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journalistische Qualität erklären lässt, die dieser Sendung zugeschrieben wird. Sie hat dazu in elf Leitfadeninterviews Redakteure, Reporter, Mo- deratoren und Verantwortliche befragt und auf dieser Basis beschrieben, wie die Nummer eins der deutschen Fernsehnachrichten-Welt produ- ziert wird. Wer eine Redaktion von innen kennt, wird so kaum zu überraschen sein, zumal sich der empirische Aufwand in Grenzen gehalten hat. Spannend ist dagegen der theoretische Rahmen, in dem diese soziologische Dissertation entstan- den ist. Um den »Mythos Tagesschau« zu dekon- struieren, nutzt Schäfer die Feld-Theorie von Pierre Bourdieu. Nachdem Gilles Bastin in dieser Zeitschrift vor fünf Jahren noch bezweifelt hat, dass bei Bourdieu ein »journalistisches Feld« existiert und dass dieser Ansatz irgendetwas »Neues« oder »Überzeugendes« leisten kann (vgl. Publizistik, 48. Jg., S. 258-273), belegt Sabine Schäfer jetzt das Gegenteil. Sie fragt nach »sozia- len Machtverhältnissen« und nach »Relationen« zwischen den Akteuren und zeigt, welcher Er- kenntnisgewinn möglich ist, wenn man das Ha- bitus-Konzept verwendet und zum Beispiel nicht das Konzept der sozialen Rolle. Schäfer setzt sich dazu ausführlich und pointiert mit der kommu- nikationswissenschaftlichen Journalismusfor- schung auseinander (vor allem mit Dovifats »publizistischer Persönlichkeit« sowie mit den Arbeiten, die sich auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns stützen) und diskutiert dabei auch die Schwierigkeiten, vor denen eine vergleichs- weise junge akademische Disziplin steht, wenn sie eigene Theorien bilden will. Dass die Konzeptualisierung des »journalisti- schen Feldes« und die empirische Umsetzung bei Sabine Schäfer nicht ganz ausgereift sind, mag man ihr mit Blick auf die theoretische Anregung verzeihen. Schäfer arbeitet zwar gleich an mehre- ren Stellen die »illusio« heraus, an die ihre Inter- viewpartner glauben und nach der es im »journa- listischen Feld« vor allem um objektive Wahrheit und Aktualität geht, die Logik aber, der dieses Feld gehorcht und nach der es äußere Zwänge bricht, diskutiert sie ebenso wenig systematisch wie die Kapitalstruktur, die die Position der Ak- teure im Feld bestimmt. Der Hinweis auf einen »Profit« in Form von Publikums-Aufmerksam- keit und Einschaltquoten (S. 53) genügt hier si- cher nicht. Wenn man tatsächlich wissen will, warum Fernsehzuschauer die ›Tagesschau‹ offen- bar für glaubwürdiger halten als andere Nach- richtensendungen, dann darf sich die »Feld-Ana- lyse« außerdem nicht auf eine einzige Redaktion beschränken. Dass Sabine Schäfer offenbar tat- sächlich glaubt, »Generalisierungen« (S. 70) sei- en nicht das Ziel sozialwissenschaftlicher Analy- sen (worum soll es eigentlich sonst gehen?), er- klärt vielleicht ein Methodenkapitel, in dem we- der die Auswahlkriterien und der Auswahlpro- zess reflektiert werden noch die Kategorien, die die Auswertung geleitet haben. Material und theoretische Perspektive führen zwangsläufig zu einem Bild, in dem die ›Tagesschau‹-Redaktion vor allem als »Schauplatz sozialer Wettkämpfe« gezeichnet wird. Sabine Schäfer kann aber auch zeigen, wie Arbeitsprozesse, redaktionelle Struk- turen und Generationserfahrungen die Wahr- nehmung der Themen beeinflussen. Im Macht- gefüge der Redaktion »ARD-aktuell« stehen die Manager (die Planungs- und die Filmredaktion) vor Wortredakteuren und Reportern und be- stimmen damit viel eher als die Textproduzen- ten, wie die ›Tagesschau‹ am Ende aussieht. Die These allerdings, dass sich der »Kampf um Aner- kennung im journalistischen Feld« für die Be- fragten nahezu ausschließlich in der eigenen Redaktion abspielt, ist sicher ein Methoden- Artefakt. Trotzdem regen die Befunde und noch mehr die theoretische Diskussion dazu an, den Ansatz von Sabine Schäfer auszubauen. Viel- leicht heißt die Zukunft der Journalismusfor- schung ja doch nicht Luhmann, sondern Bourdieu. MICHAEL MEYEN, München Christian Pentzold: Wikipedia. Diskussionsraum und Informationsspeicher im neuen Netz. – München: Verlag Reinhard Fischer 2007 (= Rei- he: Internet Research; Bd. 29), 294 Seiten, Eur 20,–. Das noch junge Forschungsfeld der ›Wikipedis- tik‹, also der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, wird mit der vorliegenden Arbeit Christian Pentzolds erweitert. Die Studie verbindet das Diskurskon- zept und die Wissensanalyse Michel Foucaults mit einer Untersuchung der Wikipedia. Für die Publikation hat der Autor seine im Jahr 2006 an der TU Chemnitz eingereichte Masterarbeit er- weitert. Wikipedia wird in ihrer Doppelfunktion als »Diskussionsraum« und »Informationsspeicher« beleuchtet. Pentzold greift Laniers Kritik an Wi- kipedia auf (»Eine grausame Welt«) und setzt da- 146 Buchbesprechungen

Christian Pentzold: Wikipedia . Diskussionsraum und Informationsspeicher im neuen Netz

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Page 1: Christian Pentzold:   Wikipedia  . Diskussionsraum und Informationsspeicher im neuen Netz

journalistische Qualität erklären lässt, die dieserSendung zugeschrieben wird. Sie hat dazu in elfLeitfadeninterviews Redakteure, Reporter, Mo-deratoren und Verantwortliche befragt und aufdieser Basis beschrieben, wie die Nummer einsder deutschen Fernsehnachrichten-Welt produ-ziert wird. Wer eine Redaktion von innen kennt,wird so kaum zu überraschen sein, zumal sich derempirische Aufwand in Grenzen gehalten hat.Spannend ist dagegen der theoretische Rahmen,in dem diese soziologische Dissertation entstan-den ist. Um den »Mythos Tagesschau« zu dekon-struieren, nutzt Schäfer die Feld-Theorie vonPierre Bourdieu. Nachdem Gilles Bastin in dieserZeitschrift vor fünf Jahren noch bezweifelt hat,dass bei Bourdieu ein »journalistisches Feld«existiert und dass dieser Ansatz irgendetwas»Neues« oder »Überzeugendes« leisten kann (vgl.Publizistik, 48. Jg., S. 258-273), belegt SabineSchäfer jetzt das Gegenteil. Sie fragt nach »sozia-len Machtverhältnissen« und nach »Relationen«zwischen den Akteuren und zeigt, welcher Er-kenntnisgewinn möglich ist, wenn man das Ha-bitus-Konzept verwendet und zum Beispiel nichtdas Konzept der sozialen Rolle. Schäfer setzt sichdazu ausführlich und pointiert mit der kommu-nikationswissenschaftlichen Journalismusfor-schung auseinander (vor allem mit Dovifats»publizistischer Persönlichkeit« sowie mit denArbeiten, die sich auf die Systemtheorie NiklasLuhmanns stützen) und diskutiert dabei auchdie Schwierigkeiten, vor denen eine vergleichs-weise junge akademische Disziplin steht, wennsie eigene Theorien bilden will.

Dass die Konzeptualisierung des »journalisti-schen Feldes« und die empirische Umsetzung beiSabine Schäfer nicht ganz ausgereift sind, magman ihr mit Blick auf die theoretische Anregungverzeihen. Schäfer arbeitet zwar gleich an mehre-ren Stellen die »illusio« heraus, an die ihre Inter-viewpartner glauben und nach der es im »journa-listischen Feld« vor allem um objektive Wahrheitund Aktualität geht, die Logik aber, der diesesFeld gehorcht und nach der es äußere Zwängebricht, diskutiert sie ebenso wenig systematischwie die Kapitalstruktur, die die Position der Ak-teure im Feld bestimmt. Der Hinweis auf einen»Profit« in Form von Publikums-Aufmerksam-keit und Einschaltquoten (S. 53) genügt hier si-cher nicht. Wenn man tatsächlich wissen will,warum Fernsehzuschauer die ›Tagesschau‹ offen-bar für glaubwürdiger halten als andere Nach-richtensendungen, dann darf sich die »Feld-Ana-lyse« außerdem nicht auf eine einzige Redaktion

beschränken. Dass Sabine Schäfer offenbar tat-sächlich glaubt, »Generalisierungen« (S. 70) sei-en nicht das Ziel sozialwissenschaftlicher Analy-sen (worum soll es eigentlich sonst gehen?), er-klärt vielleicht ein Methodenkapitel, in dem we-der die Auswahlkriterien und der Auswahlpro-zess reflektiert werden noch die Kategorien, diedie Auswertung geleitet haben. Material undtheoretische Perspektive führen zwangsläufig zueinem Bild, in dem die ›Tagesschau‹-Redaktionvor allem als »Schauplatz sozialer Wettkämpfe«gezeichnet wird. Sabine Schäfer kann aber auchzeigen, wie Arbeitsprozesse, redaktionelle Struk-turen und Generationserfahrungen die Wahr-nehmung der Themen beeinflussen. Im Macht-gefüge der Redaktion »ARD-aktuell« stehen dieManager (die Planungs- und die Filmredaktion)vor Wortredakteuren und Reportern und be-stimmen damit viel eher als die Textproduzen-ten, wie die ›Tagesschau‹ am Ende aussieht. DieThese allerdings, dass sich der »Kampf um Aner-kennung im journalistischen Feld« für die Be-fragten nahezu ausschließlich in der eigenenRedaktion abspielt, ist sicher ein Methoden-Artefakt. Trotzdem regen die Befunde und nochmehr die theoretische Diskussion dazu an, denAnsatz von Sabine Schäfer auszubauen. Viel-leicht heißt die Zukunft der Journalismusfor-schung ja doch nicht Luhmann, sondernBourdieu. MICHAEL MEYEN, München

Christian Pentzold: Wikipedia. Diskussionsraumund Informationsspeicher im neuen Netz. –München: Verlag Reinhard Fischer 2007 (= Rei-he: Internet Research; Bd. 29), 294 Seiten, Eur20,–.

Das noch junge Forschungsfeld der ›Wikipedis-tik‹, also der wissenschaftlichen Beschäftigungmit der Internet-Enzyklopädie Wikipedia, wirdmit der vorliegenden Arbeit Christian Pentzoldserweitert. Die Studie verbindet das Diskurskon-zept und die Wissensanalyse Michel Foucaultsmit einer Untersuchung der Wikipedia. Für diePublikation hat der Autor seine im Jahr 2006 ander TU Chemnitz eingereichte Masterarbeit er-weitert.

Wikipedia wird in ihrer Doppelfunktion als»Diskussionsraum« und »Informationsspeicher«beleuchtet. Pentzold greift Laniers Kritik an Wi-kipedia auf (»Eine grausame Welt«) und setzt da-

146 Buchbesprechungen

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mit Visionären, die in dem kollaborativen Pro-zess der Wissensgenerierung bereits eine »idealeSprechsituation« verwirklicht sehen, mit einerdurch Foucault inspirierten Genealogie derMacht-/Wissen-Regime eine kritische Analysedes vermeintlich neutralen Wissensspeichers ent-gegen.

Nicht die scheinbar »glatten Oberflächen« dereinzelnen Artikel als vorläufige Endprodukte ste-hen im Mittelpunkt von Pentzolds Untersu-chung, sondern der dahinter ablaufende Diskus-sionsprozess auf den so genannten »talk pages«:»Wie und worüber kommunizieren die Autorenwährend der Redigier-Aktivitäten?« (S. 11) Pent-zold geht bei der Betrachtung der editorischenAktivitäten linguistisch-diskursanalytisch vor.Mit Hilfe Foucault’scher Argumentation ent-wirft der Verfasser einen eigenen Analyserahmenfür Wikipedia, der »eine theoretisch-methodi-sche Perspektive« aufzeigen soll. Im Rahmenzweier Fallbeispiele wird das erarbeitete Instru-ment geprüft.

Die gewählten Artikel und ihre zugehörigenDiskussionsseiten aus der deutschen (»Verschwö-rungstheorie«) und der englischen Wikipedia (»7July 2005 London bombings«) bieten eine prä-gnante Angriffsfläche, so dass sich diskursiveVerwerfungen leicht offen legen lassen (z. B.›Terrorismusdiskurs‹). Die Auswahl erlaubt keinedirekte Generalisierung für die Wikipedia der je-weiligen Sprachausgabe. Auch das Zustande-kommen der Artikel – also die editorische Aktivi-tät im Zeitverlauf – ist völlig unterschiedlich, wieder Autor demonstriert. Am Beispiel »Londonbombings« wird deutlich, dass die Würdigungaktueller Ereignisse zuweilen rasant innerhalbder Enzyklopädie geschieht. Die beschriebenenDiskussionen zur Informationsqualität des Arti-kels und zu geeigneten Referenzen zeigen jedochdas Spannungsfeld, in dem sich die beitragendenAkteure hier angesichts mangelnder Sekundär-quellen bewegen (S. 224).

Im Vergleich der Kapitel ist anzumerken, dassdie Beschäftigung mit den Prinzipien und demForschungsstand zur Wikipedia sowie auch über-geordneter Aspekte (»Social Software«) etwas ge-drängt erscheint, während Foucaults Programmund die Diskursanalyse als Forschungsbereichdetailreich erörtert werden. Die Darstellung indiesen Abschnitten ist angesichts vieler Einzel-bausteine, die aus dem Werk Foucaults herange-zogen werden, theoretisch komplex und gele-gentlich überfrachtet. Der Autor selbst zieht sichhinter die »Werkzeugkiste« Foucaults zurück,

wenn er die umfangreich begründeten Katego-rien seines Analyserahmens nicht immer ganztrennscharf auf die gewählten Beispiele anwen-den kann (S. 103, 122). Dies gilt gerade für die»Entfaltungsmuster der Editierschritte«, diePentzold der »Archäologie des Wissens« (Fou-cault 1969) entsprechend im ersten Fallbeispielauf immerhin 45 Seiten zerlegt.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Sichtsind die untersuchten thematischen und argu-mentativen Strukturen der Diskussionsseite so-wie die Offenlegung diskursiver Regime inner-halb der Wikipedia reizvoll. Zusammen be-schreiben sie die sich herausbildenden (instabi-len) Machtpositionen und dahinterliegendenStrategien der »Artikelbesitzer«. Der Verfasserliefert mit seiner umfangreichen Analyse nichtnur einen lohnenswerten Einblick in diskursivePraktiken der Enzyklopädie, sondern auch eineEinführung in das Werk Foucaults.

CHRISTIAN NUERNBERGK, Münster

Andrew Crisell: A Study of Modern Television.Thinking Inside the Box. – Houndmills, NewYork: Palgrave MacMillan 2006, 184 Seiten,Hardback: GBP 49,50/USD 95,–; Paperback:GBP 16,99/USD 32,95.

Fernsehen präsentiert sich dem Publikum als einStrom von Bildern, Geräuschen und Worten, dersich verflüchtigt, wenn man ihn zu einem Textzusammenzufassen versucht. Andrew Crisell ge-lingt es, etwas von dieser irritierenden Vielfaltdes Fernsehens in seine Studien einzufangen undtrotzdem zu konkreten Aussagen zu kommen.

Das Buch umfasst einen historischen Teil, dervon den frühen Anfängen des Mediums bis zuheutigen politischen und praktischen Gegeben-heiten reicht, einen auf TV-Genres bezogenenmittleren Teil und einen das Fernsehpublikumthematisierenden Abschluss.

Wenn die Entwicklung des Mediums in denBlick geraten soll, ist der augenblickliche Zeit-punkt einer Wende in der Fernsehgeschichte gutgewählt. Auffallend sind für den deutschen Leserdie Gemeinsamkeiten der (bundesrepublikani-schen) Nachkriegsära mit den im ersten Teil dar-gestellten Vorgängen in Großbritannien. EinVergleich mit der BBC zeigt, dass das ›Erzie-hungsfernsehen‹ der 1950er und -60er Jahre inder britischen Fernsehgeschichte eine Parallele

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