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awo.org 55. JAHRGANG HEFT 3 MAI/JUNI 2010 G 11394 Die Finanzkrise der Kommunen und ihre Folgen Die Finanzkrise der Kommunen und ihre Folgen

AWO Magazin | Ausgabe 03-2010 | Leseprobe

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Leseprobe AWO Magazin, Ausgabe 03-2010

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55. JAH RGANG H E F T 3 MAI/J U N I 2010

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Die Finanzkrise der Kommunen und

ihre Folgen

Die Finanzkrise der Kommunen und

ihre Folgen

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BL ICKPUNKT

Wilhelm Schmidt, Vorsitzender des Präsidiums

Wolfgang Stadler, Bundesvorsitzender

In den vergangenen Jahren gab es weit reichende gesetzlicheÄnderungen zum Umbau des Sozialstaates. Keine Änderungwird dabei bis heute so kontrovers diskutiert wie die Einführungder Grundsicherung für Arbeitsuchende im Sozialgesetzbuch II(SGB II). Die Regelungen des SGB II, die derzeit knapp siebenMillionen Menschen (darunter rund zwei Millionen Minderjähri-ge) direkt betreffen, sollten einerseits mit einem Mix aus Fördernund Fordern die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfe-bedürftigen stärken. Andererseits sollte die Arbeitsvermittlungverbessert, die Unterstützung bei der Aufnahme oder Beibehal-tung einer Erwerbstätigkeit ausgebaut und das soziokulturelleExistenzminimum für Erwerbsfähige sichergestellt werden.

Die AWO hat die gesetzlichen Neuregelungen intensiv be-gleitet und diskutiert; ein Zusammenlegen von Arbeitslosen- undSozialhilfe dabei grundsätzlich begrüßt. Nach fünf Jahren SGB II lässt sich nüchtern bilanzieren: Das Ziel, der Mehrheitder Langzeitarbeitslosen wirkliche Perspektiven auf eine Integra-tion in den Arbeitsmarkt zu eröffnen und damit ihre Abhängig-keit von staatlichen Transferleistungen zu beenden, wurde je-doch nicht erreicht. Viel bedenklicher noch: Unter der Bezeich-nung 'Hartz IV' wird das SGB II von vielen Menschen nicht alsein Hilfegesetz für Erwerbslose empfunden, sondern es steht fürsozialen Abstieg, Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung.

Vor diesem Hintergrund fordert die AWO in einem aktuel-len Präsidiumsbeschluss einen Paradigmenwechsel: Die Betrof-fenen Menschen müssen sehr viel stärker als bisher im Mittel-punkt aller Hilfs- und Integrationsbemühungen stehen und denIntegrationsprozess auf Augenhöhe mitgestalten können. In deraktuellen öffentlichen Debatte wird bislang zumeist über Sank-tionen diskutiert und Arbeitslose bisweilen auf unanständigeWeise diffamiert. Für die AWO muss es um die Unterstützungder Hilfebedürftigen gehen; individuelle Anstrengungen im Ein-gliederungsprozess müssen sich lohnen.

Klar ist ebenso: Die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitikmuss aus Sicht der AWO zu einer Trendumkehr im Bereich nie-driger und niedrigster Löhne führen. Deshalb müssen die Arbeits-marktinstrumente jenseits der sozialversicherten Beschäftigungs-möglichkeiten verantwortungsvoller als bisher eingesetzt werden.Dies betrifft Instrumente der Leiharbeit, der 400 Euro-Jobs und derso genannten 'Ein-Euro-Jobs'. Für letztere hat die AWO gültigeSelbstverpflichtungserklärungen mit klaren Aussagen zur Freiwil-ligkeit solcher Arbeitsgelegenheiten, zur Kultur der Wertschätzungam Arbeitsplatz und zur Betreuung sowie Fort- und Weiterbildungder Arbeitskräfte. Bezieher von Leistungen der Grundsicherungdürfen nicht diskreditiert werden. Ein Gemeinwesen lebt von derTeilhabe und den Teilhabemöglichkeiten seiner Menschen. WennTeilen aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit die Anerkennung als Bürgerversagt bleibt, ist dies dauerhaft eine Gefahr für die Akzeptanzund Legitimation von Politik und Demokratie insgesamt.

IN DIESER AUSGABE

Impressum17

Fachinformationen16

Publikationen18

Rätsel26

Ländermagazin20

AWOmagazin 3/2010

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Titel: Frank May / (c) dpa

AWO aktuell4

Internationales14

Foto

s: A

WO

Der Mensch steht im Mittelpunkt!

Titel10

Kommunen unter Druck. Ein Interview mit dem Bielefelder Oberbürgermeister Clausen

Serie12

Mit 'born to be CHILD' im Kampf gegen Kinderarmut

AWO Ethikrat nimmt Arbeit auf

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AWOmagazin 3/2010

10 T ITEL

„Wir dürfen aber den Kopfnicht in den Sand stecken“

Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise sind vor allem die Kom-munen finanziell unter Druck geraten. Zahlreiche Städte und Ge-meinden drohen mit Schließungen von Sozial-, Kultur- und Sport-einrichtungen, um Kosten einzusparen. Auch die Arbeit der Trägersozialer Einrichtungen ist von der finanziellen Knappheit betrof-fen. Absehbar ist: Angebote im Lebensumfeld der Bürgerinnenund Bürger werden geringer, entfallen ganz oder sind für vieleMenschen nicht mehr bezahlbar. Mittel- bis langfristig kann diesden Bezug zum Gemeinwesen und damit den Zusammenhalt derGesellschaft vor Ort gefährden.

Das AWOmagazin wird in den kommenden Ausgaben die Aus-wirkungen der Finanzkrise aus verschiedenen Blickwinkeln be-leuchten. Den Auftakt bildet in diesem Heft ein Interview mit demBielefelder Oberbürgermeister Pit Clausen (SPD).

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AWOmagazin 3/2010

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AWOmagazin: Herr Clausen, zahlreiche Kommunenin Deutschland kämpfen offensichtlich mit finanziel-len Problemen. Was sind die Ursachen?

Clausen: Das stimmt, allein in Nordrhein-Westfalenkämpfen etwa 19 Städte mit einer schwierigen Haus-haltslage. Die Ursachen hierfür sind sicher vielfältig.Altschulden, die Folgen der Rezession und der damitverbundene Einbruch bei der Gewerbesteuer, Min-dereinnahmen durch die Steuersenkungspolitik derBundesregierung sowie Neubelastungen vom Bundfür die Kommunen, z.B. durch den Ausbau der U-3-Betreuung, sind Gründe für die angespannte Lage inBielefeld.

Was tun Sie in Bielefeld bzw. was müssen Sie tun, umdiesen finanziellen Schwierigkeiten zu begegnen?

Dafür gibt es eigentlich nur ein Rezept: Reduzierungder Ausgaben – soweit möglich – und Erhöhung derEinnahmen – soweit angemessen.

Können Sie neben Ihren gesetzlichen Pflichtaufgabenauch noch freiwillig Leistungen für Ihre Stadt 'lockermachen'? Sprich: Welche Möglichkeiten haben Sieüberhaupt noch, um Ihre Stadt zukunftstauglich zugestalten?

Kommunen mit einem Haushaltssicherungskonzept istes nicht gestattet, sich im Konsolidierungszeitraum zuweiteren freiwilligen Leistungen zu verpflichten. Wirdürfen aber den sprichwörtlichen Kopf nicht in denSand stecken. Kreativität ist gefragt. Wichtige Zu-kunftsaufgaben, wie z.B. der Ausbau des öffentlichenNahverkehrs, müssen vorangebracht und neue Per-spektiven, z.B. die Weiterentwicklung des Bildungs-standortes Bielefeld, müssen geschaffen werden. Da-her habe ich für diese Zukunftsfelder den Bielefeld-Paktins Leben gerufen, an dem bisher alle Parteien – bisauf die Linke – im Sinne einer breiten Basis mitwirken.

Bis 2013 soll rund 35 Prozent der Kleinkindeltern einBetreuungsplatz angeboten werden. Dieses Ziel wirdin letzter Zeit augenfällig in Frage gestellt? Was ge-denken Sie zu tun, damit dieses Ziel erreicht werdenkann?

Bei dem Ausbau des U-3-Bereichs handelt es sich umeine Pflichtaufgabe der Kommune. In Bielefeld habenwir bereits einen Ausbaustand von etwa 29 Prozenterreicht und ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die35 Prozent bis zum Jahr 2013 erreichen werden.

Ist ein Ende der Finanzmisere absehbar? Wenn nein,was muss getan werden, um den Kommunen weiterHandlungsspielraum zu geben?

Erste Anzeichen deuten auf eine langsame wirt-schaftliche Erholung hin. Dennoch stehen insbeson-

dere dem Arbeitsmarkt noch schwierige Zeiten be-vor. Vieles wurde bisher durch öffentliche Program-me abgefangen.

Zu Ihrer zweiten Frage: Die Grundfinanzierung derKommunen muss verbessert werden. Ohne wirklicheÄnderungen sehe ich nicht, wie wir jemals aus derSchuldenfalle kommen sollten. Einerseits werden unsimmer mehr Pflichten aufgebürdet, andererseits keineMittel zur Verfügung gestellt, um diese umsetzen. ImGegenteil. Es werden Steuersenkungen in Berlin be-trieben, die letztlich wieder den Kommunen schaden.

Ist eine gewisse Resignation, ein Abwenden unter denBielefelder Bürgerinnen und Bürgern von "ihrer" Stadtspürbar? Nehmen Apathie und Desinteresse zu?

Ich glaube nicht, dass Apathie und Desinteresse zu-genommen haben. Gerade Themen wie Bildung undKlimaschutz genießen nach wie vor eine hohe Auf-merksamkeit. So habe ich beispielsweise AnfangMärz zu einer Veranstaltung 'Bildung als Zukunfts-schlüssel' eingeladen, die auf sehr große Resonanzgestoßen ist. Darüber habe ich mich sehr gefreut,denn damit ist eine gesellschaftspolitische Diskussionzum Thema Bildung in Bielefeld begonnen worden.Dieses Thema ist für alle wichtig: für die Kinder, El-tern, Wirtschaft und die Stadt. Nur über einen Kon-sens aller relevanten Gruppen erreichen wir hier Fort-schritte, da Bildung so viele unterschiedliche Facettenhat.

Gibt es aus Ihrer Sicht zwischen ost- und westdeut-schen Kommunen gravierende Unterschiede in denAuswirkungen der angespannten Finanzsituation aufdie tagtäglichen Aufgaben der Städte und Gemein-den? Wenn ja, worin bestehen diese?

Ostdeutsche Kommunen profitieren sicher noch vomSolidarpakt. Dadurch haben sie einfach einen größe-ren Handlungsspielraum, der vielen westdeutschenKommunen momentan nicht zur Verfügung steht.

Vielen Dank!

Interview: Peter KuleßaFoto: Stadt Bielefeld

Pit Clausen ist 1962 in Düsseldorf geboren. Von1990 bis Oktober 2009 war er Richter in derArbeitsgerichtsbarkeit an den ArbeitsgerichtenDüsseldorf, Herford, Detmold, Bochum, Hagen,Paderborn und Bielefeld. Seit Oktober 2009 istClausen hauptamtlicher Oberbürgermeister derStadt Bielefeld, gewählt auf sechs Jahre.