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awo.org 55. JAHRGANG HEFT 2 MÄRZ/APRIL 2010 G 11394 Gegen Armut und soziale Ausgrenzung Gegen Armut und soziale Ausgrenzung

AWO Magazin | Ausgabe 02-2010 | Leseprobe

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Leseprobe AWO Magazin, Ausgabe 02-2010

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55. JAH RGANG H E F T 2 MÄRZ/APR I L 2010

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Gegen Armut und soziale Ausgrenzung

Gegen Armut und soziale Ausgrenzung

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BL ICKPUNKT

Wolfgang StadlerBundesvorsitzender

Mitte Februar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgerichtein Urteil zu den Regelleistungen im Zweiten Sozialgesetzbuch('Hartz IV-Gesetz') gesprochen und diese für nicht verfassungs-gemäß erklärt.

Das Urteil macht klar: Es muss nun in Deutschland eine füralle transparente Bestimmung der Armutsgrenze in Deutschlanderfolgen. Jedem Hilfebedürftigen müsse diejenige materielleVoraussetzung zugesichert werden, „die für seine physischeExistenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaft-lichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“, lau-tet es in der Urteilsbegründung. Der Staat wird in die Pflicht ge-nommen, dies zu gewährleisten. Aus dem Urteil wird deutlich,wie bedeutsam Fragen der Bildung und des Zugangs zu Bil-dung sind. Es kommt Empörung darüber zum Ausdruck, wiewenig bei den Regelleistungen der Umstand angemessener Bil-dung im Allgemeinen und die Bedürfnisse schulpflichtiger Kin-der im Speziellen bedacht wurden; warum etwa der Schulbe-darf nicht zum Existenzminimum eines Kindes gehört.

Das Urteil ist eine wegweisende Grundlage, um Deutsch-land armutsfester zu machen. Die Regelleistungen für das Ar-beitslosengeld II müssen von Grund auf neu bestimmt werden.Mit der gebotenen richterlichen Zurückhaltung vermeidet esdas Urteil, konkrete Zahlen zu benennen. Nun muss der Ge-setzgeber den ihm gewährten Spielraum nutzen und die Situa-tion jener Menschen verbessern, die von Armut, sozialer Aus-grenzung und sozialen Ungerechtigkeiten betroffen sind. Nachdem Urteil ist mit der Verbesserung der Leistungen insbesonde-re für Kinder zu rechnen. Die Richter weisen darauf hin, dassdies nicht über Erhöhung der Regelsätze geschehen muss, son-dern auch über Sachleistungen erfolgen kann.

Die Debatte um den kostenlosen Zugang zu Kindergarten-plätzen, Betreuung und Bildung muss wieder stärker belebt wer-den. Die AWO fordert dies seit Langem. In diesem Zusammen-hang plädieren wir beispielsweise seit 2009 mit den Partnernvom Bündnis Kindergrundsicherung für eine Grundsicherung von502 Euro für alle Kinder. Diese Grundsicherung soll alle bisheri-gen Leistungen ersetzten und der Einkommensbesteuerung unter-liegen. Damit machen wir einen konkreten Vorschlag ganz imSinne des Verfassungsgerichtsurteils. Denn: Alle Kinder, be-sonders diejenigen, die in Familien mit niedrigen Einkommen, Ar-beitslosigkeit und Notlagen aufwachsen brauchen endlich einebedarfsdeckende Förderung, um mit all ihren Potenzialen in un-sere Gesellschaft hineinzuwachsen. Klar ist ebenso: FinanzielleAbenteuer wie Steuersenkungen bei ansteigender Staatsverschul-dung und auf Kosten der Zukunft unserer Kinder und Jugend kön-nen wir uns nicht leisten. Vielleicht wäre es auch einmal an derZeit, zur Finanzierung ernsthaft und ohne Tabus die Einführungeiner Vermögens- und einer Börsenumsatzsteuer zu prüfen, statteinfach eine Absenkung der Regelleistungen zu fordern.

IN DIESER AUSGABE

Impressum21

Fachinformationen18

Publikationen20

Rätsel30

Ländermagazin22

AWOmagazin 2/2010

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Titel: Trigger Image/Rip Smith (über Picture Alliance)

AWO aktuell4

Internationales16

Foto

: AW

O

Wegweisendes Urteil

Titel8

Gegen Armut und soziale AusgrenzungInterview mit einer SchuldnerberaterinReport über Hilfe für Wohnungslose

Kritik an 100 Tage Schwarz-Gelb

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Gegen Armut und soziale Ausgrenzung

Niemanden allein lassen!

Das öffentliche Bewusstsein für die Risiken von Armut zu stärken und die Wahrneh-mung für deren Ursachen und Auswirkungen zu schärfen – das sind die Ziele des'Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung', das die Europäische

Kommission für 2010 ausgerufen hat. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wirddieses Aktionsjahr gemeinsam mit Verbänden und Betroffenenvertretern auf nationaler Ebe-ne umsetzen. Die AWO ist mit verschiedenen Projekten, Aktionen und Kampagnen betei-ligt. Ein wesentlicher Baustein für den AWO-Bundesverband ist der AWO-Schülerwettbe-werb „Ohne Moos nix los!?“

In der EU 27 leben heute mehr als 78 Millionen Menschen in Armut oder sind von Ar-mut bedroht. Das ist einer von sieben EU Bürgern, darunter eines von fünf Kindern. Auchwenn viele der Betroffenen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, mehrere Jobs haben,Rente oder Sozialleistungen beziehen, ist ihr Einkommen noch immer zu niedrig, um einAbgleiten in die Armut und das damit verbundene Risiko der gesellschaftlichen Ausgren-zung zu verhindern.

Erwerbsarmut trifft bereits auf sechs Prozent aller Beschäftigten und siebzehn Prozentder Selbstständigen in der EU zu. In wachsenden Teilen der Bevölkerung verbreitet sich zudem ein Gefühl der Prekarisierung und die Angst in einer sozialen Abwärtsspirale ge-fangen zu sein. Gleichzeitig werden die Reichen immer reicher und der Wohlstand kon-zentriert sich in immer weniger Händen.

Angesichts der sozialen Realität muss die EU ihre Politik neu ausrichten und die sozia-le Eingliederung und den Zusammenhalt der Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken.

Mit Beginn dieser Ausgabe wird das AWOmagazin die verschiedenen Facetten vonArmut und sozialer Ausgrenzung intensiver beleuchten. Im Mittelpunkt dieses Heftes stehendie Themen Schulden, Wohnungslosigkeit und was für ein soziales Europa wichtig ist. Zwei Beiträge im Ländermagazin runden den Themenschwerpunkt ab.

Text: kup/dieFoto: Trigger Image/Rip Smith (über Picture Alliance)

Weitere Infoswww.awo-schuelerwettbewerb.orgwww.mit-neuem-mut.dewww.solidar.org

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„Überschuldung kannwirklich jeden treffen“

Frau Wilkening, was macht eine Schuldnerberatung?

Eine Schuldnerberatung versucht Menschen zu hel-fen, die überschuldet sind und deswegen ihren Zah-lungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kön-nen. Sie versucht, diese Menschen aus ihrer persön-lichen Not herauszuholen. Überschuldung ist ja im-mer auch eine Dauerstresssituation: Die Leute habenAngst vor Mahnungen, vor Vollstreckungsversuchen,vor dem Gerichtsvollzieher, vor der eidesstattlichenVersicherung. Die zwischenmenschlichen Beziehun-gen sind belastet; manchmal werden auch die Kin-der mit in den Stress einbezogen.

Wir versuchen, die Leute aus der psychischenund sozialen Not herauszuholen, sie aber auch fit zumachen für den Umgang mit Geld. Eigentlich ist esein bisschen wie beim Arzt: Eine passende Therapiefindet man für jeden Patienten, vorausgesetzt, dieLeute schaffen es, sich auf die Therapie einzulassen.Das heisst: mitzuarbeiten, Termine wahrzunehmen,Unterlagen zu bringen.

Gibt es bestimmte Muster der Verschuldung?

Typisch ist eigentlich folgende Situation: Die Men-schen leben mit Schulden. Sie sind nicht überschuldet,aber sie sind verschuldet. Sie haben vielleicht einenKredit aufgenommen, um die Möbel oder um den Ur-laub zu bezahlen. Irgendwie funktioniert das Ganzeschon. Doch dann passiert oftmals etwas, was diesesSchuldenkarussell zusammenstürzen lässt; was es denLeuten dann unmöglich macht, ihre Verpflichtungenweiter einzuhalten. Die Hauptursache ist sicher Ar-beitslosigkeit. Die zweithäufigste Ursache sind Schei-dungen. Von heute auf morgen muss das Geld, dasso eben mit den Schulden gereicht hat, um eine Fami-lie zu ernähren, für zwei Haushalte ausreichen. Dro-gen und Alkohol, Spielsucht – so etwas hinterlässt na-türlich immer auch eine Schneise der Verschuldung.

Im Bezirksteil Kreuzberg haben wir zudem einenrelativ hohen Anteil an Menschen, die aufgrund ei-ner gescheiterten Selbstständigkeit verschuldet sind.

Dies ist in der Regel ein sehr hoher Schuldenberg,der hinterlassen wird. Wir sprechen hier durchausvon Summen im sechsstelligen Bereich.

Stimmt es, dass aus der so genannten Mitte der Gesell-schaft immer mehr Leute in die Verschuldung geraten?

Ich denke, Überschuldung kann wirklich jeden tref-fen. Oft habe ich hier Leute sitzen, die sagen: 'Ichhätte nie gedacht, dass mir das passiert'. Das ver-wundert wiederum nicht, weil es inzwischen normalist, in unserer Gesellschaft mit Schulden zu leben. Eswird gefördert. Es wird geradezu gefordert. Die Ban-ken etwa werben darum, Kredite vergeben zu kön-nen; Möbel- und Elektrokaufhäuser verkaufen ihreMöbel ohne Zinsen auf Kredite.

Und plötzlich passiert etwas, das gar nicht immerselbst verschuldet wurde: Arbeitslosigkeit etwa kannjeden treffen; eine Krankheit kann jeden treffen, eineScheidung kann auch in jeder Beziehung mal vor-kommen. Es gibt aber natürlich immer auch solcheFälle, wo man sagen muss: Das hätten die Betroffe-nen wissen müssen, was da für Probleme entstehen.

Spüren Sie aktuell in Ihrer Arbeit bereits die viel zitierten Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise?

Ich habe von Kollegen anderer Beratungsstellen inDeutschland mitbekommen, dass dies langsam derFall ist, kann das aber für meinen Zuständigkeitsbe-reich nicht sagen. Kreuzberg ist schon immer betrof-fen von hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Proble-men. In Kreuzberg sind vor allem kaum Industriear-beitsplätze, die vielleicht schon abgebaut wordensind oder wo jetzt Kurzarbeit gemacht wird.

Ich bin selber aber auch in der Online-Beratungzum Teil über Berlin hinaus tätig und da bekommeich schon mit, wie immer mehr Menschen um Rat su-chen, die in Kurzarbeit gehen oder vorübergehendfreigestellt sind oder wirklich mit der Begründung'Wirtschaftskrise' ihren Job schon verloren haben.

Laut aktuellem SchuldenAtlas (Oktober 2009) sind in Deutschland 6,2Milllionen (9,1 Prozent) Personen über 18 Jahre überschuldet. 2008waren es noch 6,9 Millionen (10,1 Prozent). Trotz dieser rückläufigen

Zahlen, hat sich die Schuldenproblematik in Teilbereichen verschärft. Soetwa bei Personen unter 20 Jahren. Hier stieg die Zahl zwischen den Jah-ren 2004-2009 von 75.000 auf 128.000 deutlich an.

Das Armutsrisiko durch Überschuldung ist also weiter präsent. Hilfe können in einer solchen Situation Schuld-nerberatungen leisten. So leistet etwa die Schuldner- und Insolvenzberatung der AWO Friedrichshain-Kreuz-berg in Berlin seit elf Jahren unbürokratische und passgenaue Hilfe für die betroffenen Schuldner. In einem Ge-spräch mit dem AWOmagazin gibt die Leiterin Susanne Wilkening (Foto) einen Einblick in ihre tägliche Arbeit.

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Gibt es belastbare Zahlen oder eine Tendenz, dass in den letzten Jahren die Verschuldung bei Jugend-lichen zugenommen hat?

Ich habe keine Zahlen, die das wirklich sicher bele-gen, aber ich sehe das in der Praxis. Ich sehe, dassdie Zahl der jungen Leute, die zu uns kommen, konti-nuierlich steigt.

Was sind die Gründe?

Viele Jugendliche lernen den Umgang mit Geld leidernicht mehr im Elternhaus. Wie auch, wenn die Elternarbeitslos sind, wenn die Eltern selber Schulden ha-ben, wenn die Eltern selber keine Perspektive haben,wenn die Eltern das Thema mit den Kindern nicht be-sprechen. In der Schule lernen sie es definitiv auchnicht. Dort sagen die Lehrer oftmals, sie müssen dieRahmenlehrpläne erfüllen und die Schüler für die Prü-fungen fit machen. Da bleibt für anderes keine Zeit...

Wenn nun die Jugendlichen das erste Mal einenJob haben und von der Bank auch noch rasch einenDispo-Kredit bekommen, dann ist dieser Dispo häufigder erste Weg zur Verschuldung. Schnell werdennoch zwei, drei, vier Verträge, deren Folgen die Be-troffenen gar nicht übersehen können, abgeschlos-sen: Sportstudio für zwei Jahre; Handyvertrag fürzwei Jahre; ein schickeres Handy kommt dazu – deralte Vertrag läuft zwar noch, aber ist ja nicht so dasProblem, kriegt man schon irgendwie hin. Schwarz-fahren ist ebenfalls ein großes Thema. Ein, zwei,drei, vier, fünf Mal Schwarzfahren, da kommt schnelleine Summe zusammen, die vielleicht noch nicht ein-mal so überwältigend ist. Insgesamt kann einemaber dann ein Betrag von 4.000 -5.000 Euro schonwirklich den Boden unter den Füßen wegziehen (sie-he auch Fallbeispiel auf S.12).

Sie haben Erfahrung mit Projekten für Jugendlichezum Thema Umgang mit Geld und Schulden. Wasmachen Sie genau?

In einem unserer Projekte sind wir – über Schulen – aufJugendliche zugegangen. Sie haben in dem Jugend-kunstprojekt Schlesische 27 e.V. mit Hilfe von Profisund Künstlern in Workshops Materialien entwickelt,die sich mit dem Thema 'Umgang mit Geld und Schul-den' beschäftigen. Aus dieser Arbeit sind drei Kurzfil-me entstanden. Wir versuchen im Moment eine Finan-zierung dafür zu kriegen, diese authentischen Produk-te der Jugendlichen herzustellen und zu verbreiten. Ei-ner der Filme ist ein Rap mit Trickfilm, er heißt „Wachauf“ und ist auf YouTube zu sehen.

Was für Jugendliche waren daran beteiligt?

Jugendliche aus mehreren Nationen. Alle aus Neu-kölln, Friedrichshain, Kreuzberg und fast alle von da-maligen Hauptschulen. Die eigentliche Idee dahinterwar, Präventionsmaterialien zu entwickeln für so ge-nannte bildungsferne Jugendliche. Für diese Gruppefehlt es einfach an Information. Es gibt alle mög-lichen Präventionsmaterialien, aber für diese Gruppe

nicht. Denen fällt es auch ganz einfach schwer, eineHochglanzbroschüre mit 14 Seiten spannend zu fin-den. Sie brauchen etwas anderes und das haben wirmit diesem Projekt geschafft.

Gibt es erste Erkenntnisse, wie das Ganze unter denJugendlichen, in den Schulen oder bei den Bildungs-einrichtungen ankommt?

Bis jetzt haben wir wirklich nur positive Resonanz bekommen. Auch von anderen Schuldnerberatungs-stellen, die sich dafür interessieren und das in ihrerPräventionsarbeit nutzen wollen. Ebenso positive Resonanz gab es aus den Schulen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, unter anderem derEberhard-Klein-Schule und dem OberstufenzentrumHans Böckler.

Ebenfalls positiv sind die Rückmeldungen auf unseranderes Projekt. Hier wurde ein richtiges Unterrichts-paket mit Materialien konzipiert, das sich explizit anjene jungen Erwachsenen richtet, die an der Nahtstel-le von 'Schule abgeschlossen, Berufsausbildung abernoch nicht richtig begonnen oder am Anfang der Be-rufsausbildung' stehen. Wir haben ein Unterrichts-handbuch mit 41 Bausteinen entwickelt, unter ande-rem auch mit den angesprochenen Kurzfilmen. Sokonnten wir einen guten Zugang zu den Jugendlichenfinden. Zudem gibt es Hinweise zu so praxisnahen Ele-menten wie gemeinsam Einkaufen gehen, um die Be-troffenen auf die Fallen im Supermarkt hinzuweisen(teure Produkte liegen in Greifnähe, also eher oben inden Regalen, wo stehen die Werbeaufsteller usw.).

Abschließend: Gibt es so eine Art Präventionskatalog,um nicht in die Nähe von Verschuldung zu geraten?

Das mag sehr allgemein klingen, aber ich kann grund-sätzlich eigentlich nur raten: ‚Pass auf dein Geld auf’.Beschäftige dich mit deinem Geld. Sieh’ zu, dass dudeine Möglichkeiten nicht überschätzt und sei vorsich-tig im Schuldenmachen. Es gibt im Alltag bestimmteDinge, die man machen kann. Da gibt es ja viele Rat-geber, etwa zum Thema Strom sparen. Ebenso sollteman wirklich aufpassen, welche Verträge man unter-schreibt. Kurzum: Sich mit dem beschäftigen, wasman da tut und nicht blindlings irgendwo unterschrei-ben. Dann ist schon sehr viel geholfen.

Vielen Dank!Interview: Peter Kuleßa

Foto: privat

Weitere InfosSchuldner- und Insolvenzberatungsstelle,AWO Friedrichshain-Kreuzberg,Yorckstraße 4-11, 10958 Berlin,Tel.: 030/90298-3694,E-Mail: [email protected]

Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatungwww.meine-schulden.de

Der Film „Wach auf“ ist unter www.youtube.comund dem entsprechenden Stichwort einzusehen.

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Fallbeispiel MarcelMarcel macht mit 17 Jahren den Hauptschulabschluss. Er schafft dasnur mit Mühe und Not, in der Schule war er nie gut, er hat sich ge-langweilt und oft die Schule geschwänzt. Er fängt anschließend eineLehre als Raumausstatter an, bricht sie aber nach ca. einem halbenJahr ab. Seine Fehltage wurden dem Meister zuviel und Marcel warnicht mehr motiviert.

Marcel sucht sich einen Job als Lagerarbeiter und verdient nichtschlecht. Er zieht aus und mietet sich seine erste Wohnung. Er bestellt(er ist jetzt 18 Jahre alt) einige Möbel auf Raten. Er bekommt von derBank einen Dispo angeboten und ist schnell mit 4.000 EUR im Minus.Weil er das neueste Handy haben will, besorgt er es sich und unter-schreibt dabei einen sehr ungünstigen Handyvertrag. Er wird mehr-mals beim Schwarzfahren in der U-Bahn erwischt.

Mit 21 Jahren rutscht er wieder in den alten Trott aus der Schulehinein, er hat Fehltage bei der Arbeit, meldet sich krank, fehlt zum Teilauch ohne Entschuldigung und wird schließlich entlassen.

Das Arbeitslosengeld reicht nicht für den aufwendigen Lebensstil.Er ist frustriert, trinkt zu viel, nimmt auch Drogen. Die Miete wird nichtmehr gezahlt. Der Strom wird nicht mehr gezahlt. Es gibt Streit mitdem Vermieter, der persönlich bei ihm erscheint. Marcel wird von sei-ner Freundin verlassen und zu diesem Zeitpunkt verliert er für ca. 6 Monate völlig die Kontrolle über sein Leben. Alkohol und Drogenbestimmen seinen Tagesrhythmus.

Seine Freundin erscheint wieder, sie mag ihn immer noch undmöchte ihm helfen. Sie bewirkt, dass Marcel die inzwischen vom Ver-mieter gekündigte Wohnung verlässt und wieder zu Hause einzieht.Aber auch hier ist das Leben nicht einfach. Die Mutter ist alleinerzie-hend mit den vier minderjährigen Geschwistern; es gibt Streit mit demneuen Lebensgefährten, der viel Alkohol trinkt. Als der Lebensgefährtedie Mutter angreift, geht Marcel dazwischen und schlägt den Lebens-gefährten so zusammen, dass dieser eine Woche stationär im Kran-kenhaus behandelt werden muss. Der Lebensgefährte zeigt Marcelan, es kommt zu einem Strafverfahren, Marcel wird zu einer Geldstra-fe verurteilt. Der Vermieter der Wohnung verklagt Marcel, Mietschul-den und Räumungskosten, sowie Kosten für die nicht ausgeführtenSchönheitsreparaturen häufen sich. Der Handyvertrag wird bei Ge-richt eingeklagt, 5 Mal Schwarzfahren addiert sich auf einen Betragvon ca. 450 EUR.

Der Stromanbieter schickt eine Rechnung über ca. 1.200 EUR.Marcel versteht das nicht. Gegen den gerichtlichen Mahnbescheidwehrt er sich aber nicht, weil er die Forderung für unberechtigt hält.Der Dispo wird von der Bank gekündigt und gerichtlich geltend ge-macht.

Insgesamt sitzt Marcel mit 23 Jahren auf einem Schuldenberg vonca. 18.000 EUR. Mit Hilfe der Mutter und der Freundin gelingt es ihmlangsam, seine persönlichen Lebensverhältnisse einigermaßen zu sta-bilisieren. Er fängt eine Lehre als Maler und Lackierer an und geht zurSchuldnerberatung.

Marcel ist heute im 3. Jahr seines Verbraucherinsolvenzverfahrens.

Quelle: Schuldner- und Insolvenzberatung der AWO Friedrichshain-Kreuzberg

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Die Armut in der EU nimmt zu – die Kluft zwischen arm und reich vertieft sich

SOLIDAR, das Europäische Netzwerk der AWO, tritt angesichts der gegenwärtigen öko-nomischen Krise sowie wachsender Armut und Ungleichheit dafür ein, Armutsaspekte undNichtdiskriminierung im Rahmen wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischer Maß-nahmen in den Mittelpunkt zu stellen.

Extreme Formen der Armut müssen bekämpft,der Kreislauf der generationenübergreifendenArmut durchbrochen werden.

SOLIDAR weist darauf hin, dass die Bekämpfung vonextremen Formen sozialer Ausgrenzung und Armutbesondere Aufmerksamkeit, entprechende Mittel undeine mittel- bis langfristige Perspektive erfordert.

Der Kreislauf der Armut muss durchbrochen wer-den, nicht zuletzt durch Investitionen zum Wohl derKinder. Bildungssysteme und Vorschulangebote müs-sen offen für alle sein und Vielfalt sichern. Aus- undWeiterbildungsmöglichkeiten auch während des Be-rufslebens sind sicherzustellen, denn Bildung wirktpräventiv gegen soziale Ausgrenzung.

Öffentlicher Wohlstand und eine stabile sozialeInfrastruktur müssen sichergestellt werden.

SOLIDAR betont die Notwendigkeit politischer Rah-menbedingungen, die auf europäischer und nationa-ler Ebene öffentlichen Wohlstand und eine stabile so-ziale Infrastruktur sichern.

Gerechtere (Um)Verteilung von Einkommen und Wohlstand sowie eine Politik, die öffent-lichen Wohlstand sichert sind möglich und müssen angestrebt werden.

SOLIDAR begrüßt die Annahme der Empfehlung derEU-Kommission zur aktiven Eingliederung der ausdem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen und diedarin empfohlenen Maßnahmen, wie angemesseneGrundsicherung, Maßnahmen zur (Wieder) Einglie-derung in den Arbeitsmarkt und den Zugang zuhochwertigen sozialen Leistungen.

Grundsicherungssysteme sind ein entscheidenderBaustein für die Verwirklichung von Menschenwürde.Sie müssen so umgesetzt werden, dass eine Stigmati-sierung der Betroffenen verhindert wird. Zudem dür-fen die Vorteile solcher Leistungen nicht davon ab-hängig gemacht werden, ob jemand am Arbeits-markt teilnehmen kann oder nicht. Nicht nur EU-Bür-ger, sondern auch Flüchtlinge, Asylbewerber undnicht registrierte Migranten müssen in Grundsiche-rungssysteme einbezogen sein.

Bei der Umsetzung der Empfehlung der Kommis-sion zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeits-markt ausgegrenzten Personen müssen unter demPunkt „Zugang zu Leistungen“ zusätzliche Grundsät-ze aufgenommen werden. Dazu gehören: • Nichtdiskriminierung beim Zugang zu sozialen Diens-

ten und bei der Nutzung sozialer Einrichtungen, • Rechte für Nutzer/-innen und die Stärkung ihrer

Entscheidungsmöglichkeiten, • gute Arbeitsbedingungen, • ausreichende Finanzierung entsprechend der loka-

len, regionalen und nationalen Kontexte, • durchgängige sowie zeitnahe Bereitstellung von

Leistungen.

Förderung aktiver Arbeitsmarktpolitik, die sichgegen Ungleichheit richtet und die Sozialpart-ner eng einbindet

Für SOLIDAR dient das Arbeitsrecht dem effektivenSchutz individueller und kollektiver Rechte. SOLIDARunterstützt nicht diskriminierende aktive Arbeitsmarkt-politik, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenenausrichtet und mit Leistungen der Sozialschutzsyste-me koordiniert ist. Gleicher Zugang zu beruflicherBildung und Lebenslangem Lernen sind Voraussetzun-gen für die Reintegration in den Arbeitsmarkt undmüssen durch das Arbeitsrecht abgesichert werden.

Um die strukturellen Barrieren, die der Eingliede-rung von Menschen in den Arbeitsmarkt entgegenste-hen abzubauen, betont SOLIDAR die Bedeutung for-maler sowie informeller Bildung. Dazu gehören z.B.der Aufbau von Fähigkeiten und Qualifikationen wieauch Aktivitäten z.B. Bewerbungstrainings, die aufden Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt vorbereiten.

Text: Mathias Maucher/Barbara Dieckmann

Weitere InfosSOLIDAR hat 53 nationale Mitgliedsorganisatio-nen in 25 Ländern, von denen 20 Mitgliedstaa-ten der EU sind. SOLIDAR fördert Solidarität,Gleichheit und soziale Gerechtigkeit auf den Fel-dern Sozialpolitik, internationale Zusammenar-beit und Bildung.www.solidar.org

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„Kältewelle in Deutschland – Wohnungslosererfroren aufgefunden“ – diese oder ähnli-che traurige Nachrichten sind Winter für

Winter zu lesen und zu hören. Das mediale Interesseund die allgemeine Betroffenheit sind dann immergroß, vielleicht entstehen kurzfristige sogar Hilfspro-jekte. Und dann? Was ist, wenn der Winter vorbei istund das nächste Thema auf der Agenda steht? Werengagiert sich nachhaltig und zu jeder Jahreszeit fürwohnungslose Menschen und ihre Belange?

Leben im Abseits

Obdachloser, Penner, Stadtstreicher: Die Bezeich-nungen für Menschen ohne Wohnung sind vielfältigund oftmals missverständlich und stigmatisierend.Wohnungslos ist, so eine Definition der Bundesar-beitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe, wer we-der über Wohneigentum noch über einen mietver-traglich abgesicherten Wohnraum verfügt. Die we-nigsten Wohnungslosen leben tatsächlich auf derStraße, sondern sind in provisorischen Notunterkünf-ten und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe unter-gebracht. Auch Frauen und Kinder, die vor einem ge-walttätigen Ehemann und Vater ins Frauenhaus ge-flüchtet sind, gelten de facto als wohnungslos.

Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind entgegender landläufigen Meinung nur bedingt selbst ver-schuldet. Armut und Arbeitslosigkeit in Verbindung

mit einem angespannten Wohnungsmarkt gelten, sodie Bundeszentrale für politische Bildung, als häu-figste Ursachen für Wohnungslosigkeit. Hinzu kom-men unverschuldete Notlagen und Schicksalsschlägewie etwa Krankheit und Tod naher Angehöriger,Trennung und Scheidung, Missbrauch und häuslicheGewalt. Drogen und Alkohol hingegen sind seltenerGründe, warum Menschen wohnungslos werden.

Gut 9.500 Menschen, in der Mehrheit Männer,wurden 2008 bei der jährlichen Stichtagserhebungder Liga der freien Wohlfahrtsverbände in Baden-Württemberg in Einrichtungen der Wohnungslosen-hilfe gezählt. Die Gesamtzahl der wohnungslosenMenschen in Baden-Württemberg, so die Schätzungder Liga, dürfte vermutlich bei ca. 25.000 liegen.Aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Ausgren-zung versuchen viele, ihre desolate Wohnsituation solange wie möglich zu verbergen. Die Angebote derWohnungslosenhilfe nehmen sie (wenn überhaupt)erst sehr spät in Anspruch.

Umfassende Hilfe

Wohnungslosen Menschen, die ihre Scham überwin-den und Hilfe suchen, bietet etwa die AWO Badeneine Vielzahl an ambulanten und stationären Ange-boten – von der Wärmestube und Fachberatung bishin zum Wohnheim und Betreuten Wohnen.

Davon profitiert hat auch Wolfgang. Der heute 60-Jährige kam 2007 in die Rottweiler Spittelmühle derAWO Schwarzwald-Baar-Heuberg, einem sozialenZentrum für wohnungslose Menschen mit 24 stationä-ren Plätzen und arbeitstherapeutischen Betrieben.

Wolfgang hat fast ein halbes Leben auf der Stra-ße gelebt. Mit 14 flieht der gebürtige Düsseldorferaus seinem gewalttätigen Elternhaus, geht später zurBundeswehr, verliebt sich und zieht nach Holland,arbeitet dort zehn Jahre in einer Stiftung. Als seineBeziehung kurz vor der Hochzeit zerbricht und Wolf-gang auch noch seinen Arbeitsplatz verliert, kehrt erzurück nach Deutschland. Hier erfährt Wolfgang,

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Chance für ein neues LebenWohnungslosenhilfe der AWO Baden

In dieser und der kommenden Ausgabe be-richtet das AWOmagazin über Angeboteder AWO für Wohnungslose aus Baden-Württemberg und Hessen. Zum Auftakt gibtMargarete Leichle einen Einblick in dieWohnungslosenhilfe des BezirksverbandesBaden.

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dass seine Eltern und sein Bruder kurz vor seinerRückkehr verstorben sind. Diese Nachricht zieht ihmden Boden unter den Füßen weg. Ab diesem Zeit-punkt lebt er 16 Jahre auf der Straße und schlägtsich mit Gelegenheitsjobs durch. Durch Zufall kommter im August 2007 in die AWO-Fachberatungsstelleund Wärmestube Tuttlingen, die ihn in das SozialeZentrum Spittelmühle vermittelt. Wolfgang leidet inzwischen an einer Thrombose und kann vorSchmerzen kaum gehen. Dank eines niedrigschwelli-gen Arztangebotes in der Spittelmühle geht es ihmschnell wieder besser. Er bleibt 18 Monate in derSpittelmühle und arbeitet dort aktiv an seiner Wieder-eingliederung. Im Frühjahr 2009 bezieht er im Rah-men des Betreuten Wohnens eine kleine Wohnung,ist heute in der Spittelmühle als Handwerker gering-fügig beschäftigt und zu einem unverzichtbaren Mit-arbeiter geworden.

„Ohne die Spittelmühle“, sagt Wolfgang, „würdeich heute noch auf der Straße leben. Hier habe icheine Chance erhalten, mein Leben wieder in denGriff zu bekommen.“

Ein echtes 'Paradies'

Dass die Wohnungslosenhilfe noch viel mehr seinkann als konkrete Hilfe speziell für wohnungsloseMenschen, zeigt ein AWO-Angebot in Villingen-Schwenningen: das 'Paradies', Tagestreff und Wär-mestube mit Mittagstisch. Dieses niedrigschwellige,alkoholfreie AWO-Angebot der Ambulanten Fachbe-ratung für wohnungslose Menschen richtet sich nichtnur an Wohnungslose, sondern auch an von Woh-nungslosigkeit bedrohte, arme und einsame Mitbür-ger/-innen. Und so trifft sich im gemütlichen Gast-raum der ehemaligen Kneipe 'Paradies' ein rechtbuntes Publikum: ältere Damen, die mit einer schma-len Rente zurechtkommen müssen und gerne dasgünstige Essensangebot nutzen, Menschen auf derDurchreise, die mit Minimal-Budget durch Europa rei-sen, so genannte Solidar-Esser, die mehr Einkommenzur Verfügung haben und mindestens den doppeltenPreis für ein Mittagessen bezahlen – und natürlich

Wohnungslose, die im 'Paradies' preiswert essen,sich von einem Sozialpädagogen fachlich beratenlassen und hier auch ihren Tagessatz in Höhe vonzwölf Euro ausgezahlt bekommen können.

Nicht zuletzt ist das 'Paradies' auch ein Arbeits-platz. Hinter dem Tresen arbeiten neben Ehrenamt-lichen auch so genannte Ein-Euro-Jobber. So man-cher war davon früher selbst regelmäßiger Gast im'Paradies'. Einer von ihnen, ehemaliger Schach-Bundesliga-Spieler und Sachbuchautor, hat gemein-sam mit einem Kollegen das Schachspiel im 'Para-dies' eingeführt. Denn: „Das hatte in Krisenzeitenschon immer gute Dienste geleistet.“ Das Team desTagestreffs ist genauso bunt wie das 'Paradies'-Publi-kum selbst – und schenkt seinen Gästen ganz neben-bei einen Raum für soziale Kontakte und praktischeLebenshilfe.

Die beiden Beispiele zeigen: Ambulante wie sta-tionäre Angebote der AWO-Wohnungslosenhilfesind vielfältig und umfangreich. Allen gemeinsam ist,dass sie wohnungslosen Menschen eine Chance aufein neues Leben bieten.

Fotos: Sozialen Zentrum Spittelmühle, AWO Rottweil

Weitere InfosAWO Soziale Dienste gGmbH,Tel.: 0741/3486150,www.awo-rottweil.de