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Crowd-Journalismus: Geschichten von unten

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Das Web bringt für Journalisten neue Möglichkeiten, Crowdsourcing- und Kuratierungs-Technologien für eine neue Art des Geschichtenerzählens einzusetzen. Das spannende Feld birgt aber auch neue Probleme in sich.

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Die Weisheit der Masse anzapfen, das wollen heute auch Journalisten. Kuratieren statt recherchieren lautet die Devise. Doch Crowdsourcing wirft auch neue Fragen auf. Zum Beispiel, warum Freiwillige da überhaupt mitmachen wollen.Text von Jakob Steinschaden

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Pfadfinder. Die Gehwege, die Ende der 1960er am Campus der Universität Oregon angelegt wurden, laufen noch heute kreuz und quer durch die Wiesen der Anlage. Aus der Vogelperspektive von Google Maps gesehen, heben sie sich mit ihrem unortho-doxen Durcheinander deutlich ab von den umliegenden Straßen, die typisch amerika-nisch mit dem Lineal gezogen wurden. Erst, wer die Wege am Boden nachgeht, erkennt ihren Sinn: Sie sind die optimalen Routen, um am Campus von A nach B zu gelangen.

Die weltberühmten Pfade sind das Ergeb-nis des „Oregon-Experiments“, das der in Wien geborene US-Architekt Christopher Alexander umgesetzt hat. Ende der 1960er verlangten die Studenten der Universität mehr Mitbestimmung, und einer ihrer Erfolge sind diese Wege. Anstatt, wie seit Jahrhunderten gewohnt, die Wege am Reiß-brett zu planen, ließ Alexander Gras pflan-zen und wartete einfach mal ab. Als sich nach einiger Zeit Trampelpfade bildeten, wurden diese als die heutigen sogenannten

„Desire Lines“ angelegt. „Bottom-up“ statt „top-down“ – das Experiment gilt noch heute als Beleg dafür, wie gut Schwarm-intelligenz funktionieren kann, und wirkt bis in den Journalismus hinein, der sich einem neuen Betätigungsfeld zuwendet: dem Crowdsourcing.

Die Perlen aussieben„Bürgermedien hatten ein nicht ganz anstän-diges Image, wurden als Schmuddelecke wahrgenommen. Durch das Internet haben

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sie diesen Charakter verloren, niemand würde sagen, YouTube sei eine Schmuddel-ecke. Da ist klar: Da sind Perlen drinnen, und unsere Aufgabe ist es, diese zu finden und in einem neuen Kontext und kompakt zugänglich zu machen“, sagt der deutsche Mediensoziologe Volker Grassmuck. Mit dem Boom von Blogs, Social Media (früher sagte man noch „User-generated Content“ dazu) und Smartphones wird das Netz täg-lich mit schier unbegreifbaren Datenmengen überflutet. WordPress, der führende Blog-Anbieter, verzeichnet pro Monat 41,5 Milli-onen neue Einträge und 53,2 Millionen neue Kommentare. Bei YouTube werden pro Minute 72 Stunden Videomaterial hochgela-den. Auf den Servern von Facebook landen pro Tag mehr als 300 Millionen Fotos, und bei Twitter werden 400 Millionen Kurznach-richten alle 24 Stunden veröffentlicht.

Diese massive Verschiebung in Sachen Content-Produktion von Profis hin zu Privatpersonen macht vielen Journalisten Angst. Content sei heute nichts mehr wert, mit dem Echtzeit-Internet könne man in der Berichterstattung nicht mehr mithalten. Doch was die einen als Gefahr sehen, neh-men andere als Chance. Die Online-Ausgabe der britischen Qualitätszeitung Guardian ist eines der Vorreiter-Medien, die auf Crowd-sourcing im Journalismus setzen und die Nutzerdaten zum Teil ihrer Berichterstat-tung machen. Während der tagelangen ge-walttätigen Unruhen in London im August 2011 forderten die Redakteure, die unmög-lich einen Überblick über die Geschehnisse

auf der Straße behalten konnten, Leser dazu auf, ihre Eindrücke einzuschicken, die dann in Artikeln weiterverwertet wurden. Außerdem halfen dem Guardian Tausende bei der Auswertung von mehr als 450.000 Ausgabenbelegen britischer Parlamentarier, um Spesenbetrug aufzudecken – eine Auf-gabe, die ein kleines Redaktionsteam nicht bewältigt hätte. In Deutschland setzt das ZDF aktuell Crowdsourcing-Technologien ein, um die Aus sagen von Politikern zu checken. Unter http://zdfcheck.zdf.de kön-nen Leser Fakten beisteuern, diese werden von der Redaktion geprüft. Die Aussage

„Die Einkommensschere schließt sich seit drei Jahren wieder“ von Ursula von der Leyen (CDU) wurde auf der Webseite be-reits widerlegt.

Die US-Online-Zeitung Huffington Post, die ab Herbst auch Deutschland und Öster-reich mit Online-News und Meinungsbei-trägen versorgen will, hat das Crowdsour-cing sogar zum Geschäftsmodell erhoben. Nur wenige der Inhalte stammen von ange-stellten Redakteuren, den großen Rest liefern Blogger, Experten oder einfach leidenschaft-liche Online-Schreiber gratis zu – im Gegen-zug bekommen sie die Reichweite der Webseite. „Bei der Huffington Post sind nur 25 bis 30 Prozent der Artikel selbst geschrie-ben. Man ist nicht mehr nur ein Reporter, sondern kuratiert die Inhalte auf der Website. So arbeiten die meisten unserer Leute“, sagt CEO Jimmy Maymann über den Redaktionsbetrieb in mittlerweile sieben Ländern. „Social-Media-Seiten sind enorm

wichtig, wenn es darum geht, eine Story zu verbreiten, das gehört heute zum journalis-tischen Handwerk dazu. Ich denke, die Zei-ten, an denen man an seinem Schreibtisch saß und jeden Tag eine Geschichte getippt hat, sind vorbei.“

Die Crowd außer Kontrolle„Es ist eine der spannendsten Fragen unserer Zeit, wie weit diese Zusammenarbeit gehen kann und wo die Grenzen sind. Ich kann mir keine medientheoretisch begründbare Grenze vorstellen, die sagt: Crowdsourcing geht bis dahin, und alles andere darüber hinaus können nur die Profis machen“, sagt Mediensoziologe Grassmuck. „Die Vorstel-lung, dass nur die Experten eine Enzyklo-pädie wie die Wikipedia schreiben können, ist widerlegt. Aber natürlich gibt es auch innerhalb der Wikipedia die Diskussion: Wie können wir Artikel verbessern, wie können wir Experten ranholen, die mitschreiben oder zumindest begutachten?“

Zwei Beispiele, die beide ohne die über-geordnete Rolle des Journalisten als Kurator verliefen, zeigen, wo diese Grenze verlaufen könnte. Beim Projekt GuttenPlag, bei dem engagierte Internetnutzer Anfang 2011 in einem Online-Wiki Plagiate in der Disserta-tion von Deutschlands ehemaligem Verteidi-gungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg aufdeckten, wurde echter Mehr-wert mit kollaborativer Arbeit geschaffen – der dazu beitrug, dass Guttenberg schließ-lich zurücktrat. Während der Suche nach den Bombenattentätern von Boston im

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April 2013 schlug das Pendel in die andere Richtung aus: Nach dem Aufruf des FBI an die Bevölkerung, Hinweise zu Verdächtigen zu liefern, überboten sich Tausende Nutzer der Internet-Community reddit.com im Subreddit „FindBostonBombers“ darin, eben solche zu liefern. Leider stellten die Amateur-Detektive anhand von Fotos vom Ort des Geschehens nur Unschuldige an den Online-Pranger – mit schrecklichen Fol-gen. Die Leiche des 22-jährigen Studenten Sunil T., der fälschlich vom Cyber-Mob verdächtigt wurde, fand man schließlich im Bostoner Providence River – seine Familie vermutet Selbstmord. reddit-Manager Erik Martin entschuldigte sich später öffentlich für die „Hexenjagd“.

Kuratieren statt recherchierenVor allem letzteres Beispiel zeigt, dass gerade im Internet die oft gepriesene Schwarm-intelligenz Anleitung, Begutachtung und einen Filter braucht. Crowdsourcing haben Medien schon immer betrieben – der Radio-sender Ö3 mit seinen Ö3vern, die von Öster reichs Straßen aus aktuelle Verkehrs-infos an die Redaktion schicken, oder die TV-Sendung „Orakel“ aus den 1970ern etwa bauen beziehungsweise bauten schon lange auf die Crowd, bevor das Wort Crowd-sourcing überhaupt erfunden wurde. Jeder Journalist weiß: Die Leser um Tipps zu bitten, ist eine alte Technik, um an interes-sante Geschichten zu kommen – der neu-gierige Reporter, der im Wirtshaus die Ohren spitzt, ist das Paradebeispiel dafür.

Doch gerade im Netz erweist sich die Leitung durch einen Kurator als essenziell, wie der reddit-Vorfall zeigt. „Es braucht Takt-geber (Christoph Alexander), die geeignete

Technologie (Rasen) und die richtige Ver-fahrensweise (Desire Lines), um aus dem Schwarm die durchaus großartige Qualität herauszuwringen, die den unglücklichen Namen Schwarmintelligenz trägt“, schreibt der Blogger Sascha Lobo mit Bezugnahme auf das Oregon-Experiment auf Spiegel Online. Auch Mediensoziologe Grassmuck sagt: „Ich bin überzeugt, dass es nie den Algorithmus geben wird, den man einfach über das Internet laufen lässt und der dann vier Stunden mediale Grundversorgung zusammenstellt. Professionelle journalis-tische Arbeit wird weiterhin die Basis sein. Aber um die Informationsflut bewältigen zu können, brauchen Menschen entsprechende Werkzeuge, etwa Metadaten und das Semantic Web.“

Die richtigen Werkzeuge und InformantenWas in der Theorie schlau klingt, erweist sich in der Praxis dann aber doch als ziem-lich schwer. „Man denkt, dass man mit auf-geklärten Journalisten zusammenarbeitet, aber dann muss man ganz praktische Dinge erklären. Das ist wie in der Sendung mit der Maus“, sagt Nicola Kuhrt, stellvertretende Ressortleiterin im Wissenschaftsressort von Spiegel Online, über die Umsetzung von Crowd-Journalismus. Sie hat etwa Erfah-rungen damit gesammelt, wie man Grippe-wellen auf Basis von Lesermeldungen auf einer Deutschlandkarte abbilden kann. Doch auch mit der aktiven Teilnahme an diesen neuen Prozessen sei es so eine Sache:

„Die Leute müssen sich erst einmal daran gewöhnen, dass es das jetzt gibt, und lernen, wie es funktioniert“, so Kuhrt. Der deutsche Wissenschaftsautor Ralf Grötker etwa ver-sucht mit dem Web-Portal debattenprofis.de,

eine „Community aus Spezial-Nerds“ aufzu-bauen. Ihm geht es darum, die richtigen zehn bis 15 Personen aus der Masse heraus-zufischen. „Mit redaktionellen Inhalten können wir uns abstrampeln, wie wir wollen, der größte Einfluss auf die Qualität der Kommentare ist die Community“, sagt Grötker.

Technologische Unterstützung für journa-listische Crowdsourcing-Projekte bietet die kleine Berliner Firma OpenDataCity, die bereits für die Online-Ausgaben der taz, der Süddeutschen, der WAZ oder der Zeit tätig wurde. „Leute können helfen, eine Geschichte zu erzählen, indem sie Daten spenden“, so Marco Maas von OpenData-City. Er hat etwa bei Visualisierungen von Zugverspätungen, Parteispenden oder Flug-lärmbelastung mitgearbeitet und meint:

„Wenn man durch einen Wust an Dokumen-ten nicht selbst durchwühlen kann, kann man eine Plattform aufbauen, wo Leser helfen können, das Material zu sichten.“

Nicht geklärt ist allerdings noch die Frage, warum Menschen bei solchen Crowdsour-cing-Projekten freiwillig ihre Zeit und ihr Wissen einbringen. So kann man etwa ver-muten, dass Leute, die mit dem Klarnamen posten, das Rampenlicht suchen, während sensible und persönliche Geschichten oft gerne anonym erzählt werden. Diese Kennt-nis wäre essenziell in der Beurteilung der eingereichten Informationen durch den Redakteur. Heute müssen diese in ihrer sich verändernden Arbeit aber eher Mutmaßun-gen darüber anstellen. Mediensoziologe Grassmuck: „Wir müssen noch herausfinden, was Menschen motiviert, da mitzumachen. Dazu gibt es zwar einige Forschung, aber letztendlich ist es eine ungeklärte Frage.“

„Ich bin überzeugt, dass es nie den Algorithmus geben wird, den man einfach über das

Internet laufen lässt und der dann vier Stunden mediale Grundversorgung zusammenstellt.“

Volker Grassmuck, Mediensoziologe