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Oldenburger Universitätsreden Nr. 45 Friedemann W. Golka Die biblische Josefsgeschichte und Thomas Manns Roman Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg 1991

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Oldenburger Universitätsreden

Nr. 45

Friedemann W. Golka

Die biblische Josefsgeschichteund Thomas Manns Roman

Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg1991

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VORWORT

Der hier veröffentlichte Text geht auf einen Vortrag zurück,den Friedemann W. Golka auf Einladung der Universitätsge-sellschaft Oldenburg e. V. gehalten hat.

Die Josefserzählung aus dem Alten Testament (Buch Genesis37-50) ist eine der schönsten Erzählungen in der ganzenBibel. Sie ist eine Novelle, die von ihrer Kompositionstechnikdeutlich über die alten Einzelsagen und Sagenkränze hinaus-greift. Viele deutsche Alttestamentler haben die Erzählunghäufig in verschiedene Quellen zerlegt; sie zerstörten damitdie kunstvolle Komposition und begriffen nicht das Genie desAutors.

Dies hat sich erst mit den Arbeiten des renomierten Heidel-berger Alttestamentlers Gerhard von Rad geändert. Von Radhat das literarische Genie des Autors der Josefserzählungerkannt und ihren Hintergrund in der hebräischen Weisheitausgemacht. Josef wird als der vorbildliche Weise dargestellt.Theologisch geht es in der Novelle um die Führung der Men-schen durch Gott.

Kein Wunder also, daß ein Schriftsteller wie Thomas Manndiesen Stoff aufgreift. Merkwürdigerweise ist die biblischeErzählung aber viel weltlicher als Thomas Manns vomMythos beeinflußter Roman. Von Rad hat sich im Jahre 1965in einem Aufsatz mit Thomas Manns Roman auseinanderge-setzt. Seit dieser Zeit hat die Mann'sche Joseftriologie einengroßen Einfluß auf die alttestamentliche Forschung genom-men.

Es ist die leitende These des Vortrages, daß der Roman vonThomas Mann die Erforschung und Exegese des Pentateuch,

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das sind die fünf Bücher Mose des Alten Testamentes, schonentscheidend verändert hat und noch weiter verändern wird.

Oldenburg, im März 1991 Friedrich W. Busch

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FRIEDEMANN W. GOLKA

Die biblische Josefsgeschichte und Thomas Manns Roman

Wenn ein Alttestamentler ein solches Thema anpackt, ist erzwar, was Gen 37-50 angeht, Experte, wird aber auf der ger-manistischen Seite ganz unvermeidlich zum Dilettanten. DemGermanisten ginge es da nicht besser, wollte er sich an einerAuslegung der Josefsgeschichte der Genesis versuchen. DerOldenburger Thomas-Mann-Kenner, mein Kollege ManfredDierks, hat mir zwar freundlicherweise ein paar Nach-hilfestunden erteilt, was ich Ihnen vorzutragen habe, bleibtaber eben doch die Perspektive eines Alttestamentlers, derwohl von der Liebe zur biblischen Erzählkunst zu der desThomas Mann gekommen ist.

Ich will Ihnen daher zunächst die Versuche der alttestamentli-chen Wissenschaft schildern, die biblische Josefsgeschichteauszulegen. Von der Hauptlinie dieser Wissenschaft istThomas Mann gänzlich unberührt geblieben. Sie hätte ihmauch wenig zu sagen gehabt. Er bezieht seine biblischenInformationen vielmehr von einem Sonderling in unsererDisziplin, von Alfred Jeremias, dessen Buch "Das Alte Testa-ment im Lichte des alten Orients", Leipzig 1904, er verwendethat. Dieser Alfred Jeremias gehörte zu den sog. Pan-babyloni-sten, die das AT exklusiv vor dem babylonischen Hintergrunderklärt haben. Darüber später mehr. Wichtige anthropo-logische Daten bezog Thomas Mann von Edgar Dacqué"Urwelt, Sage und Menschheit", 1924. Sein Mythos-ver-ständnis stützte Thomas Mann auf die zwischen 1903 und1924 erschienenen Werke Dmitri Mereschkowskis. Aber, wieManfred Dierks gezeigt hat, kann man Thomas Mann ohnedie Philosophie Schopenhauers, die Kritik Nietzsches undauch die Leitmotivik Richard Wagners kaum verstehen.

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Aber zurück zum Alten Testament. Wie man im ausgehenden19. Jh. die biblische Josefsgeschichte anging, zeigt am bestendas Werk "Die Composition des Hexateuchs" (1866 bzw.1877) des großen Göttinger Alttestamentlers Julius Wellhau-sen. Der Hexateuch, das sind die sechs ersten Bücher unsererBibel (Genesis-Josua), zu denen also auch unsere Josefsge-schichte gehört, ist für Wellhausen ein Literaturwerk, das ausvier parallel durchlaufenden schriftlichen Quellen besteht. DieEntstehung unserer Josefsgeschichte wäre dann also aus einerKombination von schriftlichen Quellen zu einem neuen litera-rischen Ganzen zu erklären. Das ist so verkehrt nicht, denn,im Gegensatz zum restlichen Hexateuch, zeigt die Josefsge-schichte tatsächlich, daß sie schriftlich entstanden und ganzbewußt komponiert ist.

Wie sieht und datiert Wellhausen nun diese Quellen, die er zuseiner Rekonstruktion der israelitisch-jüdischen Religionsge-schichte benötigt? Die älteste Quelle nennt er "Jahwist" (abge-kürzt: J) nach dem hebräischen Gottesnamen "Jahwe". Erdatiert sie ins 9. vorchristliche Jh., die Zeit nach der Reichs-spaltung. Seinen Jahwisten lokallsiert er im Südreich, also inJuda, vermutlich am Hof in Jerusalem. Diesem Jahwistenschreibt er eine durchlaufende theologisch-literarischeKomposition zu, die von der Schöpfungserzählung in Gen 2bis zu den Landnahmeerzählungen im Buche Josua reicht. DerGeist dieses Werkes ist universalistisch, liberal und aufJerusalem hin orientiert. In der Josefsgeschichte ist es dieBetonung der Rolle Judas unter den Brüdern - mt Gegensatzzu Ruben, dem ältesten -, die Wellhausen für das Werk seinesjudäischen Jahwisten hält.

Nach Wellhausen ist dieses jahwistische Werk dann im 8. Jh.im israelitischen Nordreich bearbeitet worden. Diese Bearbei-tung nennt er "Elohist", nach dem hebräischen Wort "elohim"= Gott, denn diese konservative Bearbeitung vermeidet denGottesnamen. Der konservative Charakter von E zeigt sichdaran, daß das Werk keine Urgeschichte hat. Es spricht vonder Erwählung Abrahams und seiner Nachkommen, ohne wie

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J den Segen Gottes für alle seine Geschöpfe zu erwähnen. Dasdürfte an der Abwehr alles kanaanäischen Wesens durch diePropheten des 8. Jh.s in Nordisrael liegen. In derJosefsgeschichte schreibt Wellhausen E den Löwenanteil zu.Sprecher der Brüder ist Ruben, der älteste. Auch E soll angeb-lich ein Werk von der Erwählung Abrahams bis zur Land-nahme sein. Das ist in der Forschung aber stets bezweifeltworden.

Wellhausens dritte Quelle ist D, das Deuteronomium. Er iden-tifiziert es mit dem Gesetzbuch des Königs Josia, das im 7.Jh.in Jerusalem gefunden wurde, wenn es auch ursprünglich ausdem Norden stammen mag. Da D auf das BuchDeuteronomium beschränkt ist, hat es auf die Josefsgeschichtekeinen Einfluß.

Wellhausens vierte und letzte Quelle ist die Priesterschrift (P).Sie spiegelt die theologischen Interessen der Gemeinde deszweiten Tempels wider, z.B. den Opferkult. In derJosefsgeschichte spielt P so gut wie keine Rolle, höchstensvon der Endkonzeption des Hexateuch her, die Wellhauseneinem Redaktor R JEDP zuschreibt.

Damit haben wir Wellhausens Vierquellentheorie (abgekürzt:JEDP) vor uns, die auch "Urkundenhypothese" genannt wird.Macht die Josefsgeschichte nun den Eindruck, sie sei voneinem Redaktor aus schriftlichen Quellenzusammengestückelt worden, oder ist sie vielmehr eineEinheit, eine gut durchdachte Komposition, das Werk einesliterarischen Genies? Thomas Mann hat sich intuitiv für dasletztere entschieden.

Wellhausen selbst hat den Ernst der Frage völlig erkannt. Ichzitiere aus der 'Composition des Hexateuchs' zurJosefsgeschichte: "Die Hauptquelle ist auch für diesen letztenAbschnitt der Genesis JE. Es ist zu vermuten, daß dies Werkhier wie sonst aus J und E zusammengesetzt sei; unserefrüheren Ergebnisse drängen auf diese Annahme und würden

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erschüttert werden, wäre sie nicht erweisbar".1 IstWellhausens Annahme aber erweisbar? M.E. nicht!Wellhausen hatte den Jahwisten als ein durchlaufendes Werkbeschrieben, das der Elohist später überarbeitet hat, alsovoraussetzt. In der Josefsgeschichte ist das Verhältnis derbeiden Textgruppen aber genau umgekehrt! Der durch-laufende Erzählfaden ist der angeblich jüngere Elohist (derden Gottesnamen vermeidet und Ruben zum Sprecher derBrüder macht). Dieser Erzählfaden ist später von einem(angeblich älteren) Jahwisten bearbeitet worden (der denGottesnamen gebraucht und Juda zum Sprecher der Brüdermacht). An dem verkehrten Verhältnis von J und E scheitertalso in der Josefsgeschichte die WellhausenscheUrkundenhypothese. Sie ist m.E. auch für den übrigenPentateuch (die sog. fünf Bücher Mose) aufzugeben, denn dieZusammengehörigkeit der jahwistischen und elohistischenTexte in den verschiedenen Erzählungsgruppen hatWellhausen zwar behauptet, aber niemals nachgewiesen.

Daß damit zwar die Urkundenhypothese, nicht aber dieliterarkritische Methode als solche hinfällig geworden ist,zeigt besonders schön die Studie meines OldenburgerVorgängers Walter Dietrich, "Die Josephserzählung alsNovelle und Geschichtsschreibung", 1989. Hat sich derExeget erst einmal von den Scheuklappen derUrkundenhypothese freigemacht, so bekommt er plötzlich dasGenie des Josefserzählers voll in den Blick. In der deutschenForschung wurde die Vorherrschaft Wellhausens zunächsteinmal durch die formgeschichtliche Methode HermannGunkels gebrochen. In mehreren um die Jh.wendeerschienenen Auflagen seines Genesiskommentars vertratGunkel die These: "Die Genesis ist eine Sammlung vonSagen", also zunächst mündliche Überlieferung! Damit war

1 J. Wellhausen: Die Composition des Hexateuchs und der historisehen

Bücher des Alten Testaments. 1899 (Nachdruck Berlin: de Gruyter 1963),S. 52

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die Tyrannis der Wellhausenschen Quellen überwunden.Gunkel hat sie zwar bestehen lassen, sie waren ihm jedochunwichtig, da die Erzählungen ihre entscheidende Form undEntwicklung auf der mündlichen Überlieferungsstufe erfahrenhatten. Gunkel zeichnete ein lebendiges Bild der Entstehungder Sagenkränze von Abraham, Isaak und Jakob.

Aber, was brachte Gunkels Formgeschichte für die biblischeJosefsgeschichte? Herzlich wenig! Mit seinerformgeschichtlichen Arbeitsweise fragte Gunkel immer nachden kleinsten Einheiten: der Erzählung, dem Lied, demSprichwort oder dem Prophetenspruch. Die Josefsgeschichtebesteht aber nicht aus solchen kleinsten Einheiten, sondern sieist eine Novelle, ein wohldurchdachtes literarisches Ganzes.Sie entstand nicht durch mündliche Überlieferung, sondernwurde bereits schriftlich konzipiert. Suchte er nach dem Geniedes Josefserzählers, so hatte Thomas Mann auch von diesemAlttestamentler wenig Hilfe zu erwarten.

Die formgeschichtliche Methode wurde in deralttestamentlichen Wissenschaft von derÜberlieferungsgeschichte abgelöst. Sie kam für Thomas Mannzu spät, denn nach der kurzen Palästinareise im Jahre 1925begann er bereits 1926 mit der Niederschrift seinesJosefromans. "Die Geschichten Jakobs" sind 1933 erschienen.Vorher, im Jahre 1930, hat er noch einmal eine ausgedehntereReise durch Palästina und Ägypten unternommen. Aber anvielen Stellen hat Thomas Mann die Ergebnisse derÜberlieferungsgeschichte antizipiert.

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In Deutschland ist die überlieferungsgeschichtliche Methodeuntrennbar mit dem Namen Martin Noths verknüpft. NachVorstudien aus dem Jahre 1943 konnte, kriegsbedingt, imJahre 1948 endlich seine "Überlieferungsgeschichte desPentateuch" erscheinen. Hierin baut Noth auf der von Gunkelherausgearbeiteten mündlichen Tradition und derenSagenkränzen auf. Das führt zu einer neuen Sicht derErzväterüberlieferung.

Die Erzväter sind uns in der Genesis als eine Familie in dreiGenerationen geschildert, wobei Abraham der Vater des Isaakund Großvater des Jakob geworden ist. Dies ist aber eineTechnik des Erzählers, der unabhängige Sagenkränze dadurchverbindet, das er Verwandtschaftsbeziehungen zwischen ihrenHelden herstellt. So sind z.B. Mose, Aaron und Mirjam zuGeschwistern, Abraham und Lot zu Onkel und Neffen undJakob und Esau zu Brüdern geworden. Hat man diese Technikdes Erzählers erkannt, zeigt sich, daß die von Thomas Mannfavorisierten Jakobgeschichten den ältestenÜberlieferungskreis der Vätergeschichte darstellen. Jakob warder Patriarch Zentralpalästinas und des Ostjordanlandes.Abraham und Isaak gehören in den Süden, wobei allerdingsdie Überlieferung der jüngeren Abrahamgruppe die derälteren Isaakleute fast völlig verdrängt hat. Erzählungen mitIsaak als dem Helden finden wir eigentlich nur noch in Gen26, sonst beschränkt sich seine Rolle darauf geboren, beinahegeopfert und statt dessen verheiratet zu werden.

So nimmt es nun auch nicht Wunder, daß die Erzählungenvon allen drei Patriarchen immer wieder Ähnliches berichten.Denn sie sind ja alle drei Kultgründer. Ihre Nachkommenverehren den Gott ihres Vaters. Alle drei sind Wanderer aufder Suche nach Land, und das Fortbestehen ihrer Familien istimmer in Gefahr, sei es durch Hungersnot - einemZentralmotiv in der Josefsgeschichte -, Unfruchtbarkeit oderihre eigene Dummheit. Aber die Verheißung des jeweiligenVätergottes ist mit allen drei Patriarchengruppen, und ihr

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Fortbestehen ist ein Zeichen seines Segens. Der Segen Gottesbedeutet hier konkret Fruchtbarkeit von Menschen und Vieh.

Dieses Prinzip der Wiederholung in den Vätererzählungen hatnun seine Entsprechung bei Thomas Mann, wie ManfredDierks in seinem Beitrag zum Lübecker Thomas-Kollquium1986 gezeigt hat. Josef erlebt quasi noch einmal dieErfahrungen Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ein GroßknechtElieser scheint in jeder Generation von neuem aufzutauchen.Seine Identität bleibt gleichsam in der Schwebe. Er lächeltuns aus jeder Epoche der Frühgeschichte an: "Hier bin ichwieder!" Er ist Typus, wie die Patriarchen selbst auch.

Woher stammt dieses Wiederholungsprinzip, wenn eineBeeinflussung Thomas Manns durch die NothscheÜberlieferungsgeschichte ausgeschlossen ist? Nach Dierkserzählt Thomas Manns Werk auch die PhilosophieSchopenhauers. Der Josefsroman handelt dann "vom Ausgangdes Menschen aus seiner Verhaftung im mythischVorgeprägten... und am Ende von einer märchenhaftenSchwebefreiheit des Individuums zwischenVorherbestimmtheit und Selbstsetzung"2 Mann verwendet denMythosbegriff auf eine Weise, "daß damit im Grunde alleWesen der Welt nur eins seien" (ebd.). Die biblischeVätergeschichte begegnet sich hier mit der PhilosophieSchopenhauers und dessen Interpretation der Welt als Willeund Vorstellung. Eigentlich real sind nach Dierks beiSchopenhauer und Thomas Mann "nicht die Einzelwesen,sondern das Ding an sich 'hinter ihnen'".3 Wir finden hierAnklänge der platonischen Ideenlehre und desmittelalterlichen Universalienstreites - obwohl dieSchopenhauerische Konsequenz, daß es sich dabei um das

2 M. Dierks: Über einige Beziehungen zwischen physischer Konstitution

und "Sprachwerk" bei Thomas Mann. In: Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck (Thomas-Mann-Studien VII) Bern: FranckeVerlag 1987, S. 273.

3 ders., ebd., s. 274.

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Nichts handelt, weder von Platon noch von der biblischenVätergeschichte gezogen worden wäre.

Schopenhauers Philosophie spiegelt sich also imErzählverfahren Thomas Manns, wobei ihm die biblischeVorlage durchaus entgegenkommt. Nach Dierks wirft diesePhilosophie "gleichsam ein semantisches Netz über die Welt,das sie zusammenhält".4 Um eben diese Kohärenz zuerfahren, benutzt Thomas Mann die systematischherbeigeführte Wiederholung. Ich zitiere noch einmalManfred Dierks: "Eben das ist ja die DarstellungsmethodeSchopenhauers: Jede untersuchte Einzelerscheinung derVorstellungswelt wird auf die immer gleiche fundamentaleWillenswahrheit zurückgeführt, so entwirft er denWeltzusammenhang".5

So haben wir also eine merkwürdige Parallelbewegungzwischen der Skizzierung der Väterüberlieferung bei MartinNoth und dem auf diese Väter angewandtenWiederholungsprinzip Thomas Manns, ohne daß es je zu einerBerührung von beiden gekommen wäre. War unsereUntersuchung des Einflusses der Hauptlinie deralttestamentlichen Wissenschaft auf Thomas Mann bisher reinnegativ, so muß nun von dem einzigen Gelehrten die Redesein, Alfred Jeremias, dessen Werk, "Das Alte Testament imLichte des alten Orients", 1904, Mann nachweislich benutzthat.

Jeremias gehört zu den sog. Panbabylonisten, die das ATweitgehend vor dem babylonischen Hintergrund erklären. VonJeremias weiß Mann, daß die babylonische Religion eineAstralreligion war. Das spielt z.B. bei Josefs Traum eineRolle, wenn sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihmverneigen. Auch die Mannsche Schilderung der biblischenUrgeschichte lehnt sich stark an Alfred Jeremias an. Die

4 ders., ebd., S. 282.5 ders., ebd., S. 282.

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Schilderung der Schönheit Josefs trägt nicht nurhomoerotische Züge - Josef ist mehr als ein Tadzio -, sondernsie beruht auf der durch Jeremias vermittelten Tammuzgestalt.Tammuz ist der junge sterbende und auferstehendeVegitationsgott. Josefs buntes Gewand und sein in die GrubeGeworfenwerden deuten in diese Richtung. Mann undJeremias verband das Interesse am Mythos, der durch dasWiederholungsprinzip immer neu aktualisiert wird.

Die Panbabylonisten, denen Alfred Jeremias zugerechnetwird, machten nun am 13. Januar 1902 von sich reden, alseiner der ihren Friedrich Delitzsch, in einem öffentlichenVortrag in Berlin zum Thema "Babel und Bibel" die Fragestellte: Kann die Bibel noch als göttliche Offenbarungbetrachtet werden, wenn es sich herausstellt, daß diebabylonischen Schöpfungsberichte und Fluterzählungen ältersind als die biblischen? Seine eigene Antwort war eindeutignegativ und wurde später mit Begeisterung von den Nazis auf-gegriffen. Alfred Jeremias unterscheidet sich hier vonDelitzsch dadurch, daß er die Überlegenheit der biblischenBerichte über die babylonischen betont und sich durch kleinechristologische Schlenker am Ende seiner Auslegungen dasWohlwollen der kirchlichen Orthodoxie sichert.

Der Einfluß von Alfred Jeremias auf Thomas Mann gehörtsicher noch in die konservative, "unpolitische" Zeit desletzteren. Später hat sich Thomas Mann von dieser Positionabgewandt und im Aufkommen der Nazis aus Überzeugungdie Weimarer Republik verteidigt. So nimmt auch der Einflußvon Jeremias in den späteren Bänden des "Josef“ immer mehrab. Der im amerikanischen Exil abgefaßte und 1943veröffentlichte dritte Band, "Joseph, der Ernährer", trägtdeutlich ganz andere Züge. Es sind die Züge Franklin DeanoRoosevelts und seines "new deal".

War nun, mit Ausnahme von Alfred Jeremias, der Einfluß deralttestamentlichen Wissenschaft auf Thomas Mann ehernegativ zu veranschlagen, so ist nun die Frage zu stellen, ob

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Manns Roman nicht seinerseits die alttestamentlicheWissenschaft beeinflußt hat. Diese Frage ist für denHeidelberger Altmeister, Gerhard von Rad, eindeutig zubejahen. Von Rad hat sich nicht nur bei seiner Suche nachdem literarischen Genie des biblischen Josefserzählers vonThomas Mann leiten lassen, sondern sich über diesesVerhältnis auch später in einem Aufsatz, "BiblischeJosephserzählung und Josephsroman", von 1965 Rechenschaftgegeben.

Die bahnbrechende Untersuchung von Rads zurJosefsgeschichte erschien 1953. In dem Aufsatz"Josephsgeschichte und ältere Chokma"-'Chokma' ist dashebräische Wort für Weisheit -, erklärte von Rad Gen 37-50aus dem Geist der alten Weisheit und bezeichnete Josef alsden exemplarischen Weisen. Dieser Aufsatz ist ganze 7 1/2Seiten lang, und Thomas Manns Roman wird nicht zitiert. Ichkann Ihnen also nicht beweisen, daß von Rad den Josefsromanschon 1953 gekannt hat, und habe leider als Student inHeidelberg versäumt, ihn danach zu fragen. Gerhard von Radwar allerdings ein literarisch höchst gebildeter Mensch, der inseinen jüngeren Jahren in Jena auch Beziehungen zu demKreis um Ricarda Huch hatte. Da der Josefsroman zwischen1933 und 1943 erschienen ist, halte ich es fast fürausgeschlossen, daß G. von Rad ihn 1953 überhaupt nochnicht gekannt haben sollte.

Dafür spricht m.E. die Tatsache, daß in dem Chokma-Aufsatz,die von Thomas Mann beeinflußte Frage nach der Geistigkeitdes biblischen Josefsstoffes und von Rads eigenes Interesse ander israelitischen Weisheit zusammenkommen. Von Rad siehtdie Josefsgeschichte allerdings erheblich weltlicher als der amMythos interessierte Thomas Mann. Nach von Radrepräsentiert Josef das weisheitliche Bildungsideal: Zucht,Bescheidenheit, Freundlichkeit und Selbstbeherrschung. Daältere Weisheit und Josefsgeschichte sparsam mittheologischen Aussagen sind, da beide das Handeln Gottes ineine radikale Verborgenheit, Ferne und Unerkennbarkeit

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verweisen, kommt von Rad zu dem Schluß: "DieJosephsgeschichte mit ihrer deutlichen didaktischen Tendenzgehört der älteren Weisheitslehre zu".6 Es ergibt sich alsoparadoxerweise, daß der Theologe G. von Rad ein vielweltlicheres Verständnis des Josefsstoffes hat als ThomasMann.

Das wird auch in dem Aufsatz von 1965 klar, "BiblischeJosephserzählung und Josephsroman", in dem von Rad sichnun ausdrücklich mit Thomas Mann auseinandersetzt. Zu-nächst bietet von Rad in zwei Teilen jeweils eine Analyse derbiblischen Erzählung und von Thomas Manns Roman. Alsgleichfalls didaktisches Anliegen des Romans bezeichnet vonRad die Relevanz der mythischen Realitäten. Thomas Mannselbst hat den "Josef' ein "manifest mythologisches Werk"genannt (Bd. XI, 630).

Um die Anwendung dieses Mythosbegriffs streitet sich nunvon Rad mit Thomas Mann. Für den Mythos sei seine rituellmagische Wirkung konstitutiv. "Immer ist der Bestand derWelt und ihrer Ordnungen gefährdet, darum muß immerwieder durch Rezitation oder sakralen Mimus die Ordnungder Welt gesichert, ja man könnte wohl auch sagen: neugeschaffen werden. Unter diesem Gesetz der Wiederholungstehen aber auch die Abläufe in Thomas Manns Dichtung".7

Es widerfahre diesen Gestalten also nichts wirklich Neues.Mit B. Richter8 findet von Rad das Schicksal und dieEmpfindungen der Gestalten "rollenhaft festgelegt", siereagieren nur auf "urvertraute Ereignisse".

6 G. von Rad: Josephsgeschichte und ältere Chokma (1953). In:

Gesammelte Studien zum Alten Testament. München: Chr. Kaiser Verlag1965, S. 279.

7 G. von Rad: Biblische Josephserzählung und Josephsroman. (1965). In:ders.: Gottes Wirken in Israel. Hrsg. 0. H. Steck. NeukirchenVluyn:Neukirchener Verlag 1974, S. 296.

8 B. Richter: Der Mythosbegriff Thomas Manns und das Menschenbild derJosephsromane. Euphorion, Heidelberg: Winter 1960, S. 42().

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Hält Thomas Mann den Mythos für "gleichsam nach hintenoffen"9, so ist für von Rad die biblische Erzählung radikal fürdie Zukunft offen: "In dem Maß, in dem die Figuren desRomans ihre Legitimation im Mythischen finden oder suchen,indem ihnen in den mythischen Urordnungen Göttlichesbegegnet, in dem Maß erweitert sich die Kluft zwischen ihmund dem Alten Testament ..., denn dort legitimiert und birgtsich der Mensch in einem Heilsgeschehen, das sich imIrreversiblen ereignet und das Irreversibles schafft".10

Also das alte Klischee vom linearen Zeitverständnis des AltenTestaments gegenüber dem zyklischen Denken des altenOrients, der ewigen Wiederkehr, dem auch Thomas Mannverhaftet ist? Hier muß von Rad widersprochen werden.Natürlich hat das AT ein lineares Zeitverständnis, dieGeschichte ist in der Tat nach vorn offen. Daneben steht klarauch eine zyklische Zeiterfahrung im Wochenkreis, imJahreskreis, im Kult, in den Festen. Hätte die judäo-christlicheTradition nicht auch dies zyklische Zeitverständnisaufgenommen, müßten Sie Ihre Weihnachtsgeschenke wiederzurückgeben. Von Rad ist hier dem linearenGeschichtsverständnis der Barthschen Theologie aufgesessen.Thomas Mann hat durchaus Richtiges gesehen, wenn auch - indichterischer Freiheit - einseitig akzentuiert. Die von v. Radverlangte Klärung der Frage nach der Relevanz desMythischen beim älteren Thomas Mann hat inzwischenManfred Dierks in seiner Dissertation, "Studien zu Mythosund Psychologie bei Thomas Mann", 1972, geliefert - obwohlDierks natürlich keine theologische Kompetenz beanspruchenwürde.

9 Th. Mann: Adel des Geistes. o. O., 1948, S. 582.10 G. von Rad: Biblische Josephserzählung und Josephsroman, a.a.O., S.

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Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten sollte doch deutlichgeworden sein, wie stark G. v. Rad in seiner Frage nach derGeistigkeit der biblischen Josefserzählung und demliterarischen Genie des Autors von Thomas Mann beeinflußtist. Aber hat er diesen Ansatz auch immer konsequentdurchhalten können? Ist er nicht in seinem Genesiskommentarim ATD, wo der Jahwist und der Elohist fröhliche Urständfeiern, wieder in die Wellhausensche Urkundenhypothesezurückgefallen?

Eben dies wirft der englische Alttestamentler NormanWhybray11 von Rad vor. Wenn wir einerseits glauben sollen,daß es sich um ein literarisches Meisterwerk handelt, dann istes andererseits kaum glaubhaft, daß dieses Meisterwerk auszwei Novellen zusammengesteckt sein soll. Von RadsErgebnisse stellen die Urkundenhypothese in der Tat in Frage.Vor dem logischen Schritt, sie aufzugeben, ist er aber nochzurückgeschreckt.

Diese Konsequenz hat nun Herbert Donner in seinem Vortragvor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 11.Jan. 1975 ziehen wollen: "Alles, was über den Charakter unddie Darstellungsweise der alten Pentateuchquellen bekannt ist,fordert dazu heraus, aus G. v. Rads formgeschichtlicherBestimmung und Neuinterpretation eine Konsequenz zuziehen, die er selber nicht gezogen hat. Man kann nicht beideshaben: die Josephsgeschichte als Novelle und als Bestandteilder Pentateuchquellen J und E. Entweder ist sie doch einSagenkranz nach Art der Abraham -, mehr noch derJakobüberlieferungen, dann ist sie in einer jahwistischen undin einer elohistischen Fassung denkbar und zu erwarten. Odersie ist in der Tat eine Novelle im Sinne G. v. Rads, dann

11 R. N. Whybra: "The Joseph Story and Pentateuchal Criticism." Vetus

Testamentum 18, Leiden: Brill 1968, 522-28.

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gehört sie weder zu J noch zu E sondern ist als eineliterarische Größe für sich anzusehen".12

Donner macht sich die Kritik Whybrays zu eigen, den erzitiert. Aber wichtiger ist vielleicht die Tatsache, daß diedeutschen Alttestamentler ab jetzt nicht nur G. v. Radsklassische Analyse, sondern auch Thomas Manns Roman imBlick haben. Donner beginnt seinen Vortrag mit den letztenWorten des Romans: "Die schöne Geschichte undGotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern".13

Donner weist dann alle Kriterien, die bisher für dieNotwendigkeit der Quellenscheidung geltend gemachtwurden, anhand der Josefsgeschichte zurück. Ein besondersillustratives Beispiel ist die Doppelung, die zur Erzähltechnlkder Novelle gehört - hier ist Donner wohl von Thomas Manninspiriert - und die nicht durch zwei Quellen wegerklärtwerden darf: "Die Josephnovelle hat eine auffallende Vorliebefür die Zahl zwei. Um nur weniges anzudeuten: JosephsTräume vor seinen Brüdern, die Träume der Hofbeamten imGefängnis und die Träume des Pharao erscheinen jeweils inPaaren; zweimal wird Joseph gefangengesetzt, in der Zisterneund im ägyptischen Kerker; die Brüder reisen zweimal nachÄgypten; zwei Versuche werden unternommen, den jüngstenBruder Benjamin nach Ägypten mitzunehmen; zweimal wirdder Getreidekaufpreis heimlich in die Kornsäcke der Brüderzurückgetan; bei beiden Ägyptenaufenthalten haben dieBrüder je zwei Audienzen vor Joseph; Jakob und seine Söhnewerden - wie es scheint - zweimal aufgefordert, sich inÄgypten niederzulassen".14 Diese Doppelungen dienen nachDonner dem Nachdruck oder der Verzögerung desHandlungsablaufes.

12 H. Donner: Die literarische Gestalt der alttestamentlichen

Josephsgeschichte. Vorgetr. a. 11.1.1975. Heidelberg: Winter'scheBuchhandL 1976, & 14.

13 ebd., & 7.14 ebd., S. 36f.

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Dies eine Beispiel muß genügen. Erwartet man nun nach derAbweisung der Quellenscheidung in der Josefsgeschichte vonDonner radikale Thesen zur Pentateuchkritik, so gebiert derBerg nur eine Maus: Der Redaktor hat vorher in Genesis 1-36und dann wieder in Exodus Quellen benutzt, die jahwistischenund elohistischen Josefserzählungen aber durch die unsvorliegende Novelle ersetzt! Wellhausen muß also vor sichselbst gerettet werden! Hatte der Altmeister noch behauptet,es gäbe die Pentateuchquellen entweder auch in derJosefgeschichte oder überhaupt nicht, so belehrt uns Donnerjetzt: Die Pentateuchquellen gibt es in der Josefsgeschichtenicht, vorher und nachher dürft ihr aber so weitermachen wiebisher! Ein kümmerliches Ergebnis, das wohl kaum zu Rechtseinen Ausgang bei Thomas Mann genommen hat.

Vielleicht hat sich mein Oldenburger Vorgänger, WalterDietrich, erfolgreicher von Thomas Mann inspirieren lassen.Diese jüngste Arbeit zum Thema Gen 37-50 trägt den Titel"Die Josephserzählung als Novelle und Geschichtsschreibung"(Neukirchener Verlag 1989). Der Untertitel, "Zugleich einBeitrag zur Pentateuchfrage", läßt sogar vermuten, daß hierzwar nicht gieich der ganze Baum der WellhausenschenUrkundenhypothese mit der Kreissäge gefällt, aber dochschon mal ein Ast mit dem Fuchsschwanz abgesägt werdensoll. Auch Dietrich bringt das Wellhausensche Alles-oder-Nichts-Zitat zu JE in der Josefsgeschichte. Wenn er dann aufS. 18 feststellt: "Wird man ein solch feingewebtes Gebildewie die Josephsgeschichte nicht verunstalten und zerstören,wenn man ihm mit dem Instrumentarium der historischenKritik, gar der Literarkritik, zu Leibe rückt?", so ist das, füreinen alten Göttinger fast Häresie!

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Dies kann die Göttinger Inquisition auch nicht als einmaligeVerirrung durchgehen lassen, denn Dietrich inkriminiert sichweiter: "Die schönsten und tiefgründigsten Auslegungen derJosephsgeschichte stammen von Autoren, die sich umLiterarkritik und Quellenscheidung wenig oder gar nichtgekümmert haben".15 Genannt werden im Haupttext derjüdische Kommentar Genesis Rabba, Calvins "Auslegung derGenesis", und Thomas Manns "großartige Romantrilogie".Weitere Literatur findet sich in den Fußnoten, und derInquisition dürfte ein so verdächtiges Werk wie Robert Alter,"The Art of Biblical Narrative", New York, 1981, kaumentgangen sein.

Heißt es dann bei Dietrich schon auf S. 12: "Wer dasVorhandensein der älteren Pentateuchquellen behauptet -nicht, wer nicht von ihm ausgeht -, ist beweispflichtig" -Sätze, die Sie bisher nur von Rolf Rendtorff in Heidelbergund Friedemann Golka in seiner OldenburgerAntrittsvorlesung vernommen haben -, ja dann können dieGöttinger den Scheiterhaufen allerdings schon mal anzünden.

Wie stark Dietrich von Thomas Mann beeinflußt ist, zeigt sichan der Aufnahme der Leitmotive, mit denen auch derAmerikaner, George W. Coats, "Redactional Unity in Gen 37-50"16 arbeitet. Coats ist übrigens ein alter Heidelberger.Wiederholt vorkommende bunte Kleider, Träume usw.werden also nicht mehr auf verschiedene Quellen verteilt,sondern Dietrich erkennt ihren Charakter als Leitmotive. Ergibt hier seine wissenschaftliche Ahnenreihe Wellhausen -Martin Noth - Rudolf Smend auf und reiht sich bei RichardWagner, Thomas Mann und George Coats ein. Dietrichdefiniert die Josefsnovelle im Gegenüber zu Thomas Manns

15 W. Dietrich: Die Josephserzählung als Novelle und

GeschichtsSchreibung. ZugJ. ein Beitrag zur Pentateuchfrage.Neut:irchenVluyn: Neukirchener Verlag 1989, S. 12.

16 In: Journal of Biblical Literature 93, Richmond: Society of BiblicalLiterature 1974, 15-21.

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Roman. Charakteristisch für Gen 37-50 ist gerade die Kunstdes Auslassens alles dessen, "was man bei Thomas Mann fastschon im Übermaß erfährt".17 Die Literaturgattung 'Novelle'zeichne sich durch eine Verkürzungstechnik aus, die sich, imUnterschied zu der im Roman üblichen Entfaltung einesumfassenden Zeit- und Lebensbildes, auf einen Ausschnittbeschränke.

Wie löst Dietrich dann das Problem der offensichtlichkonkurrierenden Doppelungen 'Midianiter / Ischmaeliter','Ruben / Juda' und 'Jakob / Israel'? Donner hatte denDublettencharakter weitgehend bestritten, Dietrich versuchtihn historisch einzuordnen. Er nimmt eine ursprünglicheJosefsnovelle und deren spätere Überarbeitung alsGeschichtsschreibung an.

Die Josefsnovelle setzt W. Dietrich in die frühenordisraelitische Königszeit. Der erste nordisraelitischeKönig, Jerobeam I, muß nach Ägypten flüchten, gelangt dannaber doch auf den Thron. Das Bild der Königsherrschaft, dasJoseph repräsentiert, ist nach Dietrich geprägt von humanenund sozialen Idealen: "Es ist dies offenbar das idealeSelbstbildnis, welches das frühe nordisraelitische Königtumvon sich hat".18

Nach dem Zusammenbruch des Nordreiches 722 v. Chr.flüchteten viele Israeliten nach Juda und brachten, nachDietrich, die Josefsnovelle mit. Sie wurde hier unter demEinfluß der Davidgeschichte zur Geschichtsschreibungumgearbeitet. Sowohl Josef als auch David werden in Judanach dem Ideal des schönen Mannes beschrieben. Diesejüngere Fassung zeige mehr Skepsis und Abstand gegenüberÄgypten. Nach Dietrich sei die zwischen den Brüdernstehende Schuld schwerer geworden. Juda habe sich an allenBrüdern vorbei nach vorn geschoben und sei jetzt ihr Sprecher

17 W. Dietrich, a.a.O., S. 17.18 W. Dietrich, a.a.0., & 66.

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und Führer. Es ist W. Dietrichs These, daß diese Josefs-Geschichtsschreibung bewußt im Anklang an die Davids-Geschichtsschreibung gestaltet sei. Ich breche ab.

W. Dietrich sagt uns nicht, wie er sich das Verhältnis derJosefsnovelle bzw. -Geschichtsschreibung zu derRestüberlieferung des Pentateuch vorstellt. Seine Zitierungder Wellhausenschen Alles-oder-Nichtsforderung zu Gen 37-50 deutet allerdings darauf hin, daß auch er der Meinung ist,die Axt sei bereits an die Wurzel der Urkundenhypothesegelegt.

Zwei wichtige Beiträge habe ich Ihnen unterschlagen, weil siesich kaum auf Thomas Mann beziehen und ich auch hier keinägyptologisches Seminar abhalten kann. Die bedeutendeMonographie von Donald Redford, "A Study of the BiblicalStory of Joseph", 1970, verweist auf ägyptische Sitten undGewohnheiten in Gen 37-50, die kaum vor der Perser- oderPtolemäerzeit nachzuweisen seien. Damit würden W.Dietrichs Datierungen wieder in Frage gestellt. Dies zuentscheiden, kann aber nur Aufgabe des Ägyptologen undnicht des Theologen sein.

Arndt Meinhold - zunächst in seiner Greifswalder Dissertationvon 1971 und dann in zwei Aufsätzen von 1975 und '76 - folgtder Spätdatierung Redfords und betrachtet dieJosefsgeschichte wie auch das Buch Ester alsDiasporanovellen. An Meinhold hätte ich drei kritischeAnfragen:(1) Warum unterschlägt er die Parallele zum Buch Daniel,

wo auch ein jüdischer Exulant durch Traumdeutung aneinem ausländischen Hof aufsteigt?

(2) Die Josefserzählung hat einen Helden, dieEstergeschichte mit Ester und Mordechai aber derenzwei. Versagt hier nicht die Parallele? und

(3) Theologisch liegen Welten zwischen Josef und Ester.Während nach von Rads Ergebnissen die Gottheit inder Josefsgeschichte kaum eingreift, tut sie das im

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Buche Ester dauernd zum Wohle der von ihr geliebtenjüdischen Exulanten.

Ich komme zum Schluß. Bei unserem Rundgang durch dieJosefexegese hat sich gezeigt, daß seit G. v. Rad die deutschealttestamentliche Wissenschaft deutlich unter dem Banne vonThomas Manns Roman steht. Unter seinem Einfluß hat sichdie Auslegung immer mehr von den Wellhausenschen Quellenentfernt und schrittweise zu einer ganzheitlichen Auslegungvon Gen 37-50 gefunden. Thomas Mann hat damit die Tyranisder Urkundenhypothese gebrochen. So gesehen, hat sichThomas Mann um die deutsche alttestamentlicheWissenschaft verdient gemacht.

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Der Autor

FRIEDEMANN W. GOLKA (1942)

Professor Dr. Friedmann W. Golka ist Hochschullehrer für ´´Evangelische Theologie mit dem Schweerpunkt AltesTestament´ am Fachbereich 3 der Universität Oldenburg.Er studierte Theologie in Bethel, Heidelberg und Oxfort. 1970ging Golka zunächst als Assistent an die Universität Exeter,wo er später Universitätsdozent wurde. 1973 promovierte erbei Claus Westermann in Heidelberg. Golka ist Autor einesJonakommentares.

Alle Abbildungen aus: Die Bibel. Die heilige Schrift Alten undNeuen Testaments verdeutscht von Martin Luther. Mit 230Bildern von Gustav Doré. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt(o.J.)