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KÖLNER KULTUREN MAGAZIN | WWW.NULL22EINS-MAGAZIN.DE #03 FRÜHLING 2012 FREIEXEMPLAR | WERT 3 EURO

#03 Frühling 2012

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null22eins. Kölner Kulturen Magazin.

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KÖLNER KULTUREN MAGAZIN | WWW.NULL22EINS-MAGAZIN.DE

#03FRÜHLING 2012

FREIEXEMPLAR | WERT 3 EURO

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02 EDITORIAL >

EditorialFOTO: ALESSANDRO DE MATTEIS

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RAUMKULTUR

PERSPEKTIVE KÖLN

03EDITORIAL

Es ist nun rund ein Jahr her, dass sich der Verein artishocke gegründet und zusam-men mit vielen Neugierigen ein Maga-zin ins Lebens gerufen hat: null22eins. Aus einer einzelnen Idee ist ein Gemein-schaftsprojekt entstanden, das auch 2012 seine Fortsetzung findet und eines be-weist: Ziehen viele an einem Strang, kann eine Idee Wirklichkeit werden – egal, wie stark der Einsatz jedes Einzelnen ist.

Gemeinsamkeiten nutzen und etwas teilen, quasi soziale und karitative An-sätze, bilden gleich mehrfach den Inhalt der Frühlingsausgabe null22eins. So ent-stehen manchmal erfolgreiche Unter-nehmen, die mit einzigartigem Design überzeugen und Fehler beheben wollen („debuggen“). An anderer Stelle schaffen gemeinsame Überzeugungen eine fes-te Identität, die eine Kneipe und deren Gesichter zu echtem Kult erheben – ein Beispiel aus Mülheim. Dann finden sich einzelne überzeugte Menschen, die nur durch die Hilfe anderer ihre Projekte ver-wirklichen können und damit die Welt verbessern wollen – eine faire Sache in Sülz. Und schließlich echte Massenbewe-gungen von Gemeinsamkeiten, die auch noch so einsame Gedanken und Ideen in die Wirklichkeit tragen können – ein Blick zur (wieder-)entdeckten Klasse der Masse.

Und schließlich null22eins selbst, das Netzwerk der artishocke, das weiter wachsen und noch viel mehr Gemeinsam-keiten mit interessierten Kölnern, Insti-tutionen, Künstlern und Kulturen finden will – zumal hinter diesem Magazin viel mehr steckt als Schrift, Bild und Gestal-tung. Wir laden ein, auch auf anderen Ge-bieten etwas zu teilen.

In diesem Sinne senden wir unsere fri-sche Ausgabe in den Kölner Frühling und freuen uns auf Reaktionen, neue Koope-rationen und jede Menge Raum für neue Ideen.

Viel Spaß beim Lesen!null22eins

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04 INHALT >

ALT | NEU /// BARBAROSSAPLATZ – KREUZUNG IN PLATZNOT

KÖLN-SZENE /// LIMESÜberzeugt rechtsrheinisch

PORTRÄT /// DEBUG VISUALSZwei Künstler im selben Boot

WE ARE CITY /// LYNDAS LIEBLINGSORT

SPORT /// CAPOEIRAVerteidigungs-Kunst mit Vergnügen

KÖLNER PLÄTZE /// EIN FAIRER STAND

MAHLZEIT /// MOLEKULARKÜCHEEspressonudeln mit Melonenkaviar

WISSENSCHAFT /// KLISCHEE MIT HAUT UND MEHR

INTERVIEW /// TYPOGRAFIE Mit Professoren quer durch Schrift und Zeit

GALERIE /// COLOGNE CONTEMPORARIESGrenzenlos zeitgenössisch und jung

FOTOSTRECKE /// THEMA: EINSAMKEITVom AllEinSein

ZWISCHENRAUM /// DINGFABRIKWerkstatt für alle

KUNST /// ANTI-ART SCHOOLBurlesque Zeichenkünste

DESIGN /// WOHNFÜHLENFrisches durch Upcycling

MUSIK /// KONZERTPREVIEWSWhoMadeWhoMotorpsychoThe Whitest Boy Alive

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Nr Drei

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MUSEUM /// RGM VOR NEUEM GLANZBlicke in das Römisch-Germanische Museum und in dessen Zukunft

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Bankverbindung artishocke e. V.

Deutsche Skatbank Konto-Nr.: 4680715 • BLZ: 830 654 10

05INHALT

NETZWERKEN /// DIE KLASSE DER MASSE Crowdsourcing und Crowdfunding

KÖLNER PLÄTZE /// STADTSPAZIERGANGPassagen-Betrachtungen

AUSBLICK /// IM JUNI

KONSUM /// MODE IM VEEDELRetro & Charme im Belgischen Viertel

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Impressum

Herausgeber

Redaktion u. redaktionelle

Mitarbeit

V.i.s.d.P

Layout

Fotos

Coverfoto

Redaktions-schluss

http://

Druck

Anzeigen

artishocke e. V.Genovevastraße 65 • 51063 Kö[email protected]

Jens Alvermann, Nicole Ankelmann, Charlotte Braun, Daniel Deininger, Robert Filgner, Stephanie Kraus, Christina Kuhn, Şehnaz Müldür, Stawrula Panagiotaki, Catarina Pauli-Caldas, Adam Polczyk, Agata Sakwinski, Oliver Vogels.

Robert Filgner [email protected]

Şehnaz Müldü[email protected]

Athenea Diapoulis, Helena Kasemir, Nathalie Metternich, Leo Pellegrino.

Alessandro De Matteis, Athenea Dia-poulis, Walter Drießen, Simon Hariman, Christian Löhden, Leo Pellegrino, Rheini-sches Bildarchiv Köln, Klaus Rothenhöfer, Anna Shapiro, Paul Zilliken.

Leo Pellegrino

Ausgabe #03: 19. Januar 2012

null22eins-magazin.defacebook.com/null22einsissuu.com/null22eins-magazin

Merkur Druck GmbH & Co. KGAm Gelskamp 18–20 • 32758 Detmold www.merkur-psg.de

Telefon: 0221. 20 43 22 [email protected]

Urheberrechte für Beiträge, Fotos und Illustrationen sowie der gesamten Ge-staltung bleiben beim Herausgeber oder den Autoren. Abdruck, auch auszugswei-se, nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers! Alle Veranstaltungs-daten sind ohne Gewähr.

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06 ALT | NEU >

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07ALT | NEU

DER BARBAROSSAPLATZ

Verkehrsknotenpunkt für Autos, Straßen-bahnen, Fußgänger; chaotische Kreuzung; Adresse der ersten Kölner McDonald’s-Filiale und gesäumt von 50er-Jahre-Archi-tektur – der Barbarossaplatz ist vieles, nur schön ist er nicht. Das war einmal anders, als er Ende der 1880er als Sternplatz samt Fontäne und Bäumen angelegt wurde. Ab 1898 verkehrte hier der „Feurige Elias“, die Vorgebirgsbahn zwischen Köln und Bonn, und auch die elektrische Rundbahnli-nie zog hier ihre Kreise. Der Ausbau der Ringstraße und die Bomben des Zweiten Weltkriegs vernichteten alles Schöne; das Bauhaus-Hochhaus und der Sparkassen-Bau mit Schwalbenschwanzdach rückten nach. Was blieb, ist die Bahn – wenn sie es denn pünktlich über die Barbarossakreu-zung schafft.

EINE KREUZUNG IN PLATZNOTTEXT: CHRISTINA KUHN FOTOS: CHRISTIAN LÖHDEN

RHEINISCHES BILDARCHIV KÖLN KLAUS ROTHENHÖFER

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08 KÖLN-SZENE >

TEXT: ROBERT FILGNERFOTOS: ALESSANDRO DE MATTEIS

EIN ORT FÜR ALLE, DIE KEINE SCHUBLADEN BRAUCHEN UND AUCH NICHT KENNEN. UND EIN ORT FÜR ALLES, WAS IN ANDEREN LOKALEN OFT VERNACHLÄSSIGT WIRD. DAS LIMES GEHT SEINEN EIGENEN WEG – MIT ERFOLG.

WEITERE INFOS

LimesMülheimer Freiheit 15051063 Köln

http://limes-koeln.dehttp://blaenke.de

HIP BRAUCHT HIER KEINER

LIMES

Dieser Laden zeigt, dass man nicht das große Kapital braucht, um erfolgreich zu sein. Es braucht vor allem Ideen, etwas Mut und ein funktionierendes Team, will man eine Kneipe etablie-ren und sogar richtig bekannt machen. Das Limes in Mülheim kann das ohne Übertreibung von sich behaupten. Und das Schöne vorweg: Die Gesichter dahinter würden genau das nie tun. Und schon sind wir auch beim eigentlichen Thema dieser Zeilen über eine Kneipe im Rechtsrheinischen, die als eine der wenigen auch vom Linksrheiner nicht verschmäht wird. Denn es sind nicht allein der gemütlich-verrauchte Stil, bezahlba-res Bier inklusive Astra, der kostenfreie Kickertisch oder die St. Pauli-Liveübertragungen. Das Limes hat sich nicht nur als Veedelskneipe im ja doch etwas linkeren Mülheim einen Na-men gemacht. Es sind vor allem die Leute vor Ort und ihre Ein-stellung, die den Laden auf der Mülheimer Freiheit für viele Gäste unverwechselbar machen.

Das Team dahinter, mit „kollektivähnlichen Zügen“, wie dem Besitzer Andreas rausrutscht, sorgt außerdem seit nun-mehr knapp dreieinhalb Jahren dafür, dass Kölns Punk- und Rockszene nicht verkümmert. Wer noch Bands in Wohnzim-meratmosphäre erleben will, ist hier genau richtig. „Wir ge-ben auch kleineren Bands und unbekannten Musikern eine Chance. Bei uns gibt es den Platz dafür – und auch das Pub-likum. Durch die gute Stimmung bei diversen Konzerten ha-ben wir uns im Endeffekt einen richtig guten Ruf erarbeitet.“ Andreas, der zur damaligen Eröffnungsparty auf der Mül-heimer Freiheit 500 Leute begrüßen durfte, blickt ziemlich entspannt, wenn er vom Limes redet. Schon der Andrang zu Beginn ließ darauf schließen, dass hier eine Erfolgsgeschichte lauert. Immerhin kümmern sich heute bis zu 18 Leute darum, dass so ziemlich jeden Abend etwas anderes los ist. Und das

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09KÖLN-SZENE

Das Limes- und Blänke-Team trägt

nun auch dazu bei, den Kulturbunker –

Mülheims kulturelle Seele – mit mehr

Leben zu füllen, zum Beispiel im März

beim Blowfest – dem ersten Festival der

Limes-Crew (www.blowfest-cologne.de).

ohne den „Pay-to-Play“-Gedanken, der im Gespräch mit weiteren Teammitgliedern unisono als „Scheiße“ abgelehnt wird. „Wir sind mittlerweile etwas breiter aufgestellt, brauchen keine Schublade. Das Limes ist eine große Spielwiese für alle Musikrichtun-gen. Hauptsache, es gefällt uns. Heute lassen wir hier auch Hip-Hopper und Rockabillys spielen, selbst Klassik hatten wir schon zu Gast.“ Und das stets zu bezahlbaren Ein-trittspreisen, die eins zu eins an die Musiker gehen. Genau hier unterscheidet sich die St. Pauli-Fankneipe doch von einigen anderen Läden.

Diese Freizügigkeiten im Umgang mit Bands sind aber nur möglich, weil die Kneipe einfach gut läuft. Und das wiederum liegt an den Menschen, die das Limes machen. Ninne, Maik, Dirk und Andy beispielsweise, die regelmäßig auch hinter dem Tresen stehen, lassen zwei Dinge erkennen: „Hip brauchen wir nicht. Und irgendeiner Mode hinterherzujagen ebenso nicht.“ Aber einen ordentlichen Umgang untereinander. Wohl auch daher ist Gewalt fast ein Fremdwort in dem oft so vollen Laden. „Wir haben da klare Regeln, die auch schon bei dem Satz ‚Ich hab ja nichts gegen Ausländer, aber …‘ greifen“, sagt Andreas. „Diese Leute wissen sofort, dass sie hier nichts zu suchen haben, und dann gibt es eben ganz schnell ein Hausverbot.“ Auch mit den Nachbarn hat man sich arrangiert und bewiesen, dass, auch wenn die Musik noch so hart sein sollte, die selbst auferlegten Regeln immer eingehalten werden.

Dass eine Kneipe wie das Limes vor allem in Mülheim funktioniert, ist nicht ver-wunderlich. Hier trifft man, wie mittlerweile auch im Blänke, dem Café im Kulturbun-ker, das seit Sommer 2011 vom selben Team geleitet wird, zwei sich perfekt ergänzende Kneipengänger: Mülheimer, die es schon immer gewesen sind und auch bleiben, und noch echte Pioniere der Gentrifizierung, die zu Mülheimern werden und es immer blei-ben wollen. Überzeugt rechtsrheinisch eben.

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10 PORTRÄT >

TEXT: ŞEHNAZ MÜLDÜRFOTOS: ALESSANDRO DE MATTEIS,

DEBUG VISUALS

>

BOOTES HANDELT SICH NICHT UM EINE AGENTUR. KÜNSTLERKOLLEKTIV WILL ES ABER AUCH NICHT SO GANZ TREFFEN, STELLT MAN SICH DARUNTER DOCH GLEICH EINE WARHOL-INSPIRIERTE, KLEINE ARMEE

MINDESTENS EBENSO DEKADENTER WIE KREATIVER CHARAKTERE VOR. WEITER ENTFERNT KÖNNTEN PIERRE GALIC UND SEBASTIAN KARBOWIAK SO-

WOHL VOM EINEN ALS AUCH VOM ANDEREN BILD NICHT SEIN. DENNOCH SCHEINT SICH IHR BÜNDNIS, DEBUG VISUALS, AUF UNBESTIMMTE ART IRGEND-

WO DAZWISCHEN ZU BEWEGEN.

Der schönste Aphorismus für Unbe-

stimmbarkeit lautet „panta rhei“: Alles

fließt. Hätte Debug Visuals ein Motto,

wäre es wohl dieses. Das Grundthema

der Arbeiten von Sebastian Karbowiak

und Pierre Galic ist zwar das gleiche: der

Umgang mit öffentlichen, zumeist städ-

tischen Räumen. Doch „von der Arbeits-

weise und dem, was wir machen, sind wir

sehr verschieden. Aber es ergänzt sich su-

per“, sagt Karbowiak. „Das, was wir in ei-

nem Raum oder einem Platz sehen, kann

sehr unterschiedlich sein – und darüber

sprechen wir.“ Diese ständige Reibung in

Arbeitsweise und Stil der zwei Künstler

macht einen wichtigen Teil ihrer Arbeits-

prozesse aus. Debug Visuals, sind sie sich

einig, stehe nicht für ein bestimmtes Mo-

tiv, ein Ding oder eine Sache. Neues aus-

probieren, das spielt die größere Rolle. Im

Denken, aber auch auf rein haptischer

Ebene. So geht es bei neuen Projekten oft

erst einmal um die Frage: Womit wollen

wir aktuell arbeiten? Holz? Metall? Wat-

te? Nach der Besichtigung des Ortes, an

dem gearbeitet werden soll, „haben wir

oft bestimmte Materialien vor Augen,

danach kommt der Denkprozess. Und

wenn die Materialien dann noch funk-tionieren, wird es so gemacht“, erklärt Galic. Je nach „Arbeits-Platz“ kann die Wahl auch auf etwas zunächst ganz Ab-wegiges fallen, zum Beispiel Wasser. 2007 stellten Galic und Karbowiak eine Installation mit Eiswürfeln unter der Deutzer Brücke fertig. Ein naheliegen-des Zusammenspiel von Ausstellungsort und Arbeitsmaterial, sind Brücken doch Symbole des Zugangs, der Verbindung, der Fixierung – direkt über dem die Stadt teilenden, sich ständig in Bewegung be-findenden Rhein als Identifikationsmerk-mal mit Köln. Die beiden Künstler bauten für diese Ausstellung drei Kuben. Einer war mit Telefonbuchseiten plakatiert, der zweite war mit den Namen großer inter-nationaler Konzerne und der dritte mit Tags versehen worden. In ihnen befan-den sich Eiswürfel, deren Schmelzwasser schließlich in einem Schlauchboot zu-sammenfloss. Privatmensch, Wirtschaft und Stadt als miteinander zusammen-hängende Teile des öffentlichen Raums: Sie alle sitzen im selben Boot.

Bevor es unter dem Namen Debug Vi-suals Installationen gab, waren die zwei Künstler unabhängig voneinander in der

IM SELBEN

Graffiti-Szene unterwegs. Die Bindung zur Street-Art besteht noch, doch über die Jahre haben andere Formen künst-lerischen Schaffens an Bedeutung für sie gewonnen – nicht zuletzt, um aus dem mit der Graffiti-Kultur einherge-henden Klischeegebilde ausbrechen zu können. Die beiden stellen klar: „Es geht uns nicht um dieses ‚Da ist eine Wand, und da mache ich jetzt was drauf‘, sondern es geht uns vor allem um die Auseinandersetzung mit dem Raum.“ Er ist der Ausgangspunkt. An ihm und für ihn wird die Idee ausgestaltet; erst dann sucht man ein Medium, das die-se am besten transportieren kann. Das muss eben nicht immer das Medium Sprühdose sein. Pierre Galic erklärt: „Manchmal haben wir einfach Lust, Freestyle zu malen, oder dann haben wir eben Lust, so was Durchkonzipier-tes zu machen.“ Street-Art, so Galic, sei ja auch etwas, das man meistens aus einem idealistischen Drang heraus be-ginne, „und wir versuchen schon, das beizubehalten“. Nichtsdestotrotz: „Mit der Zeit sieht man die Stadt anders, man entwickelt ein Auge dafür“, setzt Sebastian Karbowiak an. Was sie nicht wollten, sei „dieses hysterische ‚Ich hab hier eine Schablone und will die jetzt überall draufballern‘“. Sie kritisieren den Habitus der Fließbandproduktion, der sich seit einer Weile in den Umgang mit Street-Art eingeschlichen hat, die Systematik der Kommerzialisierung so-wohl in der Szene selbst als auch von außen. „Das ist ein bisschen die perver-

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11PORTRÄT

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12 PORTRÄT >

© Benjamin Wießner (ctp, with herr schulze)

tierte Form von einem eigentlich schönen

Gedanken“, so Galic, „dass viele Leute

durch die Aussicht auf schnellen Erfolg

nachlässig in ihrer Arbeit werden – ein-

fach nur, weil es einen Markt auch für

mittelmäßige Street-Art gibt.“ Die Mas-

se kommt, die Aussagekraft schwindet.

Karbowiak: „Es gibt zu viel unpersönliche

Kunst, man kann oft nicht mehr auseinan-

derhalten, was von wem ist. Es gibt einen

Basismarkt, der sich von immer denselben

Zutaten befriedigen lässt. Und wir sind

im Moment ein bisschen genervt davon.“

Möglicherweise rücken sie auch deshalb

davon ab, durch ihre Arbeit unbedingt ein

Zeichen nach außen tragen zu wollen. „Es

ist nicht meine Absicht, irgendwas mit

einem Statement herzustellen“, betont

Galic. „Wenn das Produkt zu Fragen an-

regt, ist das Ziel erreicht.“ Mundgerechte

Aussagen sind nicht der Stil von Debug

Visuals. Lieber wolle man, so Galic, „die

Dinge so gestalten, dass der Betrachter

die Möglichkeit hat, sich ein eigenes Bild

zu machen“. Karbowiak ergänzt: „Wenn

die Leute sich das angucken und lächeln

oder ‚das ist scheiße‘ sagen, sind das ja

schon mal zwei Reaktionen, die was wert sind. Aber es geht vor

allem um die Arbeit selbst. Es ist wichtig, dass sie einen selbst

überraschen kann.“Dieses überraschende Moment schaffen sie sich, natürlich

auch durch die Verwurzelung in Graffiti beeinflusst, durch die

Beschäftigung mit Orten der Stadt. Dabei ist auch praktisches

Denken gefragt: Wie findet man den Weg zu dem Raum, wo geht

man hinein, was umgibt ihn? Ein Thema, in das man immer tie-

fer dringen kann: „Wenn man möchte, kann man sich damit noch

mehr beschäftigen. Muss man aber nicht.“ Lange herumfeilen

müsse man zwar schon an den Dingen – so würden drei Viertel

der anfänglichen Ideen bei einem neuen Projekt während des

Arbeitsprozesses verworfen. Schließlich sei es „natürlich auch

ein harter Kampf“, die unterschiedlichen Wünsche und Vorstel-

lungen zweier Köpfe in eine gemeinsame Sache einzubringen.

„Ich schreie ihn an, er schreit mich an – es ist also schon ganz viel

Persönlichkeit da drin. Dann schauen wir: Wo überschneidet es

sich?, und weiter geht’s.“ Es handelt sich eben um einen Prozess,

der nicht von Anfang an durchstrukturiert ist. Die Offenheit da-

für, welchen Weg man letzten Endes für die Ideenumsetzung

wählt, ist ein wichtiger Faktor in der Arbeit der beiden Künstler.

So fällt auch die Antwort auf die Frage, welche Projekte für 2012

anstehen, paradox konkret-inkonkret aus: Es gebe schon ein paar

Möglichkeiten; man werde sehen, „wenn es dann an der Zeit ist“.

Eine Gelassenheit, die sich Sebastian Karbowiak und Pierre Galic

in über zehn Jahren gemeinsamen Arbeitens angeeignet haben

und die sich auch in der Kommunikation zwischen den beiden

zeigt. „Ich finde auch gut“, so Karbowiak, „dass wir nicht so viel

miteinander reden müssen. Wir verstehen uns einfach so.“ Galic

ergänzt: „Es ist einfach dynamischer zu zweit.“ Das scheint die

Konstante in den Kunstwerken von Debug Visuals zu sein: Dyna-

mik. Eine fließende Eigenschaft.

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13XXX

© Robert Winter

WEITERE INFOS

www.debug-visuals.comhttp://debugvisuals.blogspot.com

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皮膚

1 Tawada, Yoko: Das Bad. Tübingen 1989. 2 Breger, Claudia: Mimikry als Grenzverwirrung. Parodistische Posen bei Yoko Tawada. In: Über Grenzen: Limitationen und Transgressionen in Literatur und Ästhetik. Hrsg. von Claudia Benthien/Irmela Marei Krüger-Fürhoff. Stuttgart/Weimar 1999. 3 Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek bei Hamburg 1999. 4 Delank, Claudia: Das imaginäre Japan in der Kunst. „Japanbilder“ vom Jugendstil bis zum Bauhaus. München 1996. 5 Foreman, Kelly: Bad girls confined: Okuni, Geisha, and the negotiation of female Performance Space. In: Bad girls of Japan. Hrsg. von Laura Miller. New York 2005. 6 Kinsella, Sharon: Black Faces, Witches, and Racism against Girls. In: Bad girls of Japan, s.o., und Miller, Laura: Beauty up. Exploring contemporary Japanese body aesthetics Berkeley/Los Angeles/Lon-don 2006. 7 Kersting, Ruth: Fremdes Schreiben. Yoko Tawada. Trier 2006. 8 Siehe Benthien: Haut.

GASTAUTORIN STAWRULA PANAGIOTAKI SCHILDERT IN IHRER WISSENSCHAFTLICHEN

ARBEIT DIE PROBLEMATIK STEREOTYPER FREMDWAHRNEHMUNG.

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15WISSENSCHAFT

TEXT: STAWRULA PANAGIOTAKIILLUSTRATION: LEO PELLEGRINO

In Yoko Tawadas Texten wird besonders oft die Haut in den Mittelpunkt gestellt: Sie wird verletzt, operiert, ist Sprache und Stoff, es wird in ihr gewohnt, und sie wird kulturell markiert, Letzteres besonders deutlich in der Erzählung „Das Bad“1.

Japan-LiteraturSchon zu Beginn der Er- zählung spielen das Äu-ßere, das Schminkmotiv, und die Farbe der Haut eine wichtige Rolle: Der Fotograf Xander erhält von einem Reisebüro den Auftrag, Motive für Werbeplakate zu suchen, und wählt dafür die ja-panische Protagonistin als Modell. Während der Aufnahmen erhält sie unterschiedliche Anwei-sungen von ihm: Sie solle japanischer schauen, ihre Augen auf die Kamera richten, lockerer sein und lächeln. Der Akt des Fotografie-rens scheint für die Protagonistin jedoch qualvoll und gewaltsam zu sein. Auch den Namen des Fotografen, der mit einem X beginnt, kann sie nicht entschlüsseln: „Bis zu dem Tag, an dem ich erfuhr, daß dieser Name eine Abkürzung von Alexander war, quälte mich jene Frage, die man in mathe-matischen Lehrbüchern findet: welchen Wert hat X? – Durchein? Dann hieße es ‚Durcheinander‘. Mittein?“ Xander kann als „Alexander der Eroberer“ gelesen wer-den, der Akt des Fotografierens ist demzu-folge als Jagd/Kolonisation zu sehen:2 „Sie brauchen sich nicht zu erschrecken. Eine Kamera ist doch kein Gewehr.“

Wenige Tage nach den Aufnahmen stellt sich jedoch heraus, dass die Fotos nicht gelungen sind, da die Protagonistin nicht auf den Bildern erscheint. Xander erklärt die Abwesenheit der Erzählerin

damit, dass sie nicht japanisch genug empfände. Er möchte die Fotoaufnahmen wie-derholen, ihre Haut weiß schminken, ihre Lippen rot bemalen und ihr zudem die Haa-re schwarz färben. Die Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit der kulturellen Konstruktion vom „Weiß-Sein“ liegt in der postulierten Invisibilität. Weiße Haut wird ebenso wie der weiße Blick kulturhistorisch als neutral aufgefasst.3 Für Tawadas Pro-tagonistin in „Das Bad“ könnte daraus geschlossen werden, dass sie sich zu sehr dem europäischen Bild angenähert hat. Ihre Haut wirkt neutral und müsste, um dem japa-nischen Bild zu entsprechen, weißer geschminkt werden. Weiße Haut, rote Lippen und schwarze Haare entsprechen hier eindeutig dem westlichen Blick auf Japan. Das Bild der Geisha wird für die Werbung des Reisebüros verwendet, der augenscheinlich im-

mer noch vorherrschenden stereotypen Japanidee, dem Fujiyama-Geisha-Komplex4, möchte entspro-chen werden.

Das Thema Fotografien verweist gleichzeitig auf die ethnografische Tradition des europäischen Japo-nismuskultes, der sich im 19. Jahrhundert nach der Öffnung Japans in der Hochschätzung von Attri-buten der hohen Gesellschaft in Kunst und Kultur manifestierte. Die pragmatische Bedeutung der weiß geschminkten Geisha-Haut, die besonders im japanischen Theater von Bedeutung war, ist gerade deswegen zu erläutern:

„The emblematic white face paint often described to be some sort of ‚badge‘ of the geisha is, in fact, sim-ply a stage convention; all dancers – male or female, whether on the Kabuki stage or in a teahouse – wear this makeup when performing […]. The makeup is designed for audiences seated at a distance from the stage, and we are not used to seeing performers up close.“5

Die Krux mit dem KlischeeIn Japan ist seit Beginn der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts ein interessanter Gegentrend zu bemerken. Bei jungen Mädchen gelten dunkle Haut durch Bräunungs-creme und Sonnenstudio sowie blonde Haare als neues Schönheitsideal. Dieser Trend könnte vielleicht auch als Gegenbewegung oder Abgrenzung zum klassischen Japan-bild der weiß geschminkten Haut und der schwarzen Haare verstanden werden.6

Im weiteren Verlauf des Textes schließt sich eine Diskussion über die Hautfarben an. Während Alexander der Meinung ist, Haut hätte eine Farbe, meint die Erzählerin, dass Hautfarbe nur durch das Spiel des Lichts entstehe und dass es im Menschen selbst keine Farbe gebe. Er antwortet daraufhin, das Licht spiele „auf eurer Haut anders als auf unserer“. Xander vertritt ein festes Identitätskonzept, denn für ihn hat Haut eine Farbe und jeder „eine eigene Stimme“.7 Die Erzählerin hingegen geht nicht von einer Konstante aus. Wie in der Drucktechnik oder der Malerei wird weiße Haut hier als „farb-neutrale Leinwand oder unbeschriebenes Blatt“ verstanden. Im Gegensatz dazu stehe die „beschriebene“ schwarze Haut.8 In Tawadas Text „Das Bad“ wird der Versuch un-ternommen, die vorherrschende Identifikation über die Hautfarbe zu überwinden, da kulturelle Zuschreibung nicht primär über Hautfarbe stattfinden sollte.

EIN SCHUSS UNTER DIE HAUT

DIE KÖRPERDARSTELLUNG IM WERK DER 1960 IN JAPAN GEBORENEN UND SEIT 1983 IN DEUTSCHLAND LEBEN-DEN AUTORIN YOKO TAWADA IST VIELFÄLTIG. IN DER ERZÄHLUNG „DAS BAD“ SIND METAMORPHOSEN VON ZENTRALER BEDEUTUNG. SIE BEGIN-NEN MIT DEM LANGSAMEN WACHSEN VON SCHUPPEN AUF DER HAUT DER NAMENLOSEN JAPANISCHEN ERZÄH-LERIN UND ENDEN MIT IHREM TOD, INDEM SIE IHREN LEIB ÖFFNET UND DIE HAUT, IHRE DURCHLÄSSIGE MEM-BRAN, ZUM VERSCHWINDEN BRINGT.

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16 INTERVIEW >

SCHRIFTGESTALTUNG UND LAYOUT UMGEBEN UNS TÄGLICH IN FAST ALLEN LEBENSRÄUMEN. DIE PROFESSOREN IRIS UTIKAL UND MICHAEL GAIS ERLÄUTERN IM GESPRÄCH MIT NULL22EINS, WAS ES MIT TYPOGRAFIE AUF SICH HAT.

INTERVIEW: AGATA SAKWINSKIFOTOS: ANNA SHAPIRO

Überlegt eingesetzt, ruft Typografie ein stimmiges Gefühl beim Betrachter hervor – im Idealfall schafft sie das so-gar, ohne dass er es mitbekommt. Doch was steht auf

der anderen Seite der Schrift? Welche gestalterischen Prozesse sorgen für die Lesbarkeit eines Textes?

Iris Utikal und Michael Gais sind Professoren des Lehrgebiets Typografie und Layout an der Köln International School of De-sign (KISD). Neben ihrer Lehrtätigkeit leiten sie die Designagen-tur QWER, die sich unter anderem mit der Entwicklung von visueller Kommunikation für kulturelle Institutionen, Verlage und Wirtschaftsunternehmen beschäftigt. Für die EXPO 2000 in Hannover haben sie das Erscheinungsbild entworfen. Die beiden Professoren geben tiefe Einblicke in die Disziplin, den Beruf und die räumliche Dimension rund um den Begriff Typografie:

Was versteht man unter dem Begriff Typografie?Auf den Punkt gebracht könnte man Typografie als Gestaltung mit sichtbarer Sprache beschreiben. Das Medium Schrift ist ein Speicher für unsere Kommunikation – Typografie umfasst die Gestaltung und den Umgang mit diesen wichtigen Zeichen. Ei-nes ihrer Ziele ist es, den Inhalt durch Schriftgestaltung, Layout und Gesamtform auszudrücken.

Wo kommt Typografie eigentlich her?Rückblickend kann man die vielfältigen Schriftzeichenentwick-lungen in den unterschiedlichsten Kulturen als den Ursprung der Typografie bezeichnen. Wissenschaftlich und im Rahmen der europäischen Geschichte betrachtet, hängt der Begriff sehr stark mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um 1450 und mit dessen revolutionärer zeit- und kostensparender Vervielfältigungsmöglichkeit zusammen. Der Erfinder Johannes Gutenberg und seine Nachfolger, die diese innovative Druck-technik weiterentwickelten und vertrieben, werden in diesem Zusammenhang als Prototypografen bezeichnet. Diese erste

Generation von Typografen bestand nicht nur aus Handwer-kern, die lediglich Buchstaben und Schriften geschnitten und gedruckt haben, sondern auch aus Wissenschaftlern, die durch diese innovative Buchdruckkunst ihr Gedankengut vervielfälti-gen und unter möglichst viele Menschen bringen wollten.

Wie entstand daraus ein Beruf? Der Begriff Typograf verfestigte sich fortan. Der Tätigkeitsbe-reich änderte sich. Während der industriellen Revolution ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese Berufsbezeichnung hingegen auf das reine Handwerk reduziert und leider oft als minderwertig betrachtet. Ein Typograf arbeitete somit in erster Linie als Setzer, der die Druckplatten mit den einzelnen Bleilettern bestückte, bevor sie mit Farbe bestrichen und auf das Papier gepresst wurden.

Mit Anbruch des 20. Jahrhunderts kehrte das gesellschaftli-che Interesse an der Typografie wieder. Der Informations- und Unterhaltungshunger der Menschen stieg; Bücher, Magazine, Plakate und Werbetafeln wurden allgegenwärtige Medien der rasanten kulturellen und industriellen Entwicklung in Europa und den USA. Die Anforderungen an Schrift stiegen und somit auch die Diskussionen über den richtigen Einsatz, die passende Form und den Einfluss, den das geschriebene Wort auf Men-schen haben kann. Besonders in Deutschland ging man nach dem Ersten Weltkrieg sehr kritisch mit alten Traditionen der typografischen Gestaltung und Schriften ins Gericht. Gefordert wurden klare, sachliche Formen und eine gute Lesbarkeit in den Printprodukten.

Und heute?Der Typograf von heute kann ein Schriftgestalter sein, der neue Schriftschnitte entwickelt, er kann sich wissenschaftlich mit der Geschichte und Zukunft von Buchstaben in verschiedenen Kulturkreisen beschäftigen, oder er versteht sich als Kommuni-

Vers

alhö

he

TYPOGRAFIE

>

>Quer durch Schrift und Zeit

x-H

öhe

>

>

Mittellänge

SchriftlinieUnterlänge

Kerning

Oberlänge

Laufweite

+15 +5 +10 +10 0 0

Wor

tabs

tand

Punze

Achse

Serife

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17INTERVIEW

>

kationsdesigner, der die Wichtigkeit der Schrift für seine alltägliche Arbeit hoch einschätzt und sich nicht nur mit ober-flächlichen Effekten abgibt.

Was bis Mitte der 80er-Jahre aus-schließlich auf Papier entstehen konnte, ist heutzutage mithilfe von speziellen Programmen am Computer möglich. Dies gilt sowohl für die Entwicklung von neu-en Schriften als auch für die Kombination von Schrift, Bild und grafischen Elemen-ten für ein bestimmtes Medium.

Die Anforderungen an Schrift durch ihre Nutzung in Fernsehen, Internet und anderen elektronischen Geräten wie dem eBook ändern sich mit jedem neuen Entwicklungsschritt. Aus diesem Grund bleibt es für uns wichtig, dass Designer sich mit Schrift beschäftigen und die Entwicklungen aktiv begleiten. Fragen Sie also nie einen Typografen, warum er noch eine neue Schrift gestalten will, wo es doch schon so viele gibt. Es geht um die Qualität und nicht um die Quantität.

Wie kommt ein Typograf zu einer neuen Schrift?

Man muss sich zunächst ausreichend mit den vorhandenen Schriften beschäftigt haben, um sich mit Details und prägenden Merkmalen auszukennen. Oft werden be-stehende Schriften weiterentwickelt, weil der Gestalter eine neue Stilrichtung hin-einbringen will. Möglicherweise soll die Schriftart eleganter, robuster oder einfach zeitgemäßer erscheinen. Hat der Typograf eine Idee für ein neues Detail einzelner oder mehrerer Buchstaben, wird diese zu-nächst skizziert und perfektioniert. Damit sich daraus eine verwertbare und in sich stimmige Schrift entwickeln kann, muss dieser charakteristische Stil auf die ge-samte Schriftfamilie übertragen werden. Die Schriftfamilie besteht natürlich nicht nur aus den vermeintlichen 26 Buchsta-ben des Alphabets; man muss Klein- und Großbuchstaben, Sonderzeichen, Ziffern und Satzzeichen dazuzählen.

All diese Zeichen müssen separat und auch im textlichen Zusammenspiel das Gestaltungskonzept wiedergeben kön-nen, ohne an Charakter oder Qualität zu verlieren. So müssen oft Entscheidungen über das Kerning getroffen werden, was

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18 INTERVIEW >

den horizontalen Abstand zwischen den nebeneinanderstehen-den Buchstaben bezeichnet. Damit in einem Wort keine zu gro-ßen Freiräume oder zu engen Stellen bei der Verwendung von Buchstaben wie A, V, T entstehen, müssen extrem viele Kom-binationen von Buchstabenpaaren durchgeprüft und manuell ausgerichtet werden. Man sollte auch bedenken, dass man mit den hier erwähnten Aspekten nur einen Schriftschnitt angefer-tigt hat. Verschiedene Schnitte wie Fett, Kursiv und weitere Vari-ationen sollten ebenfalls vorhanden sein.

Immer wieder ist man geschockt, dass einige Schriften über 500 Euro kosten. Allerdings sollte bedacht werden, dass Typo-grafen oft mehrere Jahre an einer einzigen Schrift arbeiten. Die dabei entwickelten Zeichen müssen immer ausgedruckt, ver-glichen und hinterfragt werden – bis das Konzept perfekt aus-gearbeitet ist und die Schrift im Sinne einer guten Lesbarkeit in Fließtexten eingesetzt werden kann.

Wie gestaltet man einen lesbaren Text?Die Schrift muss je nach Textart mit Bedacht gewählt und ein-gesetzt werden. Bei einer Schlagzeile oder einer kürzeren Infor-mation kann man oft mit verspielten Formen arbeiten. In län-geren Fließtexten, die in erster Linie einen Inhalt wiedergeben, sollten die typografischen Elemente im Idealfall unmerklich sein und den Leser nicht von den Informationen ablenken. Man muss sich für die richtige Schriftart und eine passende Schriftgröße

entscheiden, die für einen behaglichen Lesefluss geeignet sind. Es gibt zum Beispiel Schriften, die für das menschliche Auge un-angenehm zu flackern scheinen, wenn sie zu eng gesetzt oder zu klein eingestellt werden. Des Weiteren sollten die Zeichen nach einem Schema angelegt sein, das dem Leser vertraut ist. Besteht ein regulärer Text nur aus Kleinbuchstaben, muss diese ungewohnte Schreibweise erlernt werden, bevor die Konzentra-tion letztendlich auf den Inhalt des Textes übergehen kann. Eine gute Schriftart kann man nicht unmittelbar mit guter Lesbarkeit gleichsetzen, denn die Anwendung ist ebenso ausschlaggebend. So stolpert der Leser schnell über zu große Lücken zwischen den Wörtern oder falsche Trennungen am Ende einer Zeile.

Je nach Medium beeinflussen auch unterschiedliche Para-meter unser Leseverhalten. Im Gegensatz zur typografischen Ausrichtung in einem Roman wird der Text in den meisten Zeitungen und Magazinen oft in Spalten aufgeteilt, um mit diesem Gestaltungsraster mehr Möglichkeiten der Text-Bild-Kombination zu bekommen. In der Regel sagt man, dass das Auge besser in die folgende Zeile findet, wenn die Spalten kür-zer sind. Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass dadurch auch mehr Worttrennungen auftreten, die beim Lesen dauer-haft stören und den Textinhalt hinauszögern. Wenn sich solche Entscheidungsfehler des Schriftsetzers in die Texte schleichen, entsteht schnell eine Unlust am Lesen, und das Medium wird vorzeitig zur Seite gelegt. Feste Regeln und Gesetze gibt es für die Gestaltung eines Textes fast nicht, da es zu viele veränderba-

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19INTERVIEW

re Parameter gibt, die sich gegenseitig bedingen. Zumal es auch auf die Art, den Inhalt des Textes und das dazu passende Layout ankommt.

Gibt es Regeln für ein korrektes Verhältnis von Grafik und Typografie?

In der Geschichte der Typografie war man schon vor der Erfin-dung des Buchdrucks immer auf der Suche nach den optimalen Proportionen von Text- und Bildverteilung auf der Fläche. Es gab Vorgaben und Berechnungen, die das Verhältnis von Bild und Text auf den einzelnen Seiten definierten. In den 20er-Jahren wich man von der strengen Spiegelsymmetrie ab und erkann-te weitaus spannendere asymmetrische Gestaltungsmöglich-keiten für Doppelseiten. In den 50er- und 60er-Jahren arbeitete man bevorzugt nach dem strengen Raster des „Swiss Style“, der Schriften und Proportionen im Layout definierte.

Heutzutage arbeitet man zwar ganz selbstverständlich mit Gestaltungsrastern, aber man ist in der Regel sehr darauf be-dacht, nicht in zu vorhersehbare Layouts zu verfallen und auch spannende visuelle Brüche zuzulassen. Ein gutes Beispiel dafür sind Magazine, bei denen es eine gewisse Dramaturgie im Fort-lauf der Seiten geben sollte. Das heißt, dass nach textlastigen Seiten auch weitere folgen sollten, auf denen das Bild in den Vordergrund gestellt wird. Es muss ein möglichst großer Span-nungsbogen geschaffen werden, sodass der Leser das Gefühl

hat, ständig etwas Neues zu entdecken. Bilder und Zeichen, die sich stets im selben Raster durch das Magazin ziehen, würden nach kurzer Zeit Langeweile beim Betrachter auslösen.

Was halten Sie als in Köln lebende Grafikdesigner von der visuellen Kommunikation dieser Stadt?

Prof. Gais: Meiner Meinung nach gibt es in der Gesamtkommu-nikation der Stadt Köln leider immer noch keinen erkennbaren roten Faden. Es ist eher ein Zusammenwurf von vielen verschie-denen Elementen, die nicht aufeinander abgestimmt sind und im Einzelnen betrachtet auch sehr gewöhnlich und provinziell daherkommen. Eine weltoffene Stadt wie Köln, die so reich an Kultur, allerhand Geschehen und Lebensfreude ist, sollte sich über ein innovatives und viel lebendigeres Stadtmarketing pro-filieren. Der Stadt fehlen der Mut und der Blick über den eigenen Tellerrand. Bestes Beispiel ist die vertane Chance der Stadt Köln mit den Werbemitteln für das Chinajahr 2012. Hier fehlt jeglicher internationale Anspruch in Sachen visueller Kommunikation. Städte wie Amsterdam und Barcelona machen da einen ganz an-deren Eindruck auf mich. Sie zeigen sich deutlich ironischer und ideenreicher in ihren Konzepten, in deren Gestaltungsprozess auch die jeweilige kreative Designszene einbezogen wird.

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20 GALERIE >

WEITERE INFOS

www.cc-nkg.com

FOTOS: LEO PELLEGRINO

JUNGE KUNST

SCHLENDERN DURCH ZEITGENÖSSISCHES IN JUNGEN KÖLNER GALERIEN UND EINE GEMEINSAME AUSSTELLUNG IM MÜLHEIMER CARLSWERK – DAS WAREN DIE COLOGNE CONTEMPORARIES 2012. DIESE GALERISTENINITIATIVE HAT DABEI ENDE JANUAR IHR KONZEPT NOCHMALS ERWEITERT. DIES-MAL UM KÜNSTLER AUS BRÜSSEL, DENN HIER GILT: WIR SIND KOLLEGEN, KEINE KONKURRENTEN. DAS SOLLTE MAN IM AUGE BEHALTEN.

GRENZENLOS Cologne Contemporaries

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21XXX RE PRE SEN TED ART ISTS

G A L E R I E C H R I S T I A N L E T H E R T

J i l l BAROFFR a n a BEGUM

N e l l e k e BELTJENSFe r g u s FEEHILY

L u t z FRITSCHJ o e FYFE

I m i KNOEBELG e r e o n KREBBER

D a n i e l LERGONK a i RICHTER

K a t h a r i n a SIEVERDINGM a x SUDHUES

J o r i n d e VOIGT

GALERIE CHRISTIAN LETHERT Antwerpener Str. 4, 50672 Köln t +49 [0]221 356 05 90 www.chriStiAnlethert.com

ARCO, MadridART COLOGNE NADA, New York ART HK, Hong KongVOLTA, Basel NADA, Miami

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22 FOTOSTRECKE >

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23FOTOSTRECKE

ALLEINSEIN BIRGT MITUNTER EINE GEWISSE FASZINATION IN SICH. DAS GEFÜHL DER ISOLATION INMITTEN DES TRUBELS. DER VERSUCH, EINE NISCHE ZU FINDEN, UM GROSS RAUSZUKOMMEN. ALLEIN IM GANZEN ODER DOCH GÄNZLICH ALLEIN. IM GROSSEN ABTAUCHEN, UM GRÖSSE ZU FINDEN. DAS WEITE SUCHEN, UM NÄHE ZU EMPFINDEN. AUF EIGENEN WEGEN, AUCH WENN MAN ALLEIN GEHT. >

ALLEINFOTOS: ANNA SHAPIRO

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24 FOTOSTRECKE >

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25XXX

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26 ZWISCHENRAUM >

ES WIRD GEHOBELT, GESCHLIFFEN, GESCHRAUBT UND GENÄHT. HOLZSPÄNE, DRÄHTE, STOFFE UND ALLERHAND WERKZEUG LIEGEN AUF DEN TISCHEN DER KÖLNER DINGFABRIK.

DIE WERKSTATT BIETET SOWOHL INTERESSIERTEN HOBBYBASTLERN ALS AUCH AUSGEBILDETEN HANDWERKERN DIE MÖGLICHKEIT, RÄUME UND MASCHINEN ZU BENUTZEN UND DER

KREATIVITÄT FREIEN LAUF ZU LASSEN.

BASTELN IN DER GEMEINSCHAFT

OFFENE WERKSTATT

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27ZWISCHENRAUM

TEXT: CHARLOTTE BRAUNFOTOS: ALESSANDRO DE MATTEIS

WEITERE INFOS

DingFabrik Köln e.V.

http://dingfabrik.dewww.facebook.com/dingfabrik

Im Juni 2010 wurde der gemeinnützige Verein DingFabrik Köln e.V. gegründet. Begonnen hatte alles mit einem Informa-tionsabend. Gemeinsam wurde darüber diskutiert, wie man eine offene Werkstatt in Köln umsetzen könnte. Doch wie es sich für Handwerker und Bastler gehört, wur-de nicht lange gequatscht, sondern gleich angepackt. Schon Mitte September 2010 öffnete die DingFabrik ihre Türen. Seit-dem lädt sie interessierte Kölner zu Bas-telnachmittagen und Workshops ein.

Regelmäßig treffen sich nun Bastler und Tüftler in den Räumen der Werkstatt. Das Durchschnittsalter liegt bei Ende 20, obwohl alle Generationen vertreten sind. Der Jüngste ist Schüler und 19, der Älteste ist mittlerweile 62. Doch beide teilen eine Gemeinsamkeit: die Leidenschaft, Ideen zu Gegenständen werden zu lassen. Für die Mitglieder der DingFabrik steht die Gemeinschaft an erster Stelle. Alexander

Speckmann, Vorsitzender des Vereins, erklärt: „Die Leute hier in der DingFabrik sind unglaublich kommunikativ. Sie sind hilfsbereit und unterstützen einander. Und das ist unser Alleinstellungsmerk-mal: Der Gemeinschaftsgedanke ist bei uns ganz stark ausgeprägt.“

Werkzeuge und MaschinenFür einen monatlichen Beitrag von 23 be-ziehungsweise 17 Euro (Schüler und Rent-ner) stellt die DingFabrik den Vereins-mitgliedern Maschinen und Werkzeuge zur Verfügung, mit denen auch an mit-gebrachten Objekten gearbeitet werden kann. Zu den Besonderheiten zählen die drei 3-D-Drucker. Häufig stammen die Maschinen der offenen Werkstatt aus Werkstattauflösungen oder sind Spen-den von Menschen, die die Werkzeuge selbst nicht mehr gebrauchen können. Ab und zu verfügt die DingFabrik auch über Maschinen-Leihgaben, so im letzten Jahr über einen Lasercutter. Wenn nötig, be-kommen die Vereinsmitglieder eine kurze Einweisung.

Vielseitige Mitglieder und ArbeitenDie DingFabrikanten lassen sich nicht in eine Schublade stecken. Nicht nur im Al-ter unterscheiden sie sich, sondern auch in ihren Berufen und sonstigen Interes-sen. In der DingFabrik sitzen Frauenärzte, Sozialpädagogen, Innenarchitekten und pensionierte Sportler nebeneinander. Ge-meinsam wird gehämmert, gebastelt und vor allem viel gelacht. Was sie alle ver-bindet, ist der Drang, etwas zu bauen, zu entwickeln, mit etwas Praktischem um-zugehen. Es spielt dabei keine Rolle, ob sie Anfänger, Profis oder sogar ausgebildete Designer sind.

Meistens handelt es sich bei den Arbei-ten um Einzelprojekte, doch schnell ge-sellen sich Interessierte dazu und fassen mit an. So kommt es auch immer wieder vor, dass Teams entstehen und an einer gemeinsamen Idee arbeiten. Erstmalig ist nun auch ein Gruppenprojekt umgesetzt worden. Im Rahmen der PASSAGEN haben 26 Mitglieder der DingFabrik an der Pro-duktion einer Lampe mitgearbeitet.

Die Arbeiten der Bastler zeigen eine große Bandbreite auf. Angefangen bei Re-paraturen und kleineren Bastelarbeiten bis hin zu Möbeln und der Entwicklung von Prototypen. „Dass wir so breit aufge-stellt sind, ist bei den Mitgliedern beson-

ders beliebt“, sagt Alexander Speckmann stolz. „Es ist selten, dass so viele Dinge gleichzeitig angeboten und miteinander kombiniert werden. Egal, ob du mit Ori-gami basteln, ein Holz- oder Kunstobjekt entwerfen oder eine Lampe bauen willst, die DingFabrik bietet dir diese Möglichkei-ten.“

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28 KUNST >

WEITERE INFOS

Dr. Sketchy's Anti-Art School CologneSpielplatz Lokal Ubierring 58 50968 Köln

www.drsketchy.com/branch/cologne

AUF DER SUCHE NACH EXTRAVAGANTEN UND AUFREGENDEN MOTIVEN WERDEN GRAFIKDESIGNER, KUNSTSTUDENTEN, ZEICHNER, MALER UND WEITERE INTERESSIERTE SOWIE DEREN WEIBLICHE PENDANTS IN DER ANTI-KUNST-SCHULE FÜNDIG.

DR. SKETCHY'S ANTI-ART SCHOOL

MAL WAS BURLESQUES

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29KUNST

TEXT: ROBERT FILGNERFOTOS: ALESSANDRO DE MATTEIS

Der Spielplatz in der Südstadt, direkt am Ubierring, überzeugt schon lange durch seine ganz eigene Art. Hier spürt man den Glamour vergangener Zeiten, fühlt sich in ein anderes Zeital-ter zurückversetzt, in dem es noch keine bunte Unterhaltungs-industrie à la TV und Internet gab. Wohl deshalb zieht es hier auch eine ganz eigene Szene hin, die in Köln gar nicht so klein ist – Burlesque, eine echte Kunstform, die gerade heute heraus-sticht aus der schnellen Erotik, dem Erhaschen von Quoten durch Sex, plumpe Nacktheit hier und da. Dahinter steckt das Lebens-gefühl einer ganzen Epoche, die besonders in den 1920er-Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg, aus den USA kommend, Europa ver-zauberte. Burlesque war eine kunstvolle Parodie – auf das spie-ßige und ernste Leben und auf verklemmte Eliten –, eine sanfte Verführung. Und das ist auch heute noch so. Mit den Burlesque-Gruppen Pepperellas und Petits Fours sowie diversen Einzel-künstlerinnen findet man auch in Köln stets die Möglichkeit, den Charme dieser vergangenen Zeit zu erleben.

„Bei dieser Tanzform und Kunstperformance steht auch heute noch eher die Weiblichkeit im Vordergrund. Hier muss nichts anrüchig sexy sein. Es geht in erster Linie um Stil“, erklärt Sylvia, die die Tore zum Spielplatz für einen Abend ganz im Zeichen des Themas öffnet. Die Burlesque-Tänzerin Jenny Star-shine veranstaltet hier seit Herbst 2011 alle sechs bis acht Wochen Dr. Sketchy's Anti-Art School – When Cabaret meets Life- Drawing. Der Name ist Programm. Im Januar stand dieses Kunst-vergnügen ganz im Zeichen von Steampunk – einem Stil, der gern als Ästhetik der Kolben, Bolzen und Zahnräder umschrie-ben wird und auf Elemente aus den Anfängen des Industrie-zeitalters zurückgreift. Bilder aus Jules Vernes oder H. G. Wells' Romanen treffen am ehesten diese Verbindung von Mensch und Maschine, die man als romantisch-futuristisch bezeichnen kann.

Motive für SchnellzeichnerSo weit zum kunstvollen Rahmen. Dr. Sketchy's Anti-Art School präsentiert aber noch eine weitere Kunstform: das Zeichnen. Und so ist Jenny Starshines Veranstaltung genau genommen eine Zeichenstunde, wie es ein Maler, eine Grafikdesignerin, Kunststudenten und Volkshochschüler sonst nur in Klassen-räumen erleben können. Mit dem Prinzip, Zeichnern eine auf-reizende Kunst im öffentlichen Raum – in diesem Fall eine Bar – zu bieten, begann 2005 in New York die Geschichte der Anti-Kunst-Schule. Mit Jenny Starshines Show hat sie nun auch einen festen Platz in Köln gefunden. Die Plätze im Veranstaltungssaal sind alle belegt, die Posen beginnen, und über 50 Zeichentalen-te üben in mehreren unterschiedlichen Intervallen ihre Leiden-schaft aus. Während Gia LaFae, anmoderiert von Kitty Gowild, sich alle fünf bis zehn Minuten in eine neue Ansicht verwandelt und damit wahrhafte Kunstmotive erschafft, tickt die Uhr für die Besucher gnadenlos runter. „Auch für die Zeichner ist dieser Abend etwas Besonderes. Man kommt her zum Malen, aber auch zum Austauschen, mit völlig Fremden aus dem ganzen Rhein-land – und natürlich auch für das ein oder andere Bier“, merkt Jenny Starshine für ihre zweite gut besuchte Veranstaltung an. Die Stimmung unter dem bunt gemischten Publikum ist gut. Und das, obwohl der intime Moment des Zeichnens dieses Mal doch etwas gestört wird. Neben uns sind bei dem neuen For-

mat noch weitere Medien vor Ort. Das Interesse an Kölns erster Anti-Kunst-Schule ist hoch. Das bedrängt nicht nur den gemüt- lichen Saal als solchen, sondern auch die Kreativität der Zeich- ner. Zum Glück nehmen es die meisten Gäste – und auch Jenny selbst – mit Humor. Einige der Zeichentalente nehmen die Begleit-umstände direkt in ihre Werke mit auf. So entstehen um die Haupt-attraktion Gia LaFae weitere Motive mit Kameras und Mikrofon. Wären die Medien zur Prämierung der besten Zeichnung am Ende der Zeichenstunde(n) schon abgezogen, hätte sich so man-cher Künstler eventuell getraut, auch diese Werke einzureichen. Passend zum Thema des Abends war der erste Preis übrigens ein Absinth-Starterset und ein Petticoat.

Aber ein Wermutstropfen bleibt: 12 Euro Eintritt und 10 Euro ermäßigt sind ein stolzer Preis, um die eigene Malfertigkeit auszutesten. Allerdings kann man diesen nicht einmal Jen-ny Starshine zuschreiben. Dr. Sketchy's Anti-Art School ist ein streng lizenzierter Titel, den sich auch Jenny erst einmal verdie-nen musste und der monatlich Gebühren abverlangt. Ihre Show und ihr Team bereichern dennoch Kölns Kneipenlandschaft um einen weiteren sehr interessanten Abend. Dr. Sketchy's Anti-Art School ist ein Erlebnis, das wohl jedes Künstlerherz höherschla-gen lässt.

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30 DESIGN >

NACHHALTIGKEIT UND SCHÖNES DESIGN MÜSSEN SICH NICHT AUSSCHLIESSEN. DAS BEWEIST IRIS WITTKOWSKI, DIE AUS AUSRAN-GIERTEM PLUNDER VIELE NEUE LIEBLINGSSTÜCKE KREIERT UND IN

IHREM MÜLHEIMER WOHNFÜHLZIMMER VERKAUFT.

TEXT: KARIN GEISSLER, ROBERT FILGNERFOTOS: LEO PELLEGRINO

VERSCHÖNERUNGSIDEEN DURCH UPCYCLING

Auf der Buchheimer Straße in Mül-heim zieht ein Schaufenster besonders viele neugierige Blicke auf sich: Das „WohnfühlDesign“-Zimmer beeindruckt mit bunten Kreationen von Gebrauchs-gegenständen – angefangen bei Koffern über Decken und Stühle bis hin zu einem Bettfederkern als Wanddekoration. Die In-haberin Iris Wittkowski haucht gebrauch-ten Dingen neues Leben ein. „Upcycling“ wird das Ganze im kreativen Milieu ge-nannt und heißt auf den Punkt gebracht: Bevor etwas Altes, Verbrauchtes, Verges-senes auf dem Müll landet, schafft man etwas Neues, Ansprechendes und häufig einfach Umfunktioniertes daraus. So ent-

Wohnfühlen

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31DESIGN

WEITERE INFOS

WohnfühlDesignBuchheimer Straße 1a51063 Köln

Telefon: 0151. 53 93 49 55 E-Mail: [email protected]://wohnfuehldesign.com

stehen echte Hingucker, die, dem Prinzip der Nachhaltigkeit fol-gend, wieder ein neues Zuhause suchen und frisch recycelt eine neue Verwendung finden.

Viele Ideen, viele KreationenSeit April 2011 bestückt Iris Wittkowski nun schon ihren Ausstel-lungsraum, den man nicht wirklich als Laden bezeichnen kann, da er zu selten geöffnet ist. „Ich bin viel unterwegs, und mir be-gegnen ständig Dinge, die ich dann in meine Werkstatt nehme und dort wiederbelebe“, so die 49-Jährige. Daher trifft man sie auch nur jeden zweiten Samstag im Monat dort an oder wäh-rend einer ihrer regelmäßigen Ausstellungswochen. Ansonsten ist sie jederzeit telefonisch zu erreichen. Wer sie in ihrem Wohn-fühlzimmer aber kennenlernt, versteht schnell, warum das so ist. Die Wirtschafterin, die zuvor eine Kochschule an gleicher Stelle betrieben hatte, sprudelt vor Ideen. „Anfangs hatte ich meine Möbelkreationen und Accessoires mit dem Kochstudio kombiniert und zum Verkauf angeboten. Das war aber zu viel. Ich bin einfach meiner Leidenschaft gefolgt und habe mir mei-nen eigenen Job kreiert.“

Und so entsteht ständig etwas Neues aus Teilen ihres „Trüm-merbergs“. Sie folgt einfach ihrer ersten Idee, setzt diese sofort

um und ist dann meistens selbst begeistert, was dabei heraus-kommt. „Das mach ich nur für mich, bestimmt aus meinem Bauchgefühl heraus und am liebsten in meinem Zuhause.“ Und dennoch spricht sie jeden mit ihren Stücken an. Den Verkauf je-mand anderem zu überlassen und somit den Laden mitten in Mülheim täglich mit Leben zu füllen, ist für sie undenkbar. Jeder Gegenstand hat seine eigene kleine Geschichte, die nur sie selbst erzählen kann.

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32 MUSIK >

THE WHITEST BOY ALIVE11.05. /// GLORIABereits 2003 gründete Erlend Øye, eigent-lich Frontmann der Kings of Convenience, mit The Whitest Boy Alive ein neues elek-tronisches Bandprojekt, das inzwischen auf zwei Alben und zahlreiche Livegigs zu-rückblicken kann. Ihre Interpretation von danceorientiertem Elektropop kommt an und sorgt stets für ausgelassene Stim-mung in den weltweiten Konzertsälen. Ein neues Album ist zwar erst für 2013 geplant, doch ist man so nett, die lange Wartezeit mit einer Tour zu überbrücken, in deren Rahmen Erlend und seine Jungs auch zu uns kommen. Das Ganze findet unter dem Titel „Patience“ statt und lässt damit schon die eine oder andere Vermu-tung hinsichtlich ihrer Ausrichtung zu.www.whitestboyalive.com

KONZERT- PREVIEWS

MOTORPSYCHO 17.04. /// BÜRGERHAUS STOLLWERCKPsychedelischen, sphärischen Rocksound mit zahlreichen Ein-flüssen anderer, nicht einmal artverwandter Genres gibt es an diesem Dienstagabend im Bürgerhaus Stollwerck zu hören – nein, zu erleben. Denn ein akustisches Erlebnis ist ein Konzert der norwegischen Band Motorpsycho immer. 2010 erschien mit „Heavy Metal Fruit“ ihr vorerst letztes Album, und im selben Jahr schon führte sie der Weg nach Köln. Hier bliesen Bent Sæther, Hans Magnus Ryan und Kenneth Kapstad der geneigten Hö-rerschaft wieder ordentlich die Ohren durch, sodass wir davon ausgehen können, dass sie auch zwei Jahre später keineswegs leiser geworden sind. Immerhin gelten Motorpsycho als eine der besten Livebands der Welt. http://motorpsycho.fix.no

TEXTE: NICOLE ANKELMANNFOTOS: PROMO

WHOMADEWHO21.03. /// CBE

Mit dem aktuellen WhoMadeWho-Album „Brighter“ erscheint eine Art zweiter Teil des 2011 releasten „Knee Deep“. Neue La-belheimat der Dänen ist – seit vergangenem Jahr – das Kölner Elektronik-Imprint Kompakt, und so lassen sich Jeppe Kjellberg, Tomas Hoffding und Tomas Barfod im Rahmen ihrer Albumtour natürlich auch in der Domstadt blicken. Schon ihr Auftritt im Gloria zu „Brighter“ konnte so begeistern, dass der Andrang im Club Bahnhof Ehrenfeld massiv sein dürfte. Hier sei der Ticket-

vorverkauf dringend empfohlen. www.whomadewho.dk

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33KÖLNER PLÄTZE

„Ich habe dort meinen Freund kennengelernt. Die Livemusik ist toll, vor allem wenn meine Freundin singt. Alle Gäste sind sehr sympathisch!“

Lynda, Moderatorin aus Köln

Ihr Lieblingsort ist das Bruegel in der Innenstadt.

Bruegel deluxeHohenzollernring 1750672 Köln

So–Do 11–3 UhrFr, Sa 11–4 UhrMediterrane Küche von 11–22 UhrTäglich Livemusik ab 22.30 Uhrwww.bruegeldeluxe.de

Haltestelle: Rudolfplatz

Mehr Kölner Lieblingsorte auf w w w.wearecity.de

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34 SPORT >

„CAPOEIRA IST VERGNÜGEN, CAPOEIRA IST EIN FEST, CAPOEIRA IST FREUDE ... ABER IM

RICHTIGEN MOMENT IST SIE VERTEIDIGUNG.“ (MESTRE JOÃO PEQUENO)

TEXT: CATARINA PAULI-CALDASFOTOS: ANNA SHAPIRO

CAPOEIRA

Aus der Ferne hören wir Musik. Immer wieder den gleichen Rhythmus. Ungewohnt, eigenartig, doch trotzdem irgend-wie vertraut. Sie strahlt Lebensfreude aus, ebenso wie die eng aneinanderstehenden bunten Häuser, durch die sich die schma-len Kopfsteinpflastergassen schlängeln. Je weiter wir gehen, desto näher kommen wir der Quelle: einem Platz im Herzen vom Pelourinho, der Altstadt von Salvador da Bahia, Brasilien – der Geburtsstadt der Capoeira.

Capoeira ist vieles. So vielseitig wie das Land, aus dem sie kommt. Ein anmutiger Tanz, eine gefährliche Kampfkunst, ein Sport, bei dem die Musik unverzichtbar ist – die Verkörperung brasilianischen Lebensgefühls.

Es ist diese Musik, die uns hierhin gelockt hatUnd dort sehe ich sie, die Capoeiristas. In der Mitte des Platzes stehen sie barfuß in einer Roda, einem Kreis, und klatschen zum alles durchdringenden Rhythmus. Der Mestre, der Anführer der Roda, spielt ein Berimbau, welches man als Seele der Capoeira bezeichnen könnte. Es ist ein einfach konstruierter Musikbogen mit einer Metallsaite und einem ausgehöhlten Kürbis als Klang-körper am unteren Ende. Angeschlagen wird die Saite mit einer Barreta, dem dünnen Holzstäbchen. Der Klang ist fremd, exo-tisch; er strahlt eine tiefe, geheimnisvolle Sehnsucht aus.

Die anderen Instrumente kommen mir vertrauter vor. Ich sehe ein Schellentamburin, Pandeiro genannt, welches die Be-rimbaurhythmen unterstützt und die Klangfarben bereichert, sowie eine große Trommel. Tief ist ihr Ton und sorgt für eine ge-wisse Aufregung.

Wieder und wieder ruft der Mestre am Berimbau Strophen in die Runde, die mit einem immergleichen Refrain erwidert werden. In diesen Strophen werden die brasilianische Kultur ge-spiegelt und die Geschichte erzählt; alte Meister werden in ihnen verewigt oder Momentaufnahmen nachgezeichnet.

Die Mittagssonne knallt erbarmungslos auf den menschenvollen Platz, auf die Roda. Alle Umstehenden singen und klatschen mit. Es wird eine allumfassende, stimulierende Energie erzeugt. Hört man der Musik lange genug zu, fühlt man sich wie in Trance. Das Zeitgefühl schwindet aus dem klangumnebelten Bewusstsein.

In der Mitte der Roda sind zwei Spieler. Und nie sind es mehr. Beflügelt von der Musik bewegen sie sich. Sie kämpfen, treten nach einander – ohne sich dabei zu berühren. Es ist ein frei im-

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35SPORT

WEITERE INFOS

Capoeira VIP (Mestrando Moreno)www.capoeiravip.de

provisierter Bewegungsdialog, immer basierend auf dem tänzerischen Grund-schritt Ginga, einem auf dem Kopf ste-henden Dreieck. Keine Sekunde lang las-sen sie sich aus den Augen. Beine wirbeln durch die Luft. Sie treten mit geballter Körperkontrolle. Haarscharf fliegen diese Tritte aneinander vorbei, das Gegenüber wird nie getroffen.

Absolute Konzentration und Aufmerk-samkeit sind gefordert, die Angriffs- und Abwehrbewegungen müssen genau auf-einander abgestimmt werden. Es geht nicht darum, der Stärkere zu sein, son-dern um die Malícia – die List, die Ver-schlagenheit des Spiels. Man muss seinen Gegner austricksen. Hier antäuschen und da zuschlagen.

Das Kämpferische der Capoeira Ursprünglich hatten afrikanische Sklaven im Brasilien des 16. Jahrhunderts Capo-eira als eine Art Befreiungskampf ent-wickelt. Um ihn vor Außenstehenden zu tarnen, wurde er mit musikalischen und tänzerischen Elementen versehen.

Aber Capoeira ist nicht nur schnell und gefährlich – wie die Capoeira Regi-onal. Die Capoeira Angola ist die zweite

Hauptrichtung, die langsamer und tradi-tioneller ist und zu der nicht geklatscht wird. Hier geht es mehr um die Präzision, die Körperbeherrschung, die Anmut. Kat-zenhaft und nah am Boden schleichen die Spieler umeinander herum. Umgarnen sich mit Bewegungen.

Mittlerweile gibt es weltweit Capoei-raschulen – und immer noch werden Mestres ausgesandt, um eines der wert-vollsten Kulturgüter Brasiliens über des-sen Grenzen hinauszutragen. Vor etwa 20 Jahren kam Capoeira nach Köln. Da-mals hatte noch niemand etwas davon gehört, doch die für Köln typische Inter-kulturalität, die Neugier für Fremdes, half bei der Integration. Trotzdem ist sie erst in den letzten zehn Jahren wirklich popu-lär geworden. Mittlerweile gibt es in Köln über 15 verschiedene Schulen, in denen zukünftige Capoeiristas jeden Alters un-terrichtet werden. Es sind Leute, die etwas anderes suchen, die den Weg zu Capoeira

finden. Und jeder wird mit offenen Ar-men empfangen. Denn Capoeira lebt und liebt die Vielfalt. Wo sonst findet man das Gesamtpaket aus akrobatischem Tanz, kämpferischem Spaß, Musik und Team-geist sowie einer gehörigen Portion Son-nenschein?

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36 KÖLNER PLÄTZE >

TEXT: ADAM POLCZYKFOTO: WALTER DRIESSEN

WEITERE INFOS

www.johannes-kleine-jaeger.de

Ganz allmählich bekommt man das Ge-fühl, dass der Frühling in Köln anbricht. Nach tagelangem Nieselregen und Kälte kommt heute endlich die Sonne hervor und mit ihr der 73-jährige Kol-pingbruder Johannes, der seinen Stand fast täglich vor der Nikolauskirche in Sülz aufbaut. Je nach Wetterlage findet man ihn hier montags bis freitags von 15 bis 18 Uhr, am Samstag von 10 bis 14 Uhr. Mit seinem Ford Transit, der noch vor ein paar Tagen in der Werkstatt war, bietet er auf diesem Kirchplatz alle mög-lichen Sachen feil. Egal, ob Lebensmit-tel, Handarbeiten und Gebasteltes aus Tageseinrichtungen in Brasilien und Bur-kina Faso oder Souvenirs aus Afrika, Asien und Lateinamerika, hier ist wirklich alles zu finden.

KOLPINGBRUDER JOHANNES ENGAGIERT SICH SEIT ÜBER 20 JAHREN MIT EINEM

„FAIR-STAND“ FÜR DEN FAIREN HANDEL IN SÜLZ VOR DER NIKOLAUSKIRCHE.

WEN MACHT DIE BANANE KRUMM ?

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37KÖLNER PLÄTZE

WEN MACHT DIE BANANE KRUMM ?

Ein kleiner Fair-Trade-Handel öffnet fast täglich seine Pforten

Während ich dem graubärtigen Johannes aufmerksam zuhöre, wie er mir eine Ge-schichte nach der anderen erzählt, kom-men immer wieder zahlreiche Erwachsene und Kinder vorbei und stöbern in der bun-ten Auslage. Redegewandt und manch-mal auch mit spitzer Zunge geht Kolping-bruder Johannes auf die Menschen zu und bricht so mit jedermann blitzschnell das Eis. Eine Frau bringt ihm beispiels-weise Bücher und einen Anhänger aus Palästina mit, die er an seinem Stand wei-terverkaufen darf. Gleichzeitig kauft sie hier eine ihrer Lieblingswaren ein, die sie sonst nirgendwo bekommt, wie sie sagt. Es sind gepuffte und ungesüßte Quinoas, auch Inkareis genannt, der aus Südameri-ka stammt und, wie ich erfahre, gluten-frei ist. Neben rotem Vollkorn-Jasminreis und schwarzem Reis aus Laos weist mich die junge Frau auf die hier günstig zu be-kommenden Vanilleschoten und Räucher-stäbchen hin. Mein persönliches Interesse wecken jedoch mehr der sieben Jahre alte kubanische Rum und die verschiedenen Kaffeesorten aus Lateinamerika und Af-rika. Alle Produkte, egal ob Gewürze, Tee, Honig oder Schokolade, weisen entweder das GEPA-, EL PUENTE- oder andere Siegel für Fair-Trade-Produkte auf.

„Wir müssen hier ein Zeichen setzen!“Unter diesem und dem Motto „verantwortlich leben, solidarisch handeln“ ist der gebürtige Münsterländer seit 1978 in Köln und in der Kolpingsfamilie Sülz/Klettenberg aktiv. Eines ihrer Pro-jekte heißt „Wen macht die Banane krumm?“ und weist auf das rücksichtslose Agieren der Bananenkonzerne hin, die nicht nur die Menschen auf den Plantagen ausbeuten, sondern auch den Regenwald rigoros abholzen. Zum größten Bananenproduzen-ten Lateinamerikas, Brasilien, hat Kolpingbruder Johannes ein ganz besonderes Verhältnis, zu erkennen daran, dass er mehrere Brasilienflaggen am Stand platziert hat und darüber hinaus eine Brasilienkappe auf dem Kopf trägt. So unterstützt er seit langer Zeit persönlich Schwester Werburga Schaffrath, eine deutsche Ordensschwester der Missions-Benediktinerinnen von Tutzin-gen, die seit über 50 Jahren in Brasilien tätig ist und das Hilfs-projekt Centro Social São José do Monte in Caruaru vor 40 Jahren initiierte und noch heute, mit über 80 Jahren, leitet.

Viel mehr an persönlichen Informationen über sich gibt Kol-pingbruder Johannes, oder mit richtigem Namen Johannes Kleine-Jäger, nicht preis. Es geht, wie er selbst sagt, nicht um ihn, sondern einzig und allein um die Hilfe für die Mitmenschen. So erweist sich sein tägliches Verkaufen auch weniger als Gewinn-geschäft, sondern eher als Kostenbegrenzung, wie man sich an-hand der günstigen Preise leider denken kann. Dennoch sieht man in seinen Augen bei allem, was er macht und sagt, die große Freude und Begeisterung. Auch wenn er selbst nicht im Mittel-punkt stehen mag, bereichert er doch den Stadtteil Sülz durch seine Person und seinen Stand – ein Bild, das jeder sofort mit fairem Handel in Verbindung bringt.

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38 MAHLZEIT >

TEXT: AGATA SAKWINSKIFOTOS: PAUL ZILLIKEN (PROMO)

Schläuche, Spritzen und Kanülen stehen neben Einmachglä-sern mit Aufschriften wie „Agar-Agar“, „Sojalecithin“ und „Xan-than“ auf einem frisch polierten Tisch, der nicht in einem Labor steht, sondern sich als Theke der Kölner Cocktailbar ONA MOR entpuppt. Hier findet heute jedoch keine Nachhilfestunde in Chemie statt. All diese Utensilien stehen für die zehn Kursteil-nehmer bereit, die sich einer besonders komplizierten Kunst der feinen Gastronomie widmen wollen.

Betrachtet man die Zusammenstellung auf der Theke nun etwas genauer, kommen weitere Requisiten zum Vorschein, die nicht ganz in das Laborszenario hineinpassen: Eine Auswahl an Zutaten für Mischgetränke wie beispielsweise Blue-Curaçao-Fla-schen, Gläser, Cocktailshaker und Pürierstäbe wurde ebenfalls bereitgestellt und wartet heute auf den Einsatz in physikoche-mischen Verfahrenstechniken. Der Inhaber Alessandro Romano, der neben dem alltäglichen Gastronomiebetrieb des ONA MOR auch verschiedene Cocktailkurse anbietet, begrüßt seine Lehr-linge: „Herzlich willkommen beim Molekularkurs!“

In den folgenden Stunden gewinnen die Kursteilnehmer einen Einblick, wie man mithilfe biochemischer Stoffe verschie-denartige Geschmacksrichtungen hinter einer völlig untypi-schen Fassade verstecken kann.

Molekularküche: eine EntstehungsgeschichteDas Konzept, Lebensmittel in ihren molekularen Strukturen zu verändern, wurde erstmals 1969 vom Oxforder Physikprofessor Nicholas Kurti in seinem Vortrag „The Physicist in the Kitchen“ präsentiert. Der ungarisch-britische Hobbykoch übertrug sei-ne zahlreichen physikalischen Kenntnisse auf die Entwicklung neuer Rezepturen. Vorangetrieben durch die intensive Zusam-menarbeit mit dem französischen Physikochemiker Hervé This, etablierte sich diese neue Disziplin Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre. Heute ist der katalanische Starkoch Ferran Adrià einer der bekanntesten Pioniere der Molekularküche. Der Inha-ber des an der Costa Brava gelegenen Drei-Sterne-Restaurants

TRADITIONELLE ZUBEREITUNGSMETHODEN TREFFEN AUF PHYSIKOCHEMISCHE STRATEGIEN:

DIE MOLEKULARKÜCHE BIETET KREATIVE DIMENSIONEN FÜR JEDEN KULINARISCHEN

ERFINDER.

Espressonudeln

MIT MelonenkaviarNATURWISSENSCHAFTLER

EXPERIMENTIEREN IN DER KÜCHE

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WEITERE INFOS

ONA MORRoonstraße 9450674 Köln

www.onamor.de

El Bulli betont stets die ausgesprochen hohe Vielseitigkeit die-ser experimentellen Zubereitungsmethode. Diese ermöglicht es, ständig neue Gerichte und extravagante Esserfahrungen hervorzubringen.

Unerwartete GeschmackserlebnisseDie Molekularküche lässt sich sowohl auf Speisen als auch auf Getränke anwenden. Mithilfe von biochemischen Stoffen und Laborwerkzeugen werden neue Erlebniswelten geschaffen, die durch das Zusammenspiel von Optik, Geschmack und Textur je-den Gourmet überraschen.

So werden Liköre in Form von traubengroßen Kaviarperlen serviert, Espresso kann als Nudelgericht genossen werden, und die Tomatensuppe präsentiert sich als weißer Schaum getarnt auf dem Vorspeisenteller. Nichts ist mehr, wie es mal war.

Was wir als flüssig kennen, können wir plötzlich zerkauen. Al-les, was wir bisher kauen mussten, entdecken wir neu als Gelee oder leichten Schaum. Wir können uns von Effekten wie gestreif-ten Drinks oder Dampf, der nach dem Zerbeißen eines Häpp-chens freigesetzt wird, beeindrucken lassen. Den kreativen Mög-lichkeiten erfahrener Molekularköche mit richtigem Verständnis für die komplizierten Prozesse sind keine Grenzen gesetzt.

Besonders wichtig ist das grundlegende Know-how über die verschiedenen Zusätze und die technischen Verfahren, die zum gewünschten Ergebnis führen. Wer Espressonudeln herstellen möchte, muss beispielsweise wissen, dass das biochemische Ge-liermittel Agar-Agar nach exakter Dosierung bestimmte flüssi-ge Elemente in eine gummiartige Konsistenz verwandelt. Bevor diese Vermengung einen festen Zustand annimmt, wird sie auf einer ebenen Fläche dünn aufgegossen und nach dem Erstarren in Streifen geschnitten. Ebenfalls können auch Schläuche oder andere Objekte für die Formgebung verwendet werden.

Eine besonders zeitintensive Herausforderung liegt in der Herstellung der bekannten Kaviarperlen, die oft aus Aperol an-gefertigt werden. Dieser fruchtig-bittere Likör wird mit dem aus Algen gewonnenen Geliermittel Sodiumalginat vermischt

und muss anschließend einige Stunden ruhen, damit alle Luft-bläschen aus der Mischung entweichen können. Danach wird die Mixtur durch eine Spritze in ein Bad aus Calciumchlorid ge-träufelt. Durch die Verbindung der beiden Zusatzstoffe bildet sich eine geleeartige Haut um die hinzugefügte Flüssigkeit – eine Perle mit flüssigem Kern entsteht. In diese kann man nach Wunsch weitere Aromen oder Drinks mit einer Kanüle injizieren.

Appetit nach PlanIn der Gastronomieszene Kölns ist es nicht leicht, einen Ort zu finden, der Gäste spontan mit molekularen Köstlichkeiten ver-sorgen kann. Die Cocktailbar ONA MOR ist deutschlandweit ei-ner der wenigen Standorte, die Molekularkurse anbieten. Sogar aus Hamburg oder Nürnberg reisen interessierte Teilnehmer nach Köln, um den Geheimnissen rund um die molekulare Ver-köstigung auf die Spur zu kommen. Alessandro Romano kennt die Gründe: „Die Vorbereitungen für ein molekulares Menü erfordern einen enormen Zeit- und Arbeitsaufwand, da die Er-zeugnisse am selben Tag frisch zubereitet werden müssen. Die Einschätzung der Laufkundschaft am einzelnen Tag ist relativ schwer, daher lohnt es sich für die meisten Restaurants und Bars nicht, diese kostspielige Art der Gastronomie anzubieten. Beim Catering hingegen kann die Anzahl der Gäste besser eingeplant werden. Hier wird die Molekularküche schon häufiger angebo-ten.“ So meldet man sich entweder geduldig als Gast für ein Mo-lekularmenü an – oder man folgt dem Drang, die Pipette selbst in die Hand zu nehmen.

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WEITERE INFOS

Römisch-Germanisches Museum KölnRoncalliplatz 4 50667 Köln

Di–Do 10–17 Uhr, jeden 1. Do im Monat 10–22 Uhr

www.museenkoeln.de/roemisch- germanisches-museum

VIDEOINTERVIEWDas Videointerview zum Thema Sanierungspläne für das Römisch-Germanische Museum mit dem kommissarischen Museumsdirektor Dr. Marcus Trier:

http://null22eins-magazin.de/interaktiv.html

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IN PROMINENTER NACHBARSCHAFT ZUM DOM STEHT DAS RÖMISCH-GERMANISCHE MUSEUM (RGM). NICHT GANZ SO ALT UND LÄNGST NICHT SO SCHÖN WIE DAS

GOTTESHAUS, IST ES EINES DER BEKANNTESTEN MUSEEN KÖLNS. EIN SANIERUNGS-PLAN SOLL ES IN RICHTUNG ZUKUNFT FÜHREN.

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DAS RÖMISCH-GERMANISCHE MUSEUM

EINE GRANDE DAME IN NEUEM

GLANZ

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Ob in früher Jugend mit der Schulklasse oder einfach im Vor-beigehen – es gibt kaum jemanden, der sich nicht irgendwann einmal die Zeugnisse der hiesigen Vergangenheit im RGM ange-sehen hätte.

Gestern & heute Die großen Glasfronten mit Blick auf antike Monumente und die im Freien stehenden Säulenfragmente und Sarkophage gewäh-ren inmitten des alltäglichen Gewühls auf der Domplatte beson-dere Einblicke in der Geschichte Kölns. Die stummen Zeugnisse existieren seit über 2.000 Jahren und laden zu einem Rundgang durch die Vergangenheit der Stadt ein: von den ersten Bewoh-nern in der Urgeschichte über die römische Colonia Claudia Ara Agrippinensium („Claudische Kolonie und Opferstätte der Ag-rippinensier“) bis hinein ins Mittelalter.

Mit ebenjenem Anspruch, ein bürgernahes Museum inmit-ten der Stadt zu sein, wurde das heutige Gebäude des RGM im Jahr 1974 eröffnet. Es steht an dem Ort, an dem sich im Mittelal-ter die Kaiserpfalz befand, und auf den Mauern jener römischen Stadtvilla, deren weltberühmtes Dionysos-Mosaik 1941 beim Bau

eines Luftschutzbunkers freigelegt wurde und nun zentraler Bestandteil des Museums ist. Ob es ebenfalls eines seiner High-lights ist, dass (ehemalige) Staatsoberhäupter wie Bill Clinton, Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder schon einmal auf diesem Mosaik zu Abend gegessen haben, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Die seit dem 19. Jahrhundert entstandene römische und ger-manische Abteilung des Wallraf-Richartz-Museums sowie das Inventar des 1907 eingerichteten Prähistorischen Museums, das bis zum Zweiten Weltkrieg im Bayenturm am Rheinufer untergebracht war, bilden den traditionsreichen Grundstock der Sammlung des RGM, die heute über drei Millionen archäo-logische Fundobjekte umfasst. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht zweifelsfrei die römische Alltagswelt Kölns. Besonders die Sammlungen römischer Gläser, antiker Tonlampen oder römi-scher und frühmittelalterlicher Schmuckgegenstände lassen einen Eindruck über die Kölner Lebenswelten der vergangenen 2.000 Jahre gewinnen.

Den bisher deutlich kleineren Teil der Ausstellung machen Objekte aus, die von den ersten hier sesshaft gewordenen Men-schen aus der steinzeitlichen Siedlung in Köln-Lindenthal stam-

TEXT & FOTOS: JENS ALVERMANN, OLIVER VOGELS

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men. Dies mag wohl auch darauf zurückzuführen sein, dass die Aufarbeitung der urgeschichtlichen Sammlung noch nicht ab-geschlossen ist. Die Ausstellung, wie auch das Museum selbst, galt bei der Eröffnung 1974 als eine der modernsten ihrer Art in Deutschland, und auch die Sonderausstellungen des Museums finden seither regen Anklang. Doch der Museumsbau aus den Siebzigern ist in die Jahre gekommen, und auch die Ausstellung wirkt im Vergleich zu modernen Präsentationen, wie etwa der im neuen Rautenstrauch-Joest-Museum (null22eins #00), eher wie ein Zeugnis ihrer eigenen Entstehungszeit.

Und in ZukunftBemerkenswerterweise hat sich bis heute am Besucherstrom nicht viel geändert, das RGM gehört nach wie vor zu den auch über die Stadtgrenzen hinaus bekanntesten und meistbesuchten Museen. Damit das auch in Zukunft so bleibt, wurde ein Sanie-rungsplan für das RGM entwickelt. Zwar ist es nicht das einzige Kölner Museum, das über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Der Zustand des rund 40 Jahre alten Gebäudes und seiner techni-schen Anlagen ist aber teilweise so marode, dass einige Mängel

gefährliche Ausmaße erreicht haben. Eine Generalsanierung sei das Einzige, was dem Museum wirklich weiterhelfe, mahnte des-sen kommissarischer Direktor Dr. Markus Trier schon im vergan-genen Jahr. Der beschlossene Sanierungsplan von knapp über 18,3 Millionen Euro sieht daher nicht nur eine komplette Erneu-erung der Haustechnik und des Innenausbaus vor. Auch das Dach und die Außenhülle sollen ausgetauscht werden. Dabei wird nicht nur die Attraktivität des Museumsbetriebs gestei-gert, auch die Energiewerte stehen im Fokus. Zurzeit lassen sich im angegliederten Studiengebäude, in dem unter anderem die Kölner Bodendenkmalpflege untergebracht ist, nicht einmal die Fenster öffnen.

Viele Details über die Zukunft des Museums sind noch unbe-kannt, aber einiges ist im Gespräch: Zum Beispiel wird über eine Schließung des Durchgangs zwischen den beiden Museumsge-bäudeteilen ebenso nachgedacht wie über Möglichkeiten einer Außen- und Museumsgastronomie. Neben den Sanierungsmaß-nahmen am Museumsbau selbst wird dann vermutlich auch die ständige Ausstellung des RGM in neuem Licht erstrahlen.

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Lena Terlutter und Leonard Dobroshi sind nicht nur privat ein Paar. Die beiden sind auch gleichermaßen Geschäftsführer ihrer beiden Läden Boutique Belgique und Salon Sahnestück. Sie verwirklichten sich mit dem Salon Sahnestück vor fünf Jahren einen Traum und merkten schnell, wie groß der Bedarf nach Fashion-Highlights ge-rade im Belgischen Viertel ist. Vor einem Jahr kam dann der zweite Laden: Boutique Belgique. Hier verwirklichte die heute 28-Jährige ihre Ideen.

Die Produkte sind mit viel Mühe und Gefühl für Mode ausge-sucht. Der Concept-Store inspiriert die Kundinnen, auch mal unge-wohnte und neue Trends in ihre Outfits zu integrieren. Basics sucht man hier vergebens. Die Kleidungsstücke stammen von unter-schiedlichen Labels und werden aus aller Welt bezogen. Das Belgi-sche Viertel ist für die Besitzerin eine Art „kleines Antwerpen“ und somit modischer Hotspot.

TEXT: STEPHANIE KRAUSFOTOS: ALESSANDRO DE MATTEIS

Retro & charmant

DAS KREATIVE UND INSPIRIERENDE FLAIR IM BELGISCHEN VIERTEL LOCKTE IN DEN LETZTEN JAHREN VIELE MODE-GESCHÄFTE AN. AUSGESUCHTE LABELS, BESONDERE KOLLEKTIONEN

UND PERSÖNLICHE BERATUNG CHARAKTERISIEREN DIE MODELÄDEN IM VEEDEL. ZWEI BEISPIELE.

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Familiäre AtmosphäreDie bereits etablierten Geschäfte schätzen die familiäre Atmo-sphäre: „Egal, wo wir uns hier aufhalten, unsere Kunden sind immer da. Es ist einfach unkompliziert und nett. Genauso sind auch unsere Kunden, mit denen wir dann privat mal quatschen. Du weißt viel über sie. Es ist vielmehr Kaffeeklatsch, wenn eine Kundin vorbeikommt.“

So schön es für die „Bewohner des Dorfes“ ist, umso schwieri-ger ist es für Neueinsteiger. Trotz des Interesses an neuen Läden ist es schwer, Fuß zu fassen. Die Besitzer der Boutique Belgique und des Salon Sahnestück sind „Ureinwohner“ des Viertels. Dem-entsprechend groß ist der bereits aufgebaute Kundenstamm. Selbst eine Immobilie auf der Schildergasse würde sie nicht dazu bewegen, ihren jetzigen Standort aufzugeben. Ein Geschäft auf einer derart populären Einkaufsstraße wäre für die Besitzerin purer Kommerz. Bei beiden Läden stehen das enge Verhältnis zum Kunden, die Aktualität und das Modische im Vordergrund.

Die Kundinnen der beiden Läden mögen genau diese Art des Shoppings. Die begrenzte Auswahl, die geringe Menge an ein-zelnen Kleidungsstücken und der spezielle Geschmack scheinen ihnen nichts auszumachen. Diese drei Faktoren sprechen für sich und sind auch typisch für das Viertel. Die Läden liegen weit auseinander. Die Anzahl der Geschäfte ist übersichtlich, und die zu verkaufende Ware ist speziell.

„An purem Kommerz sind wir nicht interessiert!“Für die beiden Besitzer der zwei Modeläden sind genau diese Dinge von großer Bedeutung. „An purem Kommerz sind wir

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nicht interessiert!“ Daher wird es, zumindest in naher Zukunft, keinen richtigen Onlineshop geben. Obwohl der Bedarf riesig ist, liegt Lena Terlutter und Leonard Dobroshi viel an dem direkten und persönlichen Umgang mit den Kunden: „Gerade der per-sönliche Kontakt ist uns sehr wichtig. Wir möchten, dass unsere Kundin ein Einkaufserlebnis hat und dass sie mit einer schönen Tüte nach Hause geht. Wenn die Nachfrage und somit der Druck immer größer werden, dann werden wir es irgendwann machen müssen. Bis dato würde ich es am liebsten so belassen, wie es jetzt ist.“ Gerade die internetaffinen Kundinnen würde ein On-lineshop freuen. Täglich besuchen mehrere Tausend Modefans die Blogs der zwei Modeläden.

Sowohl Boutique Belgique wie auch Salon Sahnestück haben sich in der Modeszene einen Namen gemacht. Aus dem Belgi-schen Viertel sind sie kaum mehr wegzudenken. Die Kunden schätzen den persönlichen Umgang sehr. Doch nicht nur der Umgang, auch die Produktauswahl macht die beiden einzigar-tig. Die Idee der Individualität wollen Lena und Leonard auch in ihrem dritten Laden verwirklichen. Sowohl den Namen als auch den Style wollen sie noch nicht verraten. Der Standort steht aller-dings jetzt schon fest: das Belgische Viertel.

WEITERE INFOS

http://salon-sahnestueck.blogspot.comhttp://boutiquebelgique.blogspot.com

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MASSENPROTESTE UND MASSENBEWEGUNGEN ERREICHEN SCHON IMMER MEHR AUFMERKSAMKEIT. DAS PRINZIP, AUF DIE MASSE ZU SETZEN, HAT AUCH DIE KREATIVWELT ERREICHT. EINE VERORTUNG

VON NEUEN MÖGLICHKEITEN FÜR WIRTSCHAFT, KULTUR UND GESELLSCHAFT.

Ein Lexikon, zusammengestellt von jeder und jedem für jede und jeden: Was mit Wikipedia vom Prinzip her vor elf Jahren begann und heute noch teils kritisch be-trachtet wird, hat in den vergangenen Jahren eine neue Dimension erreicht und vor allem den Einzug in neue Gesell-schaftsbereiche erlangt. Heute sind Inno-vationen der (sogenannte) Schlüssel zum Erfolg. Dafür die Einfälle aller zu nutzen ist eigentlich nur eine logische Folge.

Innovative Ideen und Projekte sind heute nicht mehr ein Produkt hoch be-zahlter Kreativabteilungen exklusiver La-bels und Agenturen. Kreativität findet in vielen Köpfen aus den verschiedensten Bereichen und mit den unterschiedlichs-ten Hintergründen statt. Das erkennt auch zunehmend die Arbeitswelt. Mit „Crowdsourcing“ hat sich hierfür ein neu-er Begriff etabliert, der seinen Einzug in die Wirtschaft von morgen hält. Getra-

gen wird dieses Prinzip der Arbeitsteilung durch einfachere, virtuelle Austausch-wege des Kommunikationszeitalters und durch die Einstellung vieler Menschen, sich nicht in ein festes Berufsbild pressen zu lassen. Die Hintergründe von Crowd-sourcing sind vielfältig und komplex und gerade für die Kreativwirtschaft hoch-spannend.

Während über Crowdsourcing ganz konkret die Kreativität und die Ideen ei-ner breiten Masse genutzt werden, ist in Deutschland in den vergangenen Jahren Schwung in eine weitere „Massenbewe-gung“ gekommen. Quasi als Spiegelung der Innovationskraft von Crowdsourcing entstehen im Internet immer professio-nellere Plattformen, um Projekte aus der Ideenwelt in die Realität zu führen. Das sogenannte Crowdfunding lässt die Mas-se entscheiden, ob etwas Neues und Krea-tives seine Umsetzung in die Wirklichkeit findet: „Massen-Spenden-Sammeln“ für Musik- und Filmprojekte, für Publikatio-nen und einmalige Events, für Spiele oder neue Produkte.

Mittel der Masse nutzenAuch null22eins hat seine erste offizielle Ausgabe zur Finanzierung einer breiten Masse vorgestellt und so den Weg in die Realität gefunden. Auf der Crowdfun-ding-Plattform startnext wurden im Sep-tember vergangenen Jahres Mittel zur Deckung der Druckkosten gesammelt. startnext ist nur eine von mittlerweile zehn Plattformen allein in Deutschland, die Ideen Wirklichkeit werden lassen. Das Prinzip bleibt dabei immer das gleiche: Stelle deine Idee oder dein Projekt vor. Finde Unterstützer. Überzeuge Men-schen, einen finanziellen (oder auch einen anderen) Beitrag zur Umsetzung deines Projekts zu leisten.

Für den Kultursektor stechen dabei ne-ben startnext auch mySherpas, sellaband und VisionBakery hervor. Hier stehen vor allem Musiker und Kunstprojekte im Mit-telpunkt.

DIE KLASSE DER

MASSECROWDFUNDING UND CROWDSOURCING

TEXT: ROBERT FILGNERILLUSTRATION: ION WILLASCHEK

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47NETZWERKEN

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Im Vorfeld des Engagements auf start-next durfte null22eins eine kurze Bera-tung in Anspruch nehmen. Claudia Pelzer ist in Köln die Ansprechpartnerin Num-mer eins, wenn es um Themen rund um Crowdsourcing geht. Ihre Arbeiten und ihr Blog sind deutschlandweit grund-legend, will man die Dimensionen und Potenziale hinter der ausgelagerten (out-SOURCING) Nutzung der Masse (CROWD) verstehen. Pelzers gut strukturierter

Webauftritt bietet auf allen Gebieten Hintergrundwissen und informiert über Neuigkeiten. Darüber hinaus steht sie dem neu gegründeten Deutschen Crowd-sourcing Verband (DCV e. V.) vor, der sich zum Ziel gesetzt hat, dieses Zukunfts-thema in der deutschen Arbeitswelt und Gesellschaft zu verfestigen. Dieser Verein wurde im September 2011 in Köln gegrün-det und (über-)setzt die zahlreichen und vielfältigen Formen künftigen Denkens

und Arbeitens in reale Lebenswelten. Das geht bei Begriffen wie Open-Innovation los, führt über Future of Work mit konkre-ten Ansätzen für die Welt von morgen zu Finanzierungsmodellen wie Crowdfun-ding für das flexible und moderne Leben. Dass das hierbei häufig verwendete „Ar-beitsmodell der Zukunft“ keine Vision ist, haben schon zahlreiche Firmen bewiesen. In der kreativen Designwelt funktioniert das Prinzip Crowdsourcing mittlerweile

WEITERE INFOS

Stichwörter zum Weitergoogeln:Co-Creation Lab, Coworking Space, Future of Work, Open Innovation, War for Talents

www.crowdsourcingblog.de

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auch in großen Abteilungen internati-onal agierender Konzerne. Ein Beispiel hierfür liefert BMW. Bereits 2010 hat das Münchner Unternehmen über einen (benennen wir den crowdsourcing idea-contest und das Co-Creation Lab ruhig auf Deutsch) Ideenwettbewerb zur Mit-wirkung an künftigen urbanen Mobili-tätsdienstleistungen aufgerufen. Unter dem Titel „Tomorrow’s Urban Mobility Services“ waren innovative Mobilitätslö-sungen gefragt. Knapp 300 Vorschläge kamen zusammen. Zur Auswahl standen die Kategorien: Elektroautos, Mobilität, Multimedia sowie Internet & Smart- phones. Die Gewinneridee war ein mo-biles Car-Sharing-System namens PMUP (kurz für Pick me up please), bei dem Fuß-gängern Mitfahrgelegenheiten auf ihr Handy gesendet werden.

„In der heutigen Ökonomie sind sämt-liche Prozesse in ihrer Effizienz bereits so weit optimiert, dass eine Steigerung kaum noch möglich ist. Der Spielraum ist gewissermaßen ausgereizt“, fasst Claudia Pelzer das künftige Potenzial der Massen zusammen. „Alles, was nun noch hilft, sind Innovationen. Aber die werden nun mal nicht am Fließband produziert, son-dern sind ein rares, wertvolles Gut. Wenn Unternehmen die eigene Innovationsfä-higkeit ausgeschöpft haben, greifen sie aus diesem Grund immer häufiger auf die Kreativität der Masse zurück. Der ‚War for Talents‘ ist eben sehr oft auch einer um Ideen.“ Mit ihrem Blog berichtet sie nicht nur über eine flexiblere und selbst-bestimmtere Arbeitswelt. Sie erforscht das Thema im Rahmen ihrer Promoti-on und ist daher stets ganz nah dran an

allen neuen Entwicklungen. „Egal, wie man es betrachtet, die Strömungen aus den USA und England sind auch bei uns angekommen. Wir entwickeln die Gedan-ken und Ideen hinter den Prinzipien wei-ter“, so die studierte Medien-Ökonomin. Und damit schließt sich auch ein Kreis: Mit den äußerst gut angenommenen Coworking Spaces auch hier in Köln wer-den überhaupt erst die Rahmenbedin-gungen geschaffen, sich auszutauschen, gemeinsam neue Ideen zu entwickeln und Wege zu finden, diese umzusetzen. Hier treffen sich mehr und mehr Interes-sierte und basteln weiter – an der Arbeits-welt von morgen.

Das Prinzip, sich von der Masse („Crowd“) unterstützen zu lassen und für Projek-te Gelder zu erhalten („funding“), ist ein echter Anreiz, sich zu verwirklichen – und sich selbst bei einer guten Sache einzu-bringen. Wann hatte man schließlich schon einmal die Möglichkeit, seine Ide-en einfach der Welt zu präsentieren und dann andere die Mittel dafür bereitstel-len zu lassen? Oder wann konnte man je-mals die nächste CD seines Lieblingsmusi-kers mitfinanzieren? Also: Wer Ideen oder Geld übrig hat, sollte hier vorbeischauen und mitmachen:

Bei startnext (startnext.de) muss man zunächst genügend Fans für sein Projekt finden, das durch die Masse finanziert werden soll. Nur wenn der angestrebte Preis tatsächlich erreicht wird, fließt das Geld. Das ist sicherer für die Unterstützer.

startnext.de selbst ist gemeinnützig und unterstützt über einen Crowdfonds auch weitere Projekte.

Die VisionBakery (visionbakery.de) wird ebenfalls durch die Finanzierungsmetho-de „alles oder nichts“ angetrieben: Ent-weder werden die Projekte voll und ganz gefördert, oder das Geld geht an alle Un-terstützer zurück.

Weitere Plattformen in diesem Bereich sind mySherpas (mysherpas.com) und pling (pling.de), die offen für kreative und karitative Projekte jeder Art sind.

Bei sellaband (sellaband.com) stehen aus-schließlich Musikerinnen und Musiker im Fo-kus. Hier kann man die Erstveröffentlichung eines neuen Talents ebenso unterstützen wie die Tour bereits bekannterer Bands.

Respekt.net ist eine Plattform für ge-sellschaftspolitisches Engagement und bringt Menschen mit Ideen mit potenziel-len Unterstützern zusammen. Über die Projektbörse werden wertvolle Initiati-ven schnell und einfach vielen Menschen vorgestellt. So erhöht Respekt.net die Um-setzungschancen guter Ideen für eine bessere Welt.

Richtigen Spendencharakter, aber im End-effekt das gleiche Prinzip nutzend, haben betterplace.org und Reset (reset.to), bei denen der Blick hinaus zu Problemen in der Welt geht.

CROWDFUNDING IN DEUTSCHLAND

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49KÖLNER PLÄTZE

BEVOR DIESE AUSGABE DOCH ZU MODE- BEZIEHUNGSWEISE DESIGNLASTIG WIRD, KONZENTRIEREN WIR UNS KURZ AUF DEN RAUM. EINZIGARTIG AN DEN PASSAGEN SIND NICHT NUR DIE GRÖSSE UND VIELFALT, SONDERN AUCH DIE UNTERSTÜTZUNG VIELER KÖLNER HINTER DEN KULISSEN. ANERKENNUNG GILT ALLEN BÜRGERN, DIE IHR WOHNZIMMER ZUR GALERIE UMFUNKTIONIERTEN, DIE GANZE STRASSENZÜGE EINE WOCHE LANG MIT KUNST BELEBTEN UND DIE ÜBER 190 VERANSTALTUN-GEN BESUCHTEN. EIN WAHRES AUSHÄNGESCHILD DIESER STADT.

EINZIGARTIGES SPAZIEREN Passagen 2012FOTOS: ANNA SHAPIRO

DARUM SO ERFOLGREICH

WEITERE INFOS

www.voggenreiter.com/passagen2012

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50 AUSBLICK >

im Juni

In die fotopension in der Sülzer Marsiliusstraße stolpert man über eine echte Schwelle. Das kann wehtun, aber so ist das im Leben. Einmal drin, wird es umso charmanter. Neben den Räum-lichkeiten und der Fotokunst liegt das an den acht Galeristen. Ausgestellt wird, was ihnen gefällt; und manchmal gefallen sie sich eben auch selbst. Sie sind ein bisschen Subkultur und viel-leicht popmodern. In ihrem Projektraum kann stattfinden, was mit Fotografie zu tun hat. Professionalität ist gern gesehen, aber lieber noch das denkende, originelle Auge. null22eins sieht sich das für die Sommerausgabe genauer an – zum Beispiel vom 3. März bis 15. April während Peter Waterschoots Ausstellung „Recent & very recent photowork“.

DIE FOTOPENSIONPROJEKTRAUM

ANZEIGEN

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51AUSBLICK

ANZEIGEKÖLNER KULTUREN MAGAZIN

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NULL22EINS-MAGAZIN.DE

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Nimm wasbrauchst

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null22eins

Kraft

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Freude

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Sarkasmus

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e

dir,du