, also nach abgeschlossener Umwandlung, erwartet sie höhere Er
träge. Die Stiftung muss auf eine langfristige Ertragsquelle zählen können, damit sie
ihre gemeinnützigen Engagements finanzieren kann. Die Transformation des Drei
spitz ist ein ökonomisches Projekt, das mit sozialer Verantwortung und einer städte
baulichen Vision vorangetrieben wird.
Die Stiftung als Motor
Den ersten nennenswerten Schritt zur Realisierung des Stadtumbaus machte die
Christoph Merian Stiftung im Jahre 2005, als sie alle zwölf Gebäude der Basler Frei
lager AG kaufte. Das war der Ausgangspunkt für den ersten Quartier plan. Dieser
trat 2009 als ‹Quartierplan Kunstfreilager› in Kraft und legte die baurechtlichen
Grundlagen für die Entwicklung eines 58 000 Quadratmeter umfassenden Gebietes
fest – dieser Teilraum des Dreispitz wird heute als ‹Frei lager› bezeichnet. Auf dieser
Basis konnte als erste Investorin die Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW
verpflichtet werden. Aber es sollte noch mehrere Jahre dauern, bis weitere Inves
toren Baurechtsverträge unterzeichneten. Mut und Weitsicht auf Seiten der investie
renden Unternehmer sind nötig, wenn man sich in einem neuen Stadtgebiet ansiedeln
will. Zuvor musste die Christoph Merian Stiftung selber Pioniertaten vollbringen,
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einen Veranstaltungsort einrichten (Drei spitz halle), ein Ateliergebäude renovieren
(OsloStrasse 8 – 10) und so der Öffentlichkeit zeigen, dass es möglich ist, auf dem
Dreispitz auch Raum für Kreative zu schaffen. Anschliessend folgten die weiteren
Pionierbauten: Der Neubau der ‹Rakete› sowie zuletzt der verbindende Umbau der
Gebäude an der Oslo und NeapelStrasse zum Ensemble FreilagerPlatz 8 – 10. Die
Pionierbauten sind als Vorleistungen zugunsten räumlicher Veränderungen zu sehen,
hatten aber auch den Zweck, bei Personen, Firmen und Institutionen Neugier zu we
cken. Damit übernahm die Stiftung erfolgreich eine Schrittmacherfunktion: Weitere
abge schlos sene Bau rechtsverträge illustrieren die Wende. Trotz der zu Beginn müh
samen Suche nach investitionsbereiten Unternehmern und Institutionen ergab sich
nun die Situation, dass mehr und mehr Investoren auf den Dreispitz kommen woll
ten, die Stiftung jedoch nicht alle Interessenten berücksichtigen konnte. Im Rück
blick kann man sagen, dass die Stiftung für ihren Mut zum Risiko belohnt wurde.
Ohne diesen Mut und die damit verbundene Kraft, selber anzupacken und die Rolle
des Vorreiters zu übernehmen, wäre die Stadtentwicklung stecken geblieben.
Überbordende Ansprüche an den Stadtumbau
Die gesetzlichen Vorschriften bei der Renovation von Gebäuden (zu Bereichen wie
Brandschutz, Energieverbrauch, behindertengerechtem Wohnen und Arbeiten) wer
den beim Stadtumbau durch Regeln zur Mobilität, zum Lärm, zur ökolo gischen
Umgebungsgestaltung und weiterem ergänzt. Wenn zudem die Regeln zweier Kan
tone für ein Gebiet gelten, wird es noch komplexer. Ich mache den plangenehmi
genden Behörden keineswegs einen Vorwurf. Vielmehr sind es die gesetzgebenden
Politikerinnen und Politiker, die jedes Augenmass verloren haben. Übergeordnete
Ziele wie nachträgliche Verdichtung oder das Zusammen legen von Arbeiten und
Wohnen zur Vermeidung von Pendlerströmen werden in den Gesetzen und Ver
ordnungen noch nicht ausreichend berücksichtigt. Besonders drastisch sind die
Schweizer Lärmvorschriften: Sie verteuern die Wohnungs und Schulbauten in unge
ahntem Masse. So sind beispielsweise Fenster mit DreifachVerglasung und Schall
isolation sehr kostspielig und tragen dazu bei, dass in der Schweiz kostengünstiges
Bauen verhindert wird.
Zwölf Jahre Entwicklungsarbeit auf dem Dreispitz haben mich Folgendes ge
lehrt: Bauen im Bestand, Stadtentwicklung und verdichtung sind nur dann möglich,
wenn auch die beteiligten Behörden pragmatisch denken und bereit sind, zugunsten
der übergeordneten Ziele Abstriche zu machen und Ausnahmeregelungen zu ermög
lichen.
Ökologie in der Stadt?
Man muss sich keinen Illusionen hingeben: Naturnah ist die Stadt nicht. Als die
Stiftung die Planung für den Dreispitz an die Hand nahm, fand sie betonierte und
asphaltierte Plätze vor, Strassen und Geleise versiegelten den Boden und liessen kaum
ein Unkraut spriessen. Natur kam höchstens in Pflanzenkübeln vor. Der Dreispitz
war eine abgeschottete Fläche von 500 000 Quadratmetern ohne Parks und ohne
Verbindungen zu den nahe gelegenen Grünflächen auf dem Bruderholz oder in die
Brüglinger Ebene.
Wir begannen, von kleinen Parks und Plätzen zu träumen, auf denen man sich
vom Dichtestress ausruhen kann, und von einer Fussgängerverbindung nach Brüg
7
lingen. Bald wurde klar, dass man auch Dächer und Fassaden begrünen kann, dass
aufgegebene Geleise als grüne Korridore Verwendung finden. Und es wurde uns
bewusst, dass grüne Inseln im neuen Quartier Voraussetzungen für Lebens und Ar
beitsplatzqualität sind.
Landmarks auf dem Dreispitz?
Der Basler Architekt Jacques Herzog hat mir gegenüber bei der Vorstellung der
Studie ‹Vision Dreispitz› erklärt, dass er die ‹NonameArchitektur› auf dem Drei
spitz als Qualität sehr schätze. Ihm gefielen die vielen kleinen anonymen Gewer
bebauten, die zusammen eine eigenartig schöne Stimmung schaffen. Tatsäch lich sind
bis zu den hier in diesem Buch dargestellten Pionierbauten keine besonderen Bau
werke festzustellen. Das Puzzle der über hundert Zweckbauten, Holzbaracken und
Geräteschuppen hat zwar einen eigenen Reiz, den es zu bewahren gilt – unter den
Gebäuden befinden sich aus architektonischer Sicht auch einige erhaltenswerte Bau
ten –, was aber die Einzigartigkeit des Gebietes vor allem ausmacht, ist die eigenwil
lige Anordnung der Strassenzüge. Wo gibt es ein Stadtgebiet, das dermassen viele
Strassenkreuzungen mit spitzen Winkeln aufweist? Hier hat die Güterbahn Drei
spitz mit ihren 15 Kilometern Schienen Spuren hinterlassen. Es sind keine grossarti
gen architektonischen Zeichen, die Spuren der Bahn sind jedoch eine sehr genaue
Zeichnung der Grundstruktur des Gebietes. Und das scheint mir wertvoll zu sein,
durch sie verfügt das Terri torium über eine ausserordentliche Prägung und erhält ein
Merkmal, das es zu bewahren gilt. Diese Grundstruktur schafft die Identität des
Dreispitz.
Momentaufnahme
Die Vision hat Konturen angenommen, die Transformation ist spür und erlebbar.
Dort, wo die Grundeigentümerin mit ihren Pionierbauten für Anstösse und Bele
bung gesorgt hat, sind weitere Bauten und Projekte für Wohn, Gewerbe und
Dienstleistungsnutzungen entstanden. Im Herbst 2014 wurden zudem die ersten von
mehreren Dutzend Wohnungen bezogen. Die vorliegende Publikation ist eine Mo
mentaufnahme und möchte diejenigen Menschen zu Wort kommen lassen, die die
Pionierbauten ermöglichten oder sie nun nutzen, die dem Dreispitz städtisches Leben
einhauchen und Vielfalt sowie urbane Qualitäten hervorbringen.
1 Die Basis für die Aktivitäten der Christoph Merian Stiftung ist das Vermögen, das ihr von Christoph und Margaretha Merian-Burckhardt Ende des 19. Jahrhunderts in einem für die Stiftungswelt noch heute weg weisenden Testament vermacht wurde. Die Stiftung setzt sich seit 1886 für Menschen in Not, für eine gesunde Umwelt und für das kulturelle Leben in Basel ein. Den inhaltlichen Schwerpunkten der Förder tätigkeit entsprechend verteilen sich die Projekte der Stiftung auf die drei Abteilungen Sozi ales & Stadt entwicklung, Natur, Landwirtschaft & Umwelt sowie Kultur. Weitere Informationen unter www.merianstiftung.ch.
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Vom freien Land zum zollfreien Lager
Der Dreispitz hat zwei Vergangenheiten: Die ältere, die jahrhundertelange
agrarische Bodenbewirtschaftung, ist verschwunden; die jüngere, von der
nach 1900 einsetzenden industriellen und gewerblichen Nutzung geprägt,
reicht bis in die Gegenwart und Zukunft. Beide Vergangenheiten verbindet
ein gemeinsames Erbe.
André Salvisberg
Die erste detaillierte Abbildung des Dreispitz stammt aus dem Jahr 1678. Er ist hier
freies, unbebautes Land – ein Ort ohne eigenen Namen, der zum ‹Ruch velde› gehört.
name follows form – Die Matte vor der Stadt
Nur vier Jahre jünger ist der erste schriftliche Beleg für den Namen ‹Dreispitz›.1 Er
verweist auf die dreieckige Form des Gebiets, gebildet durch die Wegscheide von
Münchensteiner und Reinacherstrasse im Norden und einen Querabschluss im
Süden, der wahrscheinlich der ebenfalls 1678 abgebildete, heutige Leimgruben weg
war. Die so umschlossene Fläche passt gut zu einer weiteren Erwähnung aus dem
Jahr 1769, die Grösse und Verwendung des Dreispitz so beschreibt: «18 Jucharten
Matt land auf dem DreySpitz genannt.»2 Es handelte sich also um eine rund fünf
Hektaren3 grosse Wiese, deren Gras an Grossvieh verfüttert wurde. Wiesen und
Weiden waren damals besonders in der Nähe von Städten ver breitet, deren wach
sende Bevölkerung und zunehmender Wohlstand einen steigenden Bedarf an Milch,
Käse und Fleisch schufen. Das Gelände dürfte sich zudem nur eingeschränkt als
Ackerland geeignet haben, woran auch der Name ‹Ruchfeld› erinnert, der ehemals
die umfassendere Gegend bezeichnete. Das ‹raue› Land war von Geröll und Lehm
durchsetzt, diente unter anderem der Kies gewinnung und musste zur intensiveren
Nutzung erst amelioriert werden, wie dies in der Brüglinger Ebene im 19. Jahrhundert
geschah.4 Dort wurde fruchtbare Erde auf geschüttet.
Das gescheiterte Landgut, das wachsende Grundstück
Vielleicht wurde auch der Dreispitz schon vor dem 19. Jahrhundert so aufbereitet,
dass die grosse Fläche als Nutzland verwendet werden konnte. Spätestens ab 1811
wurde er jedenfalls als Ackerland für den Weizen und Roggenanbau genutzt und als
‹Bifang› mit einer Hecke eingefasst. 5 Wohnbehausung, Brunnen und die Abtrennung
gegen das Umland weisen auf die Einrichtung eines Landguts hin. 1813 kamen dann
noch Remise, Doppelstall und eine Gipsmühle hinzu. Doch hatte diese Pioniertat
keinen dauerhaften Bestand. 1839 stand nur noch eine Scheune auf dem Grundstück,
das ein Jahr später der Grossgrundbesitzer Christoph Merian (1800 – 1858) erwarb.
Es wurde wahrscheinlich Teil des benachbarten Land wirtschafts guts Brüglingen,
das Merian 1824 als Hochzeitsgeschenk erhalten hatte. Nach seinem Tod führten als
Er ben die Witwe Margaretha Merian (1806 – 1886) und nach deren Tod die Christoph
Merian Stiftung die agrarwirtschaftliche Betriebs form weiter. 1890 wurde die Scheu
ne von den Pachtbauern Brüglingens und St. Jakobs als Lagerraum genutzt – sowie
als «Schlupfwinkel von Vaganten und Vagantinnen»6. Die Stiftung liess darauf
hin das sonst menschenleere Areal ein zäunen; zumal der Kanton 1869 zwei Pulver
9
tür me am Leimgrubenweg eingerichtet hatte.7 Während dieser Zeit, zwischen Ende
des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde das nun ‹Dreispitz› genannte Grund
stück in Etappen südwärts aus geweitet. 1840 umfasste es 11 Hektaren und reichte
bis in das Gebiet des künftigen Zoll freilagers hinein. Christoph Merian tätigte wei
tere Landkäufe, um seinen Besitz zu vergrössern und zu arrondieren.8 Dieses stück
weise Aneinander fügen drückte sich um 1900 in der Sammelbezeichnung ‹Dreispitz
felder›9 aus. Die letzten Eigen tums lücken im heutigen Dreispitz konnte aber erst die
Christoph Merian Stiftung um 1920 schliessen und so die Voraussetzung für ein in
sich geschlossenes Areal schaffen, das ein Schlüsselelement der Industriestadt Basel
werden und mit deren hauptsächlichen Akteuren (Bahnhöfe, Fabrikkomplexe der
Chemie, Rhein häfen) ein logistisches Netz bilden sollte.
Auf Pferdefuhrwerken in die Moderne
Das Ende des Dreispitz als Agrarland brachte die Schiene.10 Nach Inbetriebnahme
des Bahnhofs der Schweizerischen Centralbahn (SCB) 1860 zeigte sich, dass dieser
für den Frachtverkehr zu klein konzipiert war. Bereits in den frühen 1870erJahren
empfahlen Gutachten einen Güterbahnhof auf dem Dreispitz. Vorerst behalf man
sich mit einem Provisorium bei der St. JakobsStrasse. Gegen die von der SCB favori
sierte Einrichtung von Lagerplätzen auf dem tief gelegen Rangierbahnhof Wolf
wehrte sich die Basler Handelskammer. Von dort aus hätten schwer beladene Pferde
fuhrwerke kaum in Richtung Stadt wegfahren können, was die lokale Feinverteilung
eingeschränkt hätte. So brachte die Kantonsregierung 1898 wieder die Idee öffentli
cher Materiallagerplätze auf dem Dreispitz auf.
Es folgten Verhandlungen zwischen Regierung, Eisenbahn und Handelskam
mer, in welche die Christoph Merian Stiftung erst einbezogen wurde, nachdem es im
November 1899 zu einer grundsätzlichen Einigung gekommen war. Die Regierung
benötigte von der Stiftung nun die Zustimmung zum Projekt und schrieb kurz nach
Neujahr 1900: «Wir glauben die Ansicht aussprechen zu dürfen, dass Sie grund
sätzlich bereit sein werden, der Regierung in dieser Angelegenheit […] zu einer rich
tigen Lösung behilflich zu sein.»11
Die Stiftung widersetzte sich nicht. Seit fünf Jahrzehnten hatte sie – und zuvor
ihr Gründer – laufend Land zugunsten der Eisenbahn verloren, deren Bedarf der
Staat sogar mittels Enteignungen durchsetzte. Sie erklärte kurz und knapp ihre Ein
willigung.12 Dreispitzboden wurde allerdings nur im Pachtverhältnis und nur im
Norden abgegeben. Die anfänglich kurzen Vertragsfristen liessen die Skepsis erken
nen, ob das Unternehmen reüssieren würde. Die Landwirtschaft verschwand nicht
von einem Tag auf den anderen. Noch 1955 waren rund drei einhalb Hektaren nicht
benötigtes Land an den Gutsbetrieb Brüglingen verpachtet, der jeweils den Humus
übernahm, wenn dieser für den nächsten Arealausbau abgetragen wurde.
name follows function – Das Lager zwischen den Orten
Zur Verwaltung der öffentlichen Materiallagerplätze und des Bahnbetriebs auf dem
Dreispitz beschloss das baselstädtische Parlament Anfang 1901 ein selbstständiges
Unternehmen einzusetzen. Dieses wurde zwar vom Kanton geführt, dessen Rech
nungslegung blieb aber gesondert von der übrigen Verwaltung. Der Lagerplatzver
walter nahm seine Arbeit am 1. April 1901 auf. Die Höhe der Abgaben an die Stiftung
gab Anlass zu wiederholten Streitereien. Auf die Absicht der Regierung, den kanto
10
Georg Friedrich Meyer (1645–1693), ‹Geometrischer Grundriss des Bratteler Muttentzer und Mönchen-steiner Banns›, 1678 (Ausschnitt). Die Karte ist nach Süden ausgerichtet. Das ‹Ruchvelde› erstreckt sich auch über den künftigen Dreispitz. Man erkennt neben dem Basler Wappen die Gabelung der zwei Strassen, die nach Reinach und Münchenstein führen und knapp diesseits der Grenze des Basler Banns vom Leimgruben weg gequert werden.
11
Situationsplan Dreispitz, 1911, gemäss erneuertem Pachtvertrag zwischen Regierung und Stiftung. Die blauen und grünen Flächen zeigen zu unterschied-lichen Preisen verpachtete und genutzte Teilareale. Die grüne Fläche ist für Arealerweiterungen reserviert. Farblich markiert ist rund die Hälfte des heutigen Dreispitz. Die Arealentwicklung erfolgte über fünf Jahr - zehnte hinweg vom blauen über den roten zum grünen Bereich und darüber hinaus. Am Leim gruben-weg sind noch die zwei Pulvertürme eingezeichnet.
12
nalen Werkhof auf das Gelände zu verlegen, bemerkte die Stiftung, dass sie das
«Dreispitzareal im Interesse des Handelsstandes und nicht für Verwaltungszwecke
dem Staate zur Verfügung gestellt»13 habe. Um diesem Handelsstand entgegenzu
kommen, wurden die Pachtzinsen wegen der Konkurrenz der Lagerplätze beim
neuen Badischen Bahnhof im Jahr 1911 reduziert. Das Betriebsareal umfasste zuerst
7 und wuchs dank weiterer Ver pach tungen bis in die 1930erJahre auf 30 Hektaren
an. Seine volle Ausdehnung von 50 Hektaren mit 20 Kilometern Gleisen erreichte es
nach dem Zweiten Welt krieg in den 1950erJahren. (Eine bereits 1922 grundsätz lich
gutgeheissene Erweiterung auf 90 Hektaren blieb Utopie.)14 Das ummauerte Spezi al
areal des Schweizerischen Hauptzollamtes Zollfreilager BaselDreispitz wurde am
4. Juli 1923 von der Basler FreilagerGesellschaft im Vertragsverhältnis mit der eidge
nössischen Oberzolldirek tion in Betrieb genommen, nachdem die Einrichtung eines
Basler Freihafens erfolglos erwogen worden war.15 An der Genossenschaft, die auf
grund des revidierten Obli gationenrechts 1940 in die Basler Freilager AG umgewan
delt wurde,16 hatten neben Privaten auch die beiden Basler Kantone Anteile.
Das Freilager diente zwecks Handelserleichterung dazu, Waren zollfrei zwischen
zulagern und wieder zu exportieren. Die administrativen Kosten konnten so mini
miert werden. Das Zollfreilager hatte nicht nur funktionell eine besondere Bedeutung,
mit ihm wurde erstmals die Kantonsgrenze übersprungen. Das geschah gegen den
Willen der Gemeinde Münchenstein, welche die Lebensqualität ihrer Wohnkolonien
im Ruchfeld – Pionierleistung traf auf Pionierleistung – durch eine nahe Industrie
anlage beeinträchtigt sah. Diese Sorge trieb die Nachbar gemeinde bei den noch
folgenden Arealausbauten bis in die 1950erJahre um.17 Wie beim Basler Gundel
dingerquartier schob sich das Dreispitz als Riegel vor die Siedlung. Ein Zusam
men wachsen der Stadt mit ihrem Vorort, was weiter nördlich in den Fällen von
Binningen und Allschwil eintrat, kam dadurch nicht zustande.
Weiterentwicklung, Ende und Neuanfang
Am Freilager lässt sich beispielhaft die wirtschaftliche Entwicklung des Dreispitz ab
lesen. Bereits im ersten Betriebsjahr waren alle Lagerflächen ausgebucht, und Miet
gesuche mussten zurückgewiesen werden, sodass bereits im zweiten Jahr die drei
Betriebsgebäude (das Zollbüro, das Zollfreilager und die Lagerhalle) um ein Lager
haus ergänzt wurden. Ein weiteres Lagerhaus folgte 1934. Erst ab 1935 beeinträch
tigte die 1929 eingebrochene Weltwirtschaft den Betrieb massiv.
In den nächsten zehn Jahren, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs,
ging der Warenverkehr trotz der Pflichtlager zur Landesversorgung auf ein Drittel
des Maximums von 1932 / 33 zurück. Militärische Befestigungen, die kriegs wirtschaftliche Beanspruchung des Fuhrparks und Transportrestriktionen für die Eisen
bahn trugen das ihre zum schlechten Geschäftsgang bei. Aber schon im ersten
Nachkriegsjahr steigerte sich der Betrieb wieder auf mehr als das Drei fache des letz
ten Kriegsjahres. Der eigentliche Nachkriegsboom setzte Mitte der 1950erJahre ein.
Das Freilager folgte dem konjunkturellen Auf und Ab, wobei das Areal seit der
Eröffnung des Transitlagers 1969 weitgehend ausgebaut war. Ab Mitte der 1980er
Jahre zeichnete sich die Liberalisierung der Verzollungs formalitäten ab. Die klassi
schen Zollfreilager an den schweiz erischen Grenzen gerieten unter strukturellen
Druck, der durch die allgemeine Wirtschafts krise der 1990erJahre so zunahm, dass
der Basler Standort nach der Jahrtausendwende schliesslich aufgegeben wurde.18
13
Luftaufnahme Freilager Richtung Westen, 1925. Das in der Mitte liegende Zollfreilagergebäude (heute Oslo-Strasse 1–5) hat noch nicht seine volle Länge erreicht. Am linken Bildrand ist ein heller Neubau (heute Freilager-Platz 9–10) zu erkennen, noch fehlt dessen Fortsetzung. Auf dem künftigen Freilager- Platz sind zahlreiche Frachtbehälter platziert. Im Drei - spitz hat sich nach zwei Jahrzehnten Betrieb bereits ein Wildwuchs von Lagerschuppen und Lagerflächen etabliert, der wesentlich zu zwei Grossbränden 1943 und 1945 beitrug.
14
Vom Pachtvertrag zum Baurechtsvertrag
Die rund hundert Jahre staatlicher Dreispitzverwaltung lassen sich in zwei etwa
gleich lange rechtliche Phasen gliedern. Von 1900 bis 1955 bildete der Pacht vertrag
zwischen Regierung und Stiftung mit Verlängerungen und Ergänzungen die Grund
lage für den Betrieb. Einzige Ausnahme war der Baurechtsvertrag für das Areal des
Zollfreilagers. Für das Baurecht entschied man sich dort, da umfangreiche Bauten
errichtet werden mussten, und nur mittels dieser Rechtsform die nötigen In ves
titionskapitalien zu erhalten waren. Ende der 1940erJahre begann die Diskussion
über eine umfassende Beendigung des Pachtmodells auf dem Dreispitz. Die im Lauf
der Jahrzehnte unübersichtlich gewordenen Pacht und Mietsverhältnisse wurden
am 12. April 1955 von einem Baurechtsvertrag zwischen Stiftung und Einwohner
ge meinde abgelöst, womit die zweite Phase begann. Zu diesem Systemwechsel zwan
gen unter anderem schärfere Bauvorschriften, die nun auch hier den angesiedelten
Betrieben kostspieligere Niederlassungen abverlangten, wofür ein Baurechtsver
hältnis wie schon beim Freilager geeigneter war.19 Auch die Übernahme des Dreispitz
durch die Christoph Merian Stiftung war damals Thema. Der Ratschlag von 1955
zum neuen Baurechtsvertrag betonte aber, dass die Christoph Merian Stiftung «sich
nicht mit dem Gedanken trägt, die Materiallagerplätze des Dreispitzareals in die
eigene Ver waltung zu übernehmen, da eine solche Tätigkeit nicht in ihrem Auf ga
benbereich liegt».20 Die Eigen ständigkeit der Dreispitzverwaltung war sehr gross, die
Entwicklung des Areals und die Platzierung der Firmen folgten einer kaum gelenkten
Eigendynamik. Dies änderte sich nach der Jahrtausendwende mit den Neu erungen an
Besitzverhält nissen, Verwaltungsstruktur und Arealnutzung. Die Stiftung, die schliess
lich doch die Verwaltung an sich zog, nahm diese Neuerungen unter dem program
matischen Projektnamen ‹Kunstfreilager› in Angriff. Damit war der Impuls gesetzt
für die Transformation des Dreispitz: Der heute als ‹Freilager› bezeichnete Raum
stand nun für eine pionierhafte Neunutzung offen.
1 «zwo Jucharten uffin Letten, so ein dreÿspitz und der Kùche Acker Genanth». Freundlicher Hinweis der Orts- und Flurnamenforschung Basel-Stadt an der Universität Basel.
2 Huck 2006, S. 65.3 1 Juchart entspricht 0,2836 Hektar.4 Geering 1908, S. 138.5 Huck 2006. Archiv der Christoph Merian Stiftung: Geometer Siegfried, «Reductions-Plan», 1839.6 Zitiert nach Winkler 1986, S. 115.7 Die Türme wurden kurz nach 1911 entfernt.8 Winkler 1986, Pläne S. 55, 57, 59.9 Verwaltung 1951, S. 5.10 Zur Gründung der Materiallagerplätze auf dem Dreispitz vgl. Verwaltung 1951, S. 4 – 10.11 Schreiben des Regierungsrats an die Stiftung vom 8. Januar 1900. Archiv der Christoph Merian Stiftung,
E.10.01.099.07.12 Protokoll der Stiftungskommission 1886 – 1904 / 05, S. 238 – 240. Archiv der Christoph Merian Stiftung,
B.02.02.003.13 Brief der Stiftungsverwaltung an die Stiftungskommission vom 11. Mai 1904. 1918 kamen dann doch
Werkstätten für den Unterhalt von Pferdefuhrwerken am Leimgrubenweg zustande. Heute sind dort Regiebetriebe des Bau- und Verkehrsdepartements. Archiv der Christoph Merian Stiftung, E.10.01.099.07.
14 Verwaltung 1951, S. 49; Winkler 1986, S. 119.15 Zum Freilager vgl. Verwaltung 1951, S. 15 – 17.16 An die Stelle des anteilsmässigen Stimmrechts trat bei den Genossenschaften das Stimmrecht pro Mitglied,
was eine Beschneidung bedeutete und die Rechtsform der Aktiengesellschaft nahe legte. Auch die Basler Schleppschifffahrtsgenossenschaft wandelte sich damals zur Schweizerischen Reederei AG um.
17 Winkler 1986, S. 119.18 Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. Basler Freilager-Gesellschaft 1923 ff. 19 Zur Neuordnung der Dreispitz-Nutzungsverhältnisse vgl. Winkler 1986, S. 120 – 121.20 Regierungsrat Ratschlag 5129, S. 13.
16
Von Pionieren, Taten und Bauten:
drei Interviews
Was in anderen Städten hoffnungsvoll als Motor für Transformation ins ta l-
liert wird, steht auch im Dreispitz im Fokus: Kunst und Kultur als Vorreiter
der Stadtteilentwicklung. Von grosser Bedeutung waren und sind hier die
vielfältigen Rollen der Christoph Merian Stiftung – sie ist alleinige Grund-
besitzerin, aktiv im Immobiliengeschäft und gewichtige Kulturförderin zu-
gleich. Unter ihrem Dach waren die Logik der Immobilienbewirtschaftung
und die Risikobereitschaft des Kulturbetriebs bereits vereint. Dadurch blie-
ben zwar Diskussionen um Ziele und Vorgehen nicht aus, sie waren aber
letztlich notwendig und produktiv.
Die Gespräche führte Dominik Büchel.
17
«Die Pionierbauten
entfalten ihre Wirkung»
Felix Leuppi ist Leiter Immobilien der Christoph Merian Stiftung.
Herr Leuppi, was zeichnet den Dreispitz aus?
Das 500 000 Quadratmeter grosse Industrie und
Gewerbeareal liegt zu gleichen Teilen auf basel
städtischem Grund und auf dem Boden der Gemeinde
Münchenstein im Kanton BaselLandschaft. Inner
halb der Agglomeration ist der Dreispitz ein Binde
glied zwischen dem städtischen, dicht besiedelten
Gundel dingerquartier und den Siedlungs gebieten des
Birstals. Die Nordspitze ist nur einen Kilometer
vom Basler Bahnhof SBB entfernt. Es ist also ein weit
läufiger Flecken Agglomeration, der auch als Schar
nier zwischen Kernstadt und Agglomerationsgemein
den räumlich bedeutsam ist. Notabene ein Raum,
der intensiv genutzt wird; in rund vierhundert Betrie
ben arbeiten über viertausend Beschäftigte. Tausen
de von Kunden und Kundinnen nehmen die Verkaufs
einrichtungen und Dienstleistungen jeden Tag in
Anspruch. Sie sehen, wir reden hier von einer Trans
formation in dichtem Bestand und bei laufendem
Betrieb.
Woher kam der Anstoss, dieses als Gewerbe-
und Lagerareal eigentlich funktionierende Gebiet zu
transformieren?
Es ist unser ehrgeiziges Vorhaben, der Agglomera
tion Basel einen urbanen Teilraum zu geben, der als
geschlos senes Gewerbe und Industrieareal nach
innen gerichtet zwar funktionierte, aber nicht mit
den umliegenden Quartieren vernetzt war und
zugleich deutliche Anzeichen eines Strukturwan
dels aufwies, wie den Wegzug von Logistikunterneh
men. Dank Nach verdichtung und Mischnutzung
werden über tausend Wohnungen erstellt, und die
Anzahl der Ar beits plätze wird mindestens ver dop
pelt. So entsteht ein neuer Stadtteil, der dank
dichterer Nutzung höhere Wertschöpfung ermög
licht.
Dann ist die Transformation des Dreispitz also ein
ökonomisches Projekt?
Mein Arbeitgeber ist eine Stiftung, die gemäss den
klaren Vorgaben des Stifters soziale und kulturelle
Vorhaben fördert. Das Geld dazu muss aber erst
verdient werden. Ein beträchtlicher Teil des Stiftungs
vermögens ist in Land und Bauten angelegt. Dieser
Teil des Portfolios besteht aus 900 Hektaren Land,
340 Baurechtsgrundstücken und über 3000 Miet ob jek
ten. Immobilien verwaltung und Arealentwicklung
ist bei uns deshalb immer auch Vermögensverwaltung
und hat deren Logik zu gehorchen. Das ist zentral
für das Weiterbestehen der Stiftung. Wir investieren
längerfristig gesehen in die Entwicklung der Agglo
meration Basel.
Kann ein Areal dieser Grösse integral betrachtet,
geplant und transformiert werden?
Die Grösse des Areals ist eine der Herausforderungen.
Zudem sind fast alle Flächen im Baurecht vergeben.
Viele dieser Baurechtsverträge laufen erst im Jahr 2053
aus. Überdies machen uns die Unterschiede zwischen
den rechtlichen Grundlagen der beiden Kantone das
Leben nicht immer einfach, auch wenn sich die Ko ope
rationskultur in den letzten zehn Jahren stetig ver
bessert hat. Es war ein Glücksfall, dass wir 2005 mit
den Liegen schaften der ehemaligen Freilager AG
eine Art Réserve du Patron für die Arealentwick lung
erwerben konnten. So konnten wir uns Hand lungs
spielraum verschaffen: Mit dieser Investition arron
dierten wir unseren Liegenschaftsbesitz in jenem
Perimeter, den Herzog & de Meuron in ihrer Unter
suchung ‹Vision Dreispitz› als ‹Campus des Bildes›
be zeichnet hatten und der zum zentralen Herzstück
der Transformation werden sollte. In der Studie
war übrigens schon 2003 die Rede davon, dass sich
die ehemaligen Gebäude des Freilagers als Zeit
zeu gen in fast idealer Weise zum Hochschul standort
eig neten. Heute ist dort die HGK [gemeint ist die
Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW] zu
hause. Die Vision wurde Realität.
Und aus dem ‹Campus des Bildes› wurde dann
das ‹Kunstfreilager›?
Wir reden heute vom ‹Freilager›, aber es war tat
sächlich so, dass wir uns zuerst auf diesen Teilraum
des Dreispitz mit einer Fläche von rund 58 000 Qua
drat metern konzentrierten. Dorthin sollte nämlich
die bisher auf sechs Standorte verteilte HGK ziehen.
18
Das war für uns Anlass genug, gemeinsam mit dem
Bau departement des Kantons BaselStadt 2006
einen zweistufigen Wettbewerb auszurichten. In der
ersten Stufe sollten städtebauliche Konzepte und
Vorschläge für die Freiräume erarbeitet werden, die
dann als Basis für einen Quartierplan für das Kunst
freilager dienen sollten. In der zweiten Stufe, für die
noch 6 der ursprünglich 26 Büros qualifiziert waren,
sollte dann ein schlüssiges Gesamtkonzept für den
Perimeter sowie ein Projektvorschlag für die HGK
erstellt werden.
Hat sich der Aufwand gelohnt?
Ich bin überzeugt vom Wert qualitätssichernder Ver
fahren. Die Resultate des Wettbewerbs, die im
Dezember 2007 vorlagen, waren wegweisend für die
weitere Umsetzung. Der darauf basierende Quartier
plan Kunstfreilager wurde in enger Zusam menarbeit
mit der Gemeinde Münchenstein aus gearbeitet und ist
seit März 2009 rechtskräftig – er hat Geltung für
5,8 Hektaren, also für etwas mehr als 10 Prozent des
Dreispitz. Er ist eine wichtige Grund lage für die
Transformation dieses Teilraums, da er Rechtssicher
heit schafft, die wir in dieser Art noch nicht für alle
anderen Räume des Dreispitz erlangt haben. Die zwei
Erstplatzierten der zweiten Stufe, Morger + Dettli
Architekten aus Basel sowie Müller Sigrist Architekten
aus Zürich, wurden mit der Projektierung und Aus
führung des Neubaus für die HGK (Morger + Dettli
Archi tekten) sowie der Sanierung des benachbarten
ehemaligen Zollfreilagergebäudes (Müller Sigrist Archi
tekten) betraut, die seit September 2014 ebenfalls
von der HGK genutzt werden. Dank dem Wettbewerb
machten wir auch bei der Freiraum planung grosse
Schritte, und last but not least inspirierten uns die
Wettbewerbsbeiträge, sodass wir 2008 die Möglichkei
ten zur Umnutzung weiterer Liegen schaften mittels
einer Machbarkeitsstudie von Bearth & Deplazes
Archi tekten ausloten liessen.
Und wo finden nun die Pionierbauten in dieser
Geschichte ihren Platz?
Die Gebäude OsloStrasse 8 – 10 sowie FreilagerPlatz
8 – 10 entwickelten sich praktisch direkt aus der er
wähnten Machbarkeitsstudie, mit Zwischen und Rück
schritten. Bei der Dreispitzhalle war das Vor gehen
etwas unabhängiger von der baulichen Ent wicklung
im Freilager; da ging es uns darum, neue Bevölke
rungsgruppen auf den Dreispitz zu bringen, Adress
bildung zu betreiben und einen Raum für krea tive
Wegbereiter und Wegberei terinnen zur Verfügung zu
stellen. Die Rakete schliesslich liegt gar nicht im
Perimeter des Freilagers, sie trägt aber aufgrund ihrer
Position an einer vielbefahrenen Kreuzung sowie in
unmittelbarer Nähe der SBahnStation Dreispitz viel
dazu bei, dem neuen Dreispitz ein Gesicht zu geben.
Ausserdem ist die Rakete Wirtschaftsförderung im
besten Sinne.
Sie haben Rückschritte bei den beiden Gebäu den
an der Oslo-Strasse erwähnt. Was meinen Sie
damit?
Die Architekten Bearth & Deplazes haben uns ein
inspirierendes Projekt für einen Neubau an der Stelle
der alten Lagerhallen vorgelegt. Dort hätte auch
das Kunsthaus Baselland eine neue Heimat finden
können. Es gelang uns aber nicht, dieses Projekt
zu realisieren und wegen der langen Verhandlungen
mit dem Kunst haus Baselland haben wir dort auch
Zeit verloren. So konzentrierten wir uns anschliessend
auf den Umbau des Gebäudes OsloStrasse 8 – 10
und liessen für das südlich davon liegende Gebäude
am FreilagerPlatz 8 – 10 eine neue Machbarkeits
studie erstellen. Wir übernahmen das Zepter wieder
alleine, um schneller vorwärts zu kommen. Wenn
ich das Ensemble heute betrachte und die neuen räum
lichen Zusammenhänge und die Nutzungsüber
schneidungen mit den umgebenden Bauten berück
sichtige, komme ich zum Schluss, dass wir auch
im zweiten Anlauf viel erreicht haben.
Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Kosten
und Ertrag bei den angesprochenen Pionierbauten?
Ich muss das grundsätzlich beantworten, denn
die Bauten werden unterschiedlich genutzt und es
bestehen nicht überall die gleichen Bedingungen.
Zusammenfassend kann man sagen: Aus Sicht der
Immobilienentwicklung hat sich der Aufwand
gelohnt, wir haben erfolgreiche Promotion für den
Standort betrieben und konnten Personen und
Institutionen, welche die Initiative ergreifen, den Weg
auf den Dreispitz ebnen. Nicht zuletzt haben wir
dank den Anlässen und Institutionen, die in unseren
Pionierbauten wirken, die Neugier auf das Areal
19
geweckt. Wir haben auch Fortschritte bei der Signa
letik und der Beleuchtung gemacht, auch wenn in
diesem Bereich noch viel zu tun bleibt. Dank den neuen
Nutzungen steht die Umstellung auf einen 24Stun den
Betrieb bevor, da müssen wir bei der Orientierung und
Sicherheit noch zulegen.
Welche Lehren ziehen Sie aus der Entwicklung
der letzten Jahre?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass unser Topdown
Ansatz, durch Pionierbauten den Trans formations
prozess auszulösen, funktionierte. Das gelang jedoch
nur, weil wir über die Gebäude verfügten, Kontakte
zu Künstlern und Künstlerinnen sowie kulturellen
Ein richtungen hatten und die wirtschaftliche Kraft
besassen, diese auch zu unter stützen. Sehr wichtig ist
sicher auch, dass wir hohe Ansprüche an die Quali
tät der Planung und der Ausführung hatten und diese
durchsetzen konnten. Wir haben uns die Zeit genom
men, gute Entscheidungs grundlagen zu erarbeiten.
Dass wir uns selber nicht unnötig unter zeitlichen
Druck gesetzt haben, ist auch im Standortmarketing
ein Vorteil. Die potenziellen Investoren spüren, dass
wir die Entwicklung des Dreispitz sorgfältig und
nicht überhastet vorantreiben wollen. Das schafft Ver
trauen. Eine solche Vertrauensbasis ist un bedingt
nötig, denn viele Investoren werden schnell unsicher,
wenn ihre Energie und Mittel nicht in Standard pro
dukte an etablierten Lagen fliessen sollen.
Schlägt sich dieses Vertrauen denn auch in neuen
Baurechtsverträgen nieder?
Wir spüren das Vertrauen der Investoren sehr deut
lich; das Freilager findet viel Anklang. Fast gleich
zeitig mit dem letzten Pionierbau FreilagerPlatz
8 – 10 waren am FreilagerPlatz 7 der Neubau von
Herzog & de Meuron mit deren Archiv und 41
Wohn ungen bezugs bereit. Der Umbau des benach
barten, ehemaligen Transitlagers in ein Wohn
und Geschäftshaus hat begonnen, die Pläne kom
men vom dänischen Architekten Bjarke Ingels
(BIG). Zudem wird das schutzwürdige ehe malige
Lagergebäude an der HelsinkiStrasse 7 durch
die Archi tektur Rolf Stalder AG für Wohn und
Geschäfts zwecke umgebaut. Und am nörd lichen
Ende der OsloStrasse bauen die Architekten
Zwimpfer & Partner einen Neubau für Gewerbe,
Wohnen und Büros. Auch an anderen Orten im ganzen
Dreispitz wird geplant und geprüft. Die Pionierbauten
entfalten ihre Wirkung; wir können sehr zufrieden
sein.
20
«Eine kluge Umsetzung»
Andrea Deplazes ist Partner von Bearth & Deplazes Architekten.
Sie arbeiteten bereits 2006 in der Jury des Wettbe-
werbs zum Kunstfreilager / HGK mit, und Ihr Büro
war anschliessend an der Projektierung der Pionier-
bauten an der Oslo-Strasse beteiligt. Was zieht
Sie am Dreispitz an?
Der Umstand, dass alles in der Hand eines einzigen
Eigentümers ist, der eine übergeordnete Idee über die
Erzielung einer Rendite hinaus hatte, war attraktiv.
Das Gelände und der Gebäudebestand sind einzigartig.
Eine so konsequent auf die Logistik ausgerichtete
Erschliessung findet sich sonst fast nur in Hafengebie
ten. Auch mir als Aussenstehendem wurde rasch klar,
dass der Dreispitz bis vor zehn Jahren als städtische
Enklave wahrgenommen wurde. Wahrscheinlich war
es dieser Reputation zu verdanken, dass noch keine
schützende Hand über die Gebäude substanz gehalten
wurde. Da zeich nete sich also auf verschiedenen
Ebenen ein spannendes Vorhaben ab, bei dem unser
Büro gerne mitwirkte.
Wie stehen Sie zu der übergeordneten Idee des
Wandels vom Logistik- und Gewerbeareal zu einem
städtischen Quartier?
Wir fanden es eine famose Idee, dass sich die Christoph
Merian Stiftung dazu aufmachte, etwas Seltenes zu
realisieren und auch die Risiken in Kauf zu nehmen.
Das verdiente damals fast ein wenig Bewunderung.
Die Eigenheiten des Raumes und seine Position im
Agglomerationsgefüge waren Erfolg versprechend für
den Wandel zum Stadt quartier. Es war für uns auch
eine Frage der Masse: Wäre ein grosser Wurf not
wendig, wäre ein Leucht turmVorhaben die gute
Wahl? Für uns war die Priorität klar: Es gehört Leben
auf den Dreispitz. Im Freilager, wo die Transfor
mation ihren Anfang nahm, waren gewisse Bauten im
Quartierplan als erhaltenswert eingestuft worden.
Also musste aus dem Bestand heraus agiert werden.
Das war die grosse Chance für die Kultur, da sich
andere Nutzungen auch unter kommerziellen Gesichts
punkten kaum realisieren liessen. Wir hielten uns
bei der Abklärung der Machbarkeit und dann auch
beim Umbau an der OsloStrasse an die Maxime, dass
kein einzigartiger architektonischer Wurf gebraucht
wird, sondern eine kluge Umnutzung der Bestands
bauten. Nur so konnten die kulturellen Nutzungen in
die Gegebenheiten des Ortes eingebettet werden. Es
war eine dankbare Aufgabe, denn Lagerhäuser sind ja
eigentliche Archetypen baulicher Strukturen: grosse
Geschoss flächen möglichst ohne Wände. Da kann fast
jedes Raumprogramm abgefüllt werden. Ein eigen
ständiger Entwurf ist nicht notwendig. Diese Haltung
war für uns bei der Projektierung des Gebäudes
OsloStrasse 8 – 10 leitend, zumal auch viele Bedürfnis
se künftiger Nutzer und Nutzerinnen zu berücksich
tigen waren. Mit einfachem Ausbau standard konnten
wir die Umbaukosten niedrig halten, sodass die
Flächen für kulturelle Nutzer erschwinglich blieben.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Grundeigentümers
und Entwicklers Christoph Merian Stiftung?
Die Stiftung hatte eine noble, herausfordernde Rolle –
und die hat sie vermutlich heute noch. Manch mal
etwas verhalten, manchmal forscher, hat sie stets mit
Akribie nach Lösungen gesucht. In einer geduldigen
Gesprächskultur wurde mancher Kompromiss erarbei
tet. Das führte hin und wieder zu Verzögerungen und
Pausen. Ich habe der Stiftung teilweise auch etwas
mehr Mut zur Haltung eines freundlichen Diktators
gewünscht. Vielleicht wären so hier und da noch
etwas unkonventionellere Ideen oder provozierende
Gedanken in Richtung der beiden Kantone und
der Gemeinde Münchenstein zu vernehmen gewesen.
Ich muss aber auch den Spagat erwähnen, den die
Christoph Merian Stiftung vollführen musste, und
immer noch muss, zwischen der Ökonomie und den
schönen Dingen im Leben. Der ist ihr relativ gut
gelungen.
Können Sie die Wirkungen der Pionierbauten
beurteilen?
Sie haben viel zu einer veränderten Wahrnehmung bei
getragen haben, die dem Dreispitz mehr Dynamik,
der Christoph Merian Stiftung starken Gestaltungswil
len und den bereits dort wirkenden Menschen und
Unternehmen mehr Respekt zuspricht. Die Agglome
ration hat begonnen, auf diesen Raum zu zählen.
Ansonsten formuliere ich einige Anforderungen an
Pionierbauten und überlasse die Einschätzung, ob
diese hier erfüllt werden, anderen. Solche Bauten sind
21
immer als Teil eines Quartiers und nicht als Objekte
zu entwerfen. Sie sollten auf bekannte Gestaltungsele
mente setzen und in erster Linie im Dienste der an
ge strebten Nutzung stehen. Sie müssen den Menschen,
die sie bespielen und nutzen, Freiheiten geben
und gleichzeitig den Status des vorreiterhaften und
risiko reichen Wirkens betonen. Sie sollten deutlich
lesbar sein, und öffentliche Nutzungen sollten als
solche er ken ntlich sein. Der Mensch muss der Mass
stab sein, denn solche Bauten sind auf Emotionen
auszurichten und nicht auf rational vertretbare Posi
tionen. Mir kommt aber noch etwas ganz anderes
in den Sinn: Neben den Interventionen der Pionier
bauten entstand am FreilagerPlatz ein neues Span
nungsfeld, das dem Dreispitz viel Leben bringen
wird: Mit der HGK von Morger + Dettli auf der
einen Seite und dem Archiv und Wohngebäude von
Herzog & de Meuron auf der anderen erhält der
FreilagerPlatz zwei Pole, die neue Beziehungen
schaffen. Genau dort wurden die ersten Wohnungen
bezogen, dort lassen sich nun Menschen nieder,
die sich den Ort in einer bisher noch nicht dagewe
senen Art aneignen werden: Als Bewohner innen
und Bewohner.
Aber die Orientierung im Dreispitz ist nicht
einfach. Wird so nicht die Aneignung erschwert?
Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in
der Lastwagen, Züge, Autos, Motorräder, Velos
und – noch wenige – Fussgänger die engen Ver
kehrsräume gemeinsam nutzen müssen. Das ist nicht
einfach. Der Dreispitz hat jedoch eine sehr grosse
Chance: Die Struktur der Aussenräume entspricht fast
einer modernen Altstadt: enge Strassenräume mit
ab rup ten, unübersichtlichen Verzweigungen, unter
schiedliche Fassaden und Gebäudehöhen sowie
Viel falt der Nutzungen. Der Dreispitz ist gerade des
halb trotz seiner Geschichte als Logistikstandort
prädestiniert für Fussgänger. In den Gebieten ausser
halb der reinen Arbeitsgebiete könnte der Fuss
gängerverkehr gefördert werden. Wenn sich gleichzei
tig das Angebot diversifiziert und erweitert – mit
Läden, Gastronomiebetrieben, Freizeiteinrichtungen,
Begegnungsorten oder Aus sichtspunkten – dann
ist auch die Orientierung kein Problem mehr: Wo
die Aufenthaltsqualität hoch ist, verlaufen sich die
Menschen gerne. Orientierungslosigkeit in einem
dichten und farbigen Labyrinth, das reich an Anreizen
zum Schauen, Kaufen, Verweilen oder Flanieren ist,
ist ein urbanes Erlebnis par excellence.
Welche Prognose stellen Sie für das Gelingen der
Transformation?
Trotz des Unbehagens, eine vielleicht als etwas vor
laut empfundene Ferndiagnose zu stellen, nenne ich
einige Faktoren, die dem guten Verlauf der weiteren
Ent wick lung Vorschub leisten können: Die stadt
räumliche Struktur bietet eine fast optimale Ausgangs
lage; die Massstäbe und die Typologie der Bauten
sowie der Stadtkörper gründen in einer Vergangenheit,
die respektiert werden muss. Es sind weitere Initial
mass nahmen der Grundbesitzerin nötig. Nur das Eis
zu brechen, genügt nun nicht mehr; die Stiftung muss
ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht in die
Waagschale werfen. Ein wichtiger Meilenstein wäre
erreicht, wenn die Christoph Merian Stiftung weitere
Wirtschaftsträger aktivieren könnte. Wird eine kriti
sche Masse an Vitalität erreicht, entwickelt sich eine
Eigendynamik. Wird in der Kommunikation noch
stärker auf die Macht der Bilder gesetzt, werden sich
mehr und mehr Menschen angezogen fühlen, es
entsteht so etwas wie der ‹AdabeiEffekt›. Vergessen
wir nicht: Bisher kannte der Dreispitz Nutzer, Nutze
rinnen, Beschäftigte, Besucher, Zulieferer, Trans
porteure oder Lageristen: Seit Kurzem – und das ist
ein Novum in der Geschichte des Dreispitz – wohnen
und leben dort Menschen. Deren Präsenz wird so
oder so zu Veränderungen führen.
22
«Ich hoffe, dass die Trans
formation nie beendet
sein wird»
Beat von Wartburg ist Direktor der Christoph Merian Stiftung.
Herr von Wartburg, wie würden Sie die Transforma-
tion beschreiben, die im Dreispitz in Gang gesetzt
wurde?
Es ist eine lange Geschichte, die eigentlich aus zwei
Erzählsträngen besteht. Der eine handelt von den
Immo bilien, der andere von der kulturellen Eroberung
des Dreispitz. Obwohl Immobilienbewirtschaftung
und Kulturförderung bei uns unter dem gleichen Dach
zuhause sind, war dieses Zusammenspiel nicht immer
konfliktfrei. Hilfreich für die inhaltliche Besetzung
des Freilagers war sicher, dass in der Areal promotion
kul turelle Nutzungen ein bedeutender Standortvor
teil sind. Das kulturelle Umfeld, das haben uns die
Inves toren, die heute Nachbarn unserer Pio niere sind,
immer wieder bestätigt, war ein wichtiger Faktor
für ihren Entscheid, in einem gewerblich geprägten
Dreispitz in den Wohnungsbau zu investieren.
Wie kamen Immobilien- und Kulturwelt zusammen?
Die beiden Erzählungen überschneiden sich immer
wieder; sowohl bei der Planung und Erstellung wie bei
der Nutzung unserer vier Pionierbauten. Sie sind
bewusst gesetzte Zeichen des Aufbruchs und Beweise
dafür, dass die Stiftung an ihre eigene Trans forma
tions idee glaubt und mit gutem Beispiel vorangeht.
Zugleich bilden die vier Bauten die künstlerische Wert
schöpfungskette ab: von der Lehre und Forschung
über die Produktion und Vermittlung bis hin zur Krea
tiv wirtschaft und zum Kunstmarkt. Ebenso wichtig
für das Ziel, dass im Freilager ein kultureller Fokus,
ein ‹Art Cluster› entstehen soll, waren die zahl reichen
kulturellen Events Dritter sowie die Zwischennut
z ungen.
Welche Erkenntnisse haben Sie bisher gewonnen?
Der Dreispitz ist keine Brache, sondern ein gewerblich
genutztes Areal mit marktüblichen Mieten. Da ist
es nicht einfach, kulturelle Nutzer und Nutzerinnen
an zu siedeln. Selbst die Stiftung konnte nicht einfach
neue Kulturengagements eingehen, ohne andere zu
beenden. Deshalb haben wir das Atelierhaus für Künst
lerinnen und Künstler am St. AlbanRheinweg 96
und die Ateliers des Internationalen Austausch und
Atelierprogramms Region Basel (iaab), heute Atelier
Mondial, im St. AlbanTal im Herbst 2014 aufge
geben und die Förderleistungen in den Dreispitz trans
feriert. Für die übrigen Kulturakteure war Risi ko
bereitschaft gefragt. Würde der kulturelle Im pact
tatsächlich funktionieren? Warum soll man marktübli
che Mieten bezahlen, wenn es in Kleinbasler Hinter
höfen, also im städtischen Zentrum ähnliche, ja sogar
günstigere Mietpreise gibt? Und wie kann man sein
Publikum an die Peripherie locken? So waren es nur
wenige, die als Zwischen und Endnutzer unserer
Bau ten Aufbruchslust und Risikobereitschaft bewiesen
haben – und immer noch beweisen. Ihr Engagement
war bedeutsam und hat sich gelohnt, davon bin ich
über zeugt. Ich bin diesen Institutionen und Perso nen
sehr dankbar, denn ohne sie wäre vieles nicht mög lich
gewesen.
Wer waren diese Pioniere und Pionierinnen?
Jede Aufzählung wäre unvollständig und würde nicht
allen gerecht. Die in diesem Buch ver tretenen Autoren
und Autorinnen illustrieren das Feld gut: Es waren
zum Beispiel die Leute von ‹Shift – Festival der elektro
nischen Künste›, die von 2007 bis 2011 die Dreispitz
halle und weitere Innen und Aussen räume lustvoll, in
novativ (mit digitalen Medien) und mit Engagement
bespielt haben. Das [plug.in] Forum für neue Medien
und ‹Shift› fanden nicht zuletzt dank der Dreispitz
Transformationsidee zusammen. Aus der Fusion ent
stand das Haus der elektronischen Künste Basel
(HeK), das, ‹basisdemokratisch› beschlossen, mutig
sein vorübergehendes Domizil ins Gebäude Oslo
Strasse 8 – 10 verlegte und nun in die definitiven, neuen
Räume am FreilagerPlatz 10 eingezogen ist. Die
erste Sendung von Radio X aus dem Pionier bau an
der OsloStrasse 8 – 10 im Mai 2011 war ebenfalls
ein Meilenstein und nur dank grossem persönlichen
Einsatz der Radiomacher und macherinnen sowie
der Stiftung Radio X möglich. Seit das Freilager
als möglicher Standort für die HGK ins Gespräch kam,
waren auch deren Verantwortliche immer wichtige
Partner. Heute sind sie inspirierende und äusserst
23
ko operationswillige Nachbarn. Dank den Ateliers für
die regionalen Kunstschaffenden, die wir im Pionier
bau an der OsloStrasse unterbringen konnten, kamen
initiative und kreative Personen in eine gestaltbare
Umgebung, die sie mit Events und Ausstellungen be
spielten. Ich erinnere mich an viele Personen und
Anlässe, die das unbekannte Territorium vermessen
halfen und Orte mit Leben füllten, die zuvor mit
Waren gefüllt waren: Es gab Musik und mehr im
‹American Optical›Gebäude, das heute nicht mehr
steht. Dort zu Gast war auch die unabhängige Aus
stellungs serie von Fredy Hadorn, die 2007 als
‹Licht Feld 7› die erste grössere Kulturveranstaltung
im Dreispitz überhaupt war – und seither andere
Räume im Dreispitz interpretiert und bespielt hat.
Von 2010 bis 2013 war die jeweils parallel zur ‹Art
Basel› statt findende Kunstmesse ‹Volta› ein Publikums
magnet für die Dreispitzhalle und hinterliess blei
bende Spuren, etwa in Form eines Wandgemäldes am
Nach bar gebäude der Rakete. Inspiriert vom Genius
Loci schrieben auch die Performances und Inszenie
rungen von Cornelia Huber Dreispitz geschichte. Und
schliesslich war das Theater Basel mit seinem Stück
‹Utopia› zu Gast. Wie sich die Theatermacher auf den
Ort einliessen, war fantas tisch. Wie gesagt, eine un
voll ständige Aufzählung, die …
… den Eindruck erweckt, da sei viel Unternehmungs-
geist am Wirken gewesen.
Ja, es braucht Wegbereiter, die anderen Mut machen,
sich ebenfalls auf das Ungewisse einzulassen …
… bis dann die Verdrängung einsetzt. Wenn Trans-
formation top down verordnet wird, wenn sie
ökonomisch begründet ist und im Bestand gelingen
muss, droht Gentrifizierung. Nehmen Sie das in
Kauf?
Die Entwicklung des Dreispitz ist ein Aufwertungs
prozess, der eine gewisse Gentrifizierung mit sich
bringt. Aber: Der Verdichtungsprozess erstreckt sich
über einen längeren Zeitraum und ist auf klar defi
nierte Teilgebiete fokussiert. Deshalb hält der Drei
spitz nach wie vor und noch über Jahrzehnte hinweg
Nischen für kulturelle und soziokulturelle Initiati ven
bereit. Das lässt Zeit und Raum für die Projekte von
Menschen, die ihre Ideen realisieren möchten. Dank
der neuen Nachbarschaft wird ein grosser, lebendiger
Kulturraum entstehen, der vielen Platz bietet. Diese
Chance gilt es zu nutzen, denn die Transformation
findet in jedem Fall statt – mit oder ohne Kultur. Ich
finde, es wäre besser, mit. So entsteht ein Ort, der
sich auszeichnet durch künstlerische und gewerbliche
Produktion, durch Reflexion über Kunst und durch
interdisziplinäre, forschende Kunst. Noch ein Wort
zur Gentrifizierung: Die Geschichte des HeK zeigt sehr
schön, was in einem Entwicklungs prozess geschieht.
Was mit einem kleinen Ausstellungsraum im St. Alban
Tal und einer BottomupBewegung des ‹Shift Festi
vals› begonnen hatte, mündete in eine Institution, die
heute das nationale Kompetenzzentrum für die digi
talen Künste ist. Es ist nun die Aufgabe des HeK dafür
zu sorgen, dass es nicht in der Professionalisierung
und Institutionalisierung erstarrt, sondern prozess haft
in Bewegung bleibt.
Soll das Gewerbeareal zum kulturellen Trendquartier
werden?
Trendquartieren haftet der Geruch des MondänModi
schen und Temporären an; wir wollen jedoch eine
stabilisierende und nachhaltige Entwicklung hin zu
einem städtischen Quartier in der Agglomeration
Basel. Wenn dieses Quartier dann in Phasen seiner Exi s
tenz ‹trendy› wirkt, ist das natürlich kein Nachteil.
Aber wir wissen ja: Je trendiger ein Quartier ist, desto
mehr steigen die Mietkosten für Wohn und Arbeits
räume.
Wie wollen Sie dem entgegenwirken?
Mein Bild des räumlichen Wandels kennt keinen
finalen Zustand, ein lebendiges Stadtquartier befindet
sich in permanenter Entwicklung. Diesen Anspruch
wollen wir hochhalten. Es muss gelingen, die Trans
formation als einen Prozess zu verstehen, der in jedem
Moment spannende Opportunitäten eröffnet. Ich
hoffe, dass die Trans formation nie beendet sein wird.
Es ist es eine Wikiähnliche Geschichte, an der viele
Personen, Firmen und Institutionen fortlaufend
weiterschreiben. Fehlentwicklungen wollen wir früh
zeitig erkennen und bekämpfen: Der Dreispitz soll
keine mono thematische Nutzung haben, sondern er
soll lebendig sein durch den Nutzungsmix, durch
die Vielfalt von Gewerbe, Produktion und Wohnen,
Dienst leistung, Kultur und Freizeit. Unsere Pionier
bauten senden wichtige Botschaften aus, indem
24
sie Nischen, formelle und informelle Treff punkte,
bespielbare Innen und Aussenräume sowie Infra
strukturen für die Kreativen bieten.
Haben sich die Investitionen in die Erstellung und
Nutzung der Pionierbauten gelohnt?
Ja. Wir konnten viel bewegen: Der Dreispitz wird von
einer neugierigen Bevölkerung entdeckt, und Institu
tionen und initiative Personen erhalten ein neues Zu
hause. Mit dem Umbau der Lagergebäude OsloStrasse
8 – 10, FreilagerPlatz 8 – 10 sowie des HGKAltbaus
konnten wir die historische Identität des ehemaligen
Zollfreilagers erhalten und mit der Umnutzung zu
gleich eine Kulturmeile schaffen, die von hochwertiger
moderner Architektur umgeben wird. Qualitativ hoch
stehend waren auch die Anlässe und Ausstellungen –
zum Beispiel die Ausstellung ‹2 Grad – Das Wetter, der
Mensch und sein Klima› oder die Ausstellungen im
Projekt raum Oslo 10, für die die Kuratorinnen aus ge
zeichnet wurden. Mit der Dreispitzhalle – sie war der
erste Pionierbau – verfügen wir über einen Ort mit
Anziehungskraft. Im Bau OsloStrasse 8 – 10 entstand
ein KulturGewerbeMix. Mit der Rakete leisten wir
einen substanziellen Beitrag zur Förderung von inno
vativen Startups. Im Pionierbau FreilagerPlatz 8 – 10
schaffen wir mit dem HeK und den Austauschateliers
des AtelierMondialProgramms internatio nale Bezüge
und wagen den kreativen Brückenschlag zu Lehre
und Forschung der HGK visàvis. Wir tra gen so zu
einem investitionsfreundlichen Klima bei, von dem
alle profitieren können: die Investoren, die ihre eigenen
Vorhaben verfolgen, die Nachbarn, deren Lebens und
Arbeitsqualität sich dank dichter Vielfalt verbessert,
die Christoph Merian Stiftung als Grundeigentümerin
und nicht zuletzt Basel und sein Kulturleben.
Was haben Sie aus dem Freilager gelernt für
die Transformation der nördlich und südlich liegen-
den Bereiche des Dreispitz?
Ich bin sicher, dass wir Lehren aus unserem Vor
gehen ziehen müssen. Die Entwicklungen im Freilager
und unsere Pionierbauten zeigen, dass starke Im
pulse seitens der Grundbesitzerin nötig sind, dass
verbind liche Partnerschaften gebraucht werden, dass
räum liche und gestalterische Veränderungen auf
hohem Niveau immer auch viel Zeit benötigen und
dass Kunst und Kultur über ihren Eigenwert hinaus
Impulse setzen können. Wir haben auch gelernt,
dass wir noch mehr Energie und Fantasie auf die
städte bauliche Dimension im Sinne der Quartier
entwicklung verwen den müssen: Was braucht dieses
neue Stadtquartier, und was können wir dazu bei
tragen? Ich denke hier beispielsweise an die Versor
gung mit Ein kaufsmöglich keiten oder Gastro nomie,
kurz: die sozial orientierte Infra struktur. Schliess
lich hat uns das gescheiterte gemeinsame Projekt
für das Kunst haus Baselland, das HeK und die
Austauschateliers gezeigt, dass Rückschläge zu einem
Transforma tions prozess gehören und ein geschei
tertes Projekt Chan cen für neue, nachhaltige Lösun
gen eröffnet. Auch hier gilt: Alles hat und braucht
seine Zeit …
Und was heisst das für künftige Entwicklungen
im Dreispitz?
Unsere Erfahrungen müssen wir gewinnbringend
einsetzen, wenn die vom Freilager und den Pionier
bauten ausgehende Entwicklung in den anderen
neunzig Prozent des Areals greifen soll. Dort sind
wir allein nicht handlungsfähig, weil wir nur in
wenigen Fällen Gebäudeeigentümerin sind und der
rechtliche Rahmen noch nicht beschlossen wurde.
Wir möchten aber möglichst rasch den bestehenden
Arbeitsgebieten eine gewerblich ausgerichtete
Innenentwicklung ermöglichen, Mischnutzungen
in den speziell ausgeschiedenen Zonen fördern,
die vielen anstehenden Verkehrsfragen anpacken
und das Potenzial des Geländes ausschöpfen. Die
Vision eines Dreispitz mit durchmischten Teilge
bieten für Wohnen, Gewerbe, Freizeit und Kultur
bleibt unsere Richtschnur.